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LOB DES ZORNS

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Volks-Zorn, Wähler-Zorn, Götter-Zorn – der Zorn erscheint in vielerlei Gestalt. Wann aber ist der Zorn ein gerechter? Wann nur Attitüde und Pose? Höchste Zeit, den guten Ruf des Zorns zu verteidigen – gegen selbsternannte Heimatschützer und irrlichternde Verschwörungs-Erzähler.

Der Zorn hat keinen guten Ruf. Wenn bis vor kurzem davon die Rede war, erweckte das Wort in uns allenfalls antiquierte Assoziationen wie den »Zorn Gottes« oder wir haben das Wort im Sinn von Jähzorn gebraucht, einer Unbeherrschtheit, die wir allenfalls widerspenstigen Kindern zubilligen. Mitunter haben wir es in Zusammenhang mit wütenden, altersgereiften Wutbürgern oder empörten, jungen Querköpfen gebraucht, die gegen den Abriss von Bahnhöfen, bedrohliche »Überfremdung« oder die »Merkel-Diktatur« demonstrieren. Zu beobachten ist: wo es zu individuellen und kollektiven Zornesausbrüchen kommt, treten häufig Begriffe wie Wut und Empörung an die Stelle des Zorns. Wut und Empörung – so etwas wie die mutlosen Schwestern des Zorns?

Der Gebrauch des Wortes Zorn bleibt häufig unscharf. Da hilft vielleicht, die Sache selbst etwas schärfer zu fassen. Zorn ist zunächst ein Stellvertreter für ein weites Feld von Emotionen. Wie kann man aber dieses Feld einteilen? Wie verhalten sich zum Beispiel Wut, Hass und Zorn zueinander? Sind es Synonyme oder bezeichnen sie klar definierbare Unterschiede im Gefühl? Stehen Ärger, Empörung, Wut und Zorn vielleicht in einem Steigerungsverhältnis zueinander?

Was ist mit all den zivilgesellschaftlichen Initiativen, den Protesten für Nachtflugverbot und gegen Autobahntrassen, für mehr Bienenschutz und gegen Massentierhaltung, all diesen landesweiten Protest-Ritualen, die, nicht selten begleitet von düsterer Untergangs-Rhetorik, die Bürger-Demokratie beschwören und lebendig halten? Was ist mit der jungen Fridays for Future-Bewegung, den Seenot-Rettungs-Akteuren, den Aktivisten von Amnesty International – und was mit den »Querdenkern« und den diversen Polit-Hooligans? Handelt es sich hierbei um »gemeinsame Zorn-Erfahrungen« oder sind sie allenfalls Ausdruck einer »schimpfenden Weltbetrachtung«, wie Nietzsche es nannte? Einigen wir uns darauf: Zorn ist ein komplexes und manchmal auch widersprüchliches Phänomen, das sich aus den unterschiedlichsten Quellen speist. Ob Volks-Zorn, Wähler-Zorn, Götter-Zorn – der Zorn kommt in vielerlei Gestalt. Wann aber ist der Zorn ein gerechter? Wann ist er blind und destruktiv? Wann nur Attitüde und Pose – wann Ausdruck einer Haltung?

Zorn ist allgegenwärtig. Er ist ein Bestandteil unserer Existenz. Solange er individuell daherkommt, mag er für die Nächsten eine Plage sein, aber er erschöpft sich im Privaten. Anders verhält es sich mit dem kollektiven Zorn: Seine Dynamik hat die Kraft der Rebellion, die nicht unbedingt auf Ausgleich und ein friedliches Ende aus ist. Jede Gesellschaft – die politische Herrschaft ohnehin – bemüht sich um die Zähmung des Volks-Zorns. Riskant wird es für die Mächtigen dort, wo das gemeinsame Erlebnis den Zorn aus dem Käfig der privaten Einsamkeit befreit, wo sich Protest und Parolen verdichten, wo Rufe lauter und Forderungen radikaler werden. Wo der Zorn des Einzelnen sich bündelt und zum Zorn der Menge anschwillt.

