Читать книгу Jahre mit Camilla - Helmut H. Schulz - Страница 3
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ОглавлениеDer Himmel an jenem Tage war ungeheuer hell und hoch. Durch das Fenster des Restaurants konnte ich auf die Pisten sehen, zwei Antonows sah ich, eine IL. Ihr Silber glänzte in einem warmen, zuverlässigen Blau.
Das Flugpersonal der einen Antonow saß am Nebentisch. Die Männer tranken Kaffee, rauchten Zigaretten und sprachen leise miteinander. Ich verstand nicht, was gesprochen wurde. Der eine mochte vierzig sein. Er hatte ein länglich-ovales Gesicht mit spitzem Kinn und schmaler glatter Stirn. Die Lidspalten waren schräg gestellt und mandelförmig. Auffallend kleine Hände mit Nägeln, deren Grundton heller war als die gebräunte Haut der Finger und des Handrückens, bemerkte ich. Dagegen waren die Innenflächen der Hände fleischfarben. Wie kalte Flammen wirkten die erschreckend blauen Augen des Mannes, den etwas Fremdartiges, Kreolenhaftes auszeichnete. Trotz der hellen Augen ähnelte sein Gesicht den Porträts El Grecos. In seinen Augen spiegelten sich der helle Himmel und das bläuliche Silber der Maschinen. Er erweckte den Eindruck hochgradiger Zivilisierung, und doch vermutete ich in ihm den kühl berechnenden Angreifer. Die übrigen Mitglieder seiner Crew fielen neben ihm kaum auf.
Es war eine eigenartige Atmosphäre. Draußen dröhnten die Aggregate, drinnen klingelten Löffel an Tassenränder.
Bis zur Abfertigung für den Flug war noch Zeit. Ich reise gern. Die schnelle, mühelose Bewegung beruhigt mich, aber ich komme nicht gern an. Ich versuchte, zu arbeiten. Ich versuchte, nicht wirklich zu arbeiten. Dazu wäre ich nicht fähig gewesen. Allzu sehr fesselten die Vorgänge drinnen und draußen meine Aufmerksamkeit. Zu wirklicher Arbeit fehlten die Telefone auf meinem Schreibtisch, das Hacken der Schreibmaschine im Vorzimmer. Unsere Bereichssekretärin würde an diesem Tage mehr als ein dutzendmal sagen, der Doktor ist in Urlaub, oder, Kalender ist nicht da, oder einfach, das Nashorn kommt voraussichtlich erst nächste Woche, wieder.
Der Pilot drückte die Zigarette aus. Er winkte der Kellnerin. Unwillkürlich lächelte ich ihm zu, aber er sah mich nicht an. Er sah durch mich hindurch. Für ihn war ich ein Fluggast, den er zu befördern hatte. Diese Arbeit wurde von ihm verlangt, und er tat sie offenbar gut. Dafür sprach der Respekt, mit dem ihn die Kellnerin bediente.
Mein Platz war, auf der rechten Seite. Durch das Bordfenster hatte ich das Antriebsaggregat zum Greifen nahe. Wenn ich mich vorbeugte, konnte ich sogar, das stelzengerade Fahrwerk sehen. Vor mir befand sich die Cockpitrückwand aus einem blauen, geäderten Material, wie es die moderne Chemie aus der Retorte zaubert: hart, unelastisch, säurefest, nicht brennbar, leicht. Über mir im Gepäckfach lagen Tageszeitungen. Gewohnheitsgemäß blätterte ich sie durch.
Als ich die Sicherheitsgurte anlegte, rollte die Maschine zur Startbahn. Ich lutschte, den ekelhaften säuerlichen Bonbon, der den Haushalt meines Magens regelmäßig durcheinanderbringt. Dann gab der Pilot Vollgas. Die Maschine hob ab. Wir stießen in den hellen, hohen Himmel, dessen Ende wir doch nicht erreichen würden, wir, ein winziges, fliegendes Präzisionspartikelchen, dessen, einige Tausend Meter Reisehöhe im Zeitalter der Raumschiffe kaum mehr als, ein Luftsprung waren.
Hinter Prenzlau zogen sich weite weiße Flächen unter unserer Maschine hin. Sie sahen aus wie Gletscher, veränderten kaum ihre, Form. Die Maschine lag vollkommen ruhig. Eine Zeit lang glaubte ich, wir stünden still in der Luft, während unter uns eine polare Landschaft abrollte, während Sonnenstrahlen hart und grell in den Passagierraum fielen.
Die Maschine durchstieß die Wolkendecke, und die kompakte weiße Masse erwies sich als Wattegebilde, das von der Antonow mühelos zerteilt wurde. Unten tauchte die Landepiste aus dem Dunst, ein glattes Band mit Seitenmarkierungen und einem spielzeughaft kleinen Flughafengebäude. Ich stellte fest, dass die Fahrwerke bereits ausgefahren waren, und so sicher arbeitete der Pilot, dass die Gummiräder genau auf dem Pistenanfang aufsetzten, wo die Grasnarbe endet und das Rollfeld beginnt. Ein scharfes radierendes Geräusch übertönte den Motorenlärm, dann ging ein leichter Ruck durch die Maschine. Ich konnte das Aufsetzen mehr sehen als spüren. Sekundenlang standen die Räder, ehe sie die Bewegung aufnehmen konnten. Die Antonow verlor an Geschwindigkeit.
Fischland bot das gewohnte Bild, an den Boden gekauerte Häuser mit Strohdächern, Möwen verschiedener Arten, mannshoher meergrüner Sanddorn. Die Natur ist hier sparsam mit Farben umgegangen. Grau überwiegt an den gewöhnlichen Tagen, aber es war kein gewöhnlicher Tag, der Höhenwind konnte die Wolkenmassen kaum bändigen. Sie strebten, sich dauernd verändernd, nach den Seiten und in die Höhe. Eine Weile beobachtete ich das Spiel des Windes mit den Wolken. Ich berührte die skalpellartigen Blätter des Sanddorns. Sie waren trocken und hart.
