Читать книгу Tag und Nacht - Helmut Lauschke - Страница 3

Hinter jedem Schritt ist ein anderer Schatten

Оглавление

Erfahrungen und Erkenntnisse in Namibia

Wenn die Hähne krähen, ist der Traum vorüber.

Das höchste Gut ist der Wille zur Vernunft,

wenn vernünftiges Denken das Tun mit einschließt.

Baruch de Spinoza (1632-1677)

Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen.

Immanuel Kant (1724-1804)

In Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung (1784)

Gewissen ist das Bewusstsein eines inneren Gerichtshofes

im Menschen.

Immanuel Kant

Die Gegenwart schiebt einen Tag vor den andern. Aus jedem Morgen hebt sie sich der Tag wie ein junges Mädchen heraus und sinkt wie eine alte, gebrochene Frau in die Abenddämmerung zurück. Ein Kommen und Gehen, das sich vorwärts im stufenauf und ab in die Zukunft hinein schiebt. Es schiebt sich immer tiefer hinein, wobei sich Zukunft immer weiter entschält oder wie ein gekochtes Ei entpellt. Am Koppel hängen nicht nur die Geräte, sondern auch die Gefühle und Gedanken von gestern. Deshalb Vorsicht beim Abkoppeln der Vergangenheit. Auch dann, wenn man meint, dass es ohne Gegenwart keine Vergangenheit gibt. Das ist der Traum dann, wenn dem verängstigten Gemüt qualvoll die Dinge mit unverrückbarer Zerstörungsabsicht auf den Fersen folgen. Oft geht es nicht schnell genug. Gerade dann purzeln die unaufgeräumten Dinge und alles, was sich einfach nicht wegräumen oder vergessen lässt, in das Durcheinander von heute. Oft sind Tast- und Riechsinn irritiert, dass man nicht weiß, was man in den Händen hält und aus dem Wust hervorzieht oder was sich schlierig oder sonstwie gewunden dahinter noch versteckt. Die Augenschatten schwimmen hin und her. Sie verwischen die Aktionen des Koppelns und Abkoppelns nach hinten mit dem Hineinschieben nach vorn, wenn die hängenden Dinge am Koppel sich im Nebel dem erwachenden und übrigen Tagesbewusstsein entziehen.

Wenn die Sprache mit dem Tag neu erwacht, sich mit neuen Varianten durch den Tag windet und in nächtlicher Ermüdung schließlich erschlafft und einschläft, ist doch die erste große Sprachverschiebung nicht zu überhören, die an der Schwelle von der Kindheit zur Jugend stattfindet. Denn die Bezugsverbindung von Wort und Ding, dass Dinge so sind und heißen, wie sie genannt werden, findet an jener Schwelle die erste Veränderung durch das Hinzusetzen eines genauer beschreibenden Beiwortes oder durch ein ganz anderes Wort, das für das Kind unverständlich und unaussprechbar ist. Der Bezugskreis zwischen Ding und Wort, der für das Kind selbstverständlich, heil und geschlossen ist, bricht durch das Gesetz der revoltierenden Querstellung an der Jugenschwelle auf, wo er im bewussteren Erleben größerer Höhen und Weiten die Ursache der tieferen Gründlichkeit mit der ballernden Dickköpfigkeit und dem klopfenden Kopfschmerz wird. Mit der wachsenden Genauigkeit im Trachten und Betrachten sowie im Zugriff nach den Dingen machen sich aber auch die Lücken und die unerklärlichen Verstrebungen im Bewusstsein bemerkbar, was zu immer neuen Fragen führt. Der Kopfschmerz wird um so heftiger, je stärker sich der Dickkopf zwischen die Schultern setzt. Das trifft auf die Augenschatten zu, wenn dort Schatten ist, wo das Licht sein sollte, und dort das Licht ist, wo es nichts zu sehen gibt.

Wörter werden Liebeswörter, wenn sie zwischen Menschen gesprochen werden, die sich lieben und um die Gegenseitigkeit der Liebe sich bemühen, weil in der Liebe einer auf den andern angewiesen ist. Wörter werden Arbeitswörter, wenn Menschen etwas zusammen tun, die aufeinander angewiesen sind. Es war kein Abenteuer, als ich fünfzigjährig mit leeren Taschen auf dem andern Kontinent ankam, der auch der Kontinent der Armen oder der schwarze Kontinent genannt wird. Das Wort ‘Morgenteuer’ trifft zumindest ebenso zu, weil ich weder eine Arbeitserlaubnis noch das Geld hatte für die Scheibe Brot mit dünnstem Aufstrich und die Tasse Kaffee, die ich dringend brauchte. Es war ein Freund, ein musikalischer dazu, der mir das Ess- und Trinkbare sowie ein Bett in einem mit Kartons vollgestellten Kabinett anbot. Sein Kalmieren bestand im Wesentlichen aus dem Verständnis für die Schräglagen in der Lebensmitte eines Menschen, ob gewollt oder ungewollt. Seine ungewöhnlich herzliche Großzügigkeit mündete in die Tagesparole: Es ist alles nicht so schlimm.

