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Kurz vor Mitternacht

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Das Telefon klingelte. Die Schwester rief aus dem 'theatre' an und sagte, dass der diensttuende Kollege Probleme bei der Operation habe und Hilfe brauche. Dr. Ferdinand zog sich Hemd und Sandalen an und machte sich auf den Weg zum Hospital. Der klare Sternenhimmel gab genug Licht, um Schlaglöcher und Baumstümpfe zu umgehen. Die Mondsichel hatte den halben Weg genommen, den Centaurus erreicht und fuhr dem Kreuz des Südens entgegen. Im Kopf saßen die Gefangenen an Hals und Beinen gefesselt in der Höhle (Platons Höhlengleichnis). Bizarre Schatten mit zu breiten Gesichtern auf zu kurzen Hälsen oder langgestreckte Kopfprofile mit zu langen Nasen auf langgezogenen Hälsen zogen vorüber. Da waren Hände mit verbogenen und langen Fingern, Hände, an denen Finger fehlten. Es gab Fäuste von gigantischer Größe, die groß genug waren, die Höhle mit wenigen Schlägen zu zertrümmern. Dr. Ferdinand stolperte über einen Stein, weil er dem Höhlengleichnis nachhing und sich nicht auf den Weg konzentrierte. Er hörte im Geiste das Klappern und Schlagen schwerer Ketten, das sich zum ohrenbetäubenden Kreischen und Quietschen der Ketten einrückender T-34 Panzer der Roten Armee bei Kriegsende verstärkte; er hörte das Stöhnen der Gefangenen aus seiner Kindheit. Als er den Platz vor der 'Municipality' überquert hatte und am ersten der fünf aufgestelzten Blockhäuser vorüberging, hatte er das Kettengeräusch so stark im Ohr, dass ihm nun der Weg verkettet, ja zugekettet erschien, wo vor der Unabhängigkeit der Stacheldraht ausgerollt war und man aufpassen musste, von dem Draht nicht aufgerissen zu werden.

Er erreichte das Hospital, zog die Kette vom verbogenen Torflügel der Einfahrt, schob ihn auf, wobei der Rahmen über den Boden kratzte, ging hindurch und schob den Torflügel zu, ohne die Kette wieder einzuhängen. Er überquerte den Vorplatz, ohne auf den Uringeruch zu achten, ging den Gang links von der Rezeption geradedurch, drehte hinter dem OP-Haus nach rechts, öffnete die Tür zum 'theatre', schloss sie hinter sich und stand im Umkleideraum, wo im Teeraum nebenan eine Schwester mit ernstem Gesicht auf ihn wartete und ihn bat, sich zu beeilen. Er tat es, warf seine Zivilkleidung über den Haken, zog die grüne Hose an und streifte sich das grüne Hemd noch über, als er schon im Waschraum stand und durch die offene Glastür in den OP-Raum blickte und den Schweiß auf der Stirn des jungen Operateurs und das besorgte Gesicht der OP-Schwester sah. Er meldete sich, drehte sich um, öffnete den Wasserhahn und wusch seine Hände über der Zinkwanne. Er trocknete sich die Hände, während eine Schwester ihm den grünen Op-Kittel überzog, und streifte mit Mühe die schlecht gepuderten Gummihandschuhe über, als er schon am OP-Tisch stand.