Zahllos sind die Anlässe, die Menschen in Rage versetzen, wütend und zornig machen. Betrachtet man das Gefühlsfeld der Unzufriedenheit auf seine Intensität hin, so reicht es von mildem Ärger über stark lodernde Wut bis hin zu einem Hass, der fest in die Individuen eingefressen ist. Fragt man nach seiner Zeitstruktur, kann Zorn ein punktueller Ausbruch unterdrückter Gefühle bleiben oder sich verstetigen und zur Charaktereigenschaft werden (»ein aggressiver Mensch…!«).

Wie aber entsteht der Zorn? Baut er sich langsam auf oder schlägt er ein wie ein Blitz aus heiterem Himmel? Wenn er sich langsam aufbaut, wie kann man diesen Prozess beschreiben? Geht dem eigentlichen Zorn zum Beispiel eine milde Form der Verärgerung voraus? Ist Hass Kennzeichen des langanhaltenden Zorns, wie Thomas von Aquin behauptete? Ist Zorn die Leidenschaft und Wut der Affekt, also das eine das langsam Anschwellende, das andere der plötzliche Ausbruch? Und wäre dann nicht Hass im Gefolge des Ressentiments das moralisch Negative, während der Zorn mit der Empörung verschwistert ist und damit ein moralisch positives Gefühl?

Schon das Verhältnis zwischen Empörung und Zorn ist eindeutig schwer zu bestimmen. Beide Gefühle sind eng benachbart und können ineinandergreifen. Christoph Demmerling und Hilge Landweer, die sich in ihrem Buch »Philosophie der Gefühle« mit dem Zorn und anderen Aggressionsaffekten beschäftigt haben, nennen einige hilfreiche Kriterien zur Differenzierung: »Das Gefühl des Zorns muss ein personales Objekt besitzen, es muss jemanden geben, dem gezürnt wird. Sodann sind es im Fall des Zorns häufig der Zürnende selbst oder zumindest ihm Nahestehende, die durch das Unrecht geschädigt wurden, um derentwillen Zorn empfunden wird. Beide Bedingungen gelten für Empörung nicht unbedingt.« Während also Empörung noch vage sein kann in der Zuschreibung von Verantwortung und kausaler Zuständigkeit, übertroffen nur noch von einer diffusen »Betroffenheit«, muss im Zorn – so die Autoren – der Gegner bereits identifiziert sein. »Gezürnt werden kann nur jemandem.«

Was aber die Empörung auslöst, die Wut aufkommen lässt und den Zorn mobilisiert, das wiederum scheint auch mit unseren jeweilig gesellschaftlich grundierten Erfahrungen von Moral verbunden zu sein. Und die Moral, das wissen wir, ist eine prekäre Angelegenheit. Sicher: jeder Begriff von Norm setzt bereits eine Generalisierung voraus, aber für den Einzelnen können diese ganz unterschiedliche Autorität besitzen. Voraussetzung ist die subjektive Handlungsfreiheit, die Fähigkeit eines Menschen, zu erkennen, zu beurteilen, ob etwas seinen Moralvorstellungen zufolge richtig ist, und entsprechend zu handeln. Es ist die Fähigkeit, Nein zu sagen.

Die subjektiven Gefühle und Handlungsmaximen freilich sind kaum zu vereinheitlichen: wo der eine augenblicklich in Wut gerät, ein anderer sich öffentlich lauthals empört, konstituiert sich bei einem weiteren nichts als kühler Zorn. Wütend darf der Mensch sein, aber das Recht zum großen Zorn kommt – das haben wir bereits festgestellt – allenfalls den Göttern, niemals aber dem Menschen zu. Denn Wut, darauf weist auch Wolfgang Sofsky in seinem »Buch der Laster« hin, mag ungestüm, laut und maßlos sein, aber sie verpufft oder verraucht auch rasch. »Wut ist ein Ereignis, eine Eruption. Sie reißt mit großer Geste alles um, schlägt blind um sich, behilft sich notfalls auch mit Ersatzobjekten.« Wut ist wie ein heftiger innerer Überfall.

