Читать книгу Abschied vom Kietz - Helmut H. Schulz - Страница 3
Kapitel I
ОглавлениеIrgendwie war es eine abgeschlossene Welt; in der wir lebten. Unsere Gegend war wie eine Insel, auf der sich, zwei Jahre nach dem Krieg, das Treibgut abgelagert hatte. Sicherlich wurden wir noch in einer Statistik geführt, doch wer uns suchte, der fand uns nur schwer in dem Gewirr von Ruinen, Häusern und Höfen.
Ihren Namen verdankte die Blumenstraße der Geschicklichkeit hugenottischer Gärtner. Blumen gab es hier längst nicht mehr. Sie würden dem Kietz auch etwas idyllisches gegeben haben, das nicht zu uns gepasst hätte. Zu uns passte der Regen im Herbst und der Schneematsch im Frühjahr. Vor der türlosen Einfahrt unseres Hauses klammerte sich eine große Kastanie in den Asphalt.
«Er hätte Schmied lernen sollen», sagte Jule. Seine großen wächsern gewordenen Hände fingerten in dem mächtigen Bart, der ihm bis auf die Brust herabhing. Beharrlich wiederholte er seine Forderung: «Ich habe immer gehofft, dass er Schmied wird.»
Meine Großmutter antwortete, während sie Brot schnitt, so wie alte Frauen Brot schneiden, vor der Brust: «Er hätte ganz was anderes werden sollen. Aber was? Er ist wie ein junger Hund, furchtsam und dumm.»
Das Brot hatte zahlreiche Kerben, jede bedeutete etwa eine Fünfziggrammscheibe. Es war vollständig aufgeteilt.
An der Wand blakte eine Petroleumlampe. Jule schraubte den Docht herunter, bis die Flamme ruhig brannte.
Jule stand auf langen dürren Beinen. Sein Rücken war noch ungebeugt. Jule trug einen verschossenen blauen Leinenkittel. Jule wirkte müde und krank. Hustenanfälle, die den abgezehrten Körper wie einen leeren Sack schüttelten, plagten ihn seit Ende des Winters.
Jule war zweiundsiebzig.
«Hat Er eigentlich noch die Geige, die ich ihm geschenkt habe?» fragte er.
Dieses Er stand auf der Mitte zwischen Du und Sie. Es klang barsch und unhöflich. Es führte zurück in das Schwedt vor der Jahrhundertwende, Jules Geburtsstadt.
Ich brachte ihm Geige und Bogen. Er stimmte die Saiten. Sein Rücken krümmte sich auch im Sitzen nicht. Die Töne, die Jule dem Instrument entlockte, klangen kratzig.
«Geiger hätte Er werden können, wenn Er nur gewollt hätte», sagte Jule.
Es war alles entschieden. Ich würde zu Kretzschmar gehen, um das Lithografenhandwerk zu erlernen.
«Hör auf», befahl meine Großmutter, «wer soll das mit anhören!» Sie war klein, rundlich und energisch. Dagegen glich Jule einem austrocknenden Stamm.
«Sie ist entzwei», sagte Jule bedauernd, «ich werde sie ganz machen."
Seine Hände brauchten ständig eine Arbeit.
Ich versuchte mir meine Großeltern jung vorzustellen, jung und auf dem Hof eines bäuerlichen Hauses. Eine Säge schneidet in festes frisches Holz. Es ist Oktober oder November, noch nicht kalt, aber die Bäume sind entlaubt. Nasser, großflockiger Schnee fällt auf die Hände meiner jungen Großeltern, schmilzt unter der Wärme ihrer Haut. Die Schmiede ruht. Kein Mensch denkt im November daran, dem Schmied Arbeit zu geben.
Nach einer Lebensweisheit für mich suchend, sagte Jule nachdenklich: «Er soll nicht soviel reden, man hat das nicht gern.»
«Wenn ihm Unrecht geschieht, dann soll er ruhig reden», sagte meine Großmutter.
Ich fühlte, dass mir die Erfahrungen meiner Großeltern nicht viel nützen würden.
Meine Großmutter legte das geschnittene Brot und einen Apfel in eine Büchse. Sie wurde seit Jahrzehnten den Männern zur Arbeit mitgegeben. An den Kanten platzte das weiße Email ab.
«Schwatzen soll er aber nicht», sagte Jule.
Das Deckenlicht ging an. Meine Großmutter blies die Lampe aus, strich den langen dunklen Rock glatt und setzte sich.
Sie sorgten sich. Ich war die zweite Generation, die sie hinausschickten, hinaus in ein Leben, das sie nicht mehr verstanden und vielleicht nie verstanden hatten.
Er ist zäh, dachte ich, er wird leben, in seinen Garten fahren, Bäume beschneiden, pflanzen, ernten, Schlösser reparieren und Zäune flicken. Solange er arbeitet, wird er leben.
Unser Haus hatte dunkle Treppen mit knarrenden altersschwachen Stufen, zerbröckelndem Wandputz, losen Traillen in blank gewetzten Geländern und einem säuerlichen Geruch nach Verwesung.
Im rechten Flügel lebte der bucklige Bruno in einer Wohnung, die der unseren gegenüberlag. Die übrigen Wohnungen darunter waren unbenutzbar, mit Ausnahme der Kneipe Matkowskis, des eisernen Pferdes. Bruno hatte kluge verschlagene Augen unter einer breiten, aber flachen Stirn. Stichlige Haare verdeckten sie halb.
Jeden Mittwoch und Sonnabend spannte der Bucklige sein dickes Pferd vor einen niedrigen Wagen, belud ihn mit Stangen und Zeltplanen für den Markt unter freiem Himmel und fuhr damit durch die Einfahrt. Zweimal in der Woche traf ich ihn früh, wenn ich zur Arbeit ging.
«Jetzt lohnt es bald wieder», sagte Bruno geheimnisvoll. Hinter der breiten Stirn arbeiteten die Gedanken.
«Was lohnt wieder?»
«Den Himmel zu beobachten», sagte er. «In den Sommernächten ist meist nichts. Das liegt an der Kürze der Nächte und an der Verschiebung des Himmelsäquators.»
«Pass lieber auf, dass sich deine Stangen nicht verschieben.» Unlustig rückte er an den Stangen herum.
«Wenn man ein Fernrohr kaufen könnte, einen Refraktor.» Er zog den Kopf tief in die Schultern und blickte sich schuldbewusst um.
«Oder eine Sternwarte», sagte ich. «Was du zusammen spinnst.»
Er lehnte den Buckel an den Wagen und klaubte ein paar zerdrückte Zigaretten aus der Tasche.
«Willst du rauchen?»
«Nein, nicht jetzt», sagte ich.
«Dann nimm eine mit», sagte er bittend.