Was war geschehen? Eine junge Frau, fast noch ein Mädchen, lag auf dem Operationstisch. Ihr "Freund" hatte ihr in den Bauch geschossen, weil sie ihn nicht mehr liebte und nicht mehr mit ihm schlafen wollte. Der junge Mann hatte sich anschließend selbst das Leben genommen, indem er sich in den Kopf geschossen hatte. Im eröffneten Bauch der jungen Frau stand ein Blutsee, den der junge Kollege nicht unter Kontrolle brachte. Der Narkosearzt hatte ihr drei Konserven der Blutgruppe Null transfundiert. Zwei Konserven waren noch verfügbar. Das war alles, was im Labor aufzutreiben war. Von den Abdecktüchern tropfte das Blut auf den Boden, wo eine Schwester grüne Tücher auslegte. Dr. Ferdinand sog das Blut aus der Bauchhöhle, während der Kollege eine große Kompresse auf Milz und linke Niere drückte. Der Dünndarm wies an mehreren Stellen Löcher auf, aus denen Darminhalt heraustrat und sich mit dem Blut vermischte. Der Narkosearzt war nervös und sagte, dass der Blutdruck nicht mehr zu messen sei. Dr. Ferdinand bat, den Tisch in Kopftieflage zu bringen. Mit dieser Maßnahme und dem Druck mit der Kompresse auf Milz und linke Niere gelang es, die Blutung zu drosseln. Dann klemmte er die blutenden Gefäße zur Milz ab und sah, dass das Organ völlig zerrissen war, und entfernte die Milz mit wenigen Handgriffen. Er stopfte die Milzloge mit einer großen Kompresse aus. Der nächste Schritt galt der linken Niere, wo es aus einem Kapsel- und darunterliegenden Geweberiss diffus blutete. Dr. Ferdinand legte einige Parenchym- und Kapselnähte und brachte die Blutung völlig zum Stehen. Er revidierte die großen Gefäße des Nierenstiels, die unverletzt waren. Dann prüfte er die Darmschlingen von der oberen Flexur, wo der Zwölffingerdarm in den Leerdarm übergeht, bis zum Übergang des Krummmdarms in den aufsteigenden Dickdarm oberhalb des Blinddarms mit dem Anhängsel des Wurmfortsatzes. Die meisten Löcher wurden durch Wandnähte verschlossen. Doch waren einige Schlingen des Krummdarms in der Durchblutung soweit gestört, dass sie herausgeschnitten und die Darmenden neu verbunden werden mussten. Schließlich wurden die Lücken im Darmgekröse durch Nähte geschlossen.

Es war eine mehrstündige Operation, bei der die Patientin viel Blut verloren hatte. Der Narkosearzt hatte die Nervosität behalten, obwohl er den Blutdruck wieder für messbar erklärte, wenn auch der obere Messwert weit unten lag und der Puls raste. Von den fünf Blutkonserven waren vier gegeben und das Volumendefizit wurde mit Plasma- und Plasmaersatzlösungen aufgefüllt. Über den Blasenkatheter entleerte sich nur etwas Urin infolge des Kreislaufschocks. Der Urin war durch die Nierenverletzung blutig. Dr. Ferdinand führte ein Gummirohr in die Bauchhöhle, dessen Ende in die tiefste Bauchtasche hinter der Gebärmutter gesenkt wurde. Diese Tasche hieß Douglas-Tasche (nach seinem Erstbeschreiber James Douglas, Arzt und Anatom in London (1675-1742). Beim Vorschieben des Gummirohres in diese Tasche fiel ihm die vergrößerte Gebärmutter auf, deren Größe einer frühen Schwangerschaft entsprach. Er bezweifelte, dass der junge Embryo diese Tortur überlebte und die Schwangerschaft ausgetragen würde, vorausgesetzt, die Mutter käme mit dem Leben davon. Die fünfte Blutkonserve lief und war bereits halbleer, als nach der letzten Revision der Bauchhöhle Dr. Ferdinand die große Mullkompresse aus der Milzloge entfernte und die Bauchwand in ihren Schichten vernähte. Es war eine Notoperation zur Rettung eines jungen Lebens, deren Ausgang zwischen Hoffnung und Zweifel stand.

Der Morgen begann zu dämmern, als sich Dr. Ferdinand auf den Weg zur Wohnstelle machte. Die ersten Vögel zwitscherten von den Bäumen, als er den Platz vor dem Neubau der Ortsverwaltung überquerte. Es war still im Dorf. Die Menschen schliefen noch, und die Hunde und Katzen machten es ihnen nach. Er schloss die Tür auf, streifte die verschwitzten Sandalen von den Füßen und setzte sich mit einer Zigarette auf den Absatz der Terrasse. In seinen Gedanken sah er die junge Frau hilflos im Bett der Intensivstation liegen, die zu schwach war, um über das, was vorgefallen war, zu weinen. Sie lag kraftlos im Bett, wusste vielleicht nicht, dass sie schwanger war, und überließ jede Entscheidung über Leben und Tod dem Schicksal, den Schwestern und dem Arzt. Es war ein Phänomen der Zeit, dass viele junge Menschen trotz Unabhängigkeit und der Freiheit nicht nur unglücklich waren, sondern das Leben anderer Menschen bedrohten und zerstörten und in einigen Fällen sich dann selbst das Leben nahmen.

