Читать книгу Die schönste Brücke der Verständigung - Helmut Lauschke - Страница 3
Ankunft in Warschau
ОглавлениеVor dem Flughafengebäude standen die Taxis, die sich aus VW’s, Fiat und Renault in langer Folge hintereinander reihten. Die Taxis rückten nach, wenn das erste Taxi vom Gebäudeeingang abfuhr. Boris nahm das nächste nachrückende Taxi. Der Fahrer verstaute den Koffer im Kofferraum des Fiat, der seine besten Jahre abgefahren hatte. “Wohin?”, fragte er im slawisch verzogenen Dialekt, weil er Boris das Deutsche angesehen oder an ihm gerochen hatte. “Hotel Polnischer Hof”, sagte Boris, und der Fahrer startete den Motor. Da der Flughafen außerhalb der Stadt gelegen war, ging es über eine unbeleuchtete Straße in die Stadt. Das machte etwa zehn Kilometer oder zwanzig Minuten aus. Je näher es an die Stadt heranging, desto heller wurde die Straßenbeleuchtung.
Der Taxifahrer war ein stiller Mann, der offenbar das Reden im Sinne einer Unterhaltung beim Fahren nicht mochte. So wurde bis zum genannten Hotel kein Wort gesprochen, geschweige denn gewechselt. Er hielt vor dem breiten, hell erleuchteten Portal des Hotels an, stieg aus, gab dem Portier ein Hand- und Pfeifzeichen, der darauf zum Auto kam und den Koffer in die Hand nahm, den der Fahrer aus dem Kofferraum holte und ihm gab. Boris fragte, was er zu zahlen habe. Darauf sagte der Fahrer: “hundert Zloty”. Sein Gesicht klarte auf, als er im Deutsch der “drei Worte” sagte: “drei DM gut; drei DM sehr gut.” Darauf gab ihm Boris zehn DM, was für den Taxifahrer unglaublich, ja fürstlich war. Er zog die Fahrermütze vom Kopf, dankte in polnisch, gab dem Portier, der den Koffer in der Hand hielt, die nötige Anweisung, dass dieser zu Lächeln begann, als das Taxi abfuhr und Boris dem Portier zum Hoteleingang folgte.
Die junge attraktive Polin an der Rezeption sprach ein tadelloses Deutsch: “Guten Abend, Herr Baródin. Wir freuen uns, Sie bei uns begrüßen zu dürfen. Wir stehen ihnen zu jeder Zeit gerne zu Diensten. Ihr Zimmer hat die Nummer 7 und ist im ersten Stock. Unser Speisesaal ist bis 22 Uhr geöffnet. Ich kann ihnen die Spezialität des Tages sehr empfehlen. Benötigen Sie einen Telefonanschluss?” Boris: “Ja, ein Telefon brauche ich schon.” Die junge Polin an der Rezeption: “Das ist überhaupt kein Problem. Sie bekommen den Anschluss in den nächsten zehn Minuten. Falls Sie sonst etwas benötigen, ob es Getränke, der Friseur oder das Bügeln der Hemden und Anzüge sind, zögern Sie nicht, mir Bescheid zu sagen. Die Direktion hat Anweisung gegeben, ihnen unseren Vorzugsdienst zukommen zu lassen.” Boris: “Das ist sehr freundlich von ihnen.” Die junge, blonde Polin gab dem Portier den Schlüssel, der Boris zum Aufzug und dann zum Zimmer 7 im ersten Stock führte. Der Portier schaltete das Licht in dem großen Raum, einem Sitzraum, an, der mit zwei Sesseln, einem Klubtisch und einer Stehlampe ausgestattet war. An den Sitzraum schloss sich das Doppelbettzimmer und das Badezimmer mit Toilette an. Boris gab dem Portier zehn DM Trink-, beziehungsweise Tragegeld, was für ihn nicht nur ein Zeichen der Aufmerksamkeit vonseiten des Gastes, sondern ein königliches Trinkgeld war, für das sich der junge Portier sehr bedankte. Boris sah die innere Rührung in seinen Augen, die zu glänzen begannen, als er die bundesdeutsche Banknote in der Hand hielt, sie zusammenfaltete und glücklich in seine Brusttasche schob.
Der Portier verließ das Zimmer und legte die Tür leise ins Schloss. Boris wusch sich die Hände und das Gesicht mit lauwarmem Wasser. Er stand für einen Augenblick am Fenster und schaute über den erleuchteten Platz vor dem Hotel mit den vom Platz abgehenden Straßenzügen. Die Stadt war erleuchtet, stand aber nicht in einem Lichtermeer, wie es Berlin zum Strahlen brachte. Boris war in der polnischen Metropole, der Stadt des Warschauer Aufstandes und der vielen anderen Ereignisse von historischer Bedeutung. Er setzte sich in einen der beiden Sessel, zog die Partitur aus der Notentasche und blätterte im Selbstgespräch darin herum: “Großer Brahms, hier sollst du in zwei Tagen zu hören sein. Hoffentlich haben die Polen die offenen Ohren und das offene Gemüt, dich zu verstehen, was du im zweiten Klavier-Konzert ihnen mitzuteilen hast.
Musikalisch ist das polnische Volk und auch anspruchsvoll, das einen Frédéric Chopin und viele andere große Musiker hervorgebracht hat. Da muss ich mich anstrengen und gut spielen, um den Zuhörern das zu Gehör zu bringen, was sie von dir hören sollen.” Er legte die Partitur auf den Klubtisch, ließ sie am Anfang des zweiten Satzes, dem Allegro appassionato, aufgeschlagen und meldete ein Gespräch nach Hamburg-Blankenese an, um seiner Mutter, Anna Friederike Elbsteiner, geborene Dorfbrunner, mitzuteilen, dass er gut in Warschau angekommen sei. Die Vermittlung nahm einige Minuten in Anspruch. Dann meldete sich Frau Elbsteiner. Boris: “Mutter? Hallo Mutter! Ich bin gut in Warschau angekommen.” Mutter: “Dann bin ich beruhigt. Wie fühlst du dich?” Boris: “Wie sich ein Pianist fühlt, der ein schwieriges Konzert zu spielen hat.” Mutter: “Das wirst Du schaffen, mein Sohn. Was macht dein Husten?” Boris: “Der ist fast weg. Doch werde ich den Hustensaft weiter einnehmen, damit ich beim Spielen nicht dazwischenbelle, was der Vortrag nicht verträgt.” Mutter: “Das ist keine gute Nachricht. Ich dachte, die Medizin hätte geholfen und dich kuriert.” Boris: “Sie hat mir geholfen. Die Tonsillitis ist völlig abgeheilt.” Mutter: “Die Aufführung ist übermorgen.” Boris: “Ja, Mutter. Morgen ist die Probe.” Mutter: “Dann hast Du noch etwas Zeit, dich zu erholen. Nimm dir die Zeit, damit Du stark genug für das Konzert bist.” Boris: “Ich werde mich bemühen. Doch ein Klavier fehlt mir hier. Wenn ich nicht ständig dran sitze, packt mich die Angst, dass ich aus der Übung komme.” Mutter: “Nun rede dir nicht noch so etwas ein. Du bist ein brillanter Pianist und beherrschst das zweite Brahms-Konzert.” Boris: “Dein Wort in Gottes Ohr, Mutter. Ich muss mich anstrengen, denn die Erwartungen sind hoch. Da darf mir kein Fehler unterlaufen.” Mutter: “Sei zuversichtlich! Die Menschen werden von deinem Spiel begeistert sein, so wie sie es in Antwerpen waren, als Du vor einem Jahre dort den Brahms gespielt hast. Was mir einfällt: Frage doch bei der Rezeption nach, ob es im Hotel einen Flügel gibt, den sie dir an den beiden Tagen zur Verfügung stellen können.” Boris: “Ja, das werde ich tun. Das ist ein guter Einfall.” Mutter: “Ich wünsche dir eine gute Nacht und drücke dir die Daumen, wie ich es immer vor deinen Konzerten getan habe.” Boris: “Vielen Dank, Mutter, und auch dir eine gute Nacht.”
