Читать книгу Der Fremde und das Dorf; Die Gesichte der Blinden - Helmut H. Schulz - Страница 4
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In den Bergen ist ein Dorf, unweit von Mistrella. Der Autobus, der einmal täglich in das Dorf der "Santa Maria in den Bergen" fährt - die Madonna hat sich neben zahlreichen Heiligen das Erstrecht bewahrt -, gehörte längst ins Ruhelager.
Luigi, der Fahrer, hat viel Zeit und Mühe darauf verwandt, die Launen seines Gefährts zu erkunden. Er kann sich rühmen, es zu seltener Meisterschaft darin gebracht zu haben.
Das Dorf der Santa Maria ist am Tage öde und verlassen. Ein Dutzend Häuser reihen sich aneinander. Sie stehen dicht gedrängt, als suchten sie Schutz. Die Straßen sind von Mauern eingerahmt. Das Baumaterial der Mauern sind zerbröckelnde Steine, die nur lose aufliegen.
Die Straßen und Wege des Dorfes führen hinaus auf die Felder der Grundherren und die Zinsböden der Pächter.
Der Platz des Dorfes Santa Maria in den Bergen ist von Häusern umgeben, die einen gewissen Wohlstand verraten: das Pfarrhaus, das Haus des Bürgermeisters, das Gemeindeamt, die Schenke Don Brandos und die Kirche.
Eine Schule gibt es nicht, obwohl das Gesetz die Gemeinde hierzu verpflichtet.
Vor der "Chiesa Madre", der Kirche, ist ein Standbild der Heiligen Jungfrau aufgestellt, das an ein Wunder erinnern soll. Das Wunder geschah vor langer Zeit. Die Madonna ist in Stein gehauen. Der Künstler war nicht ungeschickt. Er hat ihr die rührende Haltung bittender Mütter gegeben.
Aus steinernen Augen blickt sie schräg nach oben. Das Kind, das sie in den Armen hält, scheint aus ihrem Gewand zu kommen.
Gegenüber ist die Osteria, die Schenke, und Don Brando, der Wirt, ist ein vielseitiger Geschäftsmann. Don Brando stellt eine Macht dar, dank seines Warenlagers. Er versorgt das Dorf mit allem. Er hat sogar einige Benzinkanister im Hofe seines Hauses stehen, für die wenigen Touristen, aber sie liegen schon lange dort. Die ehemals grüne Farbe blättert bereits an einigen Stellen ab.
Das Haus des Bürgermeisters und das Gemeindeamt liegen dicht beisammen, das ist ein Zufall, aber ein besonders günstiger. Er erspart Guiseppe Lafranci, dem Bürgermeister, viel Zeit, und Zeit ist Geld, sagt man.
Dahinter beginnen die armseligen Häuser der Landarbeiter und Pächter. Gelegentlich hebt sich ein Haus besonders hervor. Man sieht Hühner und einige Schafe auf den freien Plätzen des Dorfes. Manchmal schreit mit ausdauernder Starrköpfigkeit ein Esel. Der Esel hat seinen Grund zur Klage, aber wer hätte das nicht im Dorf Santa Maria in den Bergen? Dem Dorf der Heiligen Jungfrau, die einmal, vor langer Zeit, ein Wunder getan hat.
Ein Haus steht abseits. Es ist blendend weiß und das muss auffallen, weil die meisten Häuser schmutzig grau sind. Vielleicht hat die weiße Fassade eine besondere Ursache. Es gehört dem Mafioso Carlo Ricci, mit dem es eine merkwürdige Bewandtnis hat.
Über allem steht die sengende sizilianische Sonne, und über allem erheben sich zahllose Heiligenhände.
Die alte Maria Rossa war eine vom Festland. Sizilien wurde ihre Nachkriegsheimat, und das Dorf Santa Maria in den Bergen hielt sie fest. Ihr Rücken war leicht gebeugt. Sie passte sich schnell an, trug meist einen braunen Rock zu schwarzen Schuhen und schwarzer Mantilla, wie die anderen Frauen. Ihr Gesicht wies manche Falte auf. Daher meinte man, eine Alte vor sich zu haben, aber Maria Rossa zählte vierundfünfzig Jahre. Ihre Augen waren jünger.
Ihr Auftauchen im Dorf bedeutete damals für die Bewohner ein kleines Ereignis. Im Dorf lebten etwa hundertfünfzig Menschen, und jeder kannte jeden.