Das Haus, in dem ich regelmäßig meinen Urlaub verbrachte, passte sich der Umgebung an, nur stand es mehr aufrecht, nicht so hingeduckt und ich empfand, dass es weniger zur Landschaft gehörte als die Fischerhäuser. Es wirkte unecht oder nachgemacht. Missgestimmt und nervös, wie immer am ersten Tag auf dem Fischland, drückte ich den Klingelknopf und wartete auf die alte Frau, die für die Gäste sorgte. Eine junge Gestalt kam den Weg zur Gartentür herunter. Ich dachte, dass die Hausbesorgerin erstaunlich leichtfüßig geworden sei. Ich hatte sie anders in Erinnerung. Vielleicht hatte ich ihr nie genügend Aufmerksamkeit geschenkt. Erst als wir uns gegenüberstanden, sah ich meinen Irrtum. Es war nicht die Hausbesorgerin. Es war eine junge Frau oder noch ein Mädchen. Sie war in eine viel zu große weiße Schürze gewickelt. An den Füßen trug sie Turnschuhe. Ich registrierte ein rundes Gesicht, Lippen von natürlichem leichten Rot, einem Rot, das sich bis in das Gesicht hinein fortsetzte. Ich registrierte Haar von verschiedenem blond, sehr dichtes, kräftiges Haar und Augen von der Farbe des Sanddorns. Und dann war noch der hohe helle Himmel in dem Gesicht, der Himmel des Fischlandes.
Sie stand da und wartete. Nur ihr Gesicht war rot. Die Haut ihrer Arme erinnerte an die Farbe rauchigen Bernsteins.
«Ich wollte zu Frau Klaas.»
Vielleicht hätte mich in meinem Büro die Erscheinung des Mädchens ganz unberührt gelassen. Meine Beziehungen zu Frauen sind stets lose gewesen, sie dauerten vom Beginn des Studienjahres bis zur ersten Zwischenprüfung. Nach meiner Studienzeit, als ich bei Rickweiler arbeitete, kam Sigrid, aber unsere Zeit lief ab. Ich merkte es daran, dass ich mich bei ihr den Spannungen überließ, die ich tagsüber voll beherrschte. Das führte zu unerfreulichen kleinlichen Auseinandersetzungen zwischen uns.
«Kommen Sie herein. Meine Mutter ist zur Kur in Heiligendamm. Ich soll mich um Sie kümmern.»
Ihre Stimme war tief und klangvoll.
Etwas Rundliches, Mütterliches lag in ihrer Gestalt. Während sie meinen Handkoffer trug, stellte ich mir die nächsten Tage mit ihr vor. Sie würde Ansprüche stellen. Das gab sie durch eine gewisse unverhohlene Neugier zu erkennen.
Im Wohnzimmer war für zwei gedeckt. Kaffeekanne und Eier steckten unter Wärmemützen. Servietten lagen bereit, Butter und frische Brötchen. Im Vorbeigehen erblickte ich einen Mann im Spiegel. Er hatte ein rundes, unsympathisches Gesicht und tuscheschwarze blau geränderte Augen hinter scharfen Brillengläsern. Er trug Perlonhemd, Krawatte und einen unauffälligen grauen Anzug. Das zusammen würde mich vor einer Dummheit schützen, glaubte ich.
Unmöglich, sich an die ersten Tage mit Camilla zu erinnern, ohne diesen Abend zu erwähnen.
Auf dem Tisch standen fahlgrüner Sanddorn, blaue Stranddisteln und ein paar Halme Wollgras. Auf der breiten Sitzcouch kauerte Camilla. Wo sie war, breitete sich sofort eine ungezwungene Schlamperei aus. Eine Kerze brannte, nur eine. Camilla tat nie etwas zu viel. Sie konnte sich über den dürftigsten Grashalm freuen. In ihren Augen spiegelte sich die Kerze. Mit den Händen drückte sie ein Kissen an die Wange. Sie schwieg, aber sie beobachtete mich.
«Trinken Sie doch», sagte ich.
Langsam griff sie nach dem roten Wein, der zu rot war für die blassen Farben des Fischlandes. Sie trank hastig, mit zurückgelegtem Kopf, wie Kinder trinken oder wie jemand, dem Weingenuss ungewohnt ist.
Der rote Wein passte nicht hierher, er gehörte in eine Landschaft, in der Blau, Gelb und Rot schmerzhaft aufeinanderprallen.
«Sie sollen unerhört klug sein», eröffnete sie, noch mit leichter, zurückhaltender Ironie.
Müde nach einem langen Tag am Strand, hatte ich keine Lust mich einem Gespräch zu stellen.
«Ich bin Physiker», sagte ich.
«Aber schweigsam sind Sie.»
Ein Kissen genügte ihr nicht. Sie stopfte ein zweites unter das erste und zog die Beine an. Sie verschwanden ganz unter der weißen Wickelschürze, die ihr das Aussehen einer Krankenschwester gab.
«Erzählen Sie doch etwas».
Ich wusste schon, dass sie gern lachte und gern sang, mit einer erstaunlich tiefen und kräftigen Stimme.
Die Kerze vertropfte ihr Stearin.
Ich dachte, es wäre ein Abend, zum Nachdenken, und es wäre das Beste, den Mund zu halten, weder klug noch dumm zu sein, einfach dazusitzen und zu schweigen.
«Sind Sie verheiratet?»
Wohinaus wollte sie? Suchte sie eine Geschichte? War sie klatschsüchtig oder bloß neugierig? Ich zuckte die Schultern, aber ihre Gedanken waren bereits weitergelaufen.
«Ob das immer, so war mit Liebe und Familie?»
Ich hielt einen langen und trockenen Vortrag, über den Ursprung der Familie. Ich erzählte, was mir aus der Engels-Schrift einfiel. Ich redete mit dem unsicheren Gefühl des Laien, der gezwungen ist, über einen Gegenstand zu sprechen, den er nicht gut kennt. Zum Schluss machte ich den Verstoß wieder gut, indem ich ihr riet: «Engels hat darüber geschrieben. Sie sollten es nachlesen.»
«Ich werde es nachlesen», sagte sie spöttisch.
Sie setzte ihre Prüfung fort. «Was kommt nach dem Kommunismus? »
«Das weiß ich nicht. Wir sind noch ziemlich weit entfernt, von einer vernünftigen Weltordnung.»
«Gut. Und danach?»·
«Wir beschäftigen uns mit dem Vorhersehbaren.»
Unzufrieden schüttelte sie den Kopf. «Also, was kommt danach?»
Auf ihren Wangen glühte der rote Wein. Die dunkelbewimperten Augenlider bewegten sich kaum merklich.
«Ist noch Wein da?», fragte sie.
Es war noch Wein da. Ich goss unsere Gläser voll und legte ihr eine Decke um die Füße. Sie dankte nicht. Sie nahm es als selbstverständlich hin.
Es war selbstverständlich.
Plötzlich dachte ich an zu Hause. Die Wohnung im Hochhaus war bequem, die Wände waren dünn. Neben mir wohnte ein Soziologe, der bis in die Nacht hinein seine Schreibmaschine bearbeitete. Es hätte mich interessiert, woran er arbeitete, aber wir standen schlecht miteinander.
«Robert, was machen Sie morgen?»
Ich würde an den Strand gehen wie jeden Tag.
«Und wenn Sie vormittags einkaufen gingen?»