Boris nahm nicht den Fahrstuhl, um nach unten zum Speisesaal zu kommen, er ging die Treppe hinunter, die an der Rezeption endete. Die hübsche, junge Polin war mit einem Gast, einem russischen Herrn beschäftigt, mit dem sie in fließendem Russisch sprach. Boris wartete vor der Rezeption, frischte seine Russischkenntnisse dadurch auf, indem er das Gespräch, in dem es um das Auffinden von zwei Ministerien ging, verfolgte und im Geiste seinem Vater, Ilja Igorowitsch Tscherebilski, dankte, der ihm als kleines Kind neben den ersten Schritten auf dem Klavier auch die ersten Schritte in der russischen Sprache mit ihren sonoren Kehllauten beigebracht hatte. Das Gespräch war beendet. Der russische Gast dankte charmant mit einem Augenzwinker der attraktiven Polin und verschwand im Speiseraum.
Die junge Polin schaute ihn aus ihren wunderschönen großen, dunklen Augen an: “Herr Baródin, kann ich etwas für Sie tun?” Das fragte sie in einem fehlerfreien Deutsch und lächelte Boris fast verheißungsvoll an. Boris: “Darf ich zunächst um ihren Namen fragen, damit ich Sie korrekt ansprechen kann, wenn ich mit meinen ständigen Bitten komme.” Die Polin lachte, wobei ihr strahlend weißes Gebiss zur vollen Geltung kam: “Vera ist mein Name.” Boris: “Vielen Dank. Fräulein Vera, ich brauche ein Klavier oder einen Flügel. Haben Sie so etwas im Hotel? Ich habe zu arbeiten, das heißt zu spielen.” Vera schaute aus noch größeren Augen Boris an: “Das ist ja interessant. Das kommt im Jahr selten vor, dass ein Gast nach einem Flügel fragt.” Mit dem Lächeln der Neugier fuhr sie fort: “Nun begreife ich, Sie sind der Boris Baródin, der übermorgen ein Konzert in der Philharmonie gibt.” Boris: “Ja, dieser Boris bin ich und muss mich auf das Konzert intensiv vorbereiten.” Vera: “Seit einem Jahr steht hier ein neuer Konzertflügel im Musiksaal. Ich werde Sie zum Flügel hinführen.” Sie führte Boris den breiten Flur entlang, der sich in die entgegengesetzte Richtung vom Speisesaal erstreckte. Vera ging einige Schritte voraus und begann ein freundlich lockeres Gespräch: Da haben Sie einen großen Abend vor sich. Im Kulturteil der Zeitungen werden Sie als namhafter Pianist mit internationalem Renommee beschrieben.” Boris schwieg und folgte Vera, die sich in der Anmut ihres Ganges in den Hüften wog.
Vera: “Da sind Sie durch ihre Konzerte sicher in der Welt herumgekommen.” Boris: “Ja, das bin ich.” Vera: “Das muss doch ein aufregendes Leben sein, als Künstler gefeiert zu werden.” Boris: “Wissen Sie, Fräulein Vera, oft wünschte ich mir weniger auf dem Präsentierteller zu stehen und dafür mehr Ruhe und Beschaulichkeit zu finden.” Vera: “Das können nur Sie sagen, weil Sie ganz oben auf der Ruhmesleiter stehen. Für uns normale Menschen ist und bleibt es der große Traum.” Boris: “Aber Sie haben doch einen interessanten Beruf, der Sie mit vielen Menschen der unterschiedlichsten Herkunft und Berufe zusammenbringt. Da sind Sie mir doch voraus, denn ich habe es fast ausschließlich mit Musikern und meinem Agenten zu tun.” Vera: “Sie haben recht, Herr Baródin, in den ersten Monaten ist der Beruf einer Rezeptionistin spannend und aufregend, wenn auf einen die Menschen zukommen, um hier zu übernachten, und die anderen Menschen nach dem Frühstück das Hotel verlassen, die hier übernachtet und schließlich gezahlt haben. Aber dann wird es zur freundlichen Routine, die auch ihre schlechten Seiten hat, wenn sich ein Gast etwas herausnimmt, was er besser nicht tun sollte, weil es geschmacklos und ungezogen ist.” Boris: “Ich verstehe, was Sie sagen. Doch das sind doch die Ausnahmen.” Vera: “Das können Sie so nicht mehr sagen, denn die Respektlosigkeit dem weiblichen Geschlecht gegenüber hat in den letzten Jahren bedenkliche Ausmaße angenommen. Der Mangel an guter Erziehung zeigt nun und besonders uns gegenüber die Folgen, gegen die wir uns zu wehren haben.”
Vera öffnete die hohe Flügeltür: “Kommen Sie! Jetzt sind wir im Musiksaal.” Sie schaltete das Licht an, und zwei riesige Kronleuchter ließen den Saal erstrahlen. Vera: “Es wird gesagt, dass hier auch Chopin seine Klavierabende gegeben haben soll. Das war zu einer Zeit, als das Hotel den Namen ‘Fürstenhof’ führte. Im letzten Krieg sollen hier jüdische Künstler vor den hochrangigen Nazis aufgetreten sein, auch solche von der Berliner Philharmonie, die wenig später in Auschwitz-Birkenau ihr Leben verloren haben.” Boris schockierte dieser Satz. Er erinnerte sich an die Erzählungen seines Großvaters, als er durch die multiple Sklerose in den Beinen gelähmt und an den Rollstuhl gefesselt war, wie brutal die Nazis mit den Juden und anderen Minderheiten sowie den Regimekritikern umgegangen waren. Vera führte ihn ans Ende des Saales, wo der Flügel stand: “Da ist er, den Sie suchen.” Boris setzte sich an den Flügel, der ein Steinway war, und spielte ihr zum Dank die beiden ersten ‘Préludes op.28’, das ‘Agitato’ in C-Dur und das ‘Lento’ in a-Moll von Frédéric Chopin vor. Vera stand wie gebannt am Flügel mit Tränen in ihren großen dunklen Augen. Da sie kein Tuch bei sich hatte, um ihre Tränen abzuwischen, zog Boris sein ungebrauchtes Taschentuch aus der Jackentasche und hielt es ihr mit der Frage entgegen, ob sie damit vorliebnehmen wolle. Vera nahm sein Taschentuch, das noch zusammengefaltet war, wortlos entgegen und wischte sich die Tränen vom Gesicht, während Boris die beiden nächsten ‘Préludes’, das ‘Vivace’ in G-Dur und das ‘Largo’ in e-Moll spielte. Vera: “Sie spielen wunderbar; wie ein Engel spielen Sie.” Boris: “Schön wär’s, wenn ich wie ein Engel spielen könnte.” Vera trieb die Unruhe, weil sie ihren Dienst an der Rezeption zu verrichten hatte. “Ich muss zurück zur Rezeption. Wie gerne hätte ich ihnen weiter zugehört.” Boris: “Kann ich hier bleiben und spielen, ohne dass ich jemanden störe?” Vera: “Das können sie, Boris Baródin. Sie können hier spielen, so lange Sie wollen. Aber was ist mit dem Abendessen. Wollen Sie sich nicht vorher etwas stärken?” Boris: “Vera, ich will spielen. Das ist mein Bedürfnis. Mein Appetit ist nicht so groß. Aber wenn Sie mir einen Gefallen tun wollen, dann bringen Sie mir in einer Stunde etwa ein Tablett mit Tee und etwas zu essen.” Vera: “Das bedeutet Nachtschicht für mich. Aber für Sie, den spielenden Engel auf dem Steinway tue ich das gern.”
