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Vor dem Lagertor

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Tarek. Bist du’s, Sirna, in der späten Dämmerung? Meine Augen tun sich schwer, dich zu erkennen. Doch wenn du es bist, dann fällt mir der Stein vom Herzen, dass du lebend den weiten Weg geschafft hast.

Sirna. Ja, ich bin’s und habe dem jungen Mann zu danken, der den kleinen Izmir auf die Schulter nahm und hierher trug.

Tarek. Wo ist der Mann, führe mich zu ihm, dass auch ich ihm für seine Güte danke und den Obolus entrichte.

Sirna. Er gab mir Izmir an die Hand und eine Flasche Wasser dazu, lehnte jegliche Bezahlung ab, grüßte freundlich und verschwand.

Tarek. Mein Kind, denkst du nicht, dass er im Lager ist, um die Nacht hier zu verbringen? Er kann unmöglich in die Nacht hinaus verschwunden sein.

Sirna. Vater, ich weiß es nicht, doch was ich sah, war seine Eile, als ob er anderen Menschen folgte, die ihm auch am Herzen lagen.

Tarek. Ich begreife es als Wunder, dass du mit Izmir den weiten Weg genommen hast, der sich hart und steinig über die langgezogene Hügelkette streckt. Dieses Wunder geht über meinen Verstand, weil viele Menschen auf dem Weg ihr Leben verloren.

Sirna. Ohne Wunder können wir die Tage nicht überstehen.

Tarek. Wie meinst du das? Ich verstehe, dass es neben den großen Wundern die vielen kleinen Wunder gibt. Doch möchte ich sagen, dass es die kleinen alltäglichen Wunder sind, die uns das Tragen der schweren Bürde erleichtern und über die Stunden erträglicher machen.

Sirna. Ich gebe dir recht, dass bei dem Mangel an Wasser es schon an das große Wunder grenzt, dass bei der grimmigen Trockenheit in den Kehlen uns der Atem trotz der Schwere erhalten blieb.

Tarek. Kann es nicht so sein, dass es das große Wunder ist, wenn wir die vielen kleinen Wunder gar nicht mehr wahrnehmen? Denn würden wir jedes kleine Wunder mit der nötigen Aufmerksamkeit registrieren, der Mensch würde bescheidener werden und durch die Bescheidenheit näher an die Wahrheit herankommen und ihn dadurch reifer machen, was ihn letztendlich an die Grenze von Zeit und Ewigkeit in seinem Leben führt. Das ist’s, was ihn die Erfüllung erkennen und erleben lässt und ihn am Ende glücklich macht.

Sirna. Doch wo sind die Menschen der Bescheidenheit mit den helfenden Händen, wenn man sie braucht? Auf dem steinigen Weg hierher waren es vielleicht zwei wie der eine, der Izmir auf seine Schultern setzte.

Tarek. Bescheidenheit ist eine hohe Tugend, die zu erlangen nicht jedem gegeben ist. Denn um bescheiden zu sein, bedarf es der Bildung, die über das gewöhnliche Maß doch hinausgeht. Selbst Menschen meines Alters sind wenige, die mit dieser Tugend zum Wohle der Menschen gesegnet sind. Und die Zeiten nehmen an Gewalt und Härte zu, dass sie diese Milde nicht mehr wahrnehmen.

Sirna. So kommt selbst die Bescheidenheit einem Wunder näher.

Tarek. Du kannst sagen, sie kommt einem Wunder gleich.

Sirna. Und dieses Wunder ist kein kleines mehr.

Tarek. Dass zu erfahren schon ein großes ist. Darin, ich meine im Wunderbaren, haben sich die Zeiten zum Nachteil der Menschen verändert. Die Armut, die es auch früher gab, hat sich weit auf die Seelen ausgedehnt und sich ihrer bemächtigt, dass die Herzen hart, so steinhart geworden sind.

Sirna. So behüte mich Gott, er ist der Menschen Schöpfer, dass mein Herz die Milde weder verachtet noch verwirft, dass meine Hände helfende Hände sind für Menschen, die der Hilfe im Leben so dringend bedürfen.

Tarek. Mein Kind, du hattest schon immer ein weiches Herz, wofür dir die Menschen dankten und weiter danken werden.

Paul. Welch ein Zufall, welch ein Tag, dass ich dich hier wieder treffe, den guten Lehrer der großen Schule, aus der die guten Schüler kommen und als Ärzte und Anwälte den Menschen dienen.

Tarek. Ja, es ist ein Zufall, denn lange hab ich dich nicht gesehen und habe mir doch Sorgen um dich gemacht.

Paul. Sorgen solltest du dir meinetwegen nicht machen, das Leben hat mich weise bis hierher geführt.

Tarek. Du meinst, weise, weil du am Leben bist und dir kein Geschoss durch Arm oder Bein gejagt wurde. Auch sind dir die Wangen nicht eingefallen wie den vielen, die sich auf den Weg gemacht haben.

Paul. Es ist der Weg in die Ungewissheit, vor der sich nicht nur die Menschen fürchten, sondern auch die Tiere, die uns tragen und begleiten, denn auch sie dürsten nach dem klaren Wasser.

