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Aus dem syrischen Flüchtlingslager im Libanon
ОглавлениеSchlichtungsversuche zu den Geschehnissen der Vergangenheit
“Wie sieht es in den Familien aus, wenn Kinder in dieser Grausamkeit entehrt, verwahrlost und misshandelt werden? Das geht nicht gut und wird nicht ungestraft bleiben.” Dazu bemerkte der junge Krankenpfleger Adil, dass die Grausamkeiten am Menschen und besonders an Kindern ein Grund sind, dass sich ein Volk von innen heraus zerstört, weil es die Religion der Väter und Vorfahren verworfen und ihre Denkmäler gegen alle Achtung und Einsicht zerschlagen hat und weiter zerschlägt. Karl Ferdinand denkt an die grausamen Verbrechen, von denen sein Vater, der Psychiatrie-Professor Björn Baródin, aus der Zeit des 2. Weltkrieges berichtete, als sich Völker gegenseitig abschlachteten, Städte mit ihren Einwohnern niederbrannten und wehrlose Männer, Frauen und Kinder mit Brand- und Phosphorbomben verstümmelten oder in den Konzentrationslagern auf die grausamste Weise gequält und getötet wurden. Das Abendland hat eine Niederlage erlitten, von deren Schwere es sich nicht erholt, weil es die Maßstäbe der Würde des Menschen, die Achtung vor den Völkern und ihren Kulturen und Religionen zerschlagen, zerschossen und niedergebrannt hat.
In diesem Sinne sind die Ereignisse in Syrien eine Fortsetzung der Vernichtung der Menschheit, als nun der Mensch auch die Selbstachtung vor dem eigenen Leben verloren hat und es mit Dynamit in die Luft sprengt. Dabei werden die Massenmörder als getarnte Selbstmörder immer häufiger aus Kindern und dort vorwiegend aus Mädchen rekrutiert, die in ihrer kindlichen Naivität von den hohen Werten des Menschen, seinen Kulturen und der menschlichen Gemeinschaft wenig oder nichts wissen. Moralisch betrachtet ist es ein Höllenbrand, der als Flächenbrand die arabischen Völker ergriffen hat und im weiteren Verlauf die Kontinente nicht verschont. Die Vernichtungsschläge und Zersetzungsrisse haben die Menschheit schwer verletzt, was weit über die existenzielle Zerreißproblematik zwischen arm und reich hinausgeht und in seiner ungehemmten Zerstörungswut tief in den Kern seiner Seinsaxiome dringt.
“Was sind das für Menschen, die ein Mädchen schwängern und es im 5. Monat der Schwangerschaft zusammenschlagen, anstatt es zu schützen und ihr zu helfen”, klagt Adil mit Mitleid und Zorn. Seine Augen blicken traurig. Dass es keine Tränen gibt, hat den Grund in der Häufigkeit schwerer und schwerster Verletzungen von wehrlosen Frauen und Kindern.
Karl Ferdinand streicht sein Mitleid dem Mädchen über den Kopf, nachdem es in das Bett zur weiteren Nachbehandlung gelegt worden ist. Zur Situation sagt er: “Es erschüttert zutiefst anzusehen, wie die Moral vor der Würde des Menschen geschändet und mit Füßen getreten wird. Von den Schändungen hatte ich keine Vorstellung, bis ich im Lager mit der Arbeit des Arztes begonnen habe. Was Menschen anderen Menschen in rücksichtsloser Brutalität antun, das überschreitet jegliches Vorstellungsvermögen innerhalb der Zivilisation einer geachteten Kultur. Es ist eine Schande und Sünde an der Gesamtheit der Menschheit, was unfassbar und in ihrer Schwere unentschuldbar ist. Was soll aus den Menschen werden, die keine Achtung vor dem Leben mehr haben?
Männer bringen das Mädchen von 16 Jahren, das mit einer Schwangerschaft im 5. Monat brutal geschlagen worden ist. Ihr wurden die Handgelenke gebrochen und Risswunden ins Gesicht geschlagen. Auf dem Operationstisch versorgt Karl Ferdinand die Wunden im Gesicht und richtet in Kurznarkose die Frakturen der Unterarme und stellt sie mit Gipsverbänden ruhig. Das Mädchen wird im Lazarett aufgenommen, um weitere Komplikationen zu vermeiden und die posttraumatischen Schmerzen zu bekämpfen.
“Sehen Sie nicht, wie die Gesichter der Flüchtlinge und besonders der Kinder immer trauriger blicken und schmäler werden. Die Menschen brauchen mehr Nahrung und sauberes Trinkwasser, damit die Darminfektionen nicht noch weiter zunehmen.” “Die Verschlechterung der Gesundheit der Menschen im Lager beobachte ich mit großer Sorge. Aber die Medikamente in der Apotheke reichen nicht aus, um die vielen Infektionen zu bekämpfen und unter Kontrolle zu bringen. Ich denke an die Zunahme der Tuberkulose und an die Malaria. Mir als Arzt und dir als Paramedic sind Kopf und Hände gebunden. Es ist ein Trauerspiel, was hier abläuft, ohne dass eine Besserung zu erkennen ist”, sagt Karl Ferdinand mit ernstem Gesicht und den Zeichen der Erschöpfung. “Und die Menschen sterben, ohne dass die Zahl der Flüchtlinge weniger wird”, sagt Adil.
Karl Ferdinand: “Die Menschen verlieren die Hoffnung, jemals in die Heimat zurückkehren zu können”, “die ohnehin zu einem Trümmerland zerbombt worden ist, wo Generationen beschäftigt sein werden, die Städte und Dörfer neu aufzubauen”, unterbrach Adil. Karl Ferdinand weiter: “Und was noch mehr erschüttert, sind die trostlosen Gesichter der Älteren, als befürchten sie, dass es überhaupt fraglich sei, ob sie lebend aus dem Lager herauskommen.” Adil: “Syrien und seine Geschichte geben das Beispiel eines unvorstellbaren Genozids und der größten Trauer, wo ein Volk dabei ist, sich auszurotten und das Land und seine Kultur zur Unkenntlichkeit zerstört.”
In all den Dingen mit dem Durcheinander steckt das Leben, dass sich der Mensch in seinen Gedanken nach den Sternen streckt. Auf dem Weg ins Universum gibt es Gedankenblitze als Markierungslichter für den sich ausstreckenden Verstand, die zeitlos blinken und nicht zu löschen sind. Die Suche nach dem Licht bringt Zweifel und Verzweiflung, weil die ‘Wolkendecke’ über dem Verstand nicht zerreißt, um den Durchblick zu bekommen. Denn zur Erkenntnis braucht es das Licht der Erleuchtung, um im Zwischendrin des Lebens die Kreuzungen der evolutiven Entscheidungen zu verstehen. Es ist die ‘Wolkendecke’, dass es dunkel ist und die Erhellung für den Verstand ausbleibt, als stecke die Dunkelheit als Scheibe vor dem Offenbarungsblitz der Erkenntnis, die das suchende Auge blendet und erblindet.
Weil es so ist, was Ursache der Unsicherheit des Denkens ist, wird das Zwischendrin mit dem Durcheinander und dem Aufstieg und Absturz umso deutlicher, je umfassender die Anstrengung mit der Suche nach der Erkenntnis ist. Das Auf und Ab wird physisch und psychisch spürbar, wenn der Abgrund an die Pforten des Daseins grenzt, sie umgibt und bedroht. Es ist die Angst des Menschen, dass er in den Abgrund stürzt, weil die Türen zum Abgrund weit offen stehen. Um dem gefürchteten Absturz zuvorzukommen, muss der suchende Mensch über den analysierenden Verstand hoch hinaus fliegen, um auf jener Schwelle zu landen, wo er glaubt, die Sicherheit zu finden, um die Füße aufzusetzen, die Tragegurte zu lösen und den Fallschirm, der ihn bis zu dieser Höhenschwelle getragen hat, mit dem Gefühl der gehobenen Erkenntnis einzurollen.
Die Wortkanonade der Aabidah hatte sich gelegt, und der Traum schien sich beruhigt zu haben, dass sich Karl Ferdinand von einer Seite auf die andere drehte, als ein Zug eine lange Wagenkette vor dem inneren Auge vorüberzog. War schon die Kettenlänge ungewöhnlich, so waren die unzählbaren ausgemergelten Köpfe zwischen den nicht weniger vielen Totenköpfen hinter den Scheiben der Waggons im höchsten Maße erschreckend, dass sich Karl Ferdinand aufsetzte und den Angstschweiß aus dem Gesicht wischte. Einen solchen Zug hatte er noch nie im Traum vorüberfahren gesehen.
Es musste seine Bedeutung gehabt haben, dass ein solcher Zug mit der unvorstellbaren Menge solcher Köpfe ihn in Angst und Schrecken versetzt hatte, als er die Nacht nach der anstrengenden Arbeit dringend zum Schlaf der Entspannung und Erholung gebraucht hätte. Mit klopfendem Herzen und trocken geriebener Haut legte sich Karl Ferdinand zurück und machte sich auf die Suche einer Assoziation zu diesem Zugerlebnis. Das Grübeln ging bis in die frühen Morgenstunden, ohne dass er das Bild der vorüberfahrenden Kahl- und Totenköpfe zu einer passenden Traumassoziation bringen konnte. Er hatte sich verschlafen, als ihm unter der Brause die hageren Gestalten mit den Gesichtern der eingefallenen Wangen alter Menschen und die hochgradig abgemagerten Kinder vor dem geistigen Auge vorüberhuschten. Eine andere Möglichkeit, das Traumbild des Schreckens des vorüberfahrenden Zuges zu ergänzen und zu einer höheren Einheit zu verbinden, fand er nicht.
Mit den Morgenstunden wurde es klarer, dass man mit Menschen in der rücksichtslosen Grausamkeit einerseits und der wegblickenden, verantwortungslosen Gleichgültigkeit andererseits nicht weiter verfahren kann, wenn die Menschheit eine Zukunft haben soll, in der Raum, Gerechtigkeit und Chancengleichheit für die kommenden Generationen gesichert sind. Die chronische Unterernährung der Kinder mit dem Kwashiorkor ist die Geißel, die mit Armut, Not und Elend assoziiert ist, an der der Volksorganismus langfristig zerbricht und zugrunde geht. Die Achtung vor dem Wert und der Würde des Menschen ist unabdingbar, wenn die sozialen Verhältnisse in den Familien in Ordnung kommen sollen, soweit es im Rahmen der Kleinstgesellschaft zu schaffen ist. Die familiäre Regeneration im Sinne der Wiederherstellung von gegenseitiger Achtung mit Festigung der Zusammenhalts durch Motivation des Einsatzes füreinander und des Friedens und Vertrauens miteinander, was den Schutz der Kinder und der hilfebedürftigen Menschen einschließt, sind die Beweggründe, dass Karl Ferdinand sich als junger Arzt im Rahmen der >Ärzte ohne Grenzen< für die Arbeit in dem syrischen Flüchtlingslager entschieden hat.
Schwellensprung
Zwischen den Sternen ruhen sich die Nächte hin, die das Tageslicht verjagt. Ob leer, ob voll, im Zwischendrin ist das Kommen und Gehen von der Sprache bis zum Sprachlosen hin.
Was sich krümmt und kerkert, sich verkürzt bis auf den Punkt, es ist die ungeahnte Weite, sind Dinge von der Saat bis zur Ernte, wo der Mensch der Sämann ist, der aus der Hand wirft, was das Auge später nicht begreift.
Im Zwischendrin ist Leben zwischendurch, das sich denkend nach den Sternen streckt. Dazwischen sind Markierungslichter, die zeitlos blinken und nicht zu löschen sind.
Die Suche nach dem Licht verzweifelt, wenn die Wolkendecke nicht zerreißt. Auf dem Wege der Erklärung braucht’s das Licht, um im Zwischendrin die Kreuzung zu erkennen, was die Dunkelheit nicht tut.