Vera verließ den Musiksaal und schloss die hohe Flügeltür leise hinter sich. Sie stand noch einen Augenblick an der Tür und lauschte seinem Spiel des ersten Satzes aus dem zweiten Brahms-Konzert. Dass sie dabei sein Taschentuch in der Hand hielt, merkte sie erst an der Rezeption, als sie es aus der Hand legte, um ein Telefonat zu tätigen. Sein Spiel hatte sie aus der Fassung gebracht, hatte sie “umgeworfen”. Als ein Gast an der Rezeption aufgrund ihrer “Abwesenheit” fragte, ob ihr nicht wohl sei, bemerkte Vera, dass sie mit ihren Gedanken nicht bei der Sache war, sondern bei Boris Baródin war, dem jungen und schon so berühmten Pianisten aus Berlin. Er hatte sie völlig in Beschlag genommen, hatte sie erobert, ob er es wollte oder nicht.
Boris spielte Brahms und war mit seinem Spiel zufrieden. Es war Vera, die mit einem Tablett den Musiksaal betrat, um ihm den Tee und die Spezialität des Tages, eine gespickte Gänsebrust mit Bratkartoffeln und Rotkohl zu bringen. Sie stellte das volle Tablett auf einen Stuhl und goss Tee in die Tasse, als Boris beim Blick auf seine Swatch, die er ausgezogen und links neben die Tastatur gelegt hatte, erschrak, weil es kurz vor Mitternacht war und sich der Mahnung seiner Mutter erinnerte, sich aus gesundheitlichen Gründen noch zu schonen. Vera: “Sie kennen wohl gar keine Pause, Boris Baródin.” Boris schmunzelte: “Die kenne ich schon, Fräulein Vera. Aber ein Infekt mit einer Mandelentzündung hat mir lange genug eine Zwangspause auferlegt. Nun muss ich nachholen, was ich versäumt habe. Und Sie wissen es so gut wie ich, dass das Warschauer Publikum hohe Ansprüche an den Pianisten stellt.” Vera: “Aber Sie spielen einmalig schön. Was kann da noch ausgesetzt werden?” Boris, dem das “einmalig” gefiel, griff zum Wortspiel: “Wenn es beim zweiten Mal nicht so klappt, wie es gespielt sein soll oder beim ersten Mal gespielt wurde.” Vera lachte, während Boris vor dem Flügel saß und über Mendelssohn’s “Lieder ohne Worte” meditierte. Vera: “Wieviel Löffel Zucker nehmen Sie zum Tee?” Boris, ohne den Blick vom Flügel zu nehmen: “einen Teelöffel bitte.”
Vera rührte den Zucker in den Tee: “Boris Baródin, nun ist eine Pause fällig, denn das Essen ist gerichtet.” Sie schob einen zweiten Stuhl für Boris vor den Stuhl mit dem Tablett und einen dritten Stuhl dazu, auf den sie sich setzte. Vera: “Ich wünsche ihnen einen guten Appetit. Sie müssen doch Hunger haben.” Boris: “Der ist nicht so groß, denn auf dem Flug von Berlin nach Warschau gab es schon das Abendessen, eine gebackene Kalbsleber mit gekochten Kartoffeln und Gemüse.” Vera: “Das ist nun schon einige Stunden her. Jetzt nehmen Sie eben das Mitternachtessen. Sie müssen sich von dem Infekt, der ihnen die Zwangspause auferlegt hatte, erholen.” Boris aß mit Appetit die köstlich zubereitete Gänsebrust und die knackig angerichteten Bratkartoffeln. Auch schmeckte ihm der mit einem Schuss Wein versetzte Rotkohl. Während des Essens fragte er sie, ihm ein wenig aus ihrem Leben zu erzählen. Vera: “Ich bin ein Kind aus einer kinderreichen Familie. Geboren wurde ich in Wroclaw, dem einst deutschen Breslau, wo mein Vater als Gruben- und Maschineningenieur im Kohlerevier Katowicach (Kattowitz) tätig war. Ich habe noch drei Brüder und zwei Schwestern. Alle sind jünger als ich. Leider ist mein Vater, er war gerade zweiundfünfzig Jahre alt, an einem Lungenkrebs verstorben. Auch die Professoren von der Uni-Klinik konnten ihn nicht mehr retten. Meine Mutter bezog eine kleine Witwenrente, die zum Leben, ich meine zum Überleben der Familie nicht reichte. So kam es auf mich zu, eine Beschäftigung anzutreten, um Geld für die Familie zu verdienen. Gerne hätte ich studiert, denn ich hatte die Schule mit guten Noten abgeschlossen. Aber der Tod meines Vaters setzte andere Prioritäten. Und so bin ich seit über zwei Jahren an der Rezeption des Hotels “Polnischer Hof”, dem früheren “Fürstenhof” zu Zeiten des polnischen Adels und seines Großgrundbesitzes mit der Lehnsherrschaft über weite Kreise des polnischen Volkes.”
Boris: “Fräulein Vera, was hätten Sie denn studieren wollen, wenn ihr Vater gesund und noch am Leben wäre?” Vera überlegte einen kurzen Augenblick: “Theater und Ballett. Schon als Kind liebte ich das Tanzen und das Puppenspiel.” Boris: “Das hört sich interessant an, und ich glaube, dass Sie das Talent dazu hätten.” Vera: “Nur genügt das Talent alleine nicht, um es zur Durchführung zu bringen.” Boris: “Ich verstehe.” Vera: “Mein Vater sagte: mein Kind, habe Geduld; erst muss die Familie aus dem Gröbsten sein, die Geschwister müssen einen Schulabschluss haben, um mit guten Chancen ins Berufsleben zu treten. Warte bis ich fünfzig bin, dann habe ich auch das Geld, dass du deinen Traum vom Theater und Ballett verwirklichen kannst. Oft hat Vater seinen Schmerz ausgedrückt, als ihn das Krebsleiden erfasst hatte und nicht mehr losließ, stattdessen ihn verzehrte. Da sagte er, wie leid es ihm tut, dass nun das angesparte Geld für die ärztliche Behandlung und die Apotheke draufgehe und nicht, wie versprochen, für die Ausbildung in Drama und Ballett.” Boris: “Den Schmerz ihres Vaters kann ich nachempfinden. Fräulein Vera, Sie tun mir leid, dass ihre Begabung deshalb nicht weiter zur Ausbildung und zum Tragen kommen kann. Aber vielleicht ergibt sich die Möglichkeit zu einem späteren Zeitpunkt, wenn ihre Geschwister ins Berufsleben gegangen sind und Sie das Geld für das Studium angespart haben.” Vera: “Das wird noch eine Weile dauern, denn noch sind nicht alle aus der Schule heraus. Doch was rede ich, was klage ich ihnen vor? Sie geben ein Konzert, sind auf der Höhe des Ruhmes, da soll ich nicht mit meinen kleinen Dingen dazwischenkommen!
Entschuldigen Sie, das habe ich wirklich nicht so gemeint.” Boris: “So habe ich das auch nicht aufgefasst, Fräulein Vera. Ich habe doch durch meine Frage den Anlass gegeben, dass Sie mir aus ihrem Leben erzählen möchten. Und das haben Sie getan.” Vera: “Danke, dass Sie mich verstanden haben.” Boris: “Jetzt spiele ich ihnen noch etwas Chopin vor, dann muss ich aber ins Bett, um für morgen fit zu sein.” Vera räumte die Sachen auf dem Tablett zusammen und setzte sich wieder auf ihren Stuhl. Boris hatte sich auf die kurze Bank an den Flügel gesetzt, schaute kurz zu Vera herüber und spielte aus den ‘Préludes’, erst das ‘Allegro molto’ in D-Dur, dann das ‘Lento assai’in h-Moll und zum Abschluss das letzte, das ‘Allegro appassionato-Prélude’ in d-Moll.
Boris begleitete Vera, die das Tablett trug, aus dem Musiksaal, öffnete ihr die hohe Flügeltür, drückte auf den Lichtschalter, dass der Saal in seine ursprüngliche Dunkelheit versank, schloss die Tür und ging mit Vera den breiten Flur zur Rezeption zurück, wo ein junger Mann mit schläfrigen Augen den ruhigen Nachdienst versah. Vera: “Ich wünsche ihnen eine gute Nacht. Wollen Sie geweckt werden?” Boris: “Ja um acht, das wäre sehr freundlich. Dann sehen wir uns morgen. Gute Nacht!” Er nahm den Treppenaufgang neben der Rezeption, während Vera in Richtung Speisesaal verschwand, um das Tablett in der Hotelküche abzustellen.
Die Nacht träumte Boris eine Liebesromanze. Er hatte sich in ein Mädchen slawischer Herkunft verliebt, das außergewöhnlich schön und rassisch war. Als Liebhaber hatte er ihr Liebeslieder vorgespielt, die in ihrer Gefühlstiefe und Farbigkeit dem großen Brahms oder Liszt nicht nachstanden. Während er ihr die Liebeslieder vorspielte, wobei es zu ausladenden Arpeggien und rollenden Oktavläufen kam, saß das Mädchen neben ihm auf der Bank vor dem Flügel und schmiegte sich zärtlich an ihn. Ihre Hand fuhr sanft über seinen Kopf und streichelte das rechte Ohr. Dann küsste sie seine rechte Wange. Es war ein beglückendes Spiel im glücklichen Nebeneinander, das nach einem glücklichen Miteinander verlangte. Die Liebeslieder gab es geschrieben nicht. Sie entstanden ad hoc aus dem Augenblick des Empfindens, des Fühlens und Verlangens. Daher war es nicht verwunderlich, dass das Repertoire dieser Lieder unerschöpflich war. Es wäre so ‘ewig’ weitergegangen, war es doch die schönste der Welten, wenn nicht das Telefon geklingelt hätte, das die schönste Welt mit dem erträumten, unerschöpflichen Liebesverlangen und dem nicht weniger großen Liebesliederrepertoire im Nu zum Absturz brachte. “Guten Morgen, es ist acht Uhr”, sagte eine freundliche, junge Männerstimme. “Danke”, erwiderte Boris noch verträumt und suchte, nachdem er den Hörer aufgelegt hatte nach den Traumbelegen, die ihn so weit geführt, ja fast verführt hatten.
Doch Belege und ihre “Unterlagen” waren weg. Nichts war von ihnen zurückgeblieben oder auffindbar. “Hätte statt der Männerstimme Vera das ‘Guten Morgen’ und die ‘Acht Uhr’ gesagt, dann wäre doch die wunderbare Welt der Liebe und ihrer Lieder geblieben und nicht wie ein Kartenhaus zusammengefallen, eingestürzt und wie vom Erdboden verschwunden.” Das war der Kommentar am Morgen eines wichtigen Tages, dem Tage vor der Aufführung des Brahms-Konzertes, den Boris sich beim Rasieren vor dem Spiegel ins Gesicht sagte, als er aus dem Bett gestiegen und dabei war, unter die Brause zu steigen. Dass die Schlafstunden zu kurz gekommen waren, das spürte er ebenso wie das Verlangen, Vera wiederzusehen. Da war doch etwas Neues in sein Leben getreten, dass es ihn nach einem andern Menschen verlangte, der bisher ausschließlich seine Mutter gewesen war. Er war gerade in seine Hose gestiegen und dabei, sie am Bund zu schließen, als das Telefon läutete und Vera ihm einen guten Morgen wünschte: “Ich wollte nur sichergehen, dass Sie auch geweckt wurden, denn Sie sagten, dass für neun Uhr die Probe in der Philharmonie angesetzt sei.” Boris: “Das ist sehr freundlich von ihnen. Haben Sie denn eine gute Nacht gehabt?” Vera: “Lange konnte ich nicht einschlafen. Meine Gedanken kreisten um die Musik und ihr wunderbares Klavierspiel.Dann sah ich Sie im Traum vor dem großen Himmelsflügel über den Wolken sitzen und hörte die ‘Préludes’ von Chopin. Sie spielten wie ein Engel. Töne und Klänge bildeten ein großes Gebäude der schönsten Bauweise, das von einem blühenden Frühlingsgarten umgeben war, in dem wir uns trafen und einander zulachten. Der Duft, der diesem Garten entströmte, war der Zauberduft der großen Liebe.”
Boris: “Wie war es mit dem Duft, als Sie aufwachten, Fräulein Vera?” Vera: “Der ist geblieben, den konnte ich auf meiner Zunge schmecken.” Boris: “Dann haben Sie einen starken Traum gehabt mit dem Glück, dass er mit dem Erwachen nicht wie ein Kartenhaus zusammengefallen und wie vom Erdboden verschwunden war. Ich hatte auch einen schönen Traum. Als aber das Telefon um acht klingelte und der junge Mann von der Rezeption das ‘Guten Morgen, es ist acht Uhr’ sagte, war von dem Traum nichts mehr da. Ich habe nach ihm gesucht, aber nicht mehr gefunden.” Vera: “Wir müssen uns wiedersehen. Das ist, warum ich den Duft des Frühlingsgartens noch in meiner Nase habe und ihn auf der Zunge schmecke. Dann müssen Sie mir von ihrem Traum erzählen. Doch erst kommt die Probe.” Boris: “Und dann kommt das Spiel.” Vera: “Ich will Sie nicht länger aufhalten, denn Sie müssen noch frühstücken, bevor Sie in die Philharmonie gehen. Ich wünsche ihnen alles Gute zum Spiel des Konzertes und die Erfüllung ihres Glücks.” Boris: “Vielen Dank. Nach der Probe werde ich Sie entweder an der Rezeption treffen oder Sie anrufen, denn da ist ein Freiraum, ich meine noch ein leerer Raum, was die Erfüllung meines Glücks betrifft.” Vera: “Ich warte auf ihren Anruf. Bis dann!”
“Brahms, Brahms, Brahms!” Mit diesen Worten, die er sich sagte, ging Boris die Treppe hinunter und in den Früstücksraum, in dem schon einige Gäste saßen und mit dem Schneiden und Kauen beschäftigt waren. Er bestellte sich ein Spiegelei, dem er ein Glas Fruchtsaft und ein Schälchen Müsli aus Korn, Mandeln, gewürfeltem Trockenobst und Rosinen voranschickte. Das Kännchen Bohnenkaffee wurde ihm zur gleichen Zeit mit dem Spiegelei und den zwei angebratenen Speckstücken serviert. Der Kaffee mit dem schwächeren Aroma, verglichen mit dem Kaffeeduft in deutschen Hotels oder in Wien, Rom oder Lateinamerika tat Boris wohl, weil er das Schlafdefizit der letzten Nacht deutlich spürte. Da der Frühstückstisch weit weg vom Fenster stand, war weder die Einsicht von draußen noch die Aussicht auf den Vorplatz verlockend. Der Berufsverkehr war noch weit genug weg, als dass er beim Frühstücken störte. Auch hielten die Fensterscheiben die Verkehrsgeräusche in angenehmer Weise fern. Der sichtbare Verkehr lief also in Stille ab, was Boris in die Lage versetzte, sich bei der zweiten Tasse Kaffee die Brahms-Partitur im Kopf zurechtzulegen.
Er nahm das Taxi zur Philharmonie, das für ihn von der Rezeption des Polnischen Hofes bestellt war. Auch diesem Taxifahrer gab er ein fürstliches Trinkgeld, als er auf dem weitläufigen Platz der Philharmonie ausstieg. Der Fahrer dankte es ihm mit gezogener Fahrermütze. Die Orchesterklänge, vor allem der Bläser, aus dem zweiten Klavierkonzert kamen ihm entgegen, als er den klassizistischen Bau der Philharmonie betrat, der im Krieg stark beschädigt und nach dem Krieg meisterhaft wiederhergestellt wurde. Oboen und Fagotte bliesen die Tonleitern über zwei, manchmal über drei Oktaven rauf und runter, während die Streicher ihre Quinten von Saite zu Saite stimmten und miteinander abstimmten, wobei die Kontrabässe wie schlafende Bären dazwischenbrummten, oder klangverwandter, dazwischenschnarchten. Boris trat in den Konzertsaal, einem großen Saal mit doppelstöckigen Seitenrängen unter einer hohen, gewölbten Decke. Er stieg die sechs Stufen zur Bühne und ging auf den Flügel zu. Der Konzertmeister, ein Geiger zwischen dreißig und vierzig kam ihm entgegen und begrüßte ihn herzlich: “Willkommen in Warschau! Willkommen in unserer Philharmonie!” Bei der Begrüßung hielt er Geige und Bogen in der linken Hand. Boris traf auf ihn zum ersten Mal, denn vor zwei Jahren war der Konzertmeister ein älterer Herr, der in dem sympathischen Gesicht eine Narbe über der linken Wange hatte, die ihm noch die Nazis beigebracht hatten.
Der junge Geiger nun war ein hochgewachsener, schlanker Pole mit ovalem Gesicht, dunkelbraunen Augen und langem, zurückgekämmten schwarzen Haar. Auch die übrigen Orchestermitglieder hießen Boris willkommen, indem die Streicher mit den Bögen gegen ihre Instrumente klopften, was die Bläser und der Schlagzeuger mit den Schuhen auf dem Bühnenboden taten. Boris dankte für den herzlichen Willkommensgruß mit einer tiefen Verbeugung. Dann klappte er den Flügeldeckel auf, setzte sich und spielte Abschnitte aus dem ersten, zweiten und dritten Satz. Viertel nach neun betrat der Dirigent Wiktor Kulczynski die Bühne und begrüßte Boris mit einer väterlichen Umarmung, denn dieser untersetzte, freundliche Herr mit der hohen Stirn und großen Nase hätte vom geschätzten Alter her gut sein Vater sein können. “Ich freue mich sehr, Boris Baródin, mit ihnen das zweite Brahms-Konzert aufführen zu können, nachdem ich so hervorragende Kritiken über Sie gelesen habe. Ich hoffe, dass Sie in einer guten Verfassung sind, damit wir das Konzert zu einem großen Erfolg bringen.” Das sagte Dirigent Kulczynski im fehlerfreien Deutsch mit polnischem Akzent. “Packen wir’s an!” Er stieg aufs Podium, schlug die große Orchesterpartitur auf, nahm den Taktstock in die rechte Hand und sagte: “Bitte meine Herren, fangen wir von vorne an.”
Das Orchester brachte das Eingangsmotiv im ‘Allegro non troppo’ mit den steigenden Viertelnoten B-C-D, der herabgleitenden Triole Es-D-C, dann dem D als Viertelnote und dem langgezogenen F als Dreiviertelnote. Wieder und unwillkürlich hörte Boris den Ruf seines Vaters, den stummen Schrei des Ilja Igorowitsch. Wieder sah er vor sich den breiten Wolgastrom, wieder spürte er die Breite der Schwermut über diesem Lauf. Er setzte seinen stakkierten Triolenlauf als die leichtermachende, lebensweckende Kraft aus dem fortdauernden, nie-endenden, die Lebensspanne des Individuums überschreitenden Status nascendi mit seiner grenzenlosen Hoffnungstracht entgegen, setzte das Triolen-Stakkato zum Zeichen der Seinsannahme wie einen bunten, verheißungsvollen Spitzhut “der Weisheit” dem weinenden Clown in seiner, der Kleingeisterei widerstrebenden Existenz- und existenzphilosophischen Bedeutung auf, um ihn aus der Blick- und Daseinsschwere heraus zu helfen, ihn wieder zum Lachen zu bringen, ihm mindestens ein Lächeln abzugewinnen. Nun hatte Boris plötzlich die springenden Flachsteine auf dem Wasser wieder vor Augen. Schnell wuchs die Dynamik mit den stakkierten Oktavläufen in der rechten Hand über den begleitenden Dezimen in der linken, als hätte sich ein kräftiger Arm, der Arm eines Riesen ausgestreckt, der das Klanggebäude, in dem es “Türen und Fenster” gab, die geöffnet und geschlossen werden, in der Hand hält, es hebt und senkt.
Den Ohren stellte sich ein gewaltiges Gebäude von unerhörten Dimensionen dar, das aus immer neuen Perspektiven zur Betrachtung kam. Da kam etwas ins Schwingen, das großartig war nach außen wie nach innen, bis in die feinsten ‘molekularen’ Strukturen hinein. Ein Tonwerk des Meisters, der ingroßen Visionen schöpfte, die mit der Zeit nicht zu begrenzen oder zuschließen waren. Intellektuell allein ist das Werk nicht zu fassen, zu viele Emotionen sind hineingeflossen. Es ist ein “Kraftwerk” ständig auftauchender und versinkender Gefühle, kommender und gehender Weisen mit ihren Mahnungen und Verweisen zur besseren Menschlichkeit, zur Erfüllung des Lebens im Leid und im Glück, und das in immer anderen Klanggewändern des ständigen Fließens, dem Heraklit’schen “Panta rhei” der nicht aufhörenden Verwandlung, des immer Anderen zum immer Neuen.
Wiktor Kulczynski, der Dirigent, wischte sich mit dem Taschentuch den Schweiß von der Stirn, als er in der Mitte des ersten Satzes das Halt gebot und seine ersten Bemerkungen zum Gespielten machte: “Meine Damen und Herren, es war nicht schlecht, was wir gespielt haben. Aber für einen Brahms war es nicht gut genug. Bedenken Sie, dass Brahms ein Meister der Liebeslieder war, sowohl im Kompositorischen wie im Vortrag. Wie bei Tschaikowsky verbirgt sich auch bei Brahms die große, überempfindliche Seele in seiner ausschwingenden Musik. Nun ist es unsere Aufgabe, dieser Seele zum Durchbruch zu verhelfen. Die Brahms’sche Seele muss zum Klingen kommen. Das wird von diesem Klangkörper, also von uns erwartet, und das müssen wir schaffen. Um die Seele zum Klingen zu bringen, muss das ‘forte’ und ‘piano’, das ‘fortissimo’ und ‘pianissimo’ genau beachtet und das Vibrato stärker und präziser gebracht werden. Beginnen wir noch einmal von vorn!”