Seit zwei Tagen ging ich früh ins Dorf einkaufen und kehrte mit gefüllten Netzen wieder zurück, ehe ich mich in den Strandkorb setzen konnte.
Ich nickte.
«Und bringen Sie Rotwein mit. Wir haben keinen mehr im Haus.»
Ich liebe den schweren sauren Wein, der wie frisches Brot duftet.
«Und lassen Sie sich nicht wieder fettes Fleisch andrehen.»
«Sonst, noch was?», brummte, ich.
«Das übrige schreibe I ich Ihnen lieber auf.»
Meinem Gedächtnis traute sie nicht. Es war genau so gekommen, wie ich es vorausgesehen hatte.
«Ich habe noch nie soviel Wein getrunken wie in diesen Tagen.»
Gut bekam ihr der schwere rote Wein, und mir bekam er auch gut. Ich schwamm eine halbe Stunde täglich im Meer. Sonst lag ich faul herum. Trotzdem ermüdete das Reizklima sehr.
«Ruhen Sie sich auch wirklich aus?», fragte sie ironisch - besorgt.
«Doch.»
«Mir ist so ans Herz gelegt worden, auf Sie achtzugeben. Legen Sie eine Schallplatte auf, bitte.»
In dem Plattenstapel befand sich Bach, Händel. Ich hätte jetzt gern Barockmusik gehört, aber ich legte Jazz auf, weil sie gern Jazz hörte, ich ärgerte mich einen Augenblick lang über Camilla.
«Man kann sich nicht richtig mit Ihnen zanken», sagte sie nachdenklich. «Werden Sie nie laut? Geben Sie immer nach?»
Ich fand es verfrüht, sie über mich aufzuklären. Nicht umsonst trage ich meinen Spitznamen: das Nashorn.
Die Musik war jetzt ein verwirrendes Durcheinander von Trompete, Posaune und einem Instrument, das nach Altflöte klang. Eine beunruhigende Wirkung ging von diesem Chaos an Tönen aus.
«Ich gebe nach, weil ...» ja, warum gab ich Camilla gegenüber nach? Bis zu ihrer Frage hatte ich es nicht gewusst. Kein Zweifel, sie gefiel mir.
Dann legte ich wirklich das Brandenburgische Konzert auf. Während die abgezirkelten Motive und beinahe mathematisch behandelten Durchführungen aufklangen, brannte die Kerze herunter. Eine winzige Flamme schwamm in dem Rest Stearin.
Durch das geöffnete Fenster war die Brandung zu hören. Sie war stärker geworden.
Camilla streckte sich im Schlaf. Sie lag wie ein unordentliches Kind auf der Couch, aber ich wusste nur zu genau, dass sie kein Kind war.
Als ich das Deckenlicht einschaltete, erwachte sie.
«Entschuldigung», murmelte sie schlaftrunken.
Ich rauchte noch eine Pfeife vor der Tür. Im Flur blieb ich einen Augenblick stehen. Hier lagen leere Gepäckstücke, eine große Reisetasche fand ich. Auf dem Anhänger las ich, Camilla Veerden. Pädagogisches Institut Güstrow, Internat.
Camilla planschte mit bloßen Füssen im flachen Wasser. Die gelbliche Sonne mischte alle Farben eines mattgoldenen Tons bei. Das Meer, dieses große, sich ewig wandelnde Tier, war ruhig.
Ich trug ihre Turnschuhe, den Korb mit Muscheln und bizarr geformtes Holz. Beides suchte Camilla an diesem Tag.
«Was wollen wir mit diesem Zeug, Camilla?»
«Es sieht so komisch aus.»
Das verschiedenfarbige Haar fiel ihr in die Stirn. Die blonden, millimeterlangen Haare auf ihren Armen hielten glitzernde salzige Tropfen fest. Auf die weiße Wickelschürze hatte sie heute verzichtet. Sie stopfte den Rocksaum unter ihren Gürtel. Ihre Beine waren glatt, gebräunt und etwas zu kräftig. Mir fiel auf, dass ihr Gesicht immer von Anstrengung gerötet war, auch wenn sie nichts tat. Stets schien sie insgeheim mit etwas Schwerem beschäftigt.
Ich betrachtete die Muscheln, die Camilla sammelte. Keine besonderen Muscheln, es gab sie zu Hunderten.
Sie brachte einen salzwassergebleichten knotigen Strunk.
«Der sieht aus wie Sie. Hier, die Augen, die schwarze Brille, die kleine runde Nase.» Mit einem Schwung warf sie das Holz in den Korb. «Der geht mit.»
Ihr Gesicht wurde ernst oder traurig. Sie nahm das Holzstück behutsam aus dem Korb und betrachtete es aufmerksam.
«Sie sehen dem Holz doch nicht ähnlich», sagte sie lächelnd. Sie schien sicher, dass ich zurücklächeln würde, und ich lächelte zurück.
«Nun ja, gehen wir weiter», schlug ich vor.
Der Spaß schien ihr verdorben. Sie suchte keine Muscheln mehr, sondern zog aus ihrer Tasche eine Sonnenbrille und setzte sie auf. Hinter den dunklen Gläsern versteckt, konnte sie mich ungestört betrachten.
Ich grübelte darüber nach, weshalb sie anders hieß als ihre Mutter. Vielleicht war sie verheiratet? Ich verfiel auf die nächstliegende Variante: Sie war ein Findelkind.
«Haben Sie eigentlich Post von Ihrer Mutter?»
Es war ein schlauer Schachzug, schien mir. .Sie hätte jetzt sagen können, ja, sie schreibt, dass es ihr gut geht. Ich bin nicht ihre richtige Tochter, müssen Sie wissen.
«Nein», sagte sie.
Wir hatten den Gespensterwald erreicht. Ein Wald auf Stelzen. Tief hatte das Meer die Baumwurzeln unterhöhlt. Wie vorweltliche Ungetüme standen die Baumriesen auf Spinnenbeinen. Diesen Wald gibt es heute nicht mehr. Neue Deichanlagen haben gerettet, was zu retten war.
Camilla fand einen Fisch, der bei dem schwachen Seegang nicht ins Wasser zurück konnte, ein bunt gefärbtes handlanges Vieh, das nur aus einem gefräßigen Maul bestand.
«Werfen Sie doch das scheußliche Biest weg. Es ist sicherlich giftig.»
«Es ist ein Meerteufel aber nicht giftig.»
«Doch, natürlich ist er giftig.»
Übrigens war ich nicht sicher, ob der Fisch Giftstacheln hatte. Bösartig genug sah er aus. Jedenfalls sollte er nicht in den Korb.
«Unsinn, Herr Doktor. Was verstehen Sie von der Natur?»
Ihre Bemerkung traf mich an einem wunden Punkt.