Maria Rossa quartierte sich beim alten Banducci ein, der ihr gern eine. Kammer überließ. Das einzige Fenster der Kammer ließ sich nicht öffnen, und nach den ersten Versuchen zu lüften gab es Maria Rossa auf. Sie war tagsüber selten zu Hause. Abends hielt sie das Fenster ohnehin geschlossen, um die Nebel abzuhalten. Sie meinte, sie seien giftig. Miete brauchte sie nicht zu zahlen, musste aber Banducci die Wirtschaft führen.
Banducci war ein geduldiger Greis. Er konnte seine Augen, die sich müde gesehen hatten, stundenlang auf einen Punkt richten und lebte von den Dollars, die ihm seine Kinder aus dem fernen und geheimnisvollen Amerika schickten.
Die Nachbarn fragten ihn manchmal: "Was schreiben sie denn, die Kinder?"
Banducci und seine Leute gehörten zu den wenigen, die lesen konnten.
Der Alte antwortete dann stets unwirsch. "Es ist nicht gut dort", schreiben sie. "Es ist schwer zu leben, auch dort."
Dann lachten die Frager.
"Das sieht man, wie schwer sie es haben, die Kinder. Wie du lebst, Banducci, du bist fast ein Reicher."
Das erzürnte ihn. "Was fragt ihr mich dann, wenn ihr es besser wisst? Lasst mich in Ruhe."
So war es Banducci nur recht, dass Maria Rossa bei ihm wohnte, die keine Fragen stellte. Sie hielt seine Sachen in Ordnung und kochte sein Essen. Sie erzählte mehr, als der Alte von den schweigsamen Bauern gewohnt war, und er pries den Tag, an dem sie ins Haus gekommen war.
Im Dorf hatte Maria Rossa eine Art Sonderstellung. Die Leute wussten wenig genug von ihr. Es war allgemein bekannt, dass sie in einem ebensolchen Dorf in der Nähe Roms gelebt hatte. Warum sie es verließ, konnte keiner sagen. Sie selbst sprach nie darüber, sagte aber, sie hätte keine Verwandten mehr, und das ist für einen Italiener ein großes Unglück.
Ihr Leben schien rückwärtsgerichtet. Im Laufe der Jahre wurde ihr das Dorf in den Bergen vertraut. Der Platz mit der Kirche und der steinernen Madonna, vor der sie sich jedes Mal umständlich bekreuzigte, das Gemeindeamt und die Häuser, der Autobus und der flimmernde Glanz der Hitze über dem Gebirge. Sie wohnte, und sie wurde satt. Sie wurde erstaunlicherweise eigentlich täglich satt.
Manchmal kamen Puppenspieler aus Palermo in das Dorf. Meterhohe Marionetten bewegten sie. Meist zeigten sie Gestalten des Rolandsliedes, den schielenden Ganelon, den Verräter oder den mächtigen Kaiser Karl, Gestalten, die hier sehr bekannt sind. Maria Rossa lachte und litt mit den Helden genau wie die anderen.
An diesem Tag null hatte sie eine Menge erledigt. Sie schleppte sich auf müden Füßen ins Dorf. Es war Ende Februar und nicht sehr heiß. Die Gärten blühten und der Wind trieb eine Duftwolke vor sich her. Auf dem Dorfplatz, vor der Osteria, stand ein Wagen.
Wahrscheinlich ein Tourist, dachte sie, denn es verirrten sich doch immer wieder gut gekleidete Reisende in das abgelegene Dorf auf der Suche nach dem Außergewöhnlichen. Maria beachtete den Wagen nicht weiter, er ging sie nichts an. Sie schritt an der Schenke vorbei, drehte aber wieder um. Das Olivenöl, das sie brauchten, konnte sie ebenso gut gleich einkaufen. Sie ging die paar Schritte zurück zur Schenke. Die Tür stand offen. Im Schankraum hielten sich einige junge Männer auf. Sie tranken billigen Wein und unterhielten sich laut. An der Wand hinter der Theke hob sich ein Regal bis an die Decke, angefüllt mit Flaschen und Gläsern. Links und rechts daneben konnte man in die Vorratskammern gelangen. Perlenvorhänge schlossen sie gegen neugierige Blicke ab.
Am Schanktisch stand Luca, der Angestellte, ein typischer Sizilianer, untersetzt, mit ausgeprägten Gesichtszügen. Er bemerkte als Erster die Frau, die an der Tür stehen blieb.
