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Aus einer psychiatrischen Begutachtung zur Frage der geistigen Zurechnungsfähigkeit

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Professor: “Hatten Sie Leute, auf die Sie sich verlassen konnten, dass Ihnen Menschenaugen und keine Tieraugen nach Straßburg geschickt wurden?”

Dr.”X” [merkte den Ansatz der Falle]: “Was meinen Sie mit Leuten, auf die ich mich verlassen konnte?”

Professor: “Ich dachte dabei an Kollegen, die am selben Forschungsprojekt arbeiteten und darüber wachten, dass Sie die richtigen Präparate bekamen.”

Dr.”X”: “Ich glaube, dass Sie bei der Nennung der “Kollegen” vom Thema der Augenforschung abweichen wollen. Was führen Sie im Schilde, Herr Professor?”

[Björn sah sich vor der unüberwindbaren Hürde, die doch erst die erste Hürde war.]

Professor: “Da haben Sie mich missverstanden. Es hätte doch sein können, dass es sich bei den Augen um Frischpräparate handelte, die bei der Entnahme gut durchblutet sein mussten und nach Entnahme sofort tiefgefroren wurden, um postischämische Schäden, die für die weitere anatomische Verarbeitung hinderlich gewesen wären, zu vermeiden. Da haben Sie doch einen verlässlichen Kollegen gebraucht, der das für Sie tat, wenn Sie mit den Vermessungen der Augen, Pupillen und Kreisbögen der Iris im Anatomischen Institut der Universität Straßburg zugange waren. Oder mussten Sie es selbst tun?”

Dr.”X” [war misstrauisch, ohne es sich auf seinem skurrilen Monstergesicht mit der ästhetisch fehlenden Mitte durch die Stegverschmälerung der von Geburt an zu kurzen Nase anmerken zu lassen]: “Jetzt kann ich Ihnen nicht mehr folgen, [Björn nahm es wörtlich.] wenn Sie von einem Kollegen sprechen, der die Augen für die Forschungsarbeit entfernte. Wie kommen Sie darauf, Lebendaugen zu entfernen und nach der Entnahme tiefzufrieren?”

Professor: “Weil nur so das beste Ergebnis bei der Forschungsarbeit zu erzielen ist, die dem Zustand des lebenden Auges in seiner Durchblutung am nächsten kommt, bevor die postischämischen Veränderungen einsetzen.”

Bei Dr.”X” wuchs das Misstrauen, und Björn merkte, dass er die erste Hürde so nicht nehmen kann. Beim Nachdenken über einen anderen Zugang zum Problemkern bemerkte er, dass Dr.”X” seine Tasse leer getruneken hatte.


Professor: “Können Sie mir sagen, wie die Augen entnommen wurden?”

Dr.“X”: “Ich sagte bereits, dass ich Ihnen alles gesagt habe.”

Professor: “Können Sie mir sagen, was Sie getan haben, wenn Sie nicht im Institut mit den Vermessungen beschäftigt waren?”

Dr.”X”: “Aus welchem Winkel ihre Fragen jetzt auch kommen mögen, ich sagte, dass ich Ihnen alles gesagt habe.”


Damit war das Gespräch zu Ende. Björn schaute den Dr.”X” mit großen Augen an, der mit den misstrauisch verkniffenen Augen zurückblickte. Björn war schon an der ersten Hürde steckengeblieben. Denn das große Todestor mit den zwei Torflügeln unter dem Torbogen mit den Großlettern: ARBEIT MACHT FREI, unter dem das Todesgleis weiter ins Lager führte und an der Rampe endete, wo sich die Todesfracht selbst entlud, die von einem anderen “Arzt” in weißer Uniform mit Reitpeitsche selektiert wurde, ließ Dr.”X” geschlossen. Da verwehrte er den Unbefugten, zu denen er den Professor auch zählte, noch nach fünfzig Jahren den Zutritt, um nicht nach so weit zurückliegender Zeit an die grausamen Schändungen und Morde erinnert zu werden, an denen er persönlich beteiligt war. Dr.”X” hielt das Tor geschlossen, schirmte das Lager mit den noch lebenden Häftlingen hermetisch ab. Dabei hoffte er auf die Asche, die als Zeuge nicht mehr spricht. Er tat es, obwohl er wusste, dass ein russischer T-34 Panzer das verschlossene, mit Stacheldraht und eilends eingewuchteten Eisenträgern verbarrikadierte Tor im Januar 1945 durchstoßen hatte, um die sich selbst überlassenen, zu Skeletten abgemagerten Häftlinge, unter denen auch Kinder mit Greisengesichtern waren, zu befreien, wenn sie noch die Kraft zum Atmen hatten.