Tarek. Doch die Esel sind an größere Gewichte gewöhnt mit den Säcken von Kleidern und von Mais, die sie auf dem Weg in die Ungewissheit tragen.

Paul. Und wir uns dabei fragen, ob es Sinn hat mit den Kleidern, wenn wir nicht wissen, ob wir sie noch einmal tragen werden.

Tarek. Wenn wir sie nicht tragen, dann werden es die andern tun und das mit nicht geringerem Stolz. Denn teure Kleidung steht auch armen Menschen gut, die sich solche Stücke bislang nicht leisten konnten.

Paul. Was die Zeit uns bringt, ist das Mehr an Gleichheit, wir haben Haus und Gut verloren, was unsere Väter und Vorväter erarbeitet und aufgebaut haben. Wir sind besitzlose Bettler geworden und retten unsere Haut mit Kopf und Kragen.

Tarek. Und das Mehr an Gleichheit bezieht sich auf den Stand der Bettler.

Paul. Ja, auf jene mit dem letzten Hemd und den leeren Händen, denn in der Besitzlosigkeit gleichen sich die Menschen am meisten, da geht es bis zur letzten Notdurft gemeinsam und ohne Neid.

Tarek. Doch der Schmerz in der Besitzlosigkeit ist verschieden, die einst Wohlhabenden empfinden die besitzlose Gleichheit schmerzhafter als die, die schon vorher nur wenig oder nichts hatten.

Paul. Doch was denkst du von den Händen der Menschen?

Tarek. Da geb ich dir recht, wo sich die großen Hände von den kleinen unterscheiden, was der Gleichheit widerspricht.

Paul. Und die Ungleichheit wird noch stärker, wenn die Hände sich zu Schalen formen und in Bettelmanier gestreckt uns entgegengehalten werden, um gefüllt zu werden mit Dingen die nötig sind, wenn es den Hunger und den Durst betrifft.

Tarek. Da kleine Menschen auch große Hände und große Menschen kleine Hände haben können, treten bei der Verteilung die Ungleichheiten auf, die als ungerecht empfunden werden.

Paul. Die Hände lassen sich weder verkleinern noch vergrößern, wenn vom Wachstum kindlicher Hände abgesehen wird. Du siehst, mein Freund, wie die Form mit dem Format die Gleichheit durcheinander bringt, wenn es um die Hände geht.

Tarek. Und wie ist es mit den Köpfen, die sich in Form und Größe unterscheiden?

Paul. Der Kopf ist ein besonderer Behälter, der das Gehirn zum Inhalt hat, während die Hand nur Muskeln und Sehnen zu den Fingern führt. Was ich damit sagen will, ist, dass im Kopf die Gedanken entwickelt und der Wille formiert werden, während Muskeln und Sehnen der Hand die Finger in Bewegung setzen, wie es das Hirn schaltet und befiehlt.

Tarek. Dann sind es die Bewegungsabläufe, durch die und in denen sich die eine Hand von der anderen unterscheidet.

Paul. Und was für die Hände gilt, gilt nicht weniger für die Füße, denn im Gang unterscheidet sich der eine Mensch vom andern, und das im Tempo und der Art des Zusammenspiels der Muskeln im Bewegungsverlauf.

Tarek. Auf großem Fuße leben, bleibt hier eine Illusion, die bei Tage betrachtet den größeren Eindruck hinterlässt.

Paul. Es zählt nicht mehr das zu tragende Gewicht, es sei denn das Kind und die alte Mutter, die den Weg auf eigenen Füßen nicht schaffen. Da wird die Ungleichheit zur Menschlichkeit, wird Ausdruck der tätigen Liebe am Nächsten. Und auf diese Tätigkeit kommt es an, die im tiefsten Sinne auf dem Glauben beruht, dass das Leben, ohne dem andern zu helfen, wertlos und ein vergeudetes Leben ist.

Tarek. So sprach auch Sirna, die das Wunder erlebte, dass auf dem langen und steinigen Weg ein freundlicher Mann den kleinen erschöpften Izmir auf seine Schultern setzte und bis zum Lager trug, wo er ihm noch die Flasche Wasser gab.

Paul. Das ist, was ich meine, edel sei der Mensch und gut, wenn das Leben Sinn und Wert bekommen soll. Denn ohne diese Güte sitzt der Teufel uns im Nacken, den loszuwerden viele und meist junge Leben fordert und das Leben der Unschuldigen kostet und verschlingt. Darum halt ich es den Lehrern vor, nicht nur das Wissen, sondern auch die Güte der Herzensbildung zu vermitteln, denn das Wissen von den Dingen reicht nicht aus, um einen guten Menschen heranzubilden, der seinem Nächsten eine Hilfe ist, wenn er sie braucht.

Tarek. Es leuchtet ein und gibt ein helles Licht, was du über die Bildung sagst. Doch wo sind die Schulen und die Lehrer, die solch eine Bildung vermitteln?