Wieder war es die Schwermut, die aus den ersten beiden Takten des Orchester tönte.Wieder sah Boris den trägen Lauf des breiten Wolgastroms; wieder hörte er den stummen Schrei seines Vaters, Ilja Igorowitsch, der verloren am Ufer des breiten Stromes stand; wieder setzte er mit seinem Triolen-Stakkato dem weinenden Clown den Spitzhut der Weisheit auf, und wieder waren es die geworfenen Flachsteine, die Boris über das träg fließende Wasser springen sah. Es galt eben wieder, mit dem einsetzenden Spiel des Pianos die Schwermut zu durchbrechen, die Dinge in der Welt und der Tonwelt im Besonderen leichter zu machen, der Unergründlichkeit des Leidens das Beglückende, das das Leben auch bereithält, wenn man es nur annehmen will, entgegenzusetzen. Das Gesicht des Dirigenten entspannte. Züge der Zufriedenheit kamen auf und seine Augen begannen zu leuchten. “Wunderbar!”, rief er ins Spiel und dankte nickend den Spielern, die es als Ansporn begriffen und den Unterschied zum ersten Mal herausspielten und heraushörten. Die große Seele kam ins Schwingen und die Klänge mit der genauen Beachtung von laut und leise und dem stärkeren und präzisen Vibrato drückten das Schwingen unsagbar schön und ergreifend aus.
Das ließ sich in Worten nicht sagen, weil eine Musik gespielt wurde, die in ihrer Aussage weit über die Wortsprache hinausreichte. Die Gesichter der Spieler waren konzentriert, die Verbindung zum Werkkern, zur Seele des Werkes tonal zu halten und zu festigen. Das sah Boris beim flüchtigen Hinsehen in das Halbrund des Orchesters. Er brachte seinen Teil fehlerfrei und ausdrucksstark. Er war froh, dass er von einer Hustenattacke verschont geblieben war, die seinen Vortrag mit einem Schlag zunichte gemacht hätte. Von der Stabführung des Dirigenten war Boris ebenso angetan wie vom Spiel des Orchesters, war doch die Warschauer Philharmonie ein großartiger Klangkörper von hohem internationalen Ruf. Die Tonqualität war Spitzenqualität, das Klangvolumen und die Farbigkeit ein Erlebnis der besonderen, slawisch kultivierten Ausdrucksweise, einer Weise der tiefgehenden, bodenständigen Einfühlsamkeit sowie des aus diesem Boden hervorgegangenen Stolzes.
Mit dem lang anhaltenden B-Dur-Akkord war das Ende des ersten Satzes gespielt. Wiktor Kulczynski klopfte mit dem Taktstock seine Zufriedenheit auf das Pult und wischte sich mit der linken Hand den Schweiß vom Gesicht: “Ich denke, dass wir jetzt auf dem richtigen Weg sind und dem großen Brahms die nötige Ehre erweisen. Machen wir weiter und spielen das ‘Allegro appassionato’, aber nicht zu schnell. Es ist ein Satz von großer Aussage und hoher Würde.” Er hob den Stab. Boris setzte mit seinem Achtellauf im Vortakt an, dem er die Viertelnoten im Folgetakt wie Meißelschläge im martellato folgen ließ. Mit diesen “Hammerschlägen” wurde der große Quartsextakkord im d-Moll “gemeißelt”, der über drei Takte hingezogen wurde, unter dem das Orchester in den vorgegebenen Dreiklang einstimmte und ihn im Legato über die nächsten sechs Takte hinzog, während das Solo die Dreiklangsäule “aufbrach” und in verschiedenen Höhen im Legato ausmodulierte. Das Abwechseln der Meißelschläge mit den Legatobindungen, das ging durch den ganzen Satz, als gelte es, die losgelösten “Steine oder Bruchstücke” als neue Bauelemente für die neuen Bögen (“Brückenbögen”) zu verwenden, sie miteinander zu “verleimen” und die zurückgebliebenen Brüche “aufzufüllen”, um die Risse zu schließen. Wiktor Kulczynski hatte am Vortrag bis auf einige technische Dinge, die Crescendi und Decrescendi genauer zu beachten, nichts auszusetzen. Er war vom Klaviervortrag beeindruckt und ließes Boris mit Worten wissen, dass er nur selten solch einen vollendeten Klaviervortrag gehört habe, worauf das Orchester seine Zustimmung mit klopfenden Bögen und trampelnden Füßen gab. Die Geste berührte Boris, der mit einem Lächeln dem Orchester dankend zunickte. Nun war Wiktor Kulczynski ins Schwitzen geraten und trocknete das Gesicht mit dem Taschentuch.
Der Vortrag des ‘Andante’, dem folgenden Satz, empfand er als den Höhepunkt bei der Probe. Boris selbst war ergriffen, weil er es sich nicht erklären konnte, dass es hier schon beim ersten Mal so ein enges, bis ins Detail abgestimmtes Zusammenspiel gab. Darüber freute er sich sehr und bewunderte die hohe Musikalität, die das Warschauer Philharmonische Orchester unter seinem Dirigenten hervorbrachte. Der Dirigent strahlte über sein verschwitztes Gesicht, und die Orchestermitglieder gaben sich ein gegenseitiges Lächeln. Aus Freude an der Sache und mit Zustimmung aller wurde der Satz noch einmal gespielt. Es war ein makelloser Vortrag und eine ergreifende Botschaft. Hier war die Seele des Tonschöpfers “mit Händen zu greifen”. Am Ende des Satzes klatschte Boris seine Bewunderung der Philharmonie und seinem Dirigenten zu. Hier merkte Wiktor Kulczynski an, dass mit dem ‘Andante’ die Warschauer Philharmonie ihre tiefe Ergriffenheit vom gewaltigen Geist dieser Tonschöpfung zum Ausdruck bringt und dem großen Komponisten seine Unsterblichkeit bezeugt.
Nach einer kurzen “Stimmungs”-Pause ging es an den letzten Satz, dem ‘Allegretto grazioso’. Boris ging es leicht von der Hand, als hätte er nie etwas anderes gespielt. Auch das Zusammenspiel mit dem Orchester war vollendet, als hätten sie es schon tausendmal zusammen gespielt. Wieder gab es die “Meißelschläge” und die gebundenen Bögen, die einander abwechselten. Da kamen die Achtel im Martellato auf dem Klavier, und die Sechzehntel im Orchester wurden zu unterschliedlich langen Bögen gespannt. Wurdendie Stimmen im Orchester “gemeißelt”, dann brachte das Klavier die rollenden Legatobögen. Es war Ausdruck des Lebens in seiner Vitalität und Farbigkeit. Die eingeschobenen lyrisch-verhaltenen und heiter-offenen Passagen weiteten den Raum zu nachdenklich-erinnernden Reflexionen und verliehen dem Allegretto den Charme einer liebenswürdigen Leichtigkeit. Es sprühte, als würde ein Feuerwerk entzündet; es blühte, als stünde ein neuer Frühling ins Haus. Von Hoffnung wurde allemal “gesprochen”. Ihr wurde im Schlussteil im ‘un poco più presto’ Taktmeter die Zuversicht dazugegeben. Nun rollten in der rechten Hand die martellierten Triolen über die gestreckten, arpeggierten Oktaven und Dezimen in der linken Hand, bis das verbindende Legato des Friedens kam, das weite Bögen, schließlich über mehrere Oktaven zog. So wurden Hoffnung und Zuversicht miteinander verfugt und “festgetönt”. Sie wurden im Schlussakkord des B-Dur mit der Fermate gesichert, verankert und festgemacht, als stünde der Himmel mit der Erde im Einklang, wären die Sterne greifbar, wäre der Himmel bereits auf Erden.