Vor diesem verschlossenen Tor war Professor Baródin steckengeblieben. Er musste draußen bleiben. Die Einsicht wurde ihm als “Unbefugten” verwehrt. An ein Durchkommen ins Lager jener Zeit war nicht zu denken, da passte Dr.”X” mit der Spürnase des Höllenhundes auf. So war für den Gutachter das Gespräch, zu erfahren, was im Lager mit den Menschen geschah, was Dr.”X” dort an Grausamkeiten angerichtet hatte, negativ verlaufen. Positiv war dagegen die Feststellung, dass Dr.”X” sehr wach war und das Gespräch mit äußerst kritischer Aufmerksamkeit verfolgt hatte. Ihm war die “Falle” früh genug aufgefallen, dass er sich von ihr nicht einfangen ließ. Insofern war ihm eine gute geistige Verfassung mit der vollen Zurechnungsfähigkeit zu testieren. Dass er am Ende, wo sie am Tor von Auschwitz angekommen waren, das Gespräch blockte, das hatte mit dem ‘Auschwitz-Syndrom 2’ zu tun, wenn der Täter seine grausamen Taten aus der Erinnerung “ausradiert” und daran nicht erinnert werden will. Das Gespräch war beendet, und Dr.“X” wurde von den zwei Wächtern zur Haftanstalt zurückgebracht.


Professor Baródin sah vor dem geistigen Auge die 9 Überlebenden von Auschwitz, die wegen der Folgeschäden vor dem Oberlandgericht gegen Dr.”X”, den Hünen von Unmensch mit dem sächsischen Dialekt, klagten:


Einer 78-jährigen Frau waren als junger Frau im Lager das rechte Handgelenk und die Finger der linken Hand gebrochen worden. Mit beiden Händen konnte sie nicht mehr richtig greifen, weil die Finger der linken Hand in Fehlstellung verheilt und einige Gelenke versteift waren und sie an der rechten Hand einen Nervenschaden erlitt, der ihr den Faustschluss und das sichere Greifen von Gegenständen verwehrte.

Ein 75-jähriger Mann hatte einen schlecht verheilten Unterkieferbruch und Hörschaden auf dem linken Ohr zurückbehalten, nachdem Dr.”X” ihm einige Ohrfeigen versetzt hatte, dass der Unterkiefer gebrochen und das linke Trommelfell gerissen war.

Ein 69-jähriger Mann konnte nicht ohne Stock gehen, nachdem Dr.”X” hart mit dem eisenbeschlagenen Stiefel auf ihn eingetreten und ihm dabei den rechten Unterschenkel gebrochen hatte, der in Fehlstellung mit einer Beinverkürzung von 10 Zentimetern verheilt war. Auch ihm hatte der “Arzt” das linke Ohr taub geschlagen.

Eine 65-jährige Frau überlebte die furchtbare Sterilisation als 15-Jährige, die sie blutig und nach einer Betäubungsspritze über sich ergehen lassen musste.

Ein 68-jähriger Mann erlitt als 17-Jähriger Verbrennungen im Gesicht, am Hals und an den Händen, die ihm mit brennenden Zigaretten bei einem Folterverhör zugefügt wurden.