Anders der Zorn. Er hat einen langen Atem. »Die Zeit des Zorns beginnt mit einer Verärgerung, die sich nach und nach zu einer grundlegenden Missstimmung ausweitet. Die Kraft der Gedanken wird zum Werkzeug des Zorns. Er behält sein Ziel im Auge, verfolgt es bis zum bitteren Ende«, analysiert Sofsky scharfsinnig, Seine Betrachtungen bescheinigen dem Zorn eine zähe Destruktivität. »Im Gegensatz zur Wut, die sich selbst erschöpft, hat der Zorn einen definitiven Schlusspunkt. Er ist erreicht, wenn der Bösewicht bestraft, der Feind für immer geschlagen ist. Zorn erstrebt kein friedliches Ende und keinen gütlichen Ausgleich.« Man mag dem Autor hier gerne widersprechen, denn die Bewertung des Zorns hat historisch und kulturell stets variiert. In unserem Kulturkreis ist durchaus eine klare Zuordnung erkennbar: Hass gilt »fast immer als schlecht, Wut als unbeherrscht, Zorn dagegen kann ›gerecht‹ sein«. Im allgemeinen Werteempfinden wird dieser »gerechte Zorn« durchaus akzeptiert.

Klima-Katastrophe, Kriege, Flucht, Hunger – an Zorn-Anlässen besteht kein Mangel. Es findet sich eine neue Art von Volkszorn, von den politischen und wirtschaftlichen Eliten gerne als zerstörerische Energien junger Menschen missverstanden – oder denunziert. Wer den Protest-Bewegungen das Politische und das Soziale abspricht und auf eine tiefenpsychologische Grundkraft reduziert, der ignoriert freilich die produktive Potenz des Zorns – individuell und gesellschaftlich. Gilt das auch für die gegenwärtige Randale militanter Polit-Hooligans, die in Washington, Berlin, Stuttgart und anderen Städten als neuer Prototyp des Zornigen die politische Arena betreten? Ob Capitol-Erstürmung, Antifa-Radau, Pegida-Pöbelei oder Querdenker-Demos – »der Wutmensch ist der politische Phänotyp der Stunde«, konstatiert Manfred Schneider in der NZZ. Seine politische Chiffre reicht von links bis rechts, von esoterisch bis vollends verwirrt. Er benötigt nur eine positiv oder negativ besetzte Parole, um seiner Wut den notwendigen Impuls zu verleihen. Er braucht keine Haltung, keine Idee, nur ein »ungutes« Gefühl und schlechte Stimmung«. Nichts hat er gemein mit den mutigen Bürgern in Belarus, Hongkong, Myramar oder anderswo, die gegen Menschenrechtsverletzung, Wahlfälschung und Korruption, trotz Polizeiterror und drohender Verhaftung unter Einsatz ihres Lebens auf die Straße gehen. Die eigene »Protest-Legitimation« des Wutbürgers speist sich aus seiner Wirklichkeits-Verleugnung – potenziert in kollektiven Echo-Räumen, in denen er sich mit Gleichgesinnten dauererregt austauscht und seinen Wut-Akku auflädt.

Blicken wir nur ein paar Jahre zurück: ob Ost oder West, allerorten Pegida-Aufmärsche. Als letzte nationale Hoheitszeichen schwenkte die neue rechtslastige Bürger-Front schwarz-rot-goldene Fahnen und brüllte nationale und faschistoide Parolen: »Deutschland gehört uns!« und »Ausländer raus!«. Diese rückwärtsgewandten Wut-Bürger, nicht selten durchaus eher privilegiert als marginalisiert – staatlich ordentlich versorgt als Beamte und Rentner –, sie alle einte die Wut, »ihre« Kultur-und Traditionsgemeinschaft in Auflösung durch Flüchtlinge, Eliten und parlamentarische Volksverräter erleben zu müssen. Montag war Pegida-Tag. Ein Protest-Event zwischen Panik und Paranoia. Ging es hier »um die in der eigenen Heimat empfundene Heimatlosigkeit«, wie Jens Jessen in der Zeit konstatierte, um eskalierende Globalisierungsfurcht? Kurz, um Verlust- und Verliererängste?