Sie lächelte herablassend. «Also, wenn Sie es wünschen.» Der Fisch flog im Bogen ins Meer. «Am Strand ist mit Ihnen gar nichts los.»
«Dann nehmen Sie mich gefälligst nicht mit.»
«Ich muss aber mit einem Menschen sprechen können», sagte sie heftig.
Ich sah voraus, dass wir uns streiten würden.·Es war lächerlich. Dieses Geschöpf und ich im Streit? Ich bin anfällig für einfache Informationen, wie Mensch, Liebe, Stille, Wort. Sie lösen klare, deutliche Vorstellungen in mir aus. Immer die gleichen.·
«Ich verstehe überhaupt nicht, warum wir uns zanken», lenkte ich ein.
«Ich schon. Weil Sie nicht aus sich herausgehen.»
Verstimmt stapfte sie vor mir her durch den feuchten Sand. Tief drückten sich ihre Spuren ein. Zum Glück brachte sie es nicht fertig, länger als fünf Minuten zu schweigen.
«Waren Sie schon einmal weit weg?»
«Oft.»
Interessiert blieb sie stehen und nahm die Brille herunter.
«Und?»
«Was und?»
«Sie müssen doch irgendetwas, gesehen oder gedacht haben?»
Ich hatte viel gesehen. Ich kannte die Region Kasachstan, ich kannte Bratsk, ich hatte riesige Wärmekraftwerke gesehen und transkontinentale Freileitungen an ungeheuren Stahlmasten. Ich berichtete von Staudämmen und Turbinen, wie es mir gerade einfiel.
Camilla wurde von einem Lachkrampf geschüttelt. Sie musste sich setzen.
«Sie sind zu komisch», gluckste sie. «Mehr als Staudämme und Kraftwerke haben Sie nicht gesehen?»
«Für Sie ist die Natur etwas Fertiges», sagte ich, «ein paar Halme Wollgras, ein Baumstrunk, ein Fisch. Der Physiker will die Natur beherrschen.»
«Trotzdem kann man sich darüber freuen», beharrte sie.
Wir redeten im Grunde über ganz verschiedene, Dinge. Natur betrachten und Naturgesetze anwenden ist zweierlei. Ich setzte mich neben sie. Das Licht zerfloss, man konnte in die Sonne sehen, ohne dass einem die Augen schmerzten. Sie stand jetzt eine Handbreit über dem Horizont.
Ich dachte: Warum kann man sich so schwer verständlich machen? Ich hatte auch mal eine Zeit, wo ich einen Fisch bewunderte. Ich fragte: Wie ist er organisiert? Ich trennte ein Stück Gewebe heraus, härtete es in Formalin, stellte mit dem Mikrotom Schnitte her, färbte sie ein und beobachtete unter dem Mikroskop die Zellstruktur. Was sich dort so starr anbot, das hatte gelebt, durch geheime Kräfte bewegt. Welche? Mit der Neugier fängt alles an.
Dann geschah etwas Überraschendes. Camilla beugte sich zu mir herüber und küsste mich flüchtig auf die Wange.
«Noch böse?»
Es gab keinen Grund, böse zu sein, es hatte nie einen gegeben.
Als wir zu Hause ankamen, dunkelte es. Im Briefkasten steckte ein Telegramm, Camilla nahm es heraus.
«Für mich?», fragte ich.
Schweigend presste sie den gelben Umschlag an sich. Plötzlich, ehe ich sie daran hindern konnte, knüllte sie den Umschlag zusammen. Ihre Faust hielt das Papier umklammert. Ich ging hin, nahm ihre Hand und sah ihr in die Augen.
«Geben Sie mir das Telegramm», sagte ich.
Der Papierball glitt zu Boden. Ich hob ihn auf und öffnete ihn. Das Telegramm war von Rickweiler.
«Wann reist du ab?», fragte Camilla.
«Wahrscheinlich in ein paar Stunden.»
«Schade.» Mehr sagte sie nicht.
Wir aßen noch zusammen; tranken aber nicht mehr von dem schweren roten Wein. Zum Abschied wollte ich ausdrücken, dass ich es bedauerte, wegzumüssen, oder auch nicht bedauerte. Es war besser, allen Wirrnissen aus dem Weg zu gehen. Dann kam der Wagen. Mein Handkoffer war gepackt, die Aktentasche auch. Ich sah mich nicht um, als ich abfuhr.
Die Stille im Hause beruhigte. Und ich hatte Stille nötig nach einem Tag mit Camilla, einer sechsstündigen Autofahrt, einer Besprechung bei Rickweiler und seinem dünnen Tee. Auf meinem Schreibtisch befanden sich die beiden Lichtkegel der Arbeitslampe, Schreibpapier, Millimeterpapier und Rechenschieber, der glatte weiße Stab, das Klavier des Mathematikers.
Rickweiler hatte gesagt: Ich musste dich da oben wegholen. Ja, ich, weiß dein Blutdruck, aber ich brauche dich hier, wir müssen den Planvorschlag überarbeiten, er wurde zurückgewiesen.
Rickweiler hatte noch mehr gesagt, während er mir die Vorwürfe aufzählte, die ihm gemacht worden waren: uneffektive Planung, zu langsames Entwicklungstempo, zu geringe Berücksichtigung des Binnen- und Außenmarktes und dergleichen. Ich wusste, dass diese Kritik an unserer Arbeit stimmte. Rickweiler mochte ich von der ersten Stunde unserer Zusammenarbeit an.
Ich hatte die fantastische Vorstellung eines gedankenstrahlenden Rechners, der mit Lichtgeschwindigkeit Informationen verarbeitet. Ich dachte an integrierte, Schaltkreise, Hunderte Bauelemente auf einige Kubikmillimeter Silizium, und ich dachte an die bereits signalisierten bildlogischen Rechner. Der kühle weiße Stab zwang mich zur Konzentration auf meine Arbeit, aber die wunderbaren technischen Möglichkeiten zogen sich gerade bis an den Schreibtischrand zurück. Ich unterdrückte die kindliche Lust, eine Stunde lang nur für mich zu arbeiten. Rickweiler baut keine mikroelektronischen Elemente. Er versteht nur wenig davon. Rickweiler fing mit Radioröhren an und leitet den Teilbereich Dioden.
Es war halb zwei, als ich den Rechenstab auseinander schob. Einen Augenblick lang lauschte ich, ob der Soziologe nebenan noch schrieb. Ich war wütend entschlossen, ihm diesmal eine Szene zu machen, aber es war still. Vielleicht war es diese Stille, die mich noch einmal in das Traumreich des Unmöglichen zurück lockte oder eigentlich voran lockte. Versuchsweise wählte ich unter den Varianten die höchste aus, die nach meiner Kenntnis den gesamtwirtschaftlichen Vorgaben entsprochen hätte, für die aber unsere Produktionsbasis nicht ausreichte. Dann erst spielte ich die Varianten durch, die in unseren Möglichkeiten lagen. Das war typisch für mich, und ich glaube, es ist typisch für den Techniker, aber dieses Festhalten an bewährten Verfahren ist trotzdem kein bloßes Ausweichen. Der Kluge steigt nicht über den, Berg, er umgeht ihn, sagt ein russisches Sprichwort.