Einem 73-jährigen Mann wurde mit 22 Jahren von Dr.”X” die rechte Schulter ausgekugelt und der linke Unterarm über dem Handgelenk gebrochen. Wegen eines Nervenschadens mit völligen Funktionsverlust ließ er sich nach dem Krieg den rechten Arm amputieren. Die linke Hand hatte die Fehlstellung behalten.

Eine 72-jährige Frau war auf dem rechten Auge erblindet, nachdem ihr als 21-Jährige Dr.”X” mit der Faust aufs Auge geschlagen hatte.

Eine 68jährige Frau hatte kontrakte Narben am Hals und über der Brust zurückbehalten, nachdem ihr Dr.”X” als 18-Jährige Benzin über den Hals und Oberkörper gegossen und angezündet hatte. Operationen nach dem Krieg hätten die Kontrakturen nur teilweise gelöst; die Schluckbeschwerden habe sie behalten und könne den Mund nicht vollständig schließen.

Ein 59-jähriger Mann hatte den Hirnschaden erlitten, nachdem ihn Dr.”X” als Kind mit dem Kopf gegen die Mauer geworfen hatte. Dieser Mann war der Jüngste der neun Überlebenden, die durch die Foltermangel des Dr.”X”, den “Hünen von Unmensch” mit dem sächsischen Dialekt, gegangen waren.


Björn hörte sich das auf Tonband aufgenommene Gespräch mehrere Male an. Das geschlossen gebliebene Tor von Auschwitz brachte ihn immer wieder zur Erschütterung, dass hinter dem geschlossenen Tor die Menschen derart gequält und grausam getötet wurden, dass sich die Täter über das Ausmaß der begangenen Verbrechen noch nach über fünfzig Jahren in Schweigen hüllten. Er brauchte eine ganze Woche, um das Gutachten zu erstellen, wobei er eingehend auf das Gespräch einging und in der Beurteilung auf die Äußerungen des Dr.”X” verwies. Da musste er die Verbindung zum ‘Auschwitz-Syndrom 2’ herstellen und ausführlich begründen, damit die Strafkammer sich ein Bild über die Verfassung und Zurechnungsfähigkeit des Geistes von Dr.”X” machen konnte.

Nachdem das Gutachten bei Gericht eingegangen war, wurde der Verhandlungstermin anberaumt. Professor Baródin war als psychiatrischer Sachverständiger geladen. Zwei Monate später fand die Verhandlung statt. Björn hatte den Gerichtssaal betreten und seinen Platz eingenommen, blickte zu den anderen Menschen im Saal und erschrak, als er das Gesicht des alten Mannes erkannte, dessen Alter in der Akte mit 68 Jahren angegeben war. Sein Gesicht zeigte die vielen Narben nach Verbrennungen nach einem grausamen Folterverhör. Die Folterer hatten brennende Zigaretten in das Gesicht des damals 17-Jährigen gedrückt. Selbst die Ohren waren verstümmelt. Von den neun Überlebenden von Auschwitz, die, wie es in der Akte stand, durch die Foltermangel des Dr.”X” gegangen waren, glaubte Björn, sieben identifiziert zu haben, als vier Richter und eine Richterin den Saal betraten, ihre Plätze hinter dem Richtertisch einnahmen und der Kammervorsitzende die Verhandlung eröffnete.

Der Vorsitzende stellte zunächst die Anwesenheit des Beklagten und der Kläger mit ihren Rechtsvertretern fest. Dann gab er bekannt, dass die zwei Kläger, die nicht anwesend sind, wegen Krankheit entschuldigt seien. Er bat den psychiatrischen Sachverständigen um seinen Vortrag.


