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Den zugezogenen Fenstern gegenüber, die Exilsprache des Russischen war von Vorteil

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Nachdem er die Patienten in den anderen Sälen gesehen und mit kurzen Notizen in den Krankenblättern versehen hatte, geht Dr. Ferdinand zur Morgenbesprechung in das Büro des Superintendenten. Er setzt sich den zugezogenen Fenstern gegenüber. Die Klimaanlage rattert und bewegt die verbrauchte Luft des Vortages. Der Superintendent hat die schwarze Hautfarbe und ist nur wenig über die Lebensmitte hinaus. Er sitzt hinter dem großen Schreibtisch, hinter dem andere schon gesessen haben, und drückt den Telefonhörer mit der linken Hand ans linke Ohr. Er spricht englisch mit einigen Oshivambo-Zwischenbemerkungen. Es wird ein längeres Telefonat, bei dem sich die Gesichtszüge des Superintendenten spannen und wieder entspannen. Mit der rechten Hand macht er Notizen in eine Kladde vom DIN-A3-Format.

Der Superintendent ist der vierte mit der schwarzen Haut. Er folgt dem Kollegen, der im Exil in Moskau studiert hatte und nun auf dem Stuhl des ärztlichen Direktors sitzt, der als vorheriger Superintendent der schwarzhäutigen Kollegin auf dem Superintendentenstuhl gefolgt war, deren Exilsprache ebenfalls das Russische war. Diese stand nach der ersten Exilstation mit Schwangerschaft in Sambia an einem Moskauer Hospital, das der Lumumba-Universität angeschlossen war, in der gynäkologischen Ausbildung. Diese Ausbildung wurde wie bei den anderen Exil-Namibiern vorzeitig abgebrochen, um nach Namibia zurückzukehren und an den von der UN überwachten Wahlen im Jahr 1989 teilzunehmen und für die SWAPO zu stimmen.

Der derzeitige und vierte schwarze Superintendent war nicht im Exil, sondern hatte an einer südafrikanischen Universität die gynäkologische Ausbildung gemacht, die er aus persönlichen Gründen, die auch mit der Politik zu tun hatten, nicht abgeschlossen hatte. Er reserviert den Dienstagnachmittag für seine Patienten mit dem privaten Untersuchungsraum im Flachbau neben der Intensiv-Station. Viele dieser Patienten kommen als Privatpatientinnen und zahlen anstandslos ihren Obulus. Von den Nacht- und Wochenenddienst für die Patienten mit den leeren Händen, die sich das Private nicht leisten können, hatte sich dieser Superintendent ausgenommen. Damit folgt er in seiner Dienstabstinenz an der Allgemeinheit der Armen-Klasse seinem schwarzen Vorgänger.

Der Superintendent legt den Telefonhörer zurück und macht weitere Notizen. Die Zeit, wann die Morgenbesprechung beginnen sollte, ist überschritten. Einige Nachzügler treffen ein und besetzen die leeren Stühle. Es sind die kubanischen Kollegen, die die Zeit karibisch verstehen und sich regelmäßig verspäten. Sie sind die größte Gruppe und machen mehr als die Hälfte der Ärzte am Hospital aus. Die schwarze Kollegin, die vor der Unabhängigkeit sporadisch und über lange Strecken gar nicht zu den Besprechungen kam, erscheint auch nach der Unabhängigkeit nur gelegentlich und kommt dann meistens viel zu spät. Sie hat sich vom Stationsdienst im pädiatrischen Kindersaal abgesetzt und füllt nun den Posten eines Managers in der Malariabekämpfung in der Region aus. Das tut sie vom bequemen Sessel hinter dem Schreibtisch mit Telefon in einem gut klimatisierten Büro aus.

Die Gesichter der Anwesenden, die ihre Plätze eingenommen haben, sehen müde und gelangweilt aus. Einige gähnen in den Besprechungsraum hinein, ohne sich die Hand vor dem Mund zu halten. Es sind vorwiegend die kubanischen Kollegen, die so mundoffen gähnen. Der stumpfe oder satte Ausdruck in den Gesichtern steht im krassen Gegensatz zu den gespannten Gesichtern, die im selben Raum saßen, als die Granaten krachten und der Brigadegeneral von der letzten Entscheidungsschlacht sprach, in der für alle viel auf dem Spiele stand.