Zwei frische Pfeifen lagen auf dem Tisch, Tabak, gut ausgetrocknet, wie ich ihn gern rauche. Dazu trank ich einen teerartigen Aufguss aus Pulverkaffee und leichten, gut temperierten Weinbrand. Ich war durchaus nicht mehr erschöpft, im Gegenteil.
Ich arbeitete für Rickweiler. Es war seine Arbeit, die günstigste Variante durchzusetzen: Meine Arbeit war, ihm Varianten anzubieten. Ich mache den Plan nicht, ich analysiere und prognostiziere. Die volkswirtschaftlichen Kennziffern werden anderswo ermittelt.
Gegen fünf brühte ich mir Kaffee auf. Um halb acht rief Rickweiler aus dem Betrieb an, um acht ließ er mich abholen. Zusammen gingen wir, Rickweiler und ich, die Varianten durch. Ich war fertig. Ich hing auf dem Stuhl in Rickweilers Sitzungszimmer. Ihm war nichts anzumerken. Seine braune rissige Gesichtshaut war frisch, die Lippen waren fest und farblos. Ein bisschen Wärme leuchtete in seinen Augen. Wegen dieser Augen liebte ich Rickweiler.
Den Nachmittag arbeitete ich an Teilberechnungen, während Rickweiler mit den Produktionsleuten die Varianten beriet. Es war zwanzig Uhr, als er herauskam und mir ein Bündel Material auf den Tisch legte.
«Die mittlere Variante», sagte er in einem Ton, der keinen Widerspruch zuließ.
Ich wollte dennoch widersprechen. Ich hielt einen höheren Ansatz für denkbar und auch für dringend notwendig, aber Rickweiler schnitt mir das Wort ab.
«Wann kriegen wir die Feinplanung? Sag mir deine Termine! Rickweiler setzte sich, schraubte seinen großen altmodischen Füller auf und begann zu notieren, was ich ihm ansagte. Er schrieb mit seiner raschen, starken Handschrift. Es war gegen zweiundzwanzig Uhr, als wir vor dem Werktor standen.
«Ich bring dich nach Hause.»
Wir fuhren die Hermann-Duncker-Straße entlang. In den Geschäften brannte Licht, die Straßen waren menschenleer. Rickweiler schaltete wenig. Er war ein guter Fahrer, ein sicherer Fahrer, aber langsam. Wir passierten die Brücke in Karlshorst.
«Wie war denn dein Urlaub?», wollte er wissen.
«Zu kurz. »
Obwohl ich müde war, fand ich keine Ruhe. Irgendetwas war los mit mir. In bunter Reihe reproduzierte mein Gehirn Bilder, die ich früher gesehen hatte. Ich sah den Diodensaal, die bizarr nach außen gestülpten Gummihandschuhe, eine Folge des Gasdruckes, unter denen die Montagekästen stehen; ich sah die weiß bekittelten Frauen des Saales, die Ätzbäder und Lötgeräte und die Grundmaterialien in zwergenhaften Abmessungen. Wie ein stummer Film liefen die Bilder ab. Sie hatten etwas Sinnloses, Konfuses, sie schienen darauf zu warten, nach einem besseren Prinzip geordnet zu werden. Und wer konnte dieses bessere Prinzip finden? Rickweiler? Sewarth? Oder ein anderer?
Ein Bild aus meiner Studienzeit entstand. Der dozierende Professor war ein mittelgroßer Mann in zweireihigem Anzug mit großer gebundener Schleife. Sein Blick hakte irgendwo ein. Seine Stimme klang scharf und herausfordernd: Jedes atomare System hat ganz, bestimmte Energiewerte ... Das Labor, vollgestellt mit Geräten und Messapparaturen, war mein erster Arbeitsplatz. Ich sah mich am Mikroskop. Zum ersten Mal erschien das Bild einer Golddrahtdiode im Gesichtsfeld des Mikroskopes, ein Bild seltsamer, starrer Schönheit, die Oberfläche aufgelöst in zahllose bunte Punkte wie bei der Vergrößerung eines Rasterbildes. Scharlachrot leuchtete die eingeschmolzene Sinterglasperle. Warum scharlachrot? Ich entsann mich. Sie war einer hohen Temperatur ausgesetzt. In normaler Betrachtung erschien sie rosig-weiß.
Sewarth ist der einzige speziell ausgebildete Elektroniker im Bereich. Er ist jünger als ich, und er muss auch noch beweisen, was er kann. Sewarth ist groß und breitschultrig. Er treibt Sport, wie ich hörte. Er rudert. Seine Hände sind Maurerhände, Schlosserhände, wie Rickweilers Hände. Wie schafft er es, mit diesen Händen mikroskopische Abmessungen zu beherrschen?
Der Professor erläuterte: Erst im Prüffeldauslauf erfahren Sie die Wahrheit über ein elektronisches Bauelement.
Warum hat Rickweiler die mittlere Variante gewählt?
Rickweiler fing vor einigen Jahren an. Damals studierte ich noch. Es gab nichts, was Rickweiler nicht herstellen ließ. Jedes Gerät, jedes Material wurde erzeugt, erprobt, verworfen oder verwendet. Dann baute Rickweiler den Diodensaal mit den breiten Fenstern. Rickweiler ließ die ersten brauchbaren Einkristalle züchten, das Grundmaterial für Halbleiter, er schuf die Voraussetzung für ihre industrielle Herstellung.
Und wieder sah ich den Professor. Er sagte: Zum Anderen muss beim Kristallzüchten immer mit dem Einbau fremder Atome gerechnet werden, denn selbst bei größter Reinheit kommt auf zehn hoch neun richtige Gitterbausteine ein falscher. Eine Störstelle auf zehn hoch sieben normale Gitterbausteine macht sich bei elektrischen Messungen schon bemerkbar.
Komisch, dass man sich die Reihenfolge und selbst den Tonfall bestimmter Unterweisungen derart merkt.
Und ich dachte triumphierend: Rickweiler hat mit seinem Kollektiv die ersten brauchbaren Dioden gebaut, aber warum ist er heute ein so unzulänglicher Technologe? Warum Stück für Stück biegen, schneiden, löten, ätzen, waschen, trocknen, messen, dreimal, viermal? Warum nicht ganz anders? Wie anders?