Wiktor Kulczynski ordnete eine Pause von dreißig Minuten an, die er dazu nutzte, ein informatives Gespräch mit Boris zu führen. Die Mitglieder des Orchesters verließen die Bühne, um sich im Foyer eine Zigarette anzustecken und im kleinen Getränkeladen außerhalb der Philharmonie eine Tasse Kaffee oder ein Erfrischungsgetränk anderer Art zu beschaffen. Kulczynski: “Herr Baródin, ich möchte ihnen mein Kompliment aussprechen.Ihr Spiel hat mit sehr gut gefallen. Das ‘Andante’ habe ich noch nie so schön spielen gehört wie von Ihnen. Da haben Sie den ganz hohen Standard nicht nur erreicht, Sie haben ihn mit ihrem Spiel übertroffen. Darf ich fragen, wann Sie zuletzt das Brahms’sche Konzert gespielt haben?” Boris: “Es war vor einem dreiviertel Jahr, als ich es in der Carnegie Hall in New York unter Bernstein gespielt habe. Dann habe ich es im Leipziger Gewandhaus unter Sir Solti gebracht.” Kulczinski: “Ich gehe davon aus, dass auch diese beiden großen Dirigenten von ihrem Vortrag begeistert waren.” Boris: “Bernstein schlug mir mit einem breiten Lachen und der Bemerkung auf die Schulter: “Boris, it was a great performance”. Sir Solti machte es auf seine feine Art; er lächelte mir zu, gab mir die Hand und sagte: “Brahms würde sich freuen, von einem Pianisten so gut verstanden worden zu sein. Ich gratuliere ihnen zu ihrem Spiel.” Kulczynski: “Den beiden kann ich mich nur anschließen, denn ihr Vortrag hatte Weltklasse. Sie wissen, dass Brahms für uns Polen nicht so leicht zu spielen ist wie Mozart, Tschaikowsky oder Mendelssohn Bartholdy, weil er ganz deutsch im Beethoven’schen Sinne geschrieben hat. Aber Sie haben uns mit ihrem Spiel ganz eingenommen, haben uns mitgerissen, haben uns den guten Brahms auf ihre Weise lieben gelehrt. Das ist ein Verdienst, das ihnen zukommt, wofür ich, auch im Namen der Philharmonie, ihnen meinen Dank ausspreche.” Boris: “Nun übertreiben Sie aber, Maestro Kulczynski. Denn selten habe ich ein so inniges Zusammenspiel mit einem Orchester erlebt wie mit der Polnischen Philharmonie.” Kulczynski: “Sehr freundlich von Ihnen. Doch, das darf ich sagen, wir haben uns auf ihr Kommen gefreut und uns auch gründlich vorbereitet.” Boris: “Das habe ich mit großer Freude vernommen und gespürt.”
Kulczynski: “Lieber Baródin, im Saal sitzt meine Schwester. Sie war sehr gespannt, ihr Spiel zu hören und würde sich sehr freuen, Sie persönlich kennenzulernen. Würden Sie das tun und mir die Ehre geben, Sie meiner Schwester vorzustellen?” Boris: “Das tue ich gern. Es ist mir eine Ehre.” Er drehte sich dem Saal zu und sah in der fünften Reihe eine alte Dame in dunkler Bekleidung und schneeweißem Haar. Sie gingen die sechs Stufen herab und auf die fünfte Reihe zu.
“Lydia”, sagte Wiktor Kulczynski, als sie die fünfte Sitzreihe erreichten, “darf ich dir Herrn Baródin vorstellen? Das ist meine Schwester Lydia Grosz.” Boris verbeugte sich vor der Dame, als sie ihm ihre Hand entgegenhielt und sie sich die Hände gaben. “Ich freue mich, Sie kennenzulernen”, sprach sie in fehlerfreiem Hochdeutsch, “ich habe viel von ihnen gehört und in den Kritiken über Sie gelesen.” Boris: “Hoffentlich waren Sie dann nicht enttäuscht.” “Nein, ganz im Gegenteil, Sie sind ein großartiger Pianist, davon konnte ich mich heute morgen persönlich überzeugen. Selten habe ich das Brahms-Konzert so eindrucksvoll erlebt wie bei ihrem Spiel. Ich habe das Konzert noch von Kempff, Horowitz und Goulda gehört. Denen stehen Sie nicht nach. Das ist bei ihren jungen Jahren eine Leistung, die Anerkennung verdient!”. Wiktor Kulczynskistrahlte beim Kompliment seiner Schwester, auf deren Urteil er offensichtlich großen Wert legte, Boris an: “Nun hören Sie es von meiner Schwester, die sehr kritisch ist und in ihren jüngeren Jahren selbst eine hervorragende Pianistin war.” Boris sah der Dame hilflos in die Augen, denn ihm fiel eine bessere Antwort nicht ein: “Vielen Dank! Das ist sehr freundlich von Ihnen.” Lydia Grosz: “Herr Baródin, ich würde Sie gerne zum Tee in meinem Haus einladen. Wäre es ihnen möglich, zwischen fünf und sechs bei mir zu sein? Dann können wir uns ein wenig unterhalten. Ich habe erfahren, dass Sie im Polnischen Hof sind. Ich wohne in der Pilsudski-Straße 17. Diese Straße führt direkt zu ihrem Hotel. Wenn Sie aus dem Hotel kommen, sind es etwas vierhundert Meter.” Boris hatte eigentlich vorgehabt, sich mit Vera zu treffen, wusste aber nicht, ob sie am Abend frei hatte: “Es wäre mir eine große Ehre, Sie in ihrem Hause besuchen zu dürfen.” Lydia Grosz: “Dann sehen wir uns zwischen fünf und sechs.”
Das Orchester versammelte sich auf der Bühne, um die Probe wieder aufzunehmen. Auf dem Programm stand Tschaikowsky’s Fünfte in e-Moll, Opus 64. Wiktor Kulczynski hatte sich aufs Podium begeben und blätterte in der Partitur. “Nehmen wir uns nun die Fünfte vor. Es ist ein großes Werk, das uns Polen ins Herz geschrieben wurde. Konzertmeister, ich darf um das ‘A’ bitten.” Der junge Konzertmeister mit den dunkelbraunen Augen und dem langen, zurückgekämmten schwarzen Haar strich den Bogen über der A-Saite rauf und runter. Er hatte zuvor den Saitenton mit dem ersten Fagott abgestimmt. Kulczynski: “Nun bitte alle das ‘A’. Bei den Celli ist das ‘A’ zu tief. Bitte noch einmal stimmen”, worauf der Konzertmeister noch einmal und so lange über die leere A-Saite strich, bis die Saiten aller Streichinstrumente gleichmäßig gestimmt waren. Kulczynski: “Danke. Nun wollen wir beginnen. Beachten Sie die Lautzeichen mit den Crescendi und Decrescendi. Die Befolgung dieser Zeichen ist von größter Wichtigkeit.” Er hob den Stab und senkte ihn. Die A-Klarinetten bliesen das Thema des ‘Andante’: B-C-B-A-B-G / D-Es-D-C-D-B / G-F-ES-D-C-B. Boris liebte die Fünfte von Tschaikowsky wegen der Stärke, mit der slawisches Fühlen zum Ausdruck kommt. Er hatte sich neben Frau Lydia Grosz gesetzt, der Schwester des Dirigenten, um sich den ersten Satz anzuhören. Schon in den ersten sechs Takten des Klarinettenvortrags trat der breite Wolgastrom vor sein geistiges Auge. Aus den gebundenen Sechzehnteln nach den punktierten Vierteln hörte er das Schluchzen der Menschen, so auch das Schluchzen seines Vaters Ilja Igorowitsch. Drückender war slawische Schwermut nicht zu bringen als mit dem Beginn des ‘Andante’ dieser Symphonie. Im Vergleich dazu drückte die Schwere im Beginn des Brahms’schen Klavierkonzertes weniger, auch wenn Boris da das Gefühl der Schwermut schon überkam.