Herr Vorsitzender

Selten war die Erstellung eines psychiatrischen Gutachtens so schwierig wie in diesem Fall. Das einmal, weil die Sachlage eine äußerst schwerwiegende ist, und zum anderen, weil der zu Begutachtende zunächst durchaus eine Gesprächsbereitschaft zeigte, als es um die allgemeinen Dinge des Lebens auf der Farm in Südamerika ging. Im Gespräch folgte er auch dem Wechsel vom neuen Kontinent zurück auf den alten Kontinent seiner ursprünglichen Herkunft und Abstammung. Da berichtete Dr.”X” von seiner schweren Kindheit, die keine glückliche Kindheit war. So spielen, wie andere Kinder spielten, konnte er nie. Sein Vater war ein Hüne von Mensch und ein brüllender Choleriker, der schlecht mit sich reden ließ. Wenn der die Türen schmiss, dann wackelte das Haus. Ansonsten hörte die Gesprächsreise in Straßburg auf, wo Dr.”X” am Anatomischen Institut der Universität an einem Forschungsprojekt beteiligt war, das sich mit den Augenpigmenten des Menschen befasste. Wie gesagt, über Straßburg sind wir nicht hinausgekommen, vor allem sind wir im Gespräch nicht dorthin gekommen, wo die Dinge geschahen, mit denen sich die Kammer zu befassen hat. Das Tor von Auschwitz blieb mir verschlossen, da nahm mich Dr.”X” nicht mit ins Lager hinein. Das ist bemerkenswert, weil über fünfzig Jahre vergangen waren, als die Taten von den einen begangen und von den anderen erlitten wurden. Vor dem Tor von Auschwitz, ohne dass das Wort “Auschwitz” im Gespräch gefallen war, war Schluss. An dieses Tor mit dem weiterführenden Todesgleis hin zur Rampe wollte Dr.”X” mich nicht mitnehmen. An dieses Tor wollte er nicht mehr denken. So ließ er mich als Unbefugten draußen stehen, ließ mich über die Geschehnisse im Lager im Dunkeln. Denn für Auschwitz hatte Dr.”X” eine empfindliche Nase, die so empfindlich war, dass er gleich im elsässischen Straßburg Halt gemacht hatte. So blieben wir in Straßburg bei den Augenpigmenten des Menschen stecken. Das besetzte Polen mit dem Auschwitz östlich der ehemaligen Reichsgrenze war für mich nicht betretbar, blieb mir verschlossen. Das hatte zur Folge, dass ich nicht erfahren konnte, woher die Menschenaugen kamen, wie die Augen bei den Menschen entnommen wurden, und wer die Augen an den Menschen entfernt hatte. In einem war sich Dr.”X” sicher, und da gebrauchte er das Wort “hunderprozentig”, dass es sich um Menschenaugen und nicht etwa um die Augen von Schafen oder Ziegen gehandelt hatte. Das Steckenbleiben in Straßburg hatte weiter zur Folge, dass aus dem Gespräch mit keinem Wort hervorging, was sonst in Auschwitz geschah, womit sich die Kammer zu beschäftigen hat.

Wie lässt sich das Steckenbleiben in Straßburg erklären, dass da nichts gesagt wurde, kein Licht in die Vorgänge kam, was in Auschwitz geschah, wie es in den Akten zu lesen ist? Das Steckenbleiben lässt sich mit dem ‘Auschwitz-Syndrom 2’ erklären, dessen Begründer mein verehrter Lehrer Arnold Kretschmar war, der dieses Syndrom anlässlich der Vielzahl der Prozesse über die Nazi-Verbrechen in den endfünfziger Jahren entwickelt hatte. Das zweite ‘Auschwitz-Syndrom’ nannte Professor Kretschmar das Tätersyndrom von Auschwitz, wenn der Täter seine Taten aus der Erinnerung “ausradiert” und an diese Taten nicht mehr erinnert werden will. Dieses “Ausradieren” macht sich in unterschiedlicher Weise bemerkbar. Meistens kann sich der Täter “an nichts erinnern”. Wird ihm anhand von Beweisen beim Erinnern nachgeholfen, dann treten die Symptome der Bagatellisierung auf, dass alles ganz anders und gar nicht so schlimm gewesen sei. Diesen Symptomen gab Professor Kretschmar die Namen: Wegwisch-, Verwischungs- oder Verharmlosungssymptome. Das Tätersyndrom von Auschwitz geht bis zum “Wahnsinns”-Kopfschmerz, der dem Täter die Erinnerung genommen hat.