Kubach, der Kalmückenkopf, unser Hauptökonom, ist ein Mann, der unbequeme Wahrheiten liebt. Manufakturbetrieb. Er sagt: Manufakturbetrieb. Und Czwietusch ist Forscher, nur Forscher.
Was soll man tun? Tausende Elemente gehen selbst in einen Rechner älterer Generation.
Ich will aufstehen und Licht machen, irgendetwas arbeiten oder einfach Pfeife rauchen.
Camilla schrieb: Es war traurig, als du weg warst.
Nebenan spannte der Soziologe ein neues Blatt in die Maschine. Die Dissertation würde wohl sehr lang werden, oder er verwarf früh, was er nachts getippt hatte.
Sie schrieb: Und du hast nicht einmal gemerkt, dass wir uns duzten, als das Telegramm kam. Meerteufel sind nicht giftig. Ich möchte ein Haus am Meer haben. Ist das kleinbürgerlich? Ich würde keinen Zaun stellen. Ich würde Sanddorn anpflanzen.
Ich wollte über Rickweiler nachdenken, ich wollte über die Probleme nachdenken, die wir lösen mussten.
Sie schrieb: Warum hast du nicht gesagt, was du dachtest? Dein Brief hat sich wie ein Geschäftsbrief gelesen. Man muss etwas haben, was man, ohne Kritik liebt, einfach so, weil es da ist. Ich bin nicht sicher, ob ich da recht habe. Im November bin ich für zwei Tage in Berlin. Kann ich bei dir unterkommen? Ich rufe dich noch an, Camilla.
Der Soziologe hatte die Arbeit für heute aufgegeben, wie es schien. Ich hörte ihn laut pfeifen.
Von meiner Etage konnte ich nach Karlshorst hinübersehen. Ich hatte Sehnsucht nach einer weiten Ebene ohne Hindernisse, nach dem Gespensterwald und nach der See, nach großen modernen Produktionsräumen, nach Maschinen. Es war eine unbestimmte Sehnsucht.
Camilla kommt im November.
Sie kam mit Verspätung.
Mir fiel ein Gespräch ein. Es wurde auf dem Flur der Wohnung Jewgeni Andrejewitschs in Moskau geführt.
«Du bist ein typischer Deutscher», hatte Jewgeni Andrejewitsch gesagt. Meinen Protest wehrte er mit seinen mächtigen Händen ab.
Ich nahm damals an einem Symposium über interdisziplinäre Forschung teil. Jewgeni Andrejewitsch hatte einen Vortrag aus der Antiteilchenphysik beigesteuert und mich nach einem heftigen, sachlichen Dialog in seine Wohnung eingeladen. Ich kannte ihn durch meinen Vater.
«Aber warum bin ich ein typischer Deutscher?»
«So, etwas ist schwer zu erklären», sagte der Physiker, der im Institut in Serpuchow arbeitete.
«Was ist das Schönste im Leben, Jewgeni Andrejewitsch?»
Der große Augenblick einer Entdeckung, einer Erkenntnis, um die man, jahrelang gerungen hat, dachte ich.
«Zweifellos, eine Frau zu umarmen, aber sag das nicht weiten», er lachte grimmig, «du kannst es übrigens ruhig erzählen. Es ist ohnehin bekannt genug. Du bist eben doch ein typischer Deutscher.»
Wir standen auf meinem Flur, und dort fiel mir dieses Gespräch mit, dem Physiker wieder ein.
Camilla brachte einen winzigen Koffer mit. Sie gab mir verlegen die Hand.
«Zeig mir deine Wohnung», sagte sie.
Sie trug ein Kleid und hohe hässliche Stiefel wegen des schlechten Wetters. Ihr kleiner Koffer stand auf der Diele, und ihr Mantel hing triefnass am Garderobenhaken. Aus der Küche hörte man das Summen des Wasserkessels.
«Du wohnst sehr hoch über der Stadt», sagte sie, «ist das dort drüben Karlshorst?»
«Ja. Möchtest du dich umziehen? Ich könnte inzwischen den Tisch decken.»
Sie nickte und schüttelte den Kopf.
«Den Tisch deck ich.»
Während sie im Badezimmer duschte, überprüfte ich die Vorbereitungen, die ich für ihren Besuch getroffen hatte. Dann hörte ich sie in der Küche wirtschaften.
Es wird keinen Zweck haben ihr Hilfe anzubieten, eigensinnig, wie sie ist, dachte ich.
Sie kam in meinem Bademantel mit einem Tablett.
«Darf ich den anbehalten?»
Gut in Erinnerung hatte ich ihre Neigung zur Schlamperei. Ihre Augen hatten plötzlich wieder den grünen Glanz, der mich im Sommer so gefesselt hatte. Jetzt war Herbst. Es war grau und regnerisch.
Vielleicht gehört, sie zu den Menschen, dachte ich, um die immer etwas Sonne bleibt. Ich liebe eine bestimmte Sonne, eine Sonne, die hell ist und heiß und hoch. Ein leichter Wind muss wehen.
Camilla suchte nach dem Essen alle Kissen zusammen und machte sich ihr gewohntes Lager auf der Couch, dort fand sie einen Lippenstift.
«Das war Sigrid», sagte ich, «nichts von Bedeutung.»
Wir hatten uns getrennt. Das Verhältnis war so unkompliziert gewesen, dass wir ohne Krach auseinander konnten.
Sie nickte, als habe sie eine solche einfache Erklärung erwartet. Damit war die Sache erledigt.
«Nun erzähl irgendwas», sagte sie, «erzähl von deinen Reisen.»
Ich hütete mich, in den Vortragston des Sommers zu fallen.
«Wir kamen einmal zu einer Nomadenfamilie in der Eismeerregion. Sie züchteten, Rentiere, und die ganze Familie stand versammelt, als wir aus dem Helikopter kletterten. Ich fragte einen Alten, wie er die neue Zeit finde. Wissen Sie, antwortete er, die neue Zeit ist gut, aber zu unruhig. Sie sind schon der zweite Gast in diesem Jahr.»
Ich log frech. Diese Geschichte hatte mir Jewgeni. Andrejewitsch an einem unvergesslichen Abend erzählt. Er hatte Lachtränen in den Augen, als er sie umständlich berichtete. Ich log also, aber ich log, um sie zu unterhalten, um etwas von der Heiterkeit des Sommers herbeizuzaubern. Es war erfolglos.
Vielleicht erzählte Jewgeni Andrejewitsch diese Geschichte besser als ich.
Sie schwieg, dann sagte sie: «Das ist eine sehr ernste Geschichte.»
Mir fielen keine Geschichten mehr an diesem Abend ein. Über meine Arbeit rede ich ungern. Wir hatten auch zu wenig Gemeinsames, als dass ein Austausch über alltägliche Ereignisse möglich gewesen wäre.