Sie taten es mit Messern, mit denen sie wie Verrückte in Brustkörbe und Bäuche stachen, oder mit Pangas, die sie schwertmäßig hantierten, wenn sie auf Schädel einschlugen und sie spalteten. Schusswaffen gab es im privaten Besitz, die mit den Leuten aus dem Exil ins befreite Land gebracht wurden. Die Kalaschnikows und andere Waffen kamen mit genügend Munition zurück, um sie nach der Unabhängigkeit in der neuen Freiheit als eigene Befehlshaber in Betrieb zu setzen. Es war Opportun, einem Mann, der bewaffnet aus dem Exil zurückgekommen war, nicht auf die Nerven zu gehen oder anderswie querzukommen. Je dümmer der Kopf war, desto größer war die Gefahr, dass die verrohten oder anderswie 'verknoteten' Nervenstränge wie eine Zündschnur abbrannten und er von der Waffe Gebrauch machte. Da kannte sich ein solcher RohKopf schneller aus als im Sprachversuch, einen Satz mit Gegenstand und Satzaussage zu sprechen. Es war eine Tatsache geworden, dass Menschen, die gefährlich werden konnten und vor der Unabhängigkeit nicht der Koevoet (Brecheisen) sondern der PLAN (People’s Liberation Army of Namibia) angehörten, nach der Unabhängigkeit voll in die Familien integriert wurden. So gab es in fast jeder Familie eine Waffe, mit der geschossen und getötet werden konnte. Trotz Aufruf der Regierung, der einige Male wiederholt wurde, haben nicht alle 'PLAN-fighter' ihre Waffen abgegeben. Dieses Verhalten ließ den Denkschluss zu, dass man sich nach der Unabhängigkeit in Namibia, wie in anderen afrikanischen Ländern auch, mit einer Schusswaffe sicherer fühlt. Mit dieser Einstellung beziehungsweise Entartung war viel menschliches Vertrauen in der jüngsten Geschichte verlorengegangen. Es war ein bedrohlich pathologisches Zeichen, das seine Schatten in die Zukunft warf. Am schlimmsten war es, wenn einer jungen Mutter in ihrer Schwangerschaft in den Bauch geschossen wurde, wo der Föt in utero erschossen und die tragende Gebärmutter völlig zerrissen wurde, dass sie mit der erschossenen Frucht entfernt werden musste, und die Schwangere trotzdem an den Folgen der Verblutung verstarb.

Von den Mädchen schafften es manche zur Sekretärin, zur Angestellten bei der Post oder Telecom, zur Bankangestellten oder Serviererin in einem Restaurant oder Hotel in einer der Städte. Doch die meisten schafften es nicht, sich durch ehrliche Arbeit am Leben zu halten. Sie begaben sich in Abhängigkeit von zweifelhaften Typen, die ihnen Räume vermieteten, wo sie zu zweit oder dritt lebten und schliefen. Sie schickten die Mädchen auf den Strich und kassierten sie beim Schichtwechsel gnadenlos ab. Sie bumsten sie aus allen Richtungen sprichwörtlich weich und schlugen sie ins Gesicht, wenn sie nicht parierten. Manche Mädchen hatten einen IQ, den manche Stuhlinhaber hinter den Schreibtischen in den Ministerien und anderen Organisationen nicht hatten. Das Dilemma war, dass die meisten Mädchen keine Tanten und Vettern in den Etagen der Ministerien und Verwaltungen hatten, die sie um Hilfe und Unterstützung bitten konnten. Es war eine bittere Erfahrung, dass ohne diese Hilfe nichts zu machen war, egal, welchen Schulabschluss man hatte. So kehrten viele Mädchen, oft schwanger und vom HIV-Virus befallen, zu den Familien im Norden zurück. Sie waren nicht mehr der Stolz der Familien, wenn sie mit nichts, stattdessen mit einem Baby im Bauch oder mit dem tödlichen Virus im Blut zurückkehrten. Um so mehr waren die Heimkehrer dankbar, wenn sie den gewohnten Papp bekamen und auf ihrem Schlafplatz schlafen konnten, ohne belästigt zu werden. Sie nahmen es ohne Widerspruch hin, im Feld zu arbeiten, nach den Ziegen zu sehen und das Wasser in Kannen und Kübeln auf den Köpfen herbeizutragen, so wie es ihre Mütter und Großmütter taten. Mit der neuen Freiheit kamen neue Herausforderungen, die für viele Familien zur Zerreißprobe wurden und viele Familien zerbrachen. Kinder waren die Hauptleidtragenden, die abgemagert mit den Wasserbäuchen, den spindeldürren Armen und Beinen die erschütternden Zeugnisse der Halt-, Lieb- und Schutzlosigkeit innerhalb der zerbrochenen Familien abgaben. Ferdinand dachte an die Verse im Faust II (1. Akt):

"O Jugend, Jugend, wirst du nie

der Freude reines Maß bezirken?

O Hoheit, Hoheit, wirst du nie

vernünftig wie allmächtig wirken?"

Dr. Ferdinand

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