Bis zum Eintreffen der auf ein Jahr befristeten und örtlich auf das Hospital begrenzten Arbeitserlaubnis und unter Nichtanerkennung des deutschen Facharztzertifikats vergingen Wochen trotz der Erinnerungen per Telefon durch den amtierenden Superintendenten, der dieser großzügige Mensch war, aus dem hohen Norden des damaligen Südwest-Afrika nach Pretoria in Südafrika, dem Stellwerk der weißen Apartheid. Das Hospital war umringt vom Krieg, der tief bis Angola hinauf reichte. In der Wartezeit, die mit den Gewichten der Ungewissheit und der existentiellen Unsicherheit und Angst beschwert war, gab es die täglichen Wettläufe und die nächtlichen Wettkämpfe zwischen den Worten und den Füßen. Weil die Hände leer waren und nicht mit den für die Patienten im Hospital dringendst gebotenen Handgriffen in Aktion treten konnten, blieb es dem Wissen mit dem Unwissen vorbehalten, sich mit der Verzögerung, seiner tieferen Bedeutung und den sich daraus ableitbaren Schikanen schon theoretisch zu befassen, die dann auch in der Praxis zu erwarten waren. Es ist der Schatten im Laufen, als wäre es ein Hund, der ständig nebenher läuft. Ungewissheit und existentielle Angst waren begründet. Sie waren die ausgezogenen Schatten, die den Daseinsbeginn auf dem neuen, dem unbekannten schwarzen oder armen Kontinent begleiteten. Die Schatten waren so gewaltig, dass sie ein Eigenleben entwickelten, dem das Dasein kümmerlich gegenüberstand.

Die Schatten hoben und senkten, schoben und drückten sich unheilvoll an den Seiten des Seins entlang. Sie zogen unter immer neuen Betrachtungswinkeln auf und ab. Es war die Dissonanz zwischen dem Wollen der Hände und dem Sollen im Kopf. Dass solch ein Wissen die Schräglage nicht beseitigt, sondern vertieft, ergibt sich beim Abzählen der Finger an einer Hand. Die Probleme mussten nicht erst im Kopf nebeneinander gestellt werden, sie waren als Schatten in den unterschiedlichen Stärken eine gefürchtete Realität, die in den Schattierungen großflächig und weit nach vorn vor den Füßen ausgezogen waren. Diese Realität hob sich gegen den glutroten Sonnenauf- und -untergang kontraststark ab, die den Existentialismus mit dem Unsinn und den perversen Schikanen in das Blau des Himmels brannte. Doch begründbar ist, dass man den Unsinn mit seinem Drum und Dran, was mit der bloßen Lächerlichkeit beginnt und sich bis zur Schwere der Unerträglichkeit hinzieht und verbreitert, nicht wie steckengebliebene Nägel aus zurückgelassenen Brettern herausziehen oder herausschlagen konnte.

In der Nacht wuchsen die Spannungen zwischen Wollen und Sollen ins Unerträgliche, dass erst die frühen Morgenstunden den ersehnten Schlaf brachten. Das, was sich im Traum stemmte:

Der Raum weitet sich.

Weggesprengte Wände mit dem Erdgeschmack der faden Bitternis,

den Steinen, je tiefer es geht.

In die Weitung brauchst du nicht fliegen, aber ruhig liegen musst du.

Ich weiß, dass auch du es tun wirst, nicht anders als die andern

mit angelegten Armen und ausgestreckten Beinen.

Beieinander liegen die Körper in Leinen verschnürt.

Und weiter, weiter dehnt sich der Raum

und noch viel weiter, dass es kein Ende nimmt.

Nicht anders trug der Kopf die Last durch die Nacht. Die gesunde Physiologie mit dem Rhythmus von Tag und Nacht war abhanden gekommen. So zog sich der Tag in die Länge, begrenzt von den feuerroten Auf- und Untergängen. Die Gefühle schaukelten und trieben hin und her. Ihnen drückte sich als weiterer Teil die kochende Hitze auf. Der Wecker war der knurrende Magen. Von Mücken zerstochen, weil das Gitternetz zerlöchert war, ging es aus dem Bett und unter die Brause, wo das Wasser noch sonnenheiß vom Vortag war.

Es gab das Betrachten abgemagerter Frauen und Kinder in schweigenden Menschentrauben auf dem Vorplatz vor der Rezeption sieben Uhr morgens, später dann im Wartesaal des

‘Outpatient Department’. Die Erkenntnis, dass allgemeiner Hunger die Menschen an der Leine hat, hatte seine Gültigkeit. Da kam die Vermutung auf, dass sich Menschen im elenden Zustand nicht im Reden verausgaben, weil sie die Kräfte zur Geduld brauchen, um die Stunden hindurch zu warten, bis sie vom Arzt gesehen werden. Die Blicke zum Himmel blieben so unbeantwortet wie die Blicke in die in beißenden Schweiß gehüllten, dünnbeinig und arm gekleidet stehenden, vor mageren Bäuchen und auf knorrigen Rücken kindertragenden und auf dem Boden sitzenden Menschen. Es war keine neun, als das Hemd auf der Haut klebt und der Mund trocken war. Heiß stand die Luft über Kopf und Kragen, und ein Kompass, um zu zeigen, wo es langgeht, war nicht zur Hand. Die Augäpfel waren gerötet vom Zuwenig an Schlaf und dem eingeriebenen Sand, von dem es außer den Steinen und zu jeder Zeit im Überfluss gab. Wo man hin und wie weit man sah, wo man ging, man trat auf Sand und Steine als den afrikanischen Wegerich, der gesäumt von sperrigen Langdornbüschen war.