«Und was hast du hier zu tun?», fragte ich.
«Ich werde ein paar Tage in der Staatsbibliothek arbeiten», sagte sie. «Störe ich dich auch nicht?»
Ich schüttelte den Kopf. Ich hatte nie mit einem Menschen auf so engem Raum zusammen, gelebt.
«Du musst Kerzen besorgen. Und eine weiße Tischdecke fehlt dir. Es ist auch zu viel Chrom in der Wohnung» sagte sie missbilligend, «überhaupt ist alles zu nüchtern.»
Es stimmte, ein bisschen sehr kahl waren die Wände, einfach die Möbel, ein bisschen sehr praktisch der ganze Haushalt.
«Den Sachen fehlt die Geschichte», erklärte Camilla.
Die Stimmung war doch anders als im Sommer.
Es war erstaunlich, was alles in dem kleinen Koffer Platz gefunden hatte. Selbstverständlich auch die weiße Wickelschürze. Sie war immer weiß, obwohl Camilla sie häufig trug.
Ich entsinne mich an drei Ereignisse während Camillas Besuch.
Sonntagmorgen, Bodemuseum.
«Museen haben den Nachteil, dass man nichts anfassen darf.».
Ich dachte an Rickweiler aber zugleich sah ich Camilla an. Auf dem Fischland war die Erscheinung Camillas an Farben gebunden, an die leichten hellen Farben dieser Landschaft. Dennoch dachte ich an Rickweiler. Seit Camilla da war, kam ich nicht mehr zum Arbeiten. Unter Arbeit verstehe ich die Stunden geistiger Tätigkeit.
Sie fegte ihre Hände auf einen ägyptischen Sarkophag. Einen Augenblick ohne Aufsicht, protestierte sie sofort gegen die vorgeschriebene Ordnung. Ihre Brauen waren dunkler als, das Kopfhaar, fleischig und gerade die Nase. Unruhig glitt ihr Blick über die toten Gegenstände. Sie schien enttäuscht von diesem Museum, vielleicht auch vom Verlauf des ganzen Besuches.
Sonntagabend, Volksbühne.
Camilla hatte eine Stunde gebraucht, um das schwarze, am Hals geschlossene Kleid anzuziehen und ihre an leichte Turnschuhe gewöhnten Füße in offenbar neue, hochhackige Schuhe zu zwängen. Nach dem Mittag hatte sie sich das Haar gewaschen und auf Lockenwickler gedreht. Ich hatte das Haar gefönt und auf ihren Nacken hinabgesehen. Als Ergebnis dieses Aufwandes stand sie jetzt auf dem Parkett im Erfrischungsraum des Theaters und trank Sekt. Eine altmodische Gemmenkette, weiße Frauenköpfe auf braunem Grund, lag auf dem schwarzen Kleid.
Und mir wurde bewusst, dass sie morgen abreisen würde.
Sonntagabend, zu Hause.
Camilla sitzt steif und kerzengerade in ihrem Sessel. Der Tisch ist nicht abgeräumt worden. Zwischen Tellern und Gläsern steht die eine Kerze. In ihrem Blick mischen sich Unruhe, Erwartung und Enttäuschung. Ich beobachte sie, während ich sitze und darauf warte, dass sich Camilla ihr Lager zurechtmacht, dass sie die Kissen zusammensucht, die sie braucht, dass sie heiter und gelassen wird. Mir ist, als bewege sie die Lippen, wie im Selbstgespräch.
«Meerteufel sind nicht giftig», murmelt sie. Ein schwacher Protest gegen diese Tage ist in ihrer Stimme.
«Nein», sage ich, «ich glaube, sie sind nicht giftig.
Langsam löst sie die Gemmenkette und legt sie auf den Tisch.
«Soll ich etwas erzählen?»
Sie schüttelt, den Kopf.
Vor ein paar Tagen saß Rickweiler hier. Ich sehe ihn, wie er den Kopf nach hinten legt und Wodka hinuntergießt. Ich sehe den rissigen, braunen, Hals Rickweilers. Offene, wache Augen, sehe ich, seinen federnden Schritt, als wir beide das erste Mal durch die Abteilungen gingen. Ich glaube, ich halte nicht mehr lange durch, hatte Rickweiler vor ein paar Tagen gesagt. Alt werden, keine angenehme Sache.
Beinahe alles muss sich in unserem Bereich ändern.
Ich stehe auf und gehe hin zu Camilla. Ihre Haut schmeckt salzig. Sie rührt sich nicht. Vielleicht ist sie verheiratet? Wir haben nicht darüber gesprochen. Ihren Mann, falls es ihn gibt, stelle ich mir als einen kleinen unbedeutenden Menschen, vor, der schlank ist und sportlich. Wahrscheinlich ist er Sportlehrer. Vielleicht ist sie eine überstürzte Ehe eingegangen, wie das jetzt üblich geworden ist. Sie will sich vielleicht scheiden lassen. Warum? Der Soziologe könnte es erklären. Wie ich höre, beantragen mehr Frauen die Scheidung als Männer. Ich weiß natürlich, dass es Unsinn ist, sich ihren Mann klein und unbedeutend vorzustellen, aber in dieser Situation kann es nicht anders sein.
Ihre Lippen sind feucht, warm und scheu. Vielleicht war die Geschichte mit der Staatsbibliothek nur ein Schwindel.
Ich streife ihr die Schuhe von den Füßen. Durch das dünne Gewebe des Strumpfes schimmert der Fuß, so wie ich ihn am Strand gesehen habe, kräftig aber nicht zu groß. Aufatmend lehnt sie sich zurück. Sie verschränkt die Arme hinter dem Kopf. Unter ihren Achseln aus dem kurzärmligen Kleid heraus sehen dunkle Haarbüschel. Sie riechen nach Schweiß. Camilla nimmt mir die Brille ab. Ganz nahe sehe ich ihre Brust vor mir. Sie hebt und senkt sich ruhig. Das dunkle enge Kleid spannt sich um ihre Hüften. Sie legt ihren Kopf auf, meine Schulter, ihre Hand streichelt meinen Hals. Camillas Haut ist glatt und weich, ich habe sie um die Schulter gefasst. Meine Finger hinterlassen vier weiße Flecken auf ihrem Oberarm, die sich nur allmählich wieder mit Blut füllen. Mit beiden Händen streiche ich ihr Haar fest nach hinten. Ihr Gesicht müsste jetzt einen harten Ausdruck haben, etwas Strenges müsste darin sein, aber nichts kann die Unbestimmtheit, das Unfertige dieses Gesichtes stören. Das Licht brennt herunter. Es ist dunkel, als Camilla ihre Sachen nimmt und ins Nebenzimmer geht.