In der Fünften von Tschaikowsky, da war es das Trauerlied, der Trauermarsch, die Melancholie von der größten Schwere. Diese Melancholie, die der Ausweglosigkeit den Ton gab, konnte die Häftlinge in den Arbeits- und Vernichtungslagern der Nazis oder Stalins (“Archipel GULAG”) befallen haben. Diese gequälten Menschen konnten den Trauermarsch gesummt haben, wenn sie abgerungen und ausgezehrt mit der frühesten Dämmerung zur Arbeit ausrückten oder mit der letzten Dämmerung zurückkehrten oder sich im Morgengrauen eines kalten Wintertages versammelten, zerrissen und gedemütigt bis in die Dürftigkeit der Kleidung und des Schuhwerks durch den tiefen Schnee stapften und über eisig gefrorene Wege schlurften, um unter scharfer Bewachung zum ausgehobenen Massengrab oder zur Erschießungsmauer geführt wurden. Das Thema des ‘Andante’ fuhr Boris durch Mark und Bein. Es erschütterte ihn. In der Vorstellung solch letzter Einsamkeit und Verlassenheit des Menschen überkam ihn das hilflose Zittern.
Ergriffen und erschüttert saß Boris neben Lydia Grosz, der alten, dunkel gekleideten Dame mit dem schneeweißen Haar und hörte sich den tragischen Satz bis zu Ende an. Die Melancholie hatte ihn aufgewühlt. Er nahm sich zusammen und hoffte, dass die Dame sein Zittern, das ihm durch die Glieder fuhr, nicht merkte. Nach diesem ergreifenden Tschaikowsky’schen ‘Andante’ legte das Orchester eine Pause ein. Wiktor Kulczynski gab Instruktionen, wie der Ausdruck des ‘Andante’ noch zu steigern war. Da merkte Boris, dass Dirigent und Orchester mit der russischen Musik bis ins Blut vertraut waren. Er dachte, dass eine Steigerung im Vortrag des ‘Andante’ mit dem noch Mehr an Melancholie nicht möglich sei, denn die Zuhörer sollten nicht überfordert werden und gleich zu Beginn in Weinkrämpfe ausbrechen.
Boris raffte sich zusammen und verabschiedete sich von Frau Grosz, die bei der Verabschiedung leise hinzufügte: “Wir sehen uns heute Nachmittag in der Pilsudski-Straße 17.” Er verließ den Saal, während Wiktor Kulczynski seine Instruktionen beendete und um Wiederholung des Satzanfangs bat. Beim Verlassen der Philharmonie atmete Boris einige Male tief durch, um sich mit der Welt draußen außerhalb der Musik wieder vertraut zu machen. Er ging zum nächsten Taxistand und ließ sich zum Hotel ‘Polnischer Hof’ zurückfahren. Er sah aus dem Fenster und spürte, wie das ‘Andante’ aus der Fünften in ihm nachklang, die Melancholie in ihm nachwirkte. Die Außenwelt mit ihren Autos, den Radfahrern und eilenden Passanten kam ihm fremd und leer vor. Das Amusische dieser Welt stieß ihn ab. Das Taxi hielt vor dem Hotel. Er stieg aus, zahlte, was zu zahlen war, und gab auch diesem Fahrer ein fürstliches Trinkgeld. Der dankte und reichte Boris seine Notentasche durchs offene Fenster nach: “Die sollten Sie nicht vergessen.” Boris dankte für die Aufmerksamkeit. So tief wirkte die Probe in ihm nach, dass er das Lächeln, das ihm Vera von der Rezeption zum Eingang schickte, als er durch die Tür trat, garnicht bemerkte.
“Wie war es?”, fragte sie, als er sich der Rezeption näherte. “Es hat geklappt”, antwortete Boris in knappen Worten. Von der Wirkung, die das ‘Andante’ aus Tschaikowsky’s Fünfter in ihm auslöste und noch stark in ihm arbeitete sowie von den Bildassoziationen der breiten, träg dahinfließenden Wolga, an deren Ufer sein Vater Ilja Igorowitsch stand und nach ihm rief, sagte er kein Wort. Vera entging das angespannte Gesicht des jungen, von ihr verehrten Pianisten nicht, dem sie im geheimen schon ihre Liebe gab. “Nun sollten Sie sich ausruhen und pünktlich am Mittagstisch sein. Als Spezialität gibt es heute Eisbein mit Sauerkraut und Dampfkartoffeln.” Verabehielt ihr freundliches Lächeln und bemühte sich, Boris zu entspannen. Da kein anderer Gast an der Rezeption stand und auch keiner auf die Rezeption zukam, sagte sie, dass sie sich für den Nachmittag freigenommen hatte: “Da können wir vielleicht einen Spaziergang durch die Stadt unternehmen und irgendwo eine Tasse Kaffee trinken.” Boris schaute sie mit großen Augen an, denn er kam nur langsam aus der Welt der Philharmonie in die Außenwelt zurück: “Das ist eine gute Idee, Fräulein Vera. Von wann ab haben Sie sich denn freigenommen? Ich frage deshalb, weil mich Frau Lydia Grosz, die Schwester des Dirigenten, zum Nachmittagstee zwischen fünf und sechs in ihr Haus in der Pilsudski-Straße eingeladen hat.” Vera: “Dann verkehren Sie bereits in der großen Gesellschaft, denn diese Dame ist durch ihre Leitartikel in verschiedenen Zeitungen und ihre Wohltätigkeit für Waisenkinder in Warschau bekannt. Um ihre Frage zu beantworten, ich habe mir ab zwei Uhr freigenommen.” Boris: “Dann haben wir doch noch einige Stunden Zeit für einen Stadtbummel, den ich gern mit ihnen unternehmen würde.” Vera: “Nur wenn es Sie nicht überfordert, Boris Baródin, denn Sie müssen sich für das Konzert schonen. Da will ich Sie nicht strapazieren.” Boris: “Das tun Sie ganz und gar nicht. Ein Rundgang durch die Stadt mit ihnen, daran hatte ich letzte Nacht schon gedacht.” Vera: “Gut, dann treffen wir uns halbdrei draußen vor dem Eingang. Nun vergessen Sie das Mittagessen nicht.”
Für Boris war die Fleischportion zu groß. Wenn er das knusprig gebackene Eisbein auch nur zur Hälfte geschafft hatte, er hat es mit Appetit gegessen. Das würzig zubereitete Sauerkraut schmeckte ihm besonders gut. Als Getränk hatte er sich ein Pilsener Urquell bestellt, das zum fettigen Essen passte. Als Nachtisch gab es Vanillepudding mit Preißelbeeren. Nach dem Essen zog er sich in sein Zimmer mit der Nummer 7 im ersten Stock zurück, um sich zu entspannen. Er schlug die Bettdecke zurück und legte sich aufs Bett. Schlafen konnte er nicht, dafür war auch die Zeit zu kurz, die ihm blieb, um sich mit Vera vor dem Hoteleingang zu treffen. Er war mit dem Ablauf des Vormittags zufrieden, war doch das Brahms-Konzert gut verlaufen. Zwei kleine Schnitzer waren zwar unbemerkt unterlaufen, doch er wusste sie und wollte sie bei der Generalprobe am Morgen der Konzertaufführung nicht mehr machen. Wieder ging das ‘Andante’ aus Tschaikowsky’s Fünfter ihm durch den Sinn, und mit dem ‘Andante’ trat nun auch das Gesicht der alten Dame Lydia Grosz neben den anderen Assoziationen vor sein geistiges Auge. Doch da passte Boris auf, dass das Gesicht dieser Dame nicht auch noch an das Wolgaufer kam, wo schon Ilja Igorowitsch in angegriffener Verfassung stand und nach ihm rief.