"Guten Abend, Signora Rossa", rief er, "kommen Sie doch herein."
Maria Rossa grüßte lächelnd zurück und ging auf einen freien Stuhl zu. Sie ließ ihre dunklen Augen freundlich über die Jungen gleiten, während Luca die Ölflasche besorgte. Sie zahlte und war gerade im Begriff sich zu erheben, als sie durch eine Entdeckung festgehalten wurde, die ihr das Blut stocken ließ.
Er trug einen Anzug aus leichtem Stoff. Am linken Handgelenk blitzte eine Uhr. Dann sah sie sein Gesicht und was sie bisher nur halb wahrgenommen, das suchte sie jetzt mit brennenden Augen.
Der Kopf des Mannes saß auf einem kurzen Hals. Der Hinterkopf war stark gewölbt. Er hatte wenig Haar, aber dichte, buschige Brauen, eine sehr starke, schöne Nase und stechende Augen.
Maria Rossa ging wie im Traum aus der Schenke, an den Jungen vorbei, ohne deren Grüße zu erwidern.
Sie eilte nach Hause und ließ sich auf das Bett in ihrer Kammer fallen.
Banducci aber hockte auf seinem alten Platz und blinzelte in die untergehende Sonne. Als sich Maria Rossa nicht meldete - er wusste sie im Hause -, erhob er sich ächzend aus seinem Stuhl und kletterte die Stiege hinauf in ihre Kammer. Dort setzte er sich schwerfällig in den einzigen Stuhl aus geflochtenem Rohr. Sie beachtete ihn nicht, sondern starrte die Decke an. Banducci schwieg. Er hatte gelernt, zu warten.
"Was ist? Bist du krank?", fragte er endlich, seine Gegenwart in Erinnerung bringend, aber auch, weil ihm ihr Schweigen merkwürdig vorkam.
Ist es möglich, dachte Maria Rossa, die Schatten sind mir nachgereist? Sie liegen in der Erde und schlafen, aber können sie denn das? Der Himmel ist blau über ihren Gräbern und die Erde rissig, aber können sie denn schlafen?
"Es sind zu viele Gräber", sagte sie unvermittelt aus ihren Gedanken heraus.
Banducci hob überrascht seine dunklen Augen, die schlecht zu den grauen Haaren und der hinfälligen Gestalt passten.
"Weshalb meinst du das", fragte er.
Die Frau machte eine heftige Gebärde. "Sie sind am elften September des Jahres neunzehnhundertvierundvierzig in unser Dorf gekommen. Auf ihren Stiefeln war Staub, in ihren Gesichtern der Tod. Er zog auf ihrer Straße mit. Es war ein früher Morgen. Sie suchten ein Dutzend Männer aus, führten sie vor das Dorf und erschossen sie.
Banducci sah sie an, als verstünde er den Sinn ihrer Worte nicht. Es fiel ihm schwer, Beziehungen zwischen diesem Ereignis und seiner Mieterin herzustellen.
"Die Toten sind nicht still in ihren Gräbern, und Gott müsste viele Söhne haben, wollte er alle Sünder erlösen."
Banducci schüttelte müde den Kopf. "Der Tod war überall in jenen Tagen", sagte er.
Die Rossa richtete sich auf. "Du hast recht", sagte sie, "der Tod war überall. Wir haben die Toten begraben. Sie lagen da in ihrem Blut, und wir haben die Erde für sie aufgetan. Mehr konnten wir damals nicht tun."
Banducci nickte. "Mehr kann man nicht tun", sagte er, "nun ist das vorbei."
"Der Mörder sitzt in der Osteria", sagte Maria Rossa hart.
Banduccis Augendeckel hoben sich, flatterten wie aufgeschreckte Vögel und fielen dann wieder über die Augäpfel. "Der Mörder sitzt in Brandos Schenke? Woher willst du das wissen?"
Maria Rossa sah ihn überlegen an. "Woher? Ich habe ihn gesehen, und so viel Licht ist noch in meinen Augen, dass ich ihn erkenne."
"Was willst du tun?", fragte Banducci nach einer Pause.
Die Rossa stand auf. "Als der Krieg zu Ende war, bin ich weggezogen", sagte sie. "Ich mochte nicht mehr in dem Dorf leben. Es konnte dort nicht mehr so sein wie früher. Wie die anderen es ertragen haben, weiß ich nicht. Ich bin hierher gekommen, zu den Leuten ins Gebirge, aber richtig gelebt habe ich nie mehr. Das merke ich jetzt, nachdem ich den Mann wiedergesehen habe, der in unserer Schenke sitzt, unseren Wein trinkt, so gleichmütig, wie er unser Blut vergossen hat."
Sie zog sich erregt ihr schwarzes Tuch um die Schultern. "Ich muss sofort gehen", sagte sie, "ehe er wieder wegfährt mit dem Wagen."
"Maria", sagte Banducci, "du weißt also nicht genau, ob er es ist. Dann warte noch, bis du ruhiger bist. Vielleicht ist er es nicht, und du hast dich geirrt? Was gehen dich die Toten deines Dorfes an? Du lebst jetzt bei uns in den Bergen." Er hob beschwörend die Hände, als wollte er sie zurückhalten.
"Unter den Toten war mein Sohn", sagte die Rossa mit versagender Stimme.
"Die Madonna schütze dich", sagte er leise. Als er aufblickte, war das Rechteck des Türrahmens leer.
Maria Rossa eilte die steinige Straße ins Dorf hinab, entlang an den Mauern, die ihr den Weg vorzeichneten. Auf den Gesteinsbrüstungen vor den Häusern standen die Frauen in ihren schwarzen Gewändern. Einige hielten Kinder auf den Armen. Sie standen regungslos wie Statuen, ohne zu reden.
Endlich sah die Rossa den Platz des Dorfes. Vor dem Standbild der Muttergottes hielt sie einen Augenblick. Es würde das Herz beruhigen, die Madonna in diesem Augenblick zu sehen, eine Mutter, die ihr Sorgenkind auf dem Arm trug, das eines schrecklichen Todes gestorben war. Maria Rossa wandte sich halb zur Seite und schlug hastig ein Kreuz. Verzeih mir, Heilige Jungfrau, dachte sie, aber du wirst meine Eile verstehen.
Sie riss sich auf und verschob das Gespräch mit der Muttergottes auf später. Weiter, die Zeit drängte. Der Wagen, wo war der Wagen? Er stand nicht mehr vor der Osteria. Der Fremde war fort. Sie flog förmlich durch die Tür der Schenke und hielt erschöpft inne. Ihr Erscheinen in diesem Zustand bewirkte, dass die lautesten Stimmen abbrachen.
"Wo ist der Fremde?", fragte sie außer Atem.
Die Leute traten näher. Luca und Cesare, ein sonnenverbrannter Bursche mit klarem Kopf, wechselten Blicke miteinander. Cesare sah Luca fragend an. Der hob bedauernd die Schultern. Sie warteten auf eine Erklärung.
Dann hielt Cesare es nicht mehr aus.
"Ist etwas mit dem Fremden?", fragte er.
Maria hatte sich inzwischen soweit erholt, dass sie sprechen konnte.
"Wo ist der Fremde?", fragte sie noch einmal und sah angstvoll in die Gesichter.
"Keine Ahnung", sagte Luca, "wollten Sie etwas von ihm?"
"Ja", sagte Maria Rossa, "ich will etwas von ihm."
"Dann warten Sie nur hier", sagte Luca, "er wird hier übernachten."
Er wird hier übernachten, dachte die Rossa. Dann löste sich die übergroße Spannung. Sie sank auf einen Stuhl und stützte den Kopf in die Hände. Die Jungen in der Schenke traten neugierig näher.
"Wo ist der Fremde jetzt?", fragte die Rossa Luca, der das Gespräch bisher mit ihr allein geführt hatte.
"Er wird mit seinem Wagen ein Stück in die Berge gefahren sein", sagte Luca, "Es ist ja noch hell, aber er wird hierbleiben in der Schenke. Also muss er wohl wiederkommen."
Luca sah die Rossa nachdenklich an und wagte dann die Frage: "Was wollen Sie denn von dem Fremden?"
Und als die Rossa nicht antwortete, fügte, er entschuldigend hinzu, in der Hoffnung ihr mit dieser Auskunft dienen zu können: "Er ist Deutscher, spricht aber ganz gut unsere Sprache."
"Vielen Dank", sagte die Rossa erleichtert. "Ich will ihn etwas fragen", fuhr sie fort, "ich will wissen, ob er ein bestimmter Mann ist. Ich werde hier auf ihn warten."