«Hau bloß ab», sagte ich, seinen Buckel streichelnd, «sonst geht dir der Tag verloren.»
Ich sah dem sonderbaren Mann nach, wie er, eingesunken auf dem Bock thronend, den Wagen durch das Tor bugsierte.
Vera war eine von uns. Zusammen mit ihrer Mutter lebte sie in der Wohnung über dem Laden des Flickschusters. Veras Vater galt als gefallen oder verschollen. Ihr Körper war knabenhaft schmal, ihre kleinen Hände mit runden Nägeln, denen sie vergeblich eine ovale Form zu geben suchte, knochig und trocken. Auf dem Sattel ihrer Nase blühten im Sommer Kolonien winziger brauner Flecke, die im Winter wieder verschwanden. Ihre Haut war ohne Leuchtkraft, ihr Haar rot und stumpf wie das einer Füchsin. Hinter lang geschlitzten Lidern verbargen sich grünliche Augen.
Vera war sechzehn oder etwas darüber. Trotz ihrer Jugend glich sie einer herumgestoßenen Katze, vor der besorgte Mütter ihre heranwachsenden Söhne warnten.
Es war Frühherbst und die Luft war mit Feuchtigkeit gesättigt. Vera lehnte mit dem Rücken am Geländer der Jannowitzbrücke. Die Spree wirkte heller als der Abendhimmel. Vera hatte die Arme aufgestützt. Kraftlos hingen ihre Hände herab. Unter dem Mantel zeichnete sich ihr magerer Körper ab. Blass sah ihr ovales Gesicht aus, wie mit grauem Mehl bestäubt, Ihr Mund war ein übergroßer giftiger Tupfer. Wenn sie schwieg, zuckten die geraden rötlichen Brauen leicht.
«Was machen wir, heute?», fragte sie.
Es war immer die gleiche Frage. Wir stellten sie jeden Abend, und wir wussten selten eine Antwort. Aber wir hatten fieberhafte Träume vom guten Leben und schämten uns unserer Gier, von der wir annahmen, sie sei schlecht.
Wir gingen zurück in unser Viertel. Vera ging neben mir. Dann verschluckte uns unser Kietz.
In mir war eine ausweglose Wut über die erbärmliche Langeweile, die uns jeden Abend heimsuchte.
Plötzlich sagte Vera: «Mein Vater hat geschrieben.»
Das klang gleichgültig. Vielleicht wollte sie ein Gespräch in Gang bringen. Sie erfand oft Neuigkeiten, um sich in den Mittelpunkt zu rücken.
«Ich denke, dein Vater ist gefallen», sagte ich.
«Tote schreiben nicht», sagte sie. «Wir sollen zu ihm kommen. Er lebt in Hamburg.»
Mich interessierte das nicht sehr. Wenigstens war es keine Sensation. Es kam alle Tage vor, dass Tote auferstanden und Lebendige verschwanden. Wir hatten uns an die Nachwehen des Krieges gewöhnt, soweit man sich daran gewöhnen konnte. Täglich verlasen die Sprecher der Rundfunkstationen lange Listen Toter, Verschollener und Wiedergefundener. Dann dachte ich: Was will er mit einer halb erwachsenen Tochter und einer alternden Frau in einer Zeit, in der jeder zuerst an sich denkt? Warum meldet er sich erst jetzt?
«Wahrscheinlich hat er nicht in die russische Zone gewollt», vermutete ich.
Vera nickte.
«Wenn er euch braucht, dann geht es ihm dreckig», sagte ich.
«Das haben wir auch gedacht», sagte sie, «aber er schreibt, dass er ein Lebensmittelgeschäft hat.»
«Lebenskünstler gibt es eben immer», sagte ich. Zustimmend lachte Vera und zog die Oberlippe in den Mund.
«Ich bin höchstens neugierig, wie er ist», sagte sie dann, «falls ich überhaupt neugierig bin. Meine Mutter hat gar keine Beziehung mehr zu ihm. Er hat ihr immer nur auf der Tasche gelegen.»
Wir kannten unsere Väter nur aus der Kinderzeit. Wir hielten sie für mitschuldig am Krieg. Unser Misstrauen gegenüber Erwachsenen war übermäßig scharf.
Als die Blumenstraße in Sicht kam, legte Vera den Arm um meine Hüften.
«Spiel mit», sagte sie, «vielleicht sieht es einer und ärgert sich.»
Ich dachte darüber nach, mit wem sie jetzt ging. Mit Vigo schien es aus zu sein. Aus unserer Gegend kam kein anderer in Betracht.
«Was würdest du an meiner Stelle tun?» nahm sie den Faden wieder auf.
«Das musst du schon selber wissen», sagte ich, «schlimmstenfalls kommst du eben zurück.»
Über die knarrende Treppe, vorbei an trüben Glühlampen, die auf den Treppenabsätzen brannten, schlichen wir auf den Dachboden. Hier hing Wäsche, kleine Pfützen hatten sich unter den Wäschestücken gebildet.
«Bruno wird eine feuchte Nacht haben», sagte Vera.
«Bruno oder wir», sagte ich. «Kannst du deiner Mutter nicht mal sagen, dass sie ihre Wäsche woanders trocknen soll?»
«Sag es ihr selber», riet Vera, «und sag ihr auch gleich, wo sie ihre Wäsche trocknen soll, ohne dass sie geklaut wird.«
«Geklaut kann sie hier auch werden.»
Wir ließen das Thema fallen und drängten uns unter die geöffnete Dachluke. Schwarz und weit wölbte sich der Himmel über unser Viertel, soweit das Viereck der Dachluke ihn sehen ließ. Hier hatten wir über die Ausdehnung des Himmels spekuliert und uns Sternbilder eingeprägt. Der Bucklige, der seine Nächte abwechselnd in Matkowskis Kneipe und in der Sternwarte verbrachte, half uns. In unseren Augen war er ein halber Kopernikus, aber gescheitert und versoffen. So ungefähr endeten alle Träume in unserer Gegend.
Mit gedämpfter Stimme sagte Vera:·«Ich will aber nicht weg von euch.»
Sie drängte sich heran. Ich öffnete ihr Kleid und tastete nach den Spitzen ihrer kleinen harten, noch unausgebildeten Brüste. Ihr Lippenstift schmeckte nach einer klebrigen fetten Substanz, ihr Mund nach Rauch. Unser Wissen stammte von Vera. Sie hatte unsere zögernden Hände geführt.
«Leg die Arme um mich», verlangte sie, «ich friere.» Ich fühlte ihre schmalen, knochigen Schultern durch den Stoff. Vor einem Vierteljahr hatte sich Vera von uns zurückgezogen. Angeblich wollte sie sich verloben. Ihre Mutter, die allen Einfluss auf die Tochter verloren hatte, konnte oder wollte keine Auskunft geben. Wir schrieben Vera ab. Wer uns verließ, der verriet uns.
Ich versuchte Vera zu wärmen, aber in diesen mageren Körper ging keine Wärme hinein.
«Gehst du wieder mit Vigo?», fragte ich.
«Wenn er nichts Besseres findet, kommt er zu mir.»
Ich gab es auf, ihre trockene Haut zu wärmen, und zerbrach eine Zigarette. Wir rauchten schweigend. Hastig stieß Vera den Rauch durch die Nase.
«Habe ich dich geärgert?», fragte sie.
«Was willst du denn in Hamburg machen?», fragte ich ausweichend.
«Ich will ja gar nicht weg», sagte Vera, «was geht mich mein Vater an. Ich kenne ihn ja kaum.»
Sie lehnte den Kopf an meine Schulter. Ihr Haar roch nach trockenem Staub. Ich fragte mich, ob ich selber nach Hamburg gehen würde, in ähnlicher Lage wie Vera. Ich kam zu keinem Schluss.
«Ob es wieder Krieg gibt?», fragte sie.
Ich sah keinen Zusammenhang zwischen dieser Frage und dem Brief ihres Vaters. Vera sah auch keinen, wie ich durch eine Gegenfrage herausbekam.
«Also zerbrich dir nicht den Kopf darüber», sagte ich.
Sorgfältig zertrat ich die Zigarettenreste.
Sie sagte: «Lass es doch brennen, Wölfchen»
Es lohnte nicht, darauf zu antworten. Vera hatte es selbst dahin gebracht, dass wir sie nicht ernst nahmen.
«Trag mich die Treppe runter», sagte sie.
«Hör schon auf», sagte ich mit wachsendem Ärger, «um halb sechs muss ich raus.»
Sie schloss Kleid und Mantel und ging leise zur Tür. Ebenso leise folgte ich ihr. Im Treppenhaus brannten wieder die kläglichen Funzeln, was durchaus nicht selbstverständlich war. Strom gab es nur stundenweise.
Als wir uns trennten, sagte Vera: «Du hast Lippenstift am Mund.»
Sie zog ein Taschentuch heraus, spuckte darauf und rieb mir die Farbreste ab.
Ich erinnere mich an eine Fassade aus solidem Hartklinker von der Farbe überreifer dunkler Kirschen. Ihre Geometrie war zweckmäßig und trostlos. Angelehnt an Wohnhäuser, in denen die grauen Vögel der Armut nisteten, beherrschte die Fassade den Hof.
Ich entsinne mich eines ältlichen Telefonfräuleins und ich höre ihre Stimme, die der sandelholzfarbene Klappenschrank verschluckte. Ihre Dienstzeit bei Kretzschmar belief sich auf fünfundzwanzig Jahre, meine auf wenige Wochen. Zu uns jüngeren bewahrte sie eine hochnäsige Zurückhaltung, die im Gegensatz, zu ihrem demütigen Gesicht hinter der Büroscheibe stand. Von den Gängen und Windungen eines Termitenhügels unterschied sich das Innere des Hauses durch den strengeren Aufbau.
Zu viert arbeiteten wir in einem Raum, der sein spärliches Licht durch die hohen rechteckigen Fenster erhielt. Meist brannten auch am Tage Glühbirnen unter grünen Metallschirmen. Im Winter heizte ein Ofen aus Kanonenmetall den Raum.
Ich erinnere mich einer grauen, von schwarzen Löchern durchbrochenen Wand, wenn ich hoch sah. Das Paneel des Zimmers war mit einer stumpfglänzenden, spinatgrünen Farbe bestrichen.
Merkwürdigerweise erinnere ich mich vieler Gesichter, aber nur wenige Namen haben sich meinem Gedächtnis dauerhaft eingeprägt.
In der dritten Etage unseres Flügels lebte Vigo Schwarz mit seinen Eltern, gerade unter unserer Wohnung. Unsere Wasserleitung endete nicht in der Küche, sondern auf dem Flur. Das Klosett befand sich eine halbe Treppe tiefer und wurde von zwei Mietern genutzt.
Vigo war neunzehn und lernte Autoschlosser.
Wir spielten manchmal Billard bei Matkowski. Das eiserne Pferd sah gelegentlich zu. Am Spätnachmittag war die Kneipe meist leer. Er war ein muskulöser glatzköpfiger Mann, früher Ringer, berühmt wegen seiner Kraft und Trinkfestigkeit.
Er zeigte uns ein paar Stöße.
«Leicht, leicht musst du das Queue halten, so mit Daumen und Zeigefinger», knurrte er.
Vigo vertrug keine Kritik. Von uns war er der strahlendste und der empfindlichste. Mit dichtem dunkelblondem Haar und leuchtend grauen Augen und dem sehnigen Körper des Ballwerfers wirkte er erwachsen und männlich.
«Deine Hände sind zu schwer», belehrte das eiserne Pferd. «Mach mir kein Loch ins Tuch. Am besten, du lässt es überhaupt. Wird doch nichts draus. Lass Wolf spielen. Der kann es besser.»
In der zweiten Etage, über Vera und unter Vigo, wohnte Helga, siebzehnjährig und von lauernder Sanftheit. Ihr Haar trug sie seitlich gescheitelt, mit einer glitzernden Metallspange über der Schläfe befestigt. Weiß und glatt war ihre Haut. Sie hatte kleine weiße Zähne und ein zurückhaltendes Wesen. Von uns war sie die Klügste, nur war ihre Klugheit nicht frei von Berechnung. Breite Backenknochen und dichte Brauen rahmten Augen, blau wie Leinblüten ein.
Sie arbeitete in einem wissenschaftlichen Verlag. Manchmal gab sie mir Bücher, die schadhaft waren oder aus anderen Gründen nicht verkauft werden konnten. Ich las sie nicht, weil sie die Angelegenheiten einer mir fremden Welt behandelten. Helga mochte ich gern, wie man eine Schwester gern hat, die gescheit ist und sanft. Sie hatte eine rundliche Figur und stark entwickelte Brüste.
Sie interessierte sich brennend für unsere Zukunft. Ich erzählte ihr, dass Veras Vater wieder aufgetaucht sei.
«Ich weiß», sagte sie, «Vera sorgt schon dafür, dass es unter die Leute kommt.»
Sie sass in einem der Sessel, die in meiner Bude standen und betrachtete meine Zeichnungen.
«Malst du eigentlich bloß immer Kaffeemühlen und Tintenfässer?», fragte sie.
Täglich drehte ich einige tausend Punkte auf Lithographensteinen oder angekörnten Zinkplatten. Es war ein trauriges und ermüdendes Handwerk.
«Vielleicht kannst du mal Grafiker werden», sagte sie, «leicht ist das nicht. Die haben kein richtiges Arbeitsverhältnis. Sie bekommen Aufträge bezahlt.»
«Ich kann mit den Leuten nicht warm werden. Vielleicht schmeiß ich alles mal hin.»
«Du hast ja gerade erst angefangen», sagte Helga. Sie prüfte weiter die Skizzen.
«Vera wird nach Hamburg ziehen, wenn sie weiß, dass Vigo sie nicht will», erklärte sie.
Das Licht der Tischlampe fiel auf ihre Hände, die Grübchen zeigten. Ihr Gesicht lag halb im Dunkeln.
«Zeichnest du keine Menschen?»
Einmal in der Woche ging ich in die Abendklasse, die für alle frei war. Dort saß ein alter Mann Modell, dessen Kopf nach einigen Minuten regelmäßig auf die Brust herabsank.
Ich legte ihr die Skizzen vor.
«Ein Künstler bist du wohl nicht», sagte sie mit leichtem Lächeln und strahlenden Augen.
«Ich will ja auch keiner werden», sagte ich und nahm ihr die Zeichnungen weg.
«So war es nicht gemeint», sie hielt meine Hände fest, «sei nicht so empfindlich. Wölfchen. Es ist immer besser, man macht sich nichts vor.»
Ihre Lippen öffneten sich bereitwillig, als ich sie küsste. Helgas Brust war weicher als Veras Brust, weicher, reifer, überhaupt war Helga anders, klüger, freundlicher, weniger fordernd, wie ich glaubte. Leicht entzog sie sich meinen Händen. Weiter ließ sie es nie kommen.
«Wir müssten alle vier was unternehmen», sagte sie, «was Vernünftiges.»
Was sie darunter verstand, erklärte sie nicht.
«Wir trotten zur Arbeit, kommen von der Arbeit und öden uns an. Was meinst du?»
Ich hob die Schultern. Viel war nicht zu machen. Geld besaßen wir alle vier nicht genügend.
«Das hängt doch nicht vom Geld ab», meinte Helga.
«Wir haben auch nicht mehr soviel Zeit wie früher», sagte ich.
«Daran liegt es nicht», meinte sie. «Hast du das Buch gelesen, das ich dir gegeben habe? Natürlich hast du es nicht gelesen. Und Vera und Vigo sind nicht anders. Das meine ich.»
Sie war nicht mehr zufrieden mit uns.
Als sie gegangen war, versuchte ich mit der Rohrfeder unsere Gegend zu zeichnen. Es gelang. Es war eigentlich gleich, ob ich gut oder schlecht zeichnete. Besser war schon, darüber nachzudenken, wie ich der täglichen Quälerei entrinnen konnte.
Meine Großmutter kam, sah eine Weile zu und sagte: «Das zeichnet und zeichnet und verdirbt sich die Augen.»
Wenn sie verallgemeinerte, benutzte sie nie die direkte Anrede. Wie Jule hatte auch sie eine merkwürdige Scheu vor Menschen und Sachen, die sie nicht ganz verstand.
«Das geht jetzt ins Bett, weil es müde ist», sagte ich.
Der Aufgang unseres Hauses konnte durch den Torweg betreten werden. Er führt weiter in einen Hof mit niedrigen alten Bauwerken. Links vom Eingang arbeitete der Flickschuster. Die zu seinem Laden gehörende Wohnung teilte er mit Charles, einem etwa sechzigjährigen Spastiker und dessen Schwester. Im Sommer rollte Charles seinen Stuhl vor die Ladentür und suchte uns in Gespräche zu verwickeln. Auf seinem Schädel wucherte borkenartiger Schmutz. Der Zynismus, mit dem er sein eigenes und das Leben überhaupt betrachtete, stieß uns ab. Wir verstanden nicht in den eng zusammenstehenden Augen, die trübe verschleiert dreinschauten, die Sehnsucht des Alten nach einem anderen Leben herauszulesen.
«Es wird Herbst», bemerkte Charles.
Mit einer Handbewegung hielt er mich auf. Ich vermied den Blick seiner eng zusammenstehenden Augen. Violette Augensäcke hoben das gespenstische Weiß seiner Augäpfel noch hervor.
«Wie alt bis du jetzt?», fragte er.
«Siebzehn», antwortete ich.
Eine Decke um die Beine gelegt saß er schmutzstarrend auf seinem Rollstuhl. Ich ekelte mich vor ihm.
«Ich werde jetzt arbeiten», sagte er ohne Übergang, die Atemluft verächtlich durch die Nase stoßend, «in der Manege. Ich kann als Untermann noch sehr gut arbeiten. Früher habe ich alles gemacht und viel gesehen, Barcelona, Rio, London. Dann bin ich gestürzt, und es war aus. Jetzt will ich mal sehen. Die Leute brauchen ein bisschen Freude.»
«Ja», sagte ich ungeduldig, «ich kenne ja die Geschichte. Jeder kennt sie. Aber aus dem Kietz ist nie einer weggekommen.»
«Doch», sagte er, «man kommt hier weg. Einmal kommt man hier weg.» Er schwieg eine Weile. Dann sagte er: «Du glaubst mir nicht, mein Junge?»
Mit einem Gemisch aus Widerwillen und Mitleid betrachtete ich ihn. Charles auf einem weißen Pferd oder am Trapez, das ging über meine Vorstellungskraft. Niemand glaubte ihm. Die Leute erzählten, dass er als Hucker gearbeitet habe, vom Gerüst gefallen sei und seitdem an Schüttellähmung leide.
«Lass die Finger von Vera», riet er, «die ist eine Nutte». Rastlos fuhren die Vogelklauen auf der Decke hin und her.
«Gib mir Geld», verlangte er plötzlich, «ich will mir Zigaretten kaufen.»
Geld besaß ich nicht. Was ich verdiente, gab ich meiner Großmutter.
«Versuch es mal beim alten Schwarz», rief ich, halb verärgert, halb belustigt über seine Winkelzüge.
«Dann hau ab, du Penner», sagte Charles nicht unfreundlich.
In Kretzschmars Lithografieabteilung arbeiteten zwei Gehilfen und zwei Lehrlinge hinter breiten Tischen aus glatt gehobelten Brettern. Eine Presse stand im gleichen Raum, von der ein Drucker Handabzüge herstellte. Es roch nach fetter Druckfarbe und Waschbenzin.
Herr Ulrich, der ältere der beiden Gehilfen, stand mit Kretzschmar auf vertrautem Fuß. Geschickt handhabten seine kleinen Frauenhände Feder und Kreide. Auf seinem runden Seehundskopf wuchs weißer Babyflaum. Mit Vorliebe las er utopische Romane. Gelegentlich unterwies er uns Lehrlinge praktisch. Sein Können schien uns groß und wir bestaunten ihn ehrfürchtig.
Arno war zwanzig. Dünnes Haar lag glatt gekämmt an dem vogelähnlichen Kopf. Die Backenknochen hoben sich kaum ab. Eine höckrige, stark abwärts gebogene Nase hing über dem dünnlippigen Mund. Wenn er lächelte, entstanden um seine Mundwinkel halbkreisförmige Falten, wie die Zifferblatthälften einer Uhr, dann wirkte sein Gesicht wie zerknittertes Pergamentpapier. Er kleidete sich sorgfältig, trug einen weißen Kittel, Hemd und Krawatte und sprach während der Arbeit kaum. Manchmal stand er am Fenster und starrte aus kühlen grauen Augen in den Hof hinunter. Seine Lider zeigten die rötlichen Spuren einer chronischen Entzündung.
Dagegen redete Ulrich ununterbrochen bei der Arbeit, die ihm leicht von der Hand ging.
Er sagte: «Die gelbe Gefahr. Es geht schon los. Dominik hat da eine geniale Voraussage getroffen, Arno. Merken Sie was? Lesen Sie gar keine Zeitung?»
Die kleinen Augen Ulrichs glänzten triumphierend, der Babyflaum auf seinem Kopf sträubte sich, während Arno spöttisch erwiderte: «Sagten Sie gelbe Gefahr? Der Drucker hat über Ihren Gelbauszug gemeckert.»
Mir vertraute er später an: «Ein seniler Dummkopf und ein falscher Hund. Er klatscht bei Kretzschmar herum, was wir reden. Also halte deine Klappe.»
Günter Baum, Lehrling wie ich, hatte den watschligen Gang fetter kleiner Jungen. In seinen braunen Augen las ich die mir gut bekannten uferlosen Träume.
«Ich will Karikaturist werden», gestand er, «und du?»
Zum Beweis reichte er mir seine Zeichnungen, auf denen Menschen in komische Situationen verstrickt waren, in Situationen, die sie allein nicht meistern konnten. So ähnlich schien mir Baums Lage. Nie brachte er eine Arbeit pünktlich und gut zu Ende. Den Rügen Arnos setzte er kindliche Tränen entgegen, die seine runden Backen herunterrollten. Er tat mir leid, und ich stellte Arno zur Rede.
«Lehrjahre sind keine Herrenjahre», sagte Arno, «und wieso ist der Bengel eigentlich so fett?»
Baums Eltern hatten ein Lebensmittelgeschäft. Während wir unsere klitschigen Brotschnitten auf dem Kanonenofen rösteten, stieg uns der Duft von Wurst und Käse in die Nase. Die runden Augen Baums sahen uns friedlich an, die Augen eines gedankenlosen, gesättigten, nicht unfreundlichen Tieres.
Arno bemerkte lakonisch: «Keine Freundschaften, das ist Kretzschmars Prinzip. Warte ab, bis du ihn besser kennst. Dann wirst du auch verstehen, warum hier einer des anderen Deibel ist. Unter uns gesagt, Gehilfenjahre sind auch keine Herrenjahre.»
Das Auffallendste an Kretzschmar war ein mächtiger Siegelring, den er an der rechten Hand trug. Ständig rieb er ihn an der Strickjacke, die an dieser Stelle merklich abgenutzt war. Er wohnte in der ersten Etage des Vorderhauses, das ihm gehörte.
An den Wochenenden mussten wir bei ihm erscheinen. Jeden Freitag prüfte er die Fortschritte, die wir machten. Mit quengliger Stimme verteilte er Lob und Tadel. Gewöhnlich empfing er uns in seinem Arbeitszimmer am Schreibtisch, einem riesigen alten Möbel, über das ein Bild von Baluschek hing. Nachdenklich richtete er den Blick auf die Schlote und Hochöfen und bemerkte salbungsvoll: «Immer streben, immer nach Vollkommenheit streben.»
Eine lederbezogene Klubgarnitur nahm das halbe Zimmer ein. Kretzschmar forderte uns nie zum Sitzen auf.
Einmal sagte Arno: «Kretzschmar ist ein Fuchs. Nazi war er nicht, nur eben so Mitläufer. Fremdes Eigentum hat er wohlweislich nicht angetastet. Nach dem Kriege trieb er sogar einen Juden auf, der ihm seine Menschenliebe bescheinigte. Der Betrieb ist renommiert. Kretzschmar zahlt anständig. Soviel wirft die Klitsche immerhin ab. Wie das Geschäft läuft, weiß nur er allein und vielleicht noch Tamm, sein Treiber. Alles alter Stamm hier. Gegen Kretzschmar ist nichts zu sagen. Am besten macht man seine Arbeit und sucht nicht aufzufallen.»
Beklommen nickte ich.
Jule legte sich. Nachts weckte mich häufig sein trockener Husten. Gepflegt wurde er von Großmutter. Er stand nur noch stundenweise auf, saß frierend herum und redete viel vom Sterben.
Dieser November war nasskalt und regnerisch. In Eimern und Schüsseln fing ich das durchlaufende Wasser auf. Dann lag ich wach, lauschte auf Jules Husten und die klingenden Tropfen. Jedes Gefäß gab einen besonderen, nur ihm eigenen Ton. Hin und wieder wurde das Dach ausgebessert, aber immer fand das Regenwasser einen neuen Weg in unsere Wohnung.
Manchmal betrachtete ich die beiden Fotos meiner Eltern, einen kugligen Mann mit Brille und ein Mädchen im langen schwarzen Einsegnungskleid. Die Hände meiner Mutter staken in weißen Handschuhen, hielten das kleine Buch und den Strauß Blumen.
«Dein Vater», sagte meine Großmutter, «der hat viel gelesen. Immer war das bei den Büchern, er wollte etwas Besonderes sein. Sicherheit suchte er. Hitler wollte er nicht, Beamter bleiben auch nicht. Da fing er an zu malen. Das war dann seine Welt, bloß es war nicht die richtige Welt.»
Ich gab mir Mühe, zu den beiden Menschen auf den Fotos Beziehungen herzustellen, aber es gelang mir immer seltener. Es war komisch, dass ich dem Mädchen mit dem kindlich, ernsten Gesichtsausdruck und dem dicken Mann mit Brille mein Leben verdanken sollte.
Von meiner Mutter wusste meine Großmutter noch weniger als ich, von der ich noch manchmal ihre Hände zu spüren glaubte. Wie es schien, war das Verhältnis zwischen meiner Mutter und ihren Schwiegereltern nicht gut gewesen. Einundvierzig kamen wir auseinander. In ihren Briefen an mich beschwor meine Mutter den Tag, der uns alle wieder zusammenführen würde.
Du musst tapfer sein, schrieb sie, das geht ja vorüber.
Für mich gab es keinen Grund, tapfer zu sein. Ich hatte die Ereignisse, die uns trennten, nicht gewollt und nicht herbeigeführt.
Es ging vorüber, nur anders, als meine Mutter gemeint hatte. Bei einem Luftangriff kam sie ums Leben. Das Haus, in dem wir gewohnt hatten, brannte ab. Fast zur gleichen Zeit fiel mein Vater. Meine Großmutter holte mich aus Schlesien zurück, wohin ich mit der Schule evakuiert worden war. Seitdem lebte ich in der Blumenstraße.
In den Kriegsjahren fuhr ich hin und wieder ein paar Wochen lang in eine Schule des Berliner Randgebietes, selten. Wir verbummelten gleichmäßig, Vera, Helga, Vigo und ich. Was wir wussten, verdankten wir der Blumenstraße.
Bruno verkaufte Knöpfe, Gummiband und anderen Krimskrams auf einem Markt, der zweimal in der Woche in der Boxhagener Straße abgehalten wurde. Nebenbei besorgte er die Geschäfte der Hausbewohner. Alle kannten ihn, und er kannte beinahe alle. Im Kopf des Buckligen wimmelte es von Gedanken und Unternehmungen.
Ich saß häufig bei ihm in der Küche, dem einzigen Raum, den er wirklich benutzte. Meine Großmutter glaubte, dass der Umgang mit Buckligen Glück bringt.
«Dein Vater liebte Bilder und machte auch welche», sagte Bruno.
Aus dem Küchenschrank kramte er einen Packen abgegriffener Zeichnungen und Aquarelle hervor. Auf dem Tisch, der mit Wachstuch bespannt war, breitete er sie aus.
«Das hat dein Vater gemacht», sagte er.
Stiller Sonntage entsann ich mich, an denen mein Vater an seinen Bildern gearbeitet hatte.
«Ich habe sie ihm abgebettelt», sagte der Bucklige, «er trennte sich schwer von seinen Bildern.»
Ich betrachtete die Landschaften mit den Seen in der Mitte und den Kiefern im Vordergrund. Ich besaß selbst einen Stapel dieser Bilder. Gelungen schien mir eigentlich keines. Was ich zu sehen vermochte, war die arbeitende Hand meines Vaters, sein Kopf mit dem glatten schon ergrauten Haar.
«Für dich wird das nun ein Beruf», sagte Bruno bedeutsam, «das vererbt sich.»
«Was sich nicht alles vererben soll», sagte ich.
Unter dem Nachlass meines Vaters befanden sich Bücher meist naturwissenschaftlichen Inhalts mit Randnotizen von seiner Hand, ein paar Hemden, Wäsche und ein Anzug, in den ich erst hineinwachsen musste.
«Glaubst du, die Zeichnungen sind etwas wert?», fragte ich zweifelnd.
Der Bucklige zögerte mit der Antwort.
«Darauf kommt es doch nicht an», sagte er.
«Worauf kommt es denn an?»
Bruno schwieg. Er fischte eine seiner Sternenkarten aus dem Schrank, der alles Mögliche beherbergte, Esswaren, Bücher und Geschirr, löschte das Licht und hielt die Karte hoch. Die Sterne, mit einer grünlichen Phosphorfarbe gemalt, begannen zu leuchten.
«Mein Planetarium», sagte er stolz und begann die Stellung der Sterne zu erklären.
«Dein Vater», nahm er das Gespräch wieder auf, «wenn er machte was ihm gefiel, dann fühlte er sich wohl. So was hat seinen Wert aus sich selbst heraus.»
Vor Bruno hatten wir einen großen Respekt, wenigstens wir Jüngeren.
Seufzend schaltete er das Licht wieder ein, räumte die Blätter weg und musterte mich aus tief liegenden Augen.
«Wolltest du was?», fragte er in anderem Ton.
Ich machte ihm klar, dass der Winter vor der Tür stand.
«Wir brauchen Kohlen», sagte ich.
Er senkte den Kopf, bis ich seine Augen nicht mehr sehen konnte.
«Und woher soll ich welche nehmen?», fragte er. «Und was könnt ihr geben? Ihr könnt doch nie was bezahlen.»
Das war der andere Bruno, der Händler und Geschäftemacher, der seinen Vorteil suchte. Unten stand sein dickes altes Pferd, es bewies, dass hinterm Pferdeschwanz noch keiner verhungert ist. Mich interessierte die Verwandlung Brunos mehr als sein Gerede.
«Jeder will was», lamentierte der Bucklige, «Kohlen, Kartoffeln. Was soll ich dir abnehmen, einer Waise? Schick mir lieber deine Großmutter.»
Er verstummte und starrte auf den Fußboden, der lange keinen Wischlappen gesehen hatte.
«Wie sein Vater», brummelte er, «der konnte einen Berg für andere versetzen und sich selber nicht helfen. Hat auch ein böses Ende genommen.»
Der alte Schwarz schob mich vor sich her in die Küche. Er war Abträger auf dem Schlachthof, ein herkulisch gebauter Kerl von vierzig Jahren, nach frischer Milch duftend und nach rot blutendem Fleisch. Er lebte unbekümmert in den Tag hinein, stahl Fleisch und verkaufte in den Kneipen, was die Familie nicht selbst verbrauchte. Alle paar Monate betrank er sich bis zum Delirium und brauchte manchmal Wochen, um wieder auf die Beine zu kommen. In den Perioden dazwischen war er einigermaßen umgänglich.
Klein und sauber war die Küche, mit niedriger Decke und alten Möbeln. Vigo war da und Vera. Ich gab ihr die Hand und klopfte Vigo auf die Schulter. Weil es nur drei Stühle gab, setzte sich Vera zu Vigo auf den Schoß. Ich nahm den frei gewordenen Stuhl, und der alte Schwarz meinte: «Zappeln darfst du nicht, Wolf. Die Stühle sind ein bisschen altersschwach.»
Anscheinend belustigte ihn die Vorstellung, mich mit dem Stuhl zusammenbrechen zu sehen, denn er lachte ausgiebig.
«Du könntest ja mal ein paar neue Stühle besorgen, anstatt alles in die Kneipe zu tragen», sagte Vigo schlecht gelaunt.
«Ich könnte dir auch mal wieder eine langen», antwortete der Abträger gelassen. Er brannte sich eine Zigarette an und sah auf uns herab.
Vigo verband keine guten Erinnerungen an die Tage, an denen der Abträger trank. Beruhigend legte Vera den Arm um Vigos Nacken. An ihrem Handgelenk klirrte eine billige Kette mit allerhand Anhängsel: Bären, Wappen Glückskäfer und Pilze. Mir fiel wieder auf, wie schmal der Arm Veras war und wie weiß. Es war merkwürdig, dass dieser Kinderarm zu ihrem wissenden und gierigen Körper gehörte.
Ich stellte unsere berühmte Frage. Wie üblich wusste keiner eine Antwort.
«Na», sagte der Abträger, «streng dich mal an, Wolf. Die kommen von alleine auf nichts»
In unserem Viertel hatte ich einen Ruf zu verlieren. Deshalb schlug ich vor, ins Theater zu gehen. Helga ging häufig ins Theater. Hin und wieder schleppte sie uns mit. Theater liebte ich nicht sehr. Wie Vera und Vigo zog ich Kino vor, aber nur wenige Filme fanden meine Zustimmung.
Stumm lehnte Vigo ab. Vera verzog den Mund.
Wieder schaltete sich der alte Schwarz ein.
«Da hast du es. Jetzt bist du mit einem Vorschlag an der Reihe», sagte er zu seinem Sohn.
Herausfordernd sagte Vigo: «Wie oft zieht es dich denn ins Theater?»
Es sah aus, als ob Vigo wieder mit Vera ging. Vielleicht hatten sie sich ausgesöhnt.
«Wir mussten ja bloß für dich rackern, deine Mutter und ich», sagte der Abträger, «und trotzdem waren wir kein so trauriger Verein wie ihr heute.»
«Ich rede nicht von früher», sagte Vigo.
«Dich setz ich noch mal vor die Tür, mit deiner frechen Schnauze», meinte der Alte.
«Schmeiß mich doch raus», sagte Vigo.
Vera glitt von seinem Schoß. «Also dann um sieben unten», sagte sie. Vigo nickte.
Es war Sonnabend, und ein langes Wochenende stand uns bevor. Langsam stieg ich nach oben, überlegend, ob es einen Sinn hatte, zu Helga zu gehen. Dann unterließ ich es. Wir würden uns nachher doch sehen.
Am Tisch saß der Arzt und schrieb. Meine Großmutter hielt seinen Hut und sah respektvoll auf die Glatze des Doktors hinunter. Ich grüßte leise, um ihn nicht zu stören. Er kam häufig, seit Jule krank lag. Der Doktor kannte uns gut, und wir liebten ihn sehr. Schwangeren sagte er den Tag ihrer Niederkunft voraus oder half bei Abtreibungen. Er schrieb Rezepte für die Lebenden und stellte die letzte Diagnose. Es kam vor, dass er eine halbe Nacht am Bett eines Sterbenden verbrachte. Unsere kleinen und großen Sorgen interessierten ihn ebenso wie unsere körperlichen Leiden.
Ohne aufzusehen, sagte er zu mir: «Sie müssen gleich zur Apotheke. Wir können ein Stück zusammengehen.»
Sein Spitzbart war grau, und die Augenlider hinter den Brillengläsern waren stark gerötet. Ich trug seine Tasche. Wir gingen die Blumenstraße hinunter.
Er legte mir die Hand auf die Schulter: «Sehen Sie sich alles gut an. Es ist nützlich. Die Häuser waren schon vor dem Kriege nichts mehr wert. Man müsste sie abreißen.»
Ich wusste, dass der Doktor aus der Gegend weggekonnt hätte.
Er blieb stehen, nahm die Brille herunter und rieb sich die entzündeten Augenlider.
«Rennen Sie nicht so», sagte er, «auch Ärzte haben einen Kreislauf, besonders alte Ärzte.»
Wir liefen ein paar Schritte weiter, bis er wieder stehen blieb. Seine wässrigen Augen sahen mich prüfend an. Er riet: «Seien Sie vorsichtig beim Geschlechtsverkehr. Wir haben jetzt eine Masse Neuinfektionen. Kriege und Epidemien gehen immer zusammen. Wie sind eigentlich die Rollen unter euch verteilt?»
Ich klärte ihn auf und fragte, ob er glaube, dass die Häuser einmal abgerissen werden würden.
«Vielleicht», sagte er, «aber wann?»
Abends trafen wir uns auf der Straße, Vera und Vigo, Helga und ich.
Veras Mutter arbeitete in einer Wäscherei. Durch das Stehen waren ihre Fußgelenke geschwollen. Die Bandagen, die sie trug, änderten daran nur wenig. Ihr Gesicht, von dünnem, fahlem Haar umrahmt, war flach und leblos. Sie hörte schwer, weshalb ihre Augen meist einen fragenden Ausdruck hatten.
«Sie muss gleich kommen, wenn sie kommt», sagte die Plätterin böse, auf meine Frage nach Vera. Sachkundig füllte sie das schwere alte Plätteisen mit glühender Holzkohle, die sie dem Herd entnahm. Die Wärme des Eisens prüfte sie an ihrer Wange.
«Komisch», sagte ich, «dass es noch Leute gibt, die was zu plätten haben.»
Sie nickte gleichgültig. Ich hatte Mühe mit ihr, ein Gespräch in Gang zu bringen.
«Hat Ihr Mann eigentlich noch mal geschrieben?», fragte ich.
Das Thema schien irgendeine Saite in ihr zum Klingen zu bringen, denn sie sagte: «Was ich mit diesem Lumpen ausgestanden habe! Er hat nie gearbeitet. Angeblich hat er einen Laden. Woher, das möchte ich wissen.»
Auf einen Laden richteten sich die Hoffnungen vieler Leute aus unserer Gegend. Aus den Worten der Plätterin war Achtung vor der Tüchtigkeit ihres Mannes herauszuhören.
«Du brauchst nicht zu warten», sagte sie plötzlich, «wenn Vera kommt, muss sie was für mich besorgen.»
Später ging ich mit Vera zum Schlossplatz. Es war noch hell, aber schon merklich kalt. Der Winter kündigte sich an. Vor der ausgebrannten Schlossfassade liefen Gruppen von Menschen auf und ab. Jeeps mit Soldaten fuhren langsam über den Platz.
«Woher hat deine Mutter die Zigaretten?», fragte ich.
«Sie verkauft die Zigaretten für ihre Chefin», sagte Vera kurz, «meine Mutter ist doch ein blödes Aas. Sie lässt sich von jedem ausnutzen.»
Vera kannte sich aus. Sie sprach einen Mann an, und das Geschäft wickelte sich schnell ab.
«Wie ist denn deine Arbeit?», wollte sie wissen, als wir zurückgingen. «Hast du dich schon eingelebt?»
«Nein», sagte ich.
In den ersten Wochen hatte ich versucht, mich dem Trott anzupassen. Einmal in der Woche ging ich in die Berufsschule, die am Schlesischen Tor im amerikanischen Sektor lag. Der Lehrer hieß Garnitz, wir nannten ihn Garnichts. Er war Kirchenmaler.
«Was hast du denn erwartet?», fragte Vera erstaunt. «So geht es doch allen?»
«Das fragt sich noch», sagte ich.