Der britisch-indische Autor Pankaj Mishra versucht in seinem Buch »Das Zeitalter des Zorns« eine Erklärung dafür, wie diejenigen, die im Prozess der Globalisierung nicht zu den Gewinnern gehören, anfällig für Demagogen sind. Alle, die zurückgelassen werden und sich ausgegrenzt fühlen, reagierten immer auf die gleiche Weise: mit Hass auf erfundene Feinde, dem Heraufbeschwören von Untergangs-Szenarien und der Selbstermächtigung durch Gewalt. Das Fremde wird als Bedrohung erlebt. Daraus resultiert Angst, Wut – und mitunter auch langlebiger Zorn. Sind Wut und Zorn also doch Brüder im Geiste?

Schauen wir auf die Jetzt-Zeit: selbsternannte »Querdenker«, die sich den staatlichen Sicherheits-Anordnungen verweigern, die sich vom Staat getäuscht, reglementiert und verfolgt fühlen und zum Widerstand gegen die »Corona-Diktatur« aufrufen. Die kein Problem damit haben, neben rechtsradikalen Plakaten und antisemitischen Spruchbändern zu marschieren und sich nicht entblöden, sich als die wahren Erben, als »Kämpfer der Freiheit« auszugeben. Können auch sie eine »produktive Potenz des Zorns« für sich reklamieren? Oder handelt es sich hier eher um ein Trauerspiel kollektiver Wirklichkeitsverweigerung, um hippe Events des kollektiven Wahns?

Geschlossene Wahn-Systeme haben Konjunktur. Auf digitalen Plattformen wird geleugnet, gehetzt und polarisiert. Boris Groys, international angesehener Philosoph, der an der New York University lehrt, hat darauf hingewiesen, dass die zahllosen wahnhaften Verschwörungs-Erzählungen mit dem Aufstieg der weltweiten Informationssysteme zu tun haben. Viele Menschen misstrauten etablierten Medien, völlig unabhängig davon, wie seriös oder unseriös sie arbeiten. In Krisen-Zeiten würde dieses Misstrauen von einem Gefühl der Ohnmacht verstärkt. Für diese Ohnmacht suche man eine Erklärung – und hier bieten sich krude Verschwörungstheorien an. Groys wies auch darauf hin, dass in einer Konkurrenzgesellschaft auch Verschwörungstheorien in Wettbewerb um Aufmerksamkeit und Anhänger miteinander stehen. Gewissermaßen ein Wettbewerb des Grauens. Die »Wahrheit« von Corona-Leugnern erlaubt keine Abweichung, sie muss düster, apokalyptisch und schrecklich sein: schuldig sind der Staat, die »herrschenden« Politiker, die Pharma-Industrie, finstere Dämonen oder wahlweise Bill Gates. Für Groys Versuche, die komplizierte Wirklichkeit mit bizarren Mythen und Wahn-Erzählungen zu erklären.

Halten wir fest: Der Zorn kommt in vielfältiger Gestalt daher und ist beileibe nicht immer produktiv und zukunftsorientiert. Er kann Ausdruck sowohl einer kritisch-produktiven Geistes- und Emotionshaltung sein, die sich mit der Welt und ihren Zumutungen so nicht abfinden und befrieden will, aber auch Ausdruck einer Haltung, die oft den Nebenschauplatz, etwa einer verloren geglaubten Kultur, zum Hauptkampfplatz macht. Wut und Hass haben keine gesellschaftliche Verortung, sie sind politisch heimatlos. Aber sie sind immer fanatisch, egomanisch, destruktiv – und dumm. Auch der Zorn steht immer in Gefahr, nicht klug zu agieren. Es geht also darum, die produktiven Seiten des Zorns sichtbar zu machen und den Zorn vom Makel des Destruktiven zu befreien. Kurzum, es ist höchste Zeit, den guten Ruf des Zorns wieder herzustellen und zu verteidigen – gegen selbsternannte Heimatschützer und irrlichternde Verschwörungs-Erzähler.

Zorniger Geist verachtet Dummheit und Wahn. Er setzt nicht auf blinde Gewalt, nicht auf coole Randale, nicht auf eruptive Militanz – sondern andauernden Disput, auf konstante Auseinandersetzung. Zorn, heißt es bei de Tocqueville, »kann man nicht einsperren, teilen oder exportieren«. Zorn sucht den konstruktiven, oft auch zähen Diskurs. Deshalb ist er für unsere Demokratie so unerlässlich.

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