Sie setzte sich entschlossen zurecht, wie um das Unabänderliche ihres Entschlusses zu zeigen.
Cesare hatte beobachtend zugehört. Nun schaltete er sich ein: "Und wenn er ein bestimmter Mann ist, Frau Rossa, was dann?"
Das war die entscheidende Frage. Allen war klar, dass die Rossa durch ein alltägliches Ereignis wie das Erscheinen eines Touristen nicht so aus der Fassung geraten sein konnte. Was würde sie antworten?
"Dann, Cesare, wird er eine Zeit lang hierbleiben müssen. Er hat eine Bluttat verübt", antwortete sie bereitwillig.
Das hatte in der Luft gelegen. Wer noch gesessen, stand jetzt auf und drängte sich heran. Es wurde ganz still in der Schenke. Die Rossa saß auf dem Stuhl, dem Richterstuhl der Mütter, und sah unverwandt auf die Tür. Die Jungen blickten zu Boden.
"Bitte, Frau Rossa", brach Cesare das Schweigen, "was war das für eine Bluttat, von der Sie sprachen?"
"In meinem Dorf in den Albanerbergen", sagte sie, "hat eine Abteilung Soldaten zwölf Menschen, die ohne Schuld waren, erschossen. Der Fremde kommandierte die Soldaten."
Cesare nickte verstehend. Die Jungen gehörten einer späteren Generation an. Die Schrecken des Krieges kannten sie aber nicht nur aus den Erzählungen der Älteren.
"Er hat zwölf Menschen erschossen", sagte Cesare und sah von einem zum anderen, als wollte er ihnen diese Tatsache besonders einprägen.
"Er hat meinen Sohn erschossen", sagte die Rossa, "er würde jetzt einige Jahre älter sein als du, Cesare."
Jemand strich wie geistesabwesend über die Saiten einer Gitarre. Er unterließ es sofort, weil alle Blicke sich tadelnd auf ihn richteten.
Sie warteten mit der Rossa auf den Fremden, und mancher zerbrach sich den Kopf, was geschehen würde, wenn die Rossa in dem Fremden wirklich den Mörder ihres Dorfes erkannte.
Luca ging wieder hinter die Theke. Einige bestellten halblaut Wein, und Cesare setzte sich zu Maria Rossa an den Tisch. Seine Gedanken beschäftigten sich mit der Gegenwart.
"Woran wollen Sie denn den Fremden erkennen?", fragte er.
"Er hat ein besonderes Merkmal", sagte sie. "An seiner rechten Hand fehlen zwei Finger. Die werden ihm wohl nicht wieder nachgewachsen sein."
"Das ist genug", sagte Cesare, "wir können jetzt nur noch auf ihn warten. Bring mir auch ein Viertel Wein, Luca."
Sie saßen wartend beisammen. Die Rossa schweigend, die Jungen leise redend. Manchmal wurde das Gespräch lauter. Einige gingen, die mit der Sache nichts zu tun haben wollten, neue kamen hinzu und wurden mit dem Ereignis bekannt gemacht. Bedauernde und respektvolle Blicke flogen an den Tisch der Rossa. Viele blieben aus Neugier. Man wusste ja nicht, wie sich die Sache entwickeln würde. Dann trat ein Mann ein, dessen Erscheinen eine jähe Ernüchterung bei den Pächtern bewirkte. Mit diesem Mann musste gerechnet werden.
Der Mafioso Carlo Ricci gehörte einer alten Familie an. Darauf war er stolz. Er nannte sich Gewerbetreibender, und soviel stimmte, dass er dunkles Gewerbe trieb. Die Alten des Dorfes erinnerten sich an den Vater Riccis, und noch Ältere an den Großvater. Sie alle hatten den Herren des Landes als Schergen gedient.
Vor einigen Jahren stand Carlo Ricci vor Gericht unter Anklage des Mordes an einem Bauerngewerkschafter. Der Prozess endete mit seinem Freispruch. Die Beweise genügten nicht, hieß es. Ausländische Korrespondenten schrieben darüber an ihre Zeitungen und in dem Zusammenhang über die Mafia, aber die Richter konnten die Mafia nicht finden. So war es am Ende ein einfaches Vergehen, aus der Tradition, aus der Vergangenheit zu erklären, Reste finsterer Blutrache, Täter nicht zu ermitteln. Die Leute wussten es besser.
Ricci kam wieder ins Dorf. In der Folge verschwand er noch oft von der Bildfläche und trat wieder in Erscheinung, wenn die jeweilige Sache aus der Welt geschafft war.
Er hatte Geld, trug Anzüge aus guten Wollstoffen und leuchtende Krawatten zu hellen Oberhemden.
Sein Gesicht mit den engen Lidspalten, der fahlen Hautfarbe und den energischen Wangenmuskeln, die ständig aufsprangen und erschlafften, als zermalmten die Kiefer dauernd einen Feind, prägte sich leicht ein. Die Brutalität dieses Mannes war offenbar, nur notdürftig verdeckt durch eine dünne Schicht Verbindlichkeit.
Ricci sah sich um in der Schenke und schüttelte verwundert den Kopf. Die Leute saßen still umher. Keiner spielte die eintönigen Volkslieder oder sang mit heiserem Bariton oder schrillem Diskant. Niemand war betrunken.
Er bemerkte mit Befremden die Rossa.
Etwas geht hier vor, dachte Ricci, aber was, zum Teufel? Warum sitzt die Rossa in der Schenke, Cesare neben sich, den Burschen, der die Farbe Rot zu sehr liebt, als dass er alt werden dürfte?
Zu fragen vertrug sich nicht mit seiner Würde. Die Leute mussten Respekt behalten, und das konnten sie nur, wenn der Mann, den sie fürchteten, allwissend und allgegenwärtig war wie Gottvater. Ricci bekreuzigte sich im Stillen für die Sünde. Die Mafia unterstützte die Politik der Christlichen Volkspartei. So hatte der Pfarrer einstweilen recht. Bei den Faschisten hatte sich das Gewicht schon einmal verschoben, gewiss, aber weshalb einem Gestern nachtrauern, zumal es sich im Heute wohl leben ließ?
Er lehnte sich über die Theke und blickte in die Augen Lucas. Luca war sein Freund nicht.
"Was ist mit euch los?", fragte Carlo Ricci barsch.
Er deckte die rechte Hand über den emporgestreckten Daumen der linken und hob sie schnell ab.
Luca wusste, was das bedeutete, antwortete aber nicht, denn vom Eingang der Schenke flog ein Ruf in den Raum, auf den alle gewartet hatten.
"Er kommt!"
Ricci blickte verständnislos zum Eingang, während Luca schnell hinter der Theke hervorkam. Ricci lauschte und vernahm zu seinem Erstaunen das Motorgeräusch eines Autos. Alle erhoben sich von den Plätzen, nur die Rossa blieb sitzen. Der Erwartete trat ein.
Die Nacht war hereingebrochen. Es kam kühl von den Bergen her. Der Schirokko, der den ganzen Tag lang heiß geweht hatte, schlief ein. Der Fremde fror. Unter dem Arm hielt er ein Bündel mit Sachen. Er wandte sich an Luca.
"Wo kann ich mich umziehen?", fragte er in reinem Italienisch.
Die Stille in der Schenke hätte ihm auffallen müssen, denn es ist selten still in den Schenken. Alle umstanden ihn, und er erriet, dass die Leute etwas wollten.
Zunächst dachte er, sie bestaunten ihn als Seltenheit als Mann mit einem Auto. Er kannte das von seinen Kreuz- und Querfahrten durch Sizilien.
Er sah sich um, blickte jeden einzeln an, ohne Angst und etwas spöttisch.
Da sagte Luca laut: "Ihm fehlen zwei Finger an der rechten Hand."
Sofort entstand ein Tumult. Alle redeten aufgeregt durcheinander.
Riccis Erstaunen wuchs. Dem Fremden zuckte die bezeichnete Hand, er zwang sie zur Ruhe. Ricci löste sich mit einem Ruck von der Theke und schob sich durch die Menge.
Maria Rossa ging durch den sich öffnenden Kreis der Jungen hindurch und blieb vor dem Fremden stehen.
"Er ist es", sagte sie langsam. Dann fügte sie heftig hinzu: "Sie haben im Sommer vierundvierzig in den Albanerbergen Geiseln erschossen. Sie haben meinen Sohn getötet."
Der Fremde sah sie an, Ricci pfiff leise durch die Zähne.
"Was sagen Sie", meinte der Fremde, "ich soll Geiseln erschossen haben? Ich bin nie in Italien gewesen. Es tut mir leid, dass Sie auf diese schreckliche Art Ihren Sohn verloren haben, aber ich bin, wie gesagt, nicht in Italien gewesen und komme demnach als Täter nicht in Betracht."
