Читать книгу Drei Wanderer - Helmut Tack - Страница 8

Оглавление

Erste Geschichte – Der Alte und die Bäume

Wie gesagt, er hatte keine Lust mehr am Leben, hatte den Genuss daran verloren. Doch er durfte nicht sterben. Irgendetwas hinderte ihn daran, sich aus dem Leben zu schleichen.

Was wollte er noch im Sein, wenn es kein Dasein war. Und in einer dieser Phasen besuchte ich ihn.

Er saß in einem tiefen Sessel vor seinem Haus und schien sich zu wärmen. Es war ein fast lächerliches Bild, das er in dieser Pose bot.

Die Haare waren ungepflegt, die Haut von mangelnder Pflege gegilbt. Auf seinem Gesicht lag eine Anspannung, wie man sie nur bei Schwerstarbeitern kennt, nachdem sie ihr Tagewerk beendet hatten. Alles an ihm schien eine Mischung aