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Die ersten Gespräche und Detonationen

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Das Dienstzimmer des Superintendenten war auffallend geräumig. In ihm war ein Sammelsurium unterschiedlicher Stühle, ein riesiger Schreibtisch, alte Regale und eine große Wandtafel im Rücken des leicht erhöhten, auf fünf Rollen fahrbaren, gepolsterten Schreibtischstuhls. Eine Klimaanlage mit kastagnettenartigen Klimpergeräuschen gab dem Raum eine angenehme Temperatur. Der Superintendent ließ sich mit dem Stöhnen der Erleichterung in den gepolsterten Stuhl mit der erhöhten Rückenlehne und den abgegriffenen Armlehnen hinter dem Schreibtisch einsinken. Der Polsterbezug an der Rückenlehne war gerissen, dass der vergilbte und durchlöcherte Schaumgummi hervortrat.

Ich setzte mich an der anderen Schreibtischseite dem Superintendenten gegenüber auf einen harten Stuhl. Der Superintendent schaute auf seine Armbanduhr, rief die Sekretärin und bestellte Tee mit Zucker und Milch. Es war die Wartezeit, als er fragte, ob ich einen ersten Eindruck vom Hospital bekommen hätte. Meine Blicke fuhren die Fensterfront ab, fixierten die schütter begrünten Äste eines alten Baumes mit einigen, ins Auge springenden dicken Aststümpfen. Der Baum stand zwischen dem Flachbau der Administration mit seinen Klimaanlagen und dem Patientenflachbau gegenüber ohne eine einzige Klimaanlage. “Der erste Eindruck sprengt alle meine bisherigen Erfahrungen. Eine solche Ansammlung von Patienten und Verletzten habe ich noch nicht gesehen.” Das sagte ich und zählte die Aststümpfe von unten nach oben. Dann nahm ich den Blick vom Baum weg und richtete ihn auf den Superintendenten.

Der Superintendent war ein Mittvierziger mit einem leicht geschwollenen Gesicht und tiefbraunen Augen unter dem dunklen Wildwuchs der Brauen. Seine Nase hatte den breiten Rücken mit dem Verdacht der beginnenden Knollenbildung über der Nasenspitze. Sein Mund führte dicke Lippen noch europäischer Ausmaße und gab beim Öffnen die Sicht auf zwei blendend weiße Zahnreihen frei. Das Schwarz seines buschigen Haarwuchses wurde an den Schläfen von ersten Grautönen des frühen Alterns durchzogen.

“Lieber Kollege”, sagte der Superintendent, “seitdem ich hier Superintendent bin, und das sind jetzt fünf Monate, haben sich die Dinge bereits gebessert. Zwei der vier Operationstische wurden überholt, einige alte Instrumente wurden durch neue ersetzt, und die Zahl der Ärzte wurde von elf auf vierzehn erhöht. Es ist richtig, dass diese Zahl für eine ordentliche Versorgung der Patienten noch immer zu klein ist. Doch bedenken Sie, dass hier Kriegsgebiet ist. Dafür ist diese Zahl doch schon beachtlich.”

Die Sekretärin, eine junge schwarze Frau, schön aufgrund ihrer stimmenden Proportionen, brachte das Tablett mit einer Kanne Tee, zwei Tassen, Zuckerschale und Milchkännchen. Beim Abstellen des Tabletts sagte sie mit wohlklingender Stimme, dass Dr. Erasmus, der Sekretär der zentralen Gesundheitsverwaltung angerufen und um Rückruf gebeten habe, und dass Dr. Hutman ihn sprechen wolle. “Die Unterredung kann jetzt nicht stattfinden”, sagte der Superintendent, “Sie sehen, dass ich mit dem Kollegen”, er verwies auf mich, “im Gespräch bin, der aus Deutschland kommt, um hier als Chirurg zu arbeiten.” Die Sekretärin gab mir ein herzliches Lächeln, denn am Hospital herrschte Ärztenot. “Sagen Sie Dr. Hutman, dass ich heute keine Zeit habe. Wir können morgen früh nach der Besprechung miteinander reden”, erklärte der Superintendent.

Mit einiger Mühe erhob er sich aus dem gepolsterten Stuhl und goss den Tee in die Tassen. “Nehmen Sie Zucker und Milch?” Ich bat um zwei Löffel Zucker und ohne Milch. Der Superintendent sagte, dass für die Arbeitserlaubnis, die erforderlich war, das Medical & Dental Council in Pretoria zuständig sei. Die Prozedur würde wahrscheinlich eine Woche in Anspruch nehmen. Er war optimistisch und merkte an, dass das Council bisher immer behilflich war. Des Weiteren bot er an, dass ich in seinem Haus wohnen könne, bis die Arbeitserlaubnis eintreffe und eine andere Unterbringung gefunden würde.

Es klopfte heftig gegen die Tür. Ohne das “Herein!” abzuwarten, trat ein mittelgroßer Mann in Uniform der südafrikanischen Streitmacht ein. Sein Haar über dem blassen Gesicht war rechts gescheitelt. Die Augen waren dunkelbraun und sprühten das Feuer des Angriffs. Der Superintendent stellte mir den knapp dreißigjährigen Arzt mit Namen vor. Dieser setzte sich in einen gepolsterten Stuhl und hielt die Zunge für eine geraume Zeit unter Kontrolle.

Dieser junge Arzt in Uniform musterte mich mit seinen dunklen, nervös hin und her fahrenden Augen mit einem nicht zu übersehenden Ausdruck der Feindseligkeit. Es machte ihm nichts aus, das erste Orientierungsgespräch, das der Superintendent mit mir führte, zu unterbrechen. Die Aufdringlichkeit überraschte, mit der der junge Arzt fragte, ob ich auf Urlaub sei oder beabsichtige, hier zu arbeiten. Er sagte, dass die Auswirkungen des Krieges nicht unterschätzt werden sollten, der in den letzten Monaten an Schärfe zugenommen habe, dass die Zahl der Verletzten stark gestiegen sei.

Der Arzt in Uniform bewies sein Talent im Sprechen, aber nicht im Zuhören. Das zeigte er, als er einen Zettel aus der Hemdstasche zog und mit einem Katalog von Beschwerden loslegte. Er nahm keine Rücksicht, dass die beiden anderen Kollegen miteinander sprechen wollten. Der Jungarzt beschwerte sich über die mangelnde Zusammenarbeit der Schwestern und Pfleger im chirurgischen Männersaal. Sie würden die Verbände nicht zu den vorgeschriebenen Zeiten wechseln, würden die Infusionen und Bluttransfusionen nicht pünktlich anhängen und die Injektionen nicht, wie vorgeschrieben, geben. Sie verweigerten schlichtweg ihre Kooperation.

Der Versuch, das Problem in friedlicher Weise zu besprechen, scheiterte daran, dass dieser Arzt den Superintendenten nicht aussprechen ließ. Bei dem langen Beschwerdemonolog mit dem Herausstellen seines persönlichen Einsatzes, in dem er sich nicht unterbrechen ließ, bekam ich den Eindruck, dass das Uniformtragen die Zurschaustellung der Macht der Besatzer, wenn auch an völlig falscher Stelle, war. Ich erinnerte mich an meine Kindheit zurück, als Uniformträger ihre Macht in oft arroganter Weise zur Schau stellten und sich wichtig nahmen, so dass es für die Erwachsenen entweder lächerlich oder gefährlich wurde.

Der Superintendent war Zivilist, und als solcher lag er mit dem ärztlichen Direktor, der es sich in der Uniform eines Colonels der südafrikanischen Streitkräfte auf seinem Sessel im geräumigen und angenehm klimatisierten Büro bequem machte, im Clinch. Die Sorgen dieses Direktor kreisten primär um den Status seines Gebisses und die zahnärztliche Behandlung, dass sich seine Tätigkeit auf die Herausgabe von Erlassen beschränkte, die am laufenden Meter kamen und von Woche zu Woche in Worten der Diskriminierung immer schärfer wurden.

Diskriminiert wurden Menschen der schwarzen Hautfarbe, die im Norden des Landes vor der angolanischen Grenze, wo der Krieg hauste, am meisten litten. Dagegen kämpfte der Superintendent mit den Argumenten des gebildeten Zivilisten für diese >Bantu<-Menschen gegen die bornierten und machtbewussten Uniformträger, die ihre Aufgabe in Beschwerden und der Fließbandanfertigung von Erlassen sahen.

Der zivile Superintendent war ein Mensch mit Herz, der seine Arbeit in der Hilfe für die Menschen verstand, dem das Herz schwer wurde, wenn es wegen der Behandlung von Patienten zu Zusammenstößen mit den Uniformträgern kam. Er setzte sich persönlich dafür ein, dass das Hospital für die Zivilbevölkerung offenstand, um den leidgeplagten Menschen die Hilfe zukommen zu lassen, die sie dringend brauchten. Für ihn als Arzt gab es wegen der Hautfarbe keinen Unterschied in der Behandlung. Als Patient verlangt jeder Mensch die gleiche Andacht und Verbindlichkeit vom Arzt.

Hutman, der Jungarzt in Uniform mit dem sorgfältig zusammengefalteten Barett unter der rechten Schulterklappe mit dem kleinen Leutnantsstern, ließ den Superintendenten nicht ausreden, der erst auf Englisch und dann in Afrikaans versuchte, auf die Beschwerdepunkte und ihre Ursachen einzugehen. Er musste energisch werden und bat den jungen Arzt, ihn ausreden zu lassen, ohne ihn ständig zu unterbrechen. Er sagte es dem Arzt in Uniform, dass er die Injektionen und Infusionen vor Operationsbeginn zu setzen habe. Er versuchte den jungen Kollegen zu überzeugen, dass eine gute Zusammenarbeit mit dem Pflegepersonal zu erreichen sei, wenn er als Arzt freundlich ist und mit Geduld und Verständnis auf die Probleme im Krankensaal eingehe. Das Problem fehlender Antibiotika und Infusionslösungen könne er als Superintendent auch nicht lösen, weil er und das Hospital auf die Zentralapotheke angewiesen seien, die über siebenhundert Kilometer entfernt ist.

Das wollte der junge eingebildete Arztpinsel in seiner geschniegelten Uniform nicht begreifen, und am wenigsten den Vorschlag, die intravenösen Spritzen an den Patienten selbst zu setzen und die Infusionen vor Operationsbeginn selbst anzulegen. Für das Mehr an Einsatz und Verständnis für die Saalprobleme hatte dieser blasierte Arzt kein offenes Ohr. Eine diesbezügliche Belehrung lehnte er nachdrücklich und unter allen Umständen ab, dass der Eindruck entstand, dass das Tragen der Leutnantsuniform der südafrikanischen Streitmacht mit dem Vorrecht verbunden ist, dem zivilen Superintendenten kategorisch zu widersprechen.

Das wollte sich Dr. Witthuhn nicht bieten lassen, denn von einer Kompromissbereitschaft gab es keine Spur. Dr. Hutman, dessen Jähzorn sich mit dem Blut im Gesicht staute, stand auf und machte sich durch die Bemerkung zum offiziellen Gegner, dass er sich beim Direktor beschweren werde, jenem Militäroberst, dessen zentrale Sorge sein persönliches Gebiss und die Zahnsanierung war. Der freche Arztkerl beschwerte sich, und die Beschwerde hatte Erfolg. Der neue Erlass ließ nicht lange auf sich warten, in dem geschrieben stand, dass das Pflegepersonal den Anweisungen des Arztes strikt zu folgen und wegen der permanenten Überlastung der Ärzte auch gewisse ärztliche Aufgaben in den Sälen auszuführen hätte. Gezeichnet war der Erlass von Dr. Eisenstein, Colonel and Director of Health & Welfare.

Mehr über die verzwickte Situation im Gesundheitswesen, das von Südafrika kontrolliert und verwaltet wurde, und über die regionale >Administration for Ovambos< sollte ich am ersten Abend im Hause von Dr. Witthuhn erfahren. Leon Witthuhn war Sohn eines deutschen Missionars und wurde in der Kap-Provinz geboren. Er war verheiratet und hatte drei Kinder, zwei Söhne und eine Tochter. Er sprach englisch, afrikaans und ein gutes Deutsch und lebte mit seiner Familie über ein Jahr in Deutschland, wo er als Arzt beim Luftwaffengeschwader >Richthofen< im Oldenburgischen tätig war.

“Kommen Sie, ich zeige Ihnen ihr Zimmer”, sagte er, und wir standen in einem engen, mit Kartons vollgestopften Raum, wo auf dem Bett Hemden, Hosen, Socken und andere Dinge neben Zeitschriften und beschriebenen und unbeschriebenen Blättern lagen. Die Luft in dem kleinen Raum war stickig, und die Mücken schwirrten herum. Das Fliegengitter am Fenster hatte Risse. Leon Witthuhn räumte mit wenigen Griffen die Sachen vom Bett und stapelte die vollen und halbvollen Kartons an der gegenüberliegenden Wand bis zur Decke. Ich suchte mich zurechtzufinden und nach einem Freiraum, wo ich mich drehen konnte.

Leon ging ins Wohnzimmer zurück. Vom Plattenteller erklang Mozarts Zauberflöte. Die erste Papageno-Arie begleitete er mit einer musikalischen Stimme. Er erzählte, dass er Mitglied des Windhoeker ‘Cantare audire’- Chores gewesen war zu einer Zeit, als der Chor bei dem internationalen Musikfestival 1976 in Dublin den dritten Preis ersungen hatte. Aufgrund seiner Musikalität hätte Leon ein Sänger sein können. Auch kannte er sich in der zeitgenössischen und besonders in der impressionistischen Malerei erstaunlich gut aus. Das zeigten die ausgesuchten, schief hängenden Fotokopien von Bildern an den Wänden des ihm von der Ovambo-Administration zur Verfügung gestellten Drei-Schlafzimmer-Hauses, einem Flachbau mit Asbestwänden, Asbestdecke und Wellblechdach.

Mit Beginn des Sonnenuntergangs legte Leon kleingehacktes Ast- und Wurzelholz in eine von Rost durchlöcherte Blechwanne. In genialer Unordnung lagen die Holzstücke neben- und übereinander verquert, als er das Feuer machte. Dabei imitierte er den Papageno und fragte gut gelaunt: “Ist das nicht herrlich?” Aus dem gekippten Oberlicht des Wohnraumes drang Mozarts Zauberflöte zum Braai-Platz mit dem Quietschen der Grammophonnadel über die ausgefahrenen Rillen der Platte. Feuerrot ging der Sonnenball über dem Horizont nieder und tauchte den Abendhimmel in ein helles Pastellrot.

“Das ist meine Medizin nach einem Tag Oshakati Hospital”, sagte Leon und lachte. Er ging zum blauen BMW der Mittelklasse, der ihm vonseiten der Administration zustand, öffnete den Kofferraum und schleppte Fleisch verschiedener Sorten und eine Rolle >Boerewors<, ein Zweikilonetz mit Kartoffeln, eine Plastiktüte mit vegetarischem Zubehör und eine Zwölferlage Bierdumpies der Marke >Guinness< heran.

Das Feuer in der durchlöcherten Wanne brannte lichterloh, als Leon die ersten Dumpies öffnete, den Willkommensgruß sagte und beim leicht gekreuzten Anstoß der Flaschen das >Prost!< aussprach. Er trank die Flasche in einem Zug fast leer. Als die Flammen das Züngeln einstellten, verteilte er die Glutstücke in der Wanne. Kleine Stücke fielen durch die Löcher und glühten am Boden, dass man mit den Füßen aufpassen musste. Leon legte ein altes Rost mit weit voneinander verlaufenden Längs- und Querstäben auf die Wanne und bestückte das Rost mit Schweinskoteletts, Rinderfiletstücke und zwei Kringeln >Boerewors<. Ein köstlicher Bratenduft stieg auf, dass das Wasser im Mund zusammenlief. Leon öffnete die nächsten Dumpies, und wir prosteten uns zu, als völlig unerwartet ein schweres Geschoss über Haus und Grill zischte und nicht weit weg detonierte. Ich hatte mich so erschrocken, dass mir die Flasche aus der Hand glitt und das auslaufende Bier die Hose bekleckerte. Sofort erinnerte ich mich an die Bombennächte über Köln und die lauten Schießereien der schweren Kanonen beim Anrücken der Roten Armee durch die Oberlausitz, dass der Boden brummte und vibrierte.

“Das kommt hier öfter vor und besonders dann, wenn der Brigadenwechsel stattfindet”, bemerkte Leon und öffnete eine neue Flasche >Guinness< und gab sie mir. Dickbereifte ‘Casspirs’ mit aufgesetzten MGs über den Fahrerhäusern und aufsitzenden Mannschaften rasten über die Straße und wirbelten riesige Sandwolken auf, die über Haus und Grillplatz zogen und dahinter niedergingen.

“Jetzt trinken wir erst einmal. Das ist alles nicht so schlimm. Prosit der Geselligkeit!” Das war Leons Abschlusskommentar zum Ereignis des Schreckens. Er leerte die Flasche und drehte mit der fettverschmiert-verrußten Zange die dampfenden Steaks und die ‘Boerewors’ auf dem Rost und legte einige Kartoffeln dazwischen. Das Bier löschte den Durst nach einem ungewöhnlich heißen Tag. Für mich war Leons Kommentar, dass es sich hier im Norden auch unter den zischenden Granaten leben lässt, mit dem Zweckoptimismus gekoppelt, wobei die Kopplung für jene Menschen in noch stärkerem Maße zutraf, denen es unter der Apartheid schon dreckig genug ging. Aus dem “guten Leben im Norden”, von dem er fast schwärmerisch gesprochen hatte, konnte ich meine ersten realistischen Vorstellungen ziehen, in welcher Lebenssituation Leon Witthuhn steckte.

Das Hospital in Oshakati im hohen Norden lag in Luftlinie etwa fünfunddreißig Kilometer vor der angolanischen Grenze. Der Name “Oshakati” aus der Bantusprache der Ovambos bedeutete >die Stadt der Mitte<. Im Laufe der Jahre sollte es sich zeigen, dass mit diesem Namen eine Schlüsselfunktion verbunden war. Zwar wurde der Schlüsselbart noch von der weißen Administration gedreht, die die meisten Türen für die Schwarzen verschlossen hielt, von denen die Mehrzahl ums Überleben kämpfte. Das Ringen um die Schlüsseldrehung zur Öffnung der Türen für die Schwarzen war von den Gesichtern abzulesen. So sollte Oshakati, das in der Kriegszone lag, eine zentrale Bedeutung zukommen, wenn es um das Oben-unten-Prinzip und seine Umkehrung nach Umsetzung der UN-Resolution 435 in der schwarzen Hierarchie des Herrschens gehen würde.

Doch noch galt das Prinzip der verschlossenen Tür für die Schwarzen. Die Weißen hatten die Macht, und sie hielten sie fest in den Händen. Sie bestimmten das Leben der Menschen, und jene mit der dunklen Haut hatten es deutlich schwerer. Es war die politische Realität, die mit dem Verständnis der Vernunft nicht zusammenpasste. Wer den Schlüssel hatte, der hatte die Macht. Das war die Realität, die mit guter Erziehung und herausragender Bildung nichts zu tun hatte und im Gegenteil, der Bildung mit dem menschlichen Antlitz sprachlos ins Gesicht schlug.

Die Morgenbesprechung von Montag bis Freitag um halb acht bestand zum großen Teil in der Wiederholung ungelöster und unlösbarer Probleme bei der Beschaffung des Allernötigsten. In der Situation der Machtlosigkeit, der erbärmlichen Hospitalausstattung und der quälenden Unterbesetzung mit Ärzten lag das Wissen der totalen Abhängigkeit von der zentralen Administration. Die Administration wurde von Menschen geführt, die ihre Positionen unverantwortlich missbrauchten in der gefälligen Hörigkeit in Richtung Pretoria, der Zentrale der burischen Macht. Diese Schreibtischmenschen hielten mit wenigen Ausnahmen ihre Augen vor den dringendsten Notwendigkeiten für die Menschen im Norden verschlossen.

Es war an einem Mittwochmorgen in der ersten Januarwoche, als der zivile Superintendent Leon Witthuhn mich den Ärzten vorstellte. Die drei schwarzen Kollegen, zwei Damen und ein Herr, signalisierten mit einem Lächeln ihre Zustimmung. Dagegen verzogen die Ärzte in den Uniformen mit den zusammengefalteten Baretten unter den rechten Epauletten keine Miene. Ihre Gesichter bekamen die Züge der Nachdenklichkeit und Neugierde. Als der Superintendent sagte, dass ich als Spezialist der Chirurgie kam und die Verantwortung für die chirurgischen Säle übernehmen solle, wechselten die Züge auf den Gesichtern der jungen Militärärzte in Abneigung und Abwehr. Die Gesichter drückten aus, dass es ihrem weiß-afrikanischen Verständnis widersprach, sich einen Nichtafrikaner vorsetzen zu lassen. Sie sahen sich ihres Status beraubt, den sie der schwarzen Bevölkerung gegenüber zu halten glaubten in der Wahrung des burischen Selbstverständnisses im südlichen Afrika bis hinab zum Kap der guten Hoffnung.

Dem dunkelhaarigen Hutman lief das Gesicht rot an. Seine finsteren Blicken sprühten die Flammen des Hasses. Es war unverkennbar, dass er einen deutschen Kollegen neben und über sich nicht dulden und deshalb die Erklärung des Superintendenten nicht akzeptieren würde. Es schoss diesem Leutnantarzt aus dem Mund: “Haben Sie denn schon die Arbeitserlaubnis aus Pretoria? Werden Sie hier als Spezialist überhaupt anerkannt?” Diese und andere Fragen richtete er an mich und gegen den Superintendent, als die Wutröte der Zornesblässe wich. Die anderen Kollegen mussten es begriffen haben, dass hinter den Fragen die abgrundtiefe Feindschaft steckte. So schwiegen sie aus Gründen des Anstands. Einige Gesichter brachten sogar Züge des Mitleids zum Ausdruck.

Der Superintendent atmete hörbar und erwiderte, dass der Antrag auf Arbeitsbewilligung in Pretoria sei und er mit einer positiven Entscheidung innerhalb einer Woche rechne. Der junge Leutnant gab nicht auf. Schließlich platzte dem Superintendenten der Kragen: “Zähmen Sie ihre Zunge, schließlich sind Sie noch in der Ausbildung, während der deutsche Kollege als ausgewachsener Chirurg mit reichen Erfahrungen nach Oshakati gekommen ist.” Dr. Hutman schlug das rechte Bein über das linke und schwieg mit dem blassen Gesicht des kochenden Zornes. Seine dunklen Augen schworen mir die bittere Feindschaft.

Ich begriff, dass die Arbeit im Hospital schwierig werden würde, unterschätzte aber die Probleme mit der Intrige in der Annahme, dass die Not der Menschen, wo der Krieg derart eskalierte und die Zahl der Verletzten in erschreckendem Maße zunahm, Ärzte dringend gebraucht würden. Leon Witthuhn, der zivile Superintendent, saß mit seiner Entscheidung auf einem Stuhl, an dessen Beinen bereits gesägt wurde. Die Jungärzte in Uniform der südafrikanischen Steitmacht verschafften sich Gehör beim uniformierten Colonel und ärztlichen Direktor, als auch beim Regimentskommandeur, um ihre ablehnende Haltung gegenüber dem deutschen Arzt zu bekräftigen.

Es fanden Telefonate mit dem Superintendenten statt, die als ernste Warnung zu verstehen waren. Doch ließ sich Leon Witthuhn weder vom Direktor, noch vom Kommandeur oder vom Sekretär der >Administration for Ovambos< von seiner Entscheidung abbringen. Das Hospital sollte für die Bevölkerung offengehalten und die Arbeit durch einen Chirurgen effektiver werden. Die Gestaltung sollte freundlicher für die Patienten werden, was allerdings nur mit Zivilärzten zu schaffen war.

Dass Leon Witthuhn als Arzt auch ein Patriot war, weil er sich in der kritischen Zeit, wo das Leben und so vieles mehr auf dem Spiele stand, für die Menschen in Not eingesetzt und um den Erhalt des Hospitals und seine Verbesserung mit Argumenten der Menschlichkeit gekämpft hatte, ist ihm nie gedankt worden. Im Gegenteil: Seine Achtung vor und seine Hilfsbereitschaft für die leidenden Menschen hatten längst die schwarz-weiße Barriere der Apartheid überwunden. Das sollte ihm noch in der letzten Phase der weißen Ära binnen Jahresfrist die Stellung als Superintendent kosten.

Im Zwielicht der Gleichheit

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