"Sie sind es gewesen", sagte die Rossa überzeugt.
"Das ist Unsinn", antwortete der Fremde ärgerlich, "Es ist verständlich, dass Sie über diese Sache nicht hinwegkommen, und ich nehme es Ihnen auch nicht übel, aber nun lassen Sie mich gehen. Wo kann ich mich also umziehen?"
Diese Frage war wieder an Luca gerichtet.
"Hast du nicht gehört", sagte Ricci, "der Herr will wissen, wo er sich umziehen kann."
Ehe Luca antwortete, mischte sich Cesare ein.
"Erlauben Sie", begann er, "Sie sagen, dass Sie nie in Italien waren? Woher können Sie dann so gut Italienisch?"
"Ich bin Sprachlehrer", sagte der Fremde prompt, "ich spreche noch einige andere Sprachen, und Sie sollten sich nicht in Dinge mischen, die Sie nichts angehen. Was ich der Frau verzeihe, könnte ich Ihnen übel nehmen."
"Richtig", sagte Ricci, "geh nach Hause, Cesare, deine Kinder warten. Du bist doch ihr Ernährer. Und was wird deine Frau sagen? Wer soll ihnen Brot bringen, wenn du dich in solche Sachen einlässt, die böse für dich enden könnten."
Cesare überhörte die Drohung.
"Gut", sagte er, "Sie sind Sprachlehrer und waren nie in Italien. Dann werden Sie auch nichts gegen eine Untersuchung haben. Ihre Unschuld muss sich schnell herausstellen."
"Ich denke nicht daran", sagte der Fremde, "Sie werden reichlich unverschämt. Ich genieße Gastrecht in Ihrem Lande. Meine Regierung wird sich ins Mittel legen."
Cesare grinste unverhohlen. "Wir werden die Sache überlegen", sagte er, "kommen Sie, Frau Rossa."
Sie gingen an einen Tisch im Hintergrund der Schenke, Maria Rossa, Cesare und ein paar andere Burschen, wo sie leise miteinander sprachen.
Der Fremde stand unschlüssig und allein mit seinem Bündel in der Mitte der Schenke, nur Ricci blieb dicht bei ihm. Ricci schob eine Zigarette in den Mundwinkel und entzündete sie. Er betrachtete den Fremden aus schmalen Lidern.
Was für ein Gesicht, dachte der Fremde, nach einem flüchtigen Blick in Riccis Augen. War das ein Gegner oder ein Verbündeter? Beides mochte gleich gefährlich sein.
Ricci rauchte, ohne die Hände zu gebrauchen. Die Zigarette im Mundwinkel wippte auf und nieder.
Die meisten der Pächter beobachteten Ricci. Sie warteten ab, was er tun würde. Wo hier das Recht war, lag auf der Hand, aber der Mensch lebt nicht allein vom Recht. Sie saßen auf Pachtland, viele jedenfalls waren Pächter. Sie hingen völlig von ihrem Grundherrn ab, in dessen Haus der Mafioso aus- und einging. Es genügte, dass er an die Tür des Pächters klopfte und freundlich höhere Abgaben verlangte. Zeigte sich der Pächter widerspenstig, brannte ihm die Ernte auf dem Halm, oder es stieß ihm gar Schlimmeres zu.
Die Pächter hatten allen Grund, abzuwarten, was Carlo Ricci tun würde.
Auf die Seite Cesares waren ohne Zögern die Landarbeiter übergegangen, die nichts zu verlieren hatten, dazu die wenigen, die beim Straßenbau oder in den Gruben arbeiteten und an Lohnkämpfe gewöhnt waren.
Die Schenke glich einem Lager. In der Mitte standen der Fremde und Ricci, auf der einen Seite die Entschlossenen, auf der anderen die Abwartenden. Der Mafioso entschied.
Er drehte sich plötzlich auf dem Absatz um, spie den Zigarettenstummel aus und verließ ohne Gruß die Schenke. Langsam gingen die Pächter hinüber auf die Seite der Rossa, nicht ohne Sorgen für die Zukunft, denn wenn der Mafioso auch gegangen war, wie er sich in dieser Sache verhalten würde, schien doch sehr ungewiss.
Der Fremde ging gleich hinter Ricci hinaus. Er setzte sich auf eine Bank an der Hauswand und lehnte den Kopf zurück.