Im vorliegenden Fall des Dr.”X” drückte sich das Tätersyndrom anders aus. Hier war es die überdurchschnittliche Intelligenz mit dem tief begründeten Misstrauen und der hochempfindlichen Nase für die Gerüche von Auschwitz, dass Dr.”X” gleich in Straßburg Halt machte, um die Gerüche von Auschwitz erst gar nicht in der Erinnerung aufsteigen zu lassen. So ließ er in Richtung Osten nicht mit sich reden, weil ihm Auschwitz noch tief in der Nase sitzt. An dem Lernprozess kommt er jedoch nicht vorbei, dass Auschwitz noch viel tiefer in ihm drinnen steckt, was er nicht mehr herausbekommt, weil Auschwitz ein Teil von ihm geworden ist. Ob es die Augen, die Ohren, die Hände oder sonst was an ihm sind, Auschwitz schlägt immer wieder und immer aufs Neue durch. Von Auschwitz kann er sich weder trennen noch befreien, Auschwitz hält ihn gefangen. Denn er weiß zu gut, was da mit den Menschen gemacht wurde, erinnert sich zu gut, was er dort selbst an den Menschen getan, was er ihnen und der Menschheit angetan hat. Als Beweisstück überreiche ich die Tonbandaufnahme vom geführten Gespräch. [Björn übergab das Tonband dem Vorsitzenden Richter in die rechte Hand.]

Ich fasse zusammen: Dr.”X” weiß, um was es in diesem Prozess geht. Ihm stecken die Gerüche von Auschwitz tief und unvergesslich in der Nase. Für ihn reichen die Gerüche von verbrannten Menschen so weit, dass er, wie viele seiner Kollegen, den Glauben an den Endsieg des deutschen Nazi-Reiches verloren hatte und den Kontinent mit der Beute der ‘SS’ Richtung Südamerika verließ. Das tat Dr.”X” zu einer Zeit, als der frierende, hungernde und schlecht ausgerüstete deutsche Wehmachtsoldat den Auftrag der Vaterlandsverteidiung zu erfüllen hatte und den Auftrag bis zur letzten Verzweiflung erfüllte. Hier möchte ich an die Wehrmachtsoldaten erinnern, die sich nicht mehr verteidigen konnten, dafür von der ‘SS’ wegen Feigheit und Flucht vor dem Feind “standrechtlich” erschossen wurden und zur Warnung anderer zurückkehrender, verwundeter und erschöpfter Wehrmachtsoldaten reihenweise an den Bäumen hingen. während die ‘SS’ mit den unbeschränkten Machtbefugnissen eines eigenen Staates im NS-Staat ihre unermessliche Judenbeute über die Schweiz nach Südamerika in Sicherheit brachte. Dr.”X” war in Auschwitz als aktiver Täter mit dabei gewesen. Dass er fünfzig Jahre nach Auschwitz den Zugang zu den Geschehnissen im Lager verweigert, das Tor von Auschwitz weiter geschlossen hält, das hat mit der Verdrängung der Geschehnisse zu tun, an die er sich nicht mehr erinnern will und auch nicht erinnern lassen will. Er weiß, das hat das Gespräch gezeigt, dass er die Geschehnisse von Auschwitz aus der Erinnerung nicht ausradieren kann. Der fürchterliche Geruch und die fürchterlichen Geschehnisse sind in Dr.”X” noch so lebendig, dass er sich fürchtet, näher an das Tor des Todes mit den Gaskammern und den Verbrennungsöfen herangeführt zu werden, weil er an den Grausamkeiten an wehrlosen Menschen und Kindern beteiligt war.