Wir gingen hinauf in mein Zimmer. Bald darauf kamen Helga und Vigo. Bei heißem Pfefferminztee erörterten wir unsere Lage. Bald wendete sich das Gespräch dem Schwarzmarkt zu.
«Bestrafen», sagte Helga, «hart bestrafen, wer sich jetzt noch bereichert und die Not ausnutzt.»
Das schwache Licht zweier Kerzen verwandelte das helle Blau ihrer Augen in ein dunkles Ultramarin, wie ich mit neuem Sachverstand feststellte. Wie gewohnt gab es abends keinen Strom.
Vera bestätigte Helgas Bemerkung nicht allzu eifrig.
«Dann kannst du ein Ghetto aus der Stadt machen», sagte Vigo.
Er sah im Kerzenlicht aus wie mit Lack übergossen. Bei Vera trat das Weiß ihrer Haut noch stärker hervor. Der Rauch stinkender Zigaretten kräuselte sich bis zur Decke.
Helga sagte: «Vielleicht bin ich zu radikal.»
«Wir kennen ja nichts anderes», sagte Vigo, «und ich habe den Eindruck, dass es eher schlimmer als besser geworden ist. Irgendjemand hat mal gesagt, genießt den Krieg, der Friede wird furchtbar. Der hat mehr recht gehabt, als er selber wusste.»
Nach einer Weile sagte Helga: «Das ist eine schauderhafte These. Im Krieg haben doch alle geschworen, lieber zu hungern, bloß keine Bomben. Alle haben es gesagt, keiner will es mehr wahrhaben.»
In letzter Zeit widersprach sie Vigo öfter. Zwischen beiden war eine Spannung entstanden, deren Ursache ich nicht kannte.
«Schlechtes vergisst man eben schneller», warf Vigo ein.
«Gefühlsmäßig ja», gab Helga zu, «aber wir haben ja auch Verstand und können uns erinnern.»
«Das ist noch die Frage, ob du dich erinnerst oder bloß nachplapperst», meinte Vigo.
«Ich habe eine Freundin», sagte Helga ruhig. «Freundin ist vielleicht zu viel gesagt, denn sie ist bedeutend älter als ich. Sie hilft mir vieles verstehen, was ich allein nicht begreifen würde. Ich bin nicht so borniert, mich für fertig zu halten»
Ich hörte zum ersten Male von dieser Freundin. Gerade wollte ich mich nach ihr erkundigen, als Vera mich unterbrach.
«Müsst ihr euch eigentlich immer zanken?», fragte sie.
Die beiden schwiegen.
Dann entwarf Vera Lebenspläne für uns. Helga wird Kinderärztin. Vigo Rennfahrer und Wölfchen Kunstmaler.»
Vera hatte nie ein Rennen gesehen.
«Und was wirst du?», fragte Helga spöttisch.
«Schauspielerin», sagte Vera prompt.
«Du hast auch bloß Glück gehabt», wendete Helga sich an Vigo, «der Krieg, den die Nazis angezettelt haben, ist verloren. Jetzt tragen eben alle die Folgen.»
Vera schmiegte sich an Vigo. Ziemlich brüsk schob er sie weg.
«Die sagen doch immer, es gibt keine, wie heißt das, Schuld?»
«Kollektivschuld», warf ich ein.
«Richtig», sagte Vigo, «also dieses Ding gibt es nicht. Logischerweise brauchten wir dann auch nicht mitzuhungern. Wir sind ja Kinder gewesen, als die Nazis rankamen. Wie sieht es aber in Wirklichkeit aus? Kennst du einen, der mit den Rationen auf die Dauer leben kann? Lass den Winter kommen, dann wird es noch schlimmer. Bei uns waren sie heute in der Werkstatt, wir sollen Holz schlagen.»
Die Tasse, an der sich Helga wärmte, klirrte leise. Im Streit bewahrte sie selten kaltes Blut.
«Warum geht ihr neuerdings so schnell aufeinander los?»
Helga sagte: «Wölfchen, gerade uns Jüngeren wirft niemand eine Schuld vor. Wir müssen doch gerecht sein. Ganz Europa ist zerstört. Wenn nun jeder so denkt wie Vigo, was dann?»
Vigo sagte wütend: «Komm doch nicht mit der alten Leier. Es denken ja eine Menge Leute nur an sich. So gleichmäßig ist die Not nun auch wieder nicht verteilt. Das Gemeinschaftsgerede hängt mir zum Halse raus.»
Da Helga schwieg fuhr er fort: «Wer mich überzeugen will, der muss bei sich anfangen. Ich habe den Mann, der uns für die Holzaktion gewinnen wollte, erst mal gefragt, ob er auch mitfährt. Da ist er abgezogen. Und ich frage dich, wie viel Gramm Brot gibst du an Charles beispielsweise freiwillig ab?»
Vera sagte: «Macht mal Schluss mit dem Gequatsche. Wir ändern doch nichts an diesen Sachen.»
Ich wartete darauf, dass sich die angegriffene Helga verteidigen würde.
«Eines will ich dir noch sagen», meinte Vigo, «ich geh in keine Kirche, in keine schwarze und in keine braune, aber auch in keine rote.»
«Das verlangt auch kein Mensch von dir», sagte Helga, «ich geh auch in keine Kirche.»
«Noch nicht», sagte Vigo lauernd, «noch gehst du nicht in die rote Kirche.»
Im Stillen musste ich ihm zustimmen. Helga schien sich von uns zu entfernen. Sie dachte nicht mehr unsere Gedanken, kritisierte unsere Unterlassungen und trieb uns mit ihren Fragen in die Enge. Sie hatte sich auch schon deutlicher ausgedrückt als jetzt.
Gegen Vigo kamen wir schwer an. Er vereinfachte alles. Vielleicht empfand er auch Helgas Überlegenheit als lästig. Dem besseren Argument war er kaum zugänglich. Helga schonte ihn auch immer seltener. An Vera oder mir schien ihr bedeutend weniger zu liegen.
«Es ist besser für uns, wir würden die Scheuklappen ablegen», sagte sie still.
«Na schön», meinte Vigo, scheinbar versöhnt, «ich wollte auch nur für alle Fälle meine Meinung gesagt haben.»
Nachdem meine Großmutter das Geschirr weggeräumt hatte, sagte sie beiläufig: «Geh mal rüber zu Bruno. Frag mal, was denn aus den Kohlen wird.»
«Und was müssen wir dafür geben?»
«Bestecks», sagte sie ruhig.
Brunos Tür war offen, wie immer, wenn er sich zu Hause aufhielt. Die Augen des Buckligen glänzten erfreut, als er mich sah.
«Heut Nacht», sagte er. «Bring den Kellerschlüssel rüber. Das geht schon in Ordnung.»