Ich forderte das Dasein auf dem Sand über dem zerbröckelten Urgestein im verschwitzten Hemd mit den schwitznassen Füßen auf den Korksohlen der Birkenstocksandalen und den leeren Taschen und zwei Koffern mit dem unnützen Plunder heraus. Es war die ungewollte Herausforderung mit der Unsicherheit und Bodenlosigkeit durch das Fehlen von Grundwissen und Grunderfahrung. Da musste das kleine Daseins-Einmaleins ins Auge gehn, wie es zu bewerkstelligen ist, sich unter diesen Umständen am Leben zu halten. Das Grundgefühl war das Wegrutschen ins Leere, in das Bodenlose. Wie sollte ich da der Umgebung auf dem kargen, rissig trockenen Boden mit den schweißüberzogenen wartenden Trauben magerer Menschen näherkommen, oder gar auf Hautfühlung gehen? Oder andersrum: Gab ich der Umgebung und ihren Menschen die Chance, an mich heranzukommen? Die Absicht war, dass ich gekommen war, um mit den Händen die Chirurgie an den Menschen auszuführen. Und das in der Kriegszone mit den Granateinschlägen nicht nur in der Ferne, sondern bis an das Hospital heran, wo es wegen der Gefahr fürs eigene Leben nur wenige Ärzte gab. Das Hospital war überfüllt. Patienten lagen zwischen den Betten auf dem Boden. Kinder teilten sich zu zweit und zu dritt ein Kinderbett. Wie sollte man da die Beobachtungen halten unter den Umständen des aus der alten Normalität weggerutschten Lebens? Und wie sollte man sich selbst einbringen und sich als Arzt und Chirurg zur Verfügung stellen, wenn es vom Medical Council in Pretoria, dem Machtzentrum der übergestülpten Apartheid mit den strammgezogenen Leinen noch keine Arbeitserlaubnis gab?

Die innere Stille gab es nicht, die abgesehen von der notwendigen Schlafstille, die durch die nächtlichen Granateinschläge und die Antwortabschüsse aus den schweren Haubitzen gestört war. Jäh wurde der Schlaf zerrissen, und Angst und Schrecken wälzten sich durch die Betten. Es gab das Ringen ums innere Stillhalten, den Kampf um die innere Disziplin, sich still zu verhalten, ohne Koller und ohne Rückzugs-, Rückkehr- und ohne Fluchtgedanken. Tagsüber starren Armut, Hunger und bittere Erbärmlichkeit in die Augen, dass die Knie schwach werden und der Kopf vorzeitig ermüdet. Vieles an reißend-stechendem Gestrüpp und sonstig nutzlosem Beiwerk gehörte noch dazu, um die Situation gefühlsmäßig in den Griff zu bekommen. Im Denken des Fremden ist vieles unfassbar. Und weil sich die Dinge im Verstand verhaken, haken die Worte, bevor sich die Bildersprache verständlich machen kann. Die Worte reichen oft nicht, um die Bedeutung der Situation vor Ort verständlich zu machen mit ihren Fallen, Intrigen, den Engpässen und Dunkelheiten, um den Komplex der Dinge, wie sie vorlagen und in ihrer Nacktheit immer sichtbarer und in ihrer Dürftigkeit schließlich ruchbar wurden, zu verstehen. Die Wortgebrechlichkeit, ohne dass es gleich ein Wortbruch sein muss, wird noch bedeutsamer, wenn unterschiedliche Sprachen in den gleichen Raum gesprochen werden, dass einer den andern schließlich nicht mehr versteht. Es gibt Bereiche, die sich mit Worten trotz Einstreuung meist unnützer Fremdwörter nicht abdecken lassen. Die Deckungsungleichheit wird dort die Regel. Der sprachliche Gleichungsversuch bleibt dann auch vergleichsweise erfolglos. Die Sprachlosigkeit setzt ein, wenn die Dinge davoneilen und sich zuspitzen hinauf auf die Höhe der Entscheidung.

Die Wortverlorenheit ist der Fall, wenn freundliche und bedeutende Impulse kommen und gehen, ohne dass dazwischen gesprochen wird. Das viele Reden über Dinge, die zu tun sind, ist ein Hinweis dafür, dass es sich um die Verspätung handelt, wenn der Zug des Impulses längst davongefahren ist. Und wenn der Zug erst abgefahren ist, verlieren die Worte den Wirkstoff. Sie liegen neben den Gleisen herum, wo sie verschrumpeln, verweht, vom Wetter aufgelöst und vom Boden vertilgt werden. Das gilt für einen Großteil im Leben, weshalb vieles an ihm nicht stimmt. Auch ich hatte Wörter vertrocken, schrumpeln und wegfliegen lassen, ohne dass sich im Leben etwas geändert hatte. Das schließt die Sprachlosigkeiten ein, deren vorausgedachte Wortbündel irgendwo aus dem Fenster geworfen wurden, wo sie unbeachtet liegenblieben und mit den angehängten Hoffnungen und untergeschobenen Enttäuschungen vom Boden verschluckt oder unter den Schuhsohlen zertreten wurden. Da kann man mit Worten nur hinterherreden, was an Kraft, Absicht und Genauigkeit an das aus dem Fenster Geworfene und Verlorengegangene bei weitem nicht heranreicht.

Irrläufer kommen überall vor. Dagegen sind Fensterstürze in Afrika selten. Diese Stürze beziehen sich mehr auf die höheren Stockwerksfenster der nördlichen Halbkugel. Sie sind in Europa häufiger als in Afrika, wo die Hütten mit den Strohdächern bodenständig geblieben sind. Die Hütten sind türlos, dass sie mit eingezogenem Kopf und leicht gebückt zu betreten sind. Ein oder zwei kleine Öffnungen gibt es zum Hinaussehen. Glasfenster im Kleinformat sind selten. Wie es mit den Kralen sonst bestellt ist, das afrikanische Denken ist anders als das europäische, wenn es ‘schwarz’ im Sinne der alten afrikanischen Sitten und Gebräuche gedacht wird, wo die Anbindung – wenn überhaupt – am toten Gegenstand entgegen der europäischen Gewichtung nur sehr locker ist.