Ich weiß jetzt, dass Camilla schwer ist. Ich weiß jetzt, dass ihr Körper bitter ist. Ich weiß jetzt mehr von Camilla. Ich liege und sauge an der ausgegangenen Pfeife, zu faul, um ins Badezimmer zu gehen.
Das Deckenlicht flammt auf. Camilla steht im Türrahmen und schleift die Steppdecke hinter sich her.
«Ich kann nicht einschlafen.»
Antwort wartet sie nicht ab. Sie knipst das Licht aus und legt sich neben mich. Sie nimmt den Platz auf meiner Schulter ein, als hätte ihr Kopf immer dort gelegen, als hätte sie jetzt einen dauernden Anspruch darauf. Ich liege still und starre an die Decke, Lichtreflexe spielen auf dem kalkigen Weiß.
Sie ist eingeschlafen. Ihr Atem verrät es. Vorsichtig ziehe ich die Decke um ihre Schultern.
Sie verlängerte ihren Aufenthalt um drei Tage. Camilla ist einundzwanzig, ich bin einunddreißig.
Hören Sie, hatte ich dem Soziologen gesagt, könnten Sie nicht woanders schreiben? Es stört. Und er hatte geantwortet: Ja, richtig, Sie sollen Besuch haben.
Camilla las viel an diesen stillen Abenden. Während sie in dem einen Buch blätterte, las sie in einem anderen.
«Warum hast du keine Belletristik, Robert?»
«Ich kann nichts an Romanen finden», sagte ich, «die meisten sind auch zu lang.»
Sie überlegte. «Wir verwenden viel Zeit darauf, Faktenwissen zu vermitteln, und wenig, das Gemüt zu erziehen», erklärte sie streitbar.
«So ist es», sagte ich, «und trotzdem gibt es noch immer zu wenig Autos, Maschinen, Konsumwaren, während an Gefühlen kein spürbarer Mangel ist.»
Camilla hat keinen Sinn für Ironie. Ihre Ironie ist boshaft, sie verletzt.
«Und deshalb kannst du auch keine Geschichten erzählen», fuhr sie fort. «Geschichten kann man nur über Menschen erzählen, nicht über Autos, Maschinen, oder Konsumwaren.»
Und darüber ärgerte ich mich nun doch, weil ich mir große Mühe gab, gut zu erzählen. Nicht jeder kann seine Geschichten vorspielen wie Jewgeni Andrejewitsch.
Sie hatte einen neuen Einfall. «Wollen wir Schule spielen?» Entzückt von diesem Gedanken, sprang sie von der Couch.
«Da Sie schon recht große Jungen sind, dürfen Sie nun einmal in das Hauptwerk der deutschen Klassik sehen.»
Sie ist überspannt, dachte ich.
«Nehmen Sie ein Blatt Papier heraus.»
Ich tat ihr den Gefallen, ich spielte mit.
«Nun schreiben Sie sich drei Fragen auf, die Sie beantworten sollen. Was ist ein faustischer Mensch? Worin liegt die Grundidee des ersten Teiles? Für den zweiten Teil dürften Sie geistig noch kaum gerüstet sein. Die dritte Frage erlasse ich Ihnen also zunächst. Mündlich bitte. Doktor Kalender. Stellen Sie sich ordentlich hin.»
Sie stelzte auf und ab. Ich sah zu.
«Nun? Du bist langweilig.» Auffordernd sah sie mich an. «Ein Mensch ringt um Erkenntnisse. Da er sie aus sich selbst heraus nicht findet, geht er einen gefährlichen Pakt ein, eine Handlung, die dem Spießer ewig unerklärlich bleibt.»
«Eine riskante wissenschaftliche Karriere», gab ich zu bedenken, «der Zweifel an einer Möglichkeit, die erbarmungswürdige Welt zu verändern, qualifiziert sich zum Genusskult, zum Privileg einer sozialen Elite. Schließlich gibt der Forscher seinen Auftrag ganz preis.»
«War das eine Selbstanalyse?», fragte sie hintergründig.
Es war kein Spiel mehr. Sie stellte einen Zusammenhang her zwischen Konsum, Maschinen, Genuss und politischem Verzicht, der mir gegen den Strich ging. Ich rettete mich in die Geschichte: «Das müssen kümmerliche Zeiten gewesen sein. Dein Forscher hätte sich mehr mit der Naturwissenschaft beschäftigen sollen.»
«Das hat er ja», beharrte sie. «Er suchte den Schlüssel zur Weltveränderung über, den Pakt. Unglaublich. Schreiben Sie, Kalender ist unmöglich.»
Ich schrieb. Sie las das Blatt und sah mich an.
Ein unbeschreiblicher Ausdruck von Zärtlichkeit glitt über das Gesicht.
Ich hatte geschrieben: Robert Kalender liebt Camilla Veerden.
«Das ist eine schöne Bescherung», murmelte sie. «Geben wir es auf.»
Aber sie kam auf mich zu. Es waren vielleicht drei Schritte. Sie brauchte lange, bis sie vor mir stand.
«Du hast mich vom ersten Tag an geliebt», sagte sie, «gib es zu.»
Es stimmte.
«Warum?»
Hier hörte die Logik auf. Leider. Hier begannen jene Beziehungen, von denen Jewgeni Andrejewitsch behauptet, sie seien das Schönste im menschlichen Leben. Eine logische Erklärung fiel mir nicht ein. Und was hätte sie genutzt? Ohnehin war an diesem Abend genug geredet worden.
«Mach das Licht aus», sagte sie.
«Warum? Du gehst doch auch an den FKK-Strand?»
«Das ist etwas anderes», erklärte sie. «Du, ich glaube, mir fehlt das Zeug zum Lehrer.»
Aus Camilla kann niemand klug werden.
Diese Tage fanden ihren Abschluss: ein rechteckiges Fenster in einem Eisenbahnabteil. Das Fenster ist heruntergelassen. Auf dem Bahnhof Lichtenberg brennen trübe Funzeln. Camilla wischt sich eine Haarsträhne aus der Stirn. Die Hand stockt. Es ist, als besinne sich die Hand, als habe sie ein eigenes Leben unabhängig von Camillas Willen. Ich weiß, dass ich in fünf Minuten allein sein werde.
«Morgen musst du den Kühlschrank abtauen», sagt sie.
Ich denke: Kann man mit ihr leben?
Wir starren beide auf die Bahnhofsuhr.
Der Zug fährt an. Camilla steht am Fenster. Sie winkt nicht. Winken ist so sinnlos. Sie beugt sich vor.
Noch lange, nachdem, der Zug den Bahnhof verlassen hat, sehe ich ihr weißes Gesicht.