Davon und von den nächtlichen Ruhestörungen durch die Koevoet (Spezialeinheit der Polizei mit dem symbolträchtigen Namen ‘Brecheisen’), die das Hospital nach versteckten SWAPO-Kämpfern vergeblich absuchte, ist den verschlafenen Gesichtern jetzt nichts mehr anzusehen. Das Feuer der Angst und des Schreckens, von der Granate in Stücke gerissen zu werden, war erloschen. Damit war auch der große Geist der Hilfsbereitschaft erloschen, den es damals gab, als sich die wenigen Ärzte mit ihrem Leben Tag und Nacht für die Kranken und Verletzten einsetzten und sich bis zur physischen Erschöpfung in der Behandlung der schwarzen Bevölkerung forderten. Dr. Ferdinand erinnert sich an die müden Gesichter mit den geröteten Augen, wie sie sich in den letzten Jahren der Apartheid bei den morgendlichen Besprechungen gegenübersaßen und sich gegenseitig in die sorgenvollen Gesichter sahen.

Die Granatlöcher, Schießgräben und Inspektionsgruben an den Kontrollstellen der beiden Zugänge zum Dorf waren zugeschüttet und die Sandsäcke von den ehemaligen MG-Stellungen auf den Wassertürmen waren entfernt worden. Nur der ausgerollte Stacheldraht auf dem schmalen Weg zwischen Dorf und Hospital ist geblieben. Auch steckt noch die Holztafel mit der Aufschrift “For Whites Only” am schiefen Stock nach Passieren der fünf Caravan-Häuser am Dorfeingang neben dem Pfad. Die Löcher der Vergangenheit sind mit Geröll und Sand zugeschüttet worden. Es war unordentlich gemacht, dass die Merkmale des Provisorischen erkennbar blieben.

Der Superintendent führt das, was er zu sagen hat, in emotionsloser Monologsprache aus. Die Art und Weise des Sprechens, Zuhörens, Fragens und Diskutierens ist anders geworden. Alles ist abgeflacht. Das lässt sich mit der Aufmerksamkeit, der Hingabe und Tiefgründigkeit von einst nicht mehr vergleichen. Der Superintendent spricht und schaut in irgendeine Richtung, ohne dass sein Blick auf ein Gesicht zielt. So fahren auch die Blicke der Anwesenden ziellos umher. Die meisten der Gesichter blicken gleichgültig und teilnahmslos. Das Telefon ist’s, dessen Klingeln den monotonen Redefluss des Superintendenten unterbricht, der wie ein Gebieter auf dem erhöhten Stuhl hinter dem großen Schreibtisch sitzt und seine Anweisungen und Erlasse ohne Widerrede gibt.

Es sind die altbekannten Themen, die aufgerollt und abgespult werden, ohne dass sich in den vergangenen Wochen und Monaten etwas in der praktischen Umsetzung getan hätte. Viele der Themen wurden auch vor der Unabhängigkeit vorgetragen und diskutiert. Trotz der Dringlichkeit bezüglich der Hygieneverbesserung und Sanierung der alten Toilettenanlagen sowie der Beschaffung von Antibiotika, Malaria- und TB-Medikamenten, hat sich in den ersten Jahren der Unabhängigkeit nicht viel getan.

Der Unterschied liegt in der wenig konstruktiven Anteilnahme an den Nöten der Menschen, liegt im Fehlen der Bekundung des Helfenwollens und Helfenmüssens unter den gegebenen Bedingungen und Umständen, die in ihrer Mehrzahl nicht in Ordnung waren. Hinzu kommt, dass die Mehrzahl der kubanischen Kollegen kein Englisch sprechen. Doch mit zunehmender Übung werden auch sie auf die Missstände am Hospital hinweisen. Die aus dem Exil zurückgekehrten namibischen Ärzte verhalten sich dagegen bedeckt. Sie schweigen sich zu den Mängeln aus und leisten keinen konstruktiven Diskussionsbeitrag.

Der Bogen in die Zukunft

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