Die afrikanische Gewichtung der Dinge war schon bei der ersten Betrachtung des Bodens und seiner Menschen nicht von den Augen wegzuwischen. Angestrengt und geduldig standen sie in Warteschlangen und schweißumwölkten Trauben in ihrer Dürftigkeit, so die alten Menschen, die alt aussehenden jungen Menschen und die Mütter und Großmütter mit den mageren Kindern auf ihren Rücken oder den Babys auf den Armen oder vor den Brüsten. Die Warteschlangen bildeten sich kurz nach Sonnenaufgang vor der Rezeption und dann in der Wartehalle. Ihre Länge nahm mit den Stunden zu und hielt sich bis wenige Stunden vor Sonnenuntergang, wenn die Sperrstunde für die Menschen der schwarzen Haut begann, dass sie nicht mehr zu ihren Dörfern zurückkehren konnten. Sie legten Tücher, Pappen und Zeitungspapier auf dem Betonboden vor der Rezeption aus, um mit ihren Kindern und Babys und mit den gebrechlichen Alten dort zu übernachten. Die Betrachtung Afrikas und seiner Menschen aus der Perspektive des Kargen in der ganzen Erbärmlichkeit mit den extrem dünnen Armen und Beinen und den wuchtigen Wasserbäuchen bei Kindern mit den großen versinkenden Augen in ihren eingefallenen Gesichtern erschüttert sehr. Zur Beschreibung des Zustandes um den Menschen wirken die Worte eher oberflächlich und unglaubhaft, wenn sie aus einer Sprache kommen, die zu lange für belanglose Dinge oberhalb des Äquators beansprucht worden ist. Die Sicht mit der unverwischbaren Ein- und Durchsicht drückt den Denkstempel des Niedergangs durch die soziale Verformung mit der fortgeschrittenen Entartung und der völligen Hilflosigkeit bleibend ins Hirn, weil die Frage der Rückkehr in solche Gemeinschaftsstrukturen nicht zu beantworten ist, wo der Respekt vor dem Wert und der Würde des Menschen noch gilt.

Der erschrockene Blick in die Tristesse gehört zum Bild der mageren Menschen auf dem arid-kargen Boden. Da verfliegt rasch, und das gleich nach dem ersten Hinsehen, jeder Zweifel an die Nichtzugehörigkeit oder Nichtzusammengehörigkeit. Sofort wird einem klar, dass das Eine zum Andern gehört, dass das Eine das Andere bedingt, beziehungsweise nicht aus seinen Klauen lässt. Nicht im Traum ließ sich zwischen beiden eine Trennungslinie von oben nach unten oder von links nach rechts ziehen. Im Gegenteil: Dürre Gestalten tragen auf den Köpfen große Körbe mit Sand und Steinen, und das nicht nur im Traum, davon. Sie kommen mit Plastikkannen und verbeulten Eimern zurück, in denen sie das Wasser vom weitab gelegenen Brunnen herbeischaffen, das zum Trinken, Kochen und Waschen gebraucht wird. Da gibt es bezüglich der Augenschatten kaum einen Unterschied zwischen Traum und Wirklichkeit. Nur dass es im Traum vom Gewicht her weniger schwer ist. Jedenfalls gab es nichts, was sich von der Haut und vom Hirn leichter abheben ließ.

Mit dem Eintreffen der begrenzten Arbeitserlaubnis ging es ins Innere des Hospitals mit dem sandig-körnigen Reiben und Quietschen des ‘Räderwerks’ bei der Bewältigung der Tag- und Nachtarbeit. Getötet und verletzt wurden Erwachsene und Kinder in ihrer Unerfahrenheit vor den Gefahren der versteckten Minen. Es waren Kinder, die statt zur Schule zum Hüten der Ziegen geschickt wurden, wo die Vierbeiner das letzte Gras aus dem Boden rissen und die Büsche und erreichbaren Baumäste kahlfraßen. Dazu stellte ein Vierbeiner die Vorderfüße auf den Rücken des andern oder kletterte aufs Dach der Hütte oder auf die Ladefläche der Eselskarre.

Mit dem Zugang ins Hospitalinnere wuchs das Erstaunen vor dem alten, verrosteten, verbogenen und anderswie für den chirurgischen Gebrauch minderwertigen oder unbrauchbaren Gerät und den Instrumenten. Die Türen in den Krankensälen klemmten. Viele Türen hatten keine Schlösser, und bei einigen fehlten auch die Klinken. Die Fenster hatten Risse oder waren zerbrochen. Die Scheiben waren verschmiert. Nicht anders sah es in den Sälen aus. Die Betten aus alten Rohrgestellen hatten ausgedehnte Rostflecken. Sie waren mit braunen Decken dürftig überzogen. Aus den alten, fleckigen, angerissenen Schaumgummimatratzen kam ein penetranter Uringeruch. Im Duschraum waren die Wandfliesen verschmiert und viele gerissen oder herausgebrochen. Die Asbestdecke hatte Regenflecken, und die Wasserhähne über den Waschbecken klemmten und tropften. Das Tropfen an der Brause war nicht abzustellen. Die Toiletten stanken, und der Gestank wurde ekelhaft, wenn sich die Exkremente in der Schüsseln bei Verstopfung häuften. Die erste Betrachtung verschlug wie mit dem Hammer die Sprache. Der Zustand der Überfüllung und der Verwahrlosung von Gebäuden und Geräten war für die Augenschatten ungewohnt und beispiellos. Es traf zu, dass es Dinge im Verband mit Menschen gibt, für deren Ausmaße die richtigen Worte nur mühsam zu finden, geschweige auszusprechen sind. Das ist dann der Fall, wenn sie die Nägel auf die Köpfe im Kern der angereihten Ursachen treffen sollen.

Nichts erinnerte an Land und Leben der Herkunft, außer dass es auch dort Verletzte und kranke Menschen gibt, die behandelt, operiert und sonstwie ärztlich betreut werden. Die Gärten und Grünanlagen in der Umgebung sauberer und funktionstüchtiger Krankenhäuser, all das, was zur Stärkung des Lebens von draußen her beiträgt, musste in der Kargheit des afrikanischen Bodens abgeschrieben werden. So wie draußen, so entpuppte sich der Arbeitstag drinnen: heiß, steinig, mühsam, schwitzig, zehrend. Dazu der wenige und gestörte Schlaf, die Granateinschläge im Dorf und um das Hospital herum und die donnernden Abschüsse aus den schweren Haubitzen.

Eine Granate schlug in den Wasserturm am Dorfausgang ein, eine andere schlug den Wasserturmkopf hinter dem Hospital leck. Der Wasserturm am Dorfausgang wurde in den Schiefstand geschlagen, dass der ‘Wasserkopf’ verrutschte. Auf dem Hospitalgelände entstand ein riesiger knöchelhoher See vor den Wohnbaracken fürs Personal und den drei Ärztehäusern, dass Schwestern und Ärzte mit dem klappernden Kleintransporter geholt und nach dem Dienst zurückgebracht wurden. Die Reparatur nahm vier bis fünf Tage in Anspruch. In dieser Zeit war das Hospital ohne Wasser. Hinzu kamen die unvorhergesehenen Stromausfälle. Von den beiden Dieselgeneratoren für den Notstrom war einer defekt und für den andern, der es tat, fehlte der Dieselkraftstoff.

Gab es Heimweh? Ja, weil es Kinder gab. Nein, weil es die Wichttuerei mit einer Afghanenzucht und das Statusgetue mit der erhöhten Bequemlichkeit und dem überhöhten Geldverbrauch gab, was sich bei dem angehäuften Schuldenberg negativ auf das Leben der Familie und die Schulleistungen der Kinder auswirkte. Es kam zusammen, dass es im Kopf schwirrte und unter den Sandalen knirschte. Es war kein Wunder, dass der Gewichtsverlust einen rapiden Verlauf nahm, dass in Abständen von zwei bis drei Wochen der Gürtel enger geschnallt werden musste. Zu den vier originären Löchern kamen mit den Jahren vier weitere hinzu, die mit dem Pfriem in gleichen Abständen durch das Leder gestochen wurden.

Das ist eine Notiz aus dem ersten Jahr:

Du,

in schwimmenden Gedanken,

ob in Rückenlage,

ob im Schmetterling.

Weit greifen sie aus,

mager gewordene Arme schlagen das Rad

durchs Wasser,

durch die Luft.

Anderes ging, doch anderes kam,

das draußen wie auch drinnen.

Ziffern fielen von den Wänden,

andere steckten sie sich weg.

Als schmückten sie sich mit dem Gekämmten,

denn zu gewinnen gab es nichts.

Es war das Erlebnis der ersten Tage: Gegenständlich blieben die Menschen draußen vor dem Hospital wie drinnen im Wartesaal und in den Krankensälen die Wiederholung des Vortages, dann der Vortage. Die Schwarzhäutigkeit der Warteschlangen und der Trauben auf den Bänken in den scharfen Schweißwolken war arm und grau und geflickt gekleidet. Das Spindeldürre der Arme und Beine der kleinen, meist nackten Kinder stach den Schmerz in die Augen. Manche Kinder hatten Beine wie Stöcke und große Augen. Die Augen waren eingesunken, wenn Kinder ausgebuchtete Bäuche vor sich her trugen. Es musste erst verstanden werden, dass es die letzte Phase des Lebens mit den vielen Mängeln war. Diese Kinder waren zu schwach, um länger zu stehen. Sie saßen auf dem Boden zwischen den Erwachsenen, ihrerseits mit den Sorgenfalten in den Stirnen und den Hungerfalten um die Jochbögen. Es war das Warten auf die Befreiung, die oft noch am selben Tage eintrat. Dann lagen sie auf dem Rücken oder auf der Seite mit ihren kleinen, eingefallenen Gesichtern und den großen glanzlosen Augen, die zu schließen sie nicht mehr schafften.

Das europäische Auge braucht länger, um das schwarze Gesicht vom anderen schwarzen Gesicht zu unterscheiden. Nach Monaten beginnt es, dass sich der Mensch in diesem Winkel gegenständlich und physiognomonisch entfaltet. So wird das Unterscheiden ein Lernprozess ohne Ende, der durch das schwarz adaptierte tiefere Hin- und Hineinsehen in den Menschen die nötigen Erkenntnisse bringt. Sie erst machen das Leben und seine Umstände verständlich, wie sie einst von der weißen Apartheid durch die respektlose pigmentbedingte Wegnahme der Integrität und Menschenwürde den schwarzen Gesichtern aufgezwungen wurden.

Das Kräuselhaar entspringt der genetischen Wurzel ebenso wie der Melanozytenreichtum in der Haut und das Dunkelbraun der Regenbogenhaut. Doch gibt es Scheitelmitten, wo sich die ergrauten Haare sträuben, als würden die Gedanken darunter aus den Köpfen schießen. Leute mit Hüten, um was zu verstecken, wären fehl am Platz. Auch die Hälse waren dünn und faltig. So sahen schon die jüngeren Menschen alt aus. Selbst an Kindern waren die Merkmale des vorschnellen Alterns zu sehen. Die Wangen der Menschen waren eingefallen, und die Zeichen der Lebensverkürzung waren offensichtlich, dass es keine Frage war, dass den Menschen geholfen werden musste, und das so schnell wie möglich.

Selbst in der Muttersprache machen Worte große Augen, wenn sie den Verschrägungen und Verzwingungen gegenübergestellt werden, als sollten Worte herüber und nachgereicht werden über die Brücke der vertrauten Sprache. Beim genauen Hineinhören treffen die Worte jedoch nicht zu. Sie fallen, als seien die Brückenpfeiler schwach oder gesprengt worden, nach dem Herausdenken schon ins Wasser, bevor sie die Zunge ausgestoßen hat oder an der Zahnfestung steckengeblieben waren. Worte kann man sich sparen, wenn die Treffsicherheit von geringer Wahrscheinlichkeit ist. Man sollte Worte, weil sie verkehrt sein werden, ins Hirn zurückheben, selbst dann, wenn man sich in der Muttersprache zuhause zu fühlen glaubt. Was soll man denn sagen, wenn man sich in den Augen des andern bereits spiegelt und das nachgesetzte Wort auf dem Spiegel verschwimmt oder sich sonstwie verzerrt? Nichts soll man sagen, solange die Augenspiegelung in vollem Gange ist. So geht vieles über die Hutschnur bei Sachen, egal ob Haupt- oder Nebensache, die eigentlich noch darunter sind.

Auch wenn das Netz der Muttersprache einem vertraut ist, rutschen trotzdem Worte oder Wortteile durch die Maschen. So kann beim Auseinanderbrechen des Wortes ‘Abfall’ das Teil ‘Ab’ oder das Teil ‘fall’ durch das Silbenfilter rutschen. Das geschieht oft dann, wenn man es gar nicht will. Wie sich in der Musik Tonreihen von Akkorden unterscheiden, das Horizontale im Fugalen gegen das Vertikale im Zusammenklang absetzt, so geht es in der Sprache mit den Worten ‘liegenbleiben’ und ‘aufstehen’ oder ‘schwimmen’ und ‘hochklettern’. Wie im Leben allgemein, kommt es beim Sprechen auf die richtige Atmung an. Das Ankoppeln der Worte muss so ausgesprochen werden, als bewege sich alles im Fluss. Es ist das Kommen und Gehen, das doch fließend bleibt. Da fließt ein Wort dem anderen hinterher. Sie werden auf den Wellen der Sprache getragen und das bis weit weg. Das Sprachbett ist da, bevor die Worte fließen. Die Konturen sind vorgegeben, auch wenn sie unausgesprochen bleiben, als schwebe die Sprache bereits über den Dingen, verbindet sie miteinander und löst sie dann voneinander bis ins Silbige zurück. Auch ist denkbar, dass Sprache in den Dingen drinsteckt. Es ist oft schwer, das treffende Wort für die Situation des An- und Abkoppelns zu finden. Es muss gesucht, der Faden geschnürt und in der richtigen Höhe gefühlt und geführt werden, wenn das Wort aus der Ganzheit wie aus einem Fels oder dem Eisberg herausgebrochen beziehungsweise ‘losgeeist’ werden soll, um über die Brücke zu kommen, wobei es auf dem Gleis vom einen Brückenende zum andern ‘gefahren’ wird. Es ist die Mitteilung mit dem Mitgeteiltwerden (anteilig geteilt werden), dass es auf beiden Seiten das Leben gibt, das man in seiner Mitteilung herüberhören muss, um in der Antwort das Wort zurück zu sprechen.

Aus der Vielbödigkeit der Sprache trotz des Zurufs:

Sprache,

bleib mir nah,

ich möchte noch erzählen,

wie’s war, als ich in die Steppe ging.

Sprache,

auch du bist verwundet

nach dem, was geschehen ist.

Auch du bist wirklichkeitsverwundet.

Sprache,

führ mich zum Wort zurück

oder lass mich ein neues finden,

um aus der Antwortlosigkeit herauszukommen.

Sprache,

wenn du verstummst,

verglüht der Stein,

mit ihm der Mensch,

der fürchterlich erschrak,

als er hindurchging,

dir sein Vermächtnis anvertraute,

bevor er selbst die Sprache verlor.

Sprache,

sag, wie Reden gesprochen wurden

mit den tausend Finsternissen.

Sag an, was nach den Reden kam,

als Augen in Tränenmeeren ertranken und Kinderstimmen mit ihren Müttern verstummten. *1

In der Sprache steckt die Rache der Rechtfertigung und des Widerspruchs ebenso wie das Ach des Erstauntseins mit dem zweifelnden Aber. Es führt über den Nennweg des Gegenstands in der Sache, in dem das Verhalten drinsteckt zur Definition in der Relation von Ding und Idee in der Ganzheit und seiner Sinnhaftigkeit. Aus dem Problem der Wortfindung mit den hundert Prozent der Treffgenauigkeit ist ableitbar, dass das Maß der Dinge in der Vollständigkeit mit Worten nur begrenzt zu fassen ist. Der Großteil mit dem Nichtmessbaren liegt weiter in der Idee, als sei er in ihr zurückgeblieben. Deshalb gibt es noch Hoffnung, dass neue Entdeckungen an den Tag kommen und mit Hilfe der bisherigen Entdeckungen in den Raum des Nenn- und Messbaren befördert werden.

In der Sprache der Entdeckungen, der Literatur und der Kunst lauert aber auch der Teufel in Menschengestalt, um zu töten und das zu zerstören, was durch die Schöpfungen der Menschheit zugute kam. Oft sprechen Verräter und Mörder, das nicht nur in der Grammatik, dieselbe Sprache wie die Menschen der ehrlichen Arbeit, des Anstands und Respekts mit der spontanen Hilfsbereitschaft. Es gibt verstummte Gräben, Schneisen, Schächte, die nicht zu übersehen sind. Es ist eine Binsenwahrheit, dass sich die Sprache in sich selbst wegstürzt, wenn es mit dem Leben nicht mehr stimmt. Nicht anders ist es mit dem Begriff ‘Heimat’, der seine Flecken und Löcher dann bekommt, wenn die Sprache heimatlos und die eines Emigranten wird. Da werden Zusammenhänge mit Kürzeln und der Bildsprache zugedeckt, weil die Worte im Kopf und auf der Zunge, wie sie in der Kindheit und Jugend gesprochen wurden, nicht mehr gesagt werden können, ohne die abgerichteten Hunde der Diktatur an den Hals zu bekommen.

Wenn der Ernst, der tödliche, im bunten Gewand des Clowns daherkommt, der seine Späße zum Besten gibt, dann ist meist die Endphase erreicht. Die Sprache des zweiten Bodens kommt zum Tragen, wenn vom ‘Kartoffelputzer’ auf dem Diamantenfeld die Rede ist. Verbales Funkeln zündet keinen Blitz, und ein Blitz macht keinen Trompetendonner, der furchtbar dröhnen und rollen soll, damit der Sturzregen einsetzt, um das Ungeziefer zu ertränken, die Luft klar und den Weg frei zu machen für das, was für die Menschen nützlich ist. Wenn hier von den Menschen die Rede ist, dann sind es jene, die hilf- und wehrlos, die verletzt und krank sind. Es sind die Menschen mit den ‘leeren’ Händen, die verbraucht und schwach geworden sind, um aus der Tiefe des Elends und der Armut herauszukommen.

Der Schwarze musste sich von dem Gedanken befreien, dass es für ihn und seine Familie jemals ein Leben geben würde, in dem es die Sicherheit und Chancen des Aufstiegs und die Aussichten auf eine lebenswerte Zukunft für seine Kinder gab. An einen bescheidenen Wohlstand sollte er erst gar nicht denken, das sollte er sich gründlich aus dem Kopf schlagen. Er war nicht in diese Welt geboren, um so etwas erwarten zu können, weil das dem europäischen Denken nicht entsprach. Das schon nicht, als die europäischen Mächte 1884 in Berlin den Plan der Aufteilung und Kolonisierung Afrikas fassten.

Dass der Herrschaftsgeist, der mit der Zerstörung afrikanischer Traditionen einherging, sich tief in die Hirnwindungen der weißen Köpfe eingegraben hatte, konnte deshalb nicht verwundern. Dass die Herrschsucht die Köpfe aber bis zum Wahnsinn trieb und noch nach dem Ableben in den von Alzheimer geschrumpften Windungen neben anderweitigen Verkalkungen nachweisbar war, das ging dann doch zu weit. So war die Macht-Parabel des weißen Mannes vom Beginn bis zum Ende ein Musterbeispiel für den Kreis, wo Bildung und Einbildung als zwei Punkte auf dem Kreisumfang einander hinterherjagten, sich aber nie berührten und in der ersten Differentialgleichung zum Nichts verschwanden. In einer solchen Parabel muss die Sprache der Vernunft noch gesucht werden. So schüttelte ich am Ende eines Gespräches mit dem weißen, noch zivilen Superintendenten den Kopf und stellte ihm die Frage: “Was hilft es den Schwarzen, die sich auf eine Ewigkeit ohne Hoffnung einzustellen haben?”

Das Wissen vom Frieden war auch in Afrika vorangekommen. Global war das Wissen so immens, dass es sich in seiner Fülle kaum noch abfragen ließ. Die Friedenswissenschaften gab es in Büchern gedruckt, die sich in den Bibliotheken bis an die Decke stapelten, dass vom Frieden nichts mehr zu sehen war. Da erhärtete sich aus der Diskrepanz von Theorie und Praxis der Verdacht, dass die Friedensforscher Zwillingsbrüder der Politiker sind, da beide viel über den Frieden reden, aber solange die Erinnerung reicht, das Wort nicht halten, wenn es um die Wortumsetzung in die Praxis geht. Es wäre recht und teuer, diese Zwillingsbrüder für die Zerstörung von Mensch und Kultur haftbar zu machen, die sie mit ihrem Wortsalat angezettelt und auch angerichtet haben. Wie die Politiker sind die Friedensforscher so gut gekleidete Damen und Herren, dass man ihnen irgendwelche handwerklichen Geschicklichkeiten nicht unterstellen möchte, sei es mit dem Nagel in die Wand, dem Kleinhacken von Holz oder den gärtnerischen Tätigkeiten wie dem Umgraben mit dem Spaten.

Kollegen versicherten sich der Übelkeit, wenn sie die Luftredner beim Wort nahmen, weil sie wissen, wie schäbig Großmäuler sich zu Hause aufführen. Worte wie ‘Anstand’, ‘Arbeit’, ‘Wahrheit’ und ‘Würde’ wurden zwar von den Banausen in den Mund genommen, doch mehr, um darauf wie auf einem Kaugummi herumzukauen. Später spuckten sie das Kleingekaute aus, dass mit dem Ausgespuckten auch die Schalenstücke der großen Dinge auf dem Boden lagen.

Freunde äußerten beim Glas Rotwein, dass sie sich vorstellen können, dass die gut dotierten Stellen in den Laboratorien der Friedensforschung von diesen Typen besetzt werden, die menschlich gesehen dem feigen Pack und arbeitsscheuen Gesindel, als auch den Verrückten des Geltungswahnsinns angehören. Sie sind aufs Geld aus und lassen sich für das Leben im Luxus gut bezahlen. Sie bedienen sich frei auf dem Markt der Meinungen und handeln unter der Hand mit dem Markenzeichen der beschränkten Haftung. Ihnen schwebt die Namensvergrößerung vor, die in die Friedensforschung einzugehen hat. Dabei wissen sie sehr wohl, dass deshalb der Frieden auch nicht kommt. Friedensforscher und Friedensredner sind für Preise und Preisungen jeglicher Art empfänglich, dass die Frage, ob sie denn immun gegen Korruption sind, durchaus berechtigt ist. Ihnen schwebt dagegen weniger oder gar nicht vor, für den Frieden mit dem Spaten oder mit dem Minensucher in der Hand zu arbeiten und dem Frieden durch Mut, Einsatz und Fleiß zu dienen. So weit geht ihre Liebe und ihr Verständnis zum Frieden nicht.

Die Freunde blätterten in der Erinnerung und sahen die Gurus und Seher, die pharisäischen Schriftgelehrten und Künder des Friedens. Sie alle sind feige und falsch, weil sie das bessere Leben für sich im Auge haben und auch nehmen, das sie nicht vertauschen wollen. Sie hören die Gelehrten der Theologie und Philosophie und folgen den analytischen Galbelsuchern bei der Arbeit, wie sie die Speicher der Computer durchwühlen, putative Puzzles schmeißen, kodierte Detektoren und andere Filter über den Turm überschichteter “Windows” setzen und mit dem elektronischen Fummelzeug dazwischenfahren und herummengen. Sie machen Striche, Kreise und Spiralen auf dem Bildschirm, drehen nach links und kurven nach rechts, rasen runter und wieder rauf, dass die “Windows” nur so zucken. Sie kreisen ein und nennen es Ziel, als würde der Mensch als großer Friedensstifter im nächsten Moment mit der Festplatte in der Hand aus dem Turm steigen. Die Gabelsucher in den vollen Datenspeichern mit den eingebauten “burglar bars” geben sich da schon mehr Mühe, weil es ohne Mühe für sie nichts gibt. Nur bleibt ihnen der Zugang zum Frieden verwehrt. Der Frieden ist nicht auffindbar. Darin sind sich die Gelehrten einig, ob Künder oder Seher des Intuitiven, ob Forscher oder Redner mit der beschränkten Haftung in den Labor-Hochhäusern der organischen und anorganischen Friedensanalyse oder die noch rumfuhrwerkenden Gabelsucher mit der aufgesteckten Suchfilter-Elektronik.

Der Absicht folgt so der Zweifel, doch soll der Absicht das Gute nicht abgesprochen werden, dafür läuft die Geschichte mit dem ausbleibenden Frieden zu lange. Darin unterscheidet sich Oshakati mit dem heruntergekommenen Hospital nicht vom angestrahlten Luxus in Vancouver, Monte Carlo oder woanders an der Côte d’Azur. Dass hochkarätige Leute an die angolanische Grenze gereist kamen, hatte seine Gründe. Denn an dieser Grenze muss der Krieg mit der wahnsinnigen Verminung in der Hinterhältigkeit des Tötens gestoppt werden. Es sind die afrikanischen Stellvertreter der Supermächte in der globalen Ost-West-Eskalation, die Angola so gründlich zerstört haben. Die Waffen für die Megazerstörung werden mit Rohöl an den Osten und mit rohen Diamanten an den Westen bezahlt. Dabei werden der Bevölkerung unsägliche Opfer abverlangt.

Das konnten die Kundigen, die Künder und die Gelehrten aus den Fenstern des Busses auf der zweihundert Kilometer langen Fahrt von Oshivelo, der bewachten Zufahrt in die Kriegszone, sehen, als sie im Konvoi der gepanzerten Casspirsfuhren. Auf dieser Fahrt konnten sie die Not um den Frieden durch das Fenster betrachten, was sie auf der Fahrt nach Monte Carlo so nicht konnten. Im ‘International Guesthouse’ über den Frieden nachzudenken, war eine historische Chance für die Teilnehmer des Symposiums wie für die Menschen, die vom Straßenrand den Bus kommen, vor ihren Augen vorbeifahren und wieder wegfahren sahen. Das Symposium um den Frieden mit den seherisch Wissenden und den wissenschaftlich Suchenden war nach zwei Tagen zu Ende, ohne dass Seher und Gelehrte sich in puncto Frieden nähergekommen waren und die wartenden Menschen draußen ihre Hoffnungen aus den teuren Friedensbemühungen knüpfen konnten.

Die Zusammenfassung des Zusammengefassten lautete: “Wir wissen viel, vielleicht zu viel, doch was Frieden ist, das wissen wir nicht.”

Den Gesichtern waren die Anstrengungen um den Frieden ebenso anzusehen wie die Unsicherheit, den Frieden zu erreichen. Es gab kein Lächeln auf dem Gruppenfoto, das es auf dem ersten Foto gab. Auch gab es keinen Aufruf zum Frieden, weil keiner den Frieden kannte. Doch war den Teilnehmern bekannt, dass es Männer und Frauen gibt, die für den Frieden mit ihren Händen und Füßen arbeiten. Sie tragen und bauen, helfen Kranken, verbinden Verwundete, teilen Malariatabletten, Lebensmittel und Trinkwasser aus. Sie strengen sich an und laufen vor dem Risiko nicht weg. Es sind die Friedensarbeiter, die an die Menschen in Not und nicht an die Vergrößerung des eigenen Namens denken. Ihnen mit den “kleinen” Namen und den vielen Namenlosen, die sich durch Mut und Fleiß bei der Arbeit an den leidenden Menschen unter oft gefährlichen und anderswie widrigen Umständen auszeichnen, gelten Dank und der höchste Respekt. Dass es die Menschen dieser wunderbaren Mitmenschlichkeit gibt, ahnen konnte man es. Aber die Welt in ihrem platten Verständnis von Frieden versteht es nicht, begreift diese Menschen und den Wert ihrer opfervollen Arbeit nicht, und kann diese tätigen Friedensbringer daher nicht als Vorbilder in ihr tägliches Leben einbringen.

Tag und Nacht

Подняться наверх