Die Entfernung vom elsässischen Straßburg nach Ausschwitz in Südpolen, zwischen denen einst eine enge Kooperation in der “Pigmentforschung” an menschlichen Augen bestanden hatte, ist ein Hinweis dafür, wie groß die Angst vor der Bestrafung für die von ihm begangenen Taten ist, die schon damals seinem Wissen vom Menschen und seinem Gewissen vor der Menschlichkeit aufs Schärfste widersprochen haben mussten. Deswegen steckt ihm der Geruch von Auschwitz noch tief in der Nase, den er da nicht mehr wegbekommt. Mit den Taten von damals hat der Täter das menschliche Gesicht verloren. Er gab das Tätergesicht in die plastische Chirurgie, um es verändern zu lassen. Es ist ein entstelltes, skurriles Monstergesicht mit der ästhetisch fehlenden Mitte geworden, weil es auch nach operativer Veränderung kein menschliches Gesicht mehr werden konnte, auch wenn er sich dabei die Ohren anlegen ließ. Darüber hinaus wollte er den Namen, den ihm seine Eltern gegeben hatten, nicht mehr tragen. Dr.”X” sagte im Gespräch, dass in ihm das Gefühl für die Heimat mit der schweren Kindheit gestorben sei. Er wollte ein anderer, ein neuer Mensch mit einem anderen, neuen Namen sein. Doch ein anderer Mensch ist er damit nicht geworden. So tat er es zur Tarnung, um als der Täter von Auschwitz, als der ”Hüne von Unmensch mit dem sächsischen Dialekt” nicht erkannt zu werden. Er tat es aus Angst und nicht aus Buße. Dr.”X” wird es begreifen müssen, dass er das menschliche Gesicht nicht mehr bekommen und seinen Taten nicht davonlaufen kann. Im Gespräch zeigte er sich von überdurchschnittlicher Intelligenz und Wachsamkeit. Er misstraut den Menschen, dass sie dahinterkommen, was er in Auschwitz getan hat. Es ist die Angst, die bei ihm schwerer wiegt als der Versuch einer Entschuldigung für das, was er getan hat, was im höchsten Maße unmenschlich und verwerflich war. Nun ist es die Krebsgeschwulst der Vernichtung, die am Ende auch den Täter verzehrt. Dr.”X” ist in einer guten geistigen Verfassung und voll zurechnungsfähig, was seine Taten betrifft.


Der Vorsitzende dankte für den Vortrag. Dann hielt der erfahrene Strafverteidiger sein Schlussplädoyer, in dem er in der Zusammenfassung die Taten von Auschwitz zwar bedauerte, aber für die Strafzumessung auf die mildernden Umstände für den Täter verwies, weil der den Befehl ausführte, der ihm in dem System des Verbrechens gegeben worden war. “Nicht den Einzeltäter treffe die Schuld. Die Schuld müsse dem Nazi-System gegeben werden, in dem solche Befehle möglich waren.”

Nach dem Plädoyer wies der Vorsitzende den Strafverteidiger darauf hin, dass auch der NS-Staat aus Menschen bestand, die das Wissen hatten, dass es ohne Gewissen nicht geht. Damit wurde die Verhandlung, die sich über zwei Stunden hinzog, geschlossen. Der Kammervorsitzende legte den Termin zur Urteilsverkündung fest. Das Urteil wurde zwei Wochen später verkündet, in dem Dr.”X” der Verbrechen gegen die Menschlichkeit in neun Fällen für schuldig befunden wurde. Ihm wurde eine hohe Zuchthausstrafe auferlegt. In der Urteilsbegründung sagte der Vorsitzende Richter, dass die Lehre von Auschwitz gezogen werden müsse. Man könne nicht immer dem ganzen Volk die Schuld geben, nur weil sich der Täter auf die Ausführung des Befehls beruft. Denn das Volk habe dem Täter den Befehl nicht gegeben, wehrlose Frauen, Mütter mit ihren Kindern, alte und junge Menschen in grausamer Weise zu schänden und zu ermorden. Dr.”X” bekam eine so hohe Zuchthausstrafe, dass er zum Verbüßen der Strafjahre ein weiteres Leben gebraucht hätte.


Das Tor von Auschwitz

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