Paul. Hier im Lager findest du schnell die Menschen, die durch eine solche Schule gegangen sind. Sie sind zwar oft armselig gekleidet, doch wenn sie sprechen und handeln, dann strömt ein Reichtum aus ihren Herzen, was Menschen aus deren Not heraushilft und ihnen das Leben leichter macht und Leben rettet und den Tag mit der schweren Bürde erträglicher macht.

Tarek. Diesen Menschen zu danken, das soll uns im Verständnis der Dinge dann auch selbstverständlich sein, denn die Werte ihrer Menschlichkeit sind doch unbezahlbar. Es ist ihre Selbstlosigkeit, die einem Wunder gleicht, dem sich Menschen unserer Zeit weit entfernt haben.

Paul. Ja, die Menschen sind’s, die Not und Freude bringen, meist sind es Menschen in der Altersmitte, die beides tun, weil sie beides können.

Tarek. Ob sie beides wollen, das wiederum weiß ich nicht. Doch wie wir ihre Talente und Ziele erfahren, und das in dieser Zeit, sie neigen mehr, und viele ausschließlich dazu, andere Menschen, die unschuldig sind, in Not zu stürzen.

Paul. Da geb ich dir recht, denn wie sonst kann ich die Lage sehen, die uns Vertriebene hier im Lager trifft. Wir haben die Heimat verloren und wissen nicht, ob wir sie jemals wiedersehen werden.

Tarek. Und wenn wir sie wiedersehen, was, so glaube ich auch, die Ausnahme sein wird, dann werden wir sie nicht wiedererkennen.

Paul. Die zerstörte Heimat ist wie der gefallene Krug, man kann die Trümmerstücke nicht so zusammensetzen, um das gelebte Ganze wiederzubekommen. Es wäre naiv gedacht, und die Dinge der Welt haben sich verändert, um sie auf dem ursprünglichen Stand wiederherzustellen.

Tarek. Das gibt den Grund zur Trauer, dass die großen Werte, die von den Vätern in härtester Arbeit geschaffen wurden, wenn sie zerschlagen werden und zerbrochen sind, für uns und die folgenden Generationen verloren sind.

Paul. Das ist, dass es Risse in den Bändern der Kulturen gibt, die nicht zu füllen und zu heilen sind. Es gibt Vermutungen, dass Barbaren gehaust und die hohen Werte zerstört haben. Denken wir an die ägyptischen und altgriechischen Skulpturen, denen die Nasen, Ohren, Köpfe und Arme abgeschlagen wurden. Diese Verluste sind nicht mehr zu ersetzen, dass die kulturelle Verarmung nicht rückgängig zu machen ist.

Tarek. Was dem Durchschlagen der völkischen Wurzeln gleichkommt, dass Folgegenerationen die Orientierung über Herkunft und Zukunft auf die bedauerlichste Weise verloren haben.

Paul. Und weiter verlieren. Denn woher sollen sie die Kenntnis nehmen, wenn die Bau- und Denkmäler der Kulturen zerschlagen sind? Es ist der Teufel dieser Zeit, der dem Fireden abhold ist und jeder Friedfertigkeit von Anfang an feindlich entgegenschlägt. Es ist der alte Zweifel mit dem Kampf zwischen Liebe und Hass, der ganze Völker in den Abgrund gezogen und vernichtet hat.

Tarek. Das heißt, dass alles seinen Anfang und seine Geschichte hat.

Paul. Nur muss sie erzählt werden beziehungsweise fürs Auge erkennbar und fürs Ohr hörbar sein. Wenn über die Geschichte nichts gesagt und fürs Auge nichts erkennbar wird, dann kann auch die Geschichte nicht verstanden und nicht weitergegeben werden. Und wenn das so ist, dann ist nicht vorstellbar, wo und wie weit zurück der Anfang zu ziehen ist.

Tarek. Das ist, was mit unseren Städten und Dörfern geschieht, die samt ihren Bewohnern dem Hass zum Opfer fallen. Wir, die wir unsere Heimat verlieren und bereits verloren haben, werden auch unsere Geschichte verlieren, weil der durchgehende Faden über Herkunft und Kultur zerrissen ist.

Paul. Das macht die ganze Sache überaus traurig, weil unsere Geschichte die von Vertriebenen beziehungsweise Verstoßenen beziehungsweise Ausgestoßenen ist, denen die Kraft der Überzeugung durch das Leben mit dem Hunger so stark geschwächt ist und dazu infrage gestellt wird, wenn die Worte mit der ganzen Wucht der Wahrheit überzeugen sollen.

Tarek. Es ist die Verworfenheit der Geschichte der Menschen mit dem Verworfensein in die Geschichtslosigkeit, was dem Untergang der Zivilisation unmittelbar vorausgeht.

Paul. In der das Unwiederbringliche zerschlagen wird und verloren geht, während wir am Lagertor stehen und den Verlust in unserer Hilflosigkeit nachtrauern. Es ist das Ende einer Gesellschaft, die den Frieden wagte und das Opfer ihrer selbst samt ihrer Kinder wurde.


Vierter Auftritt

Shira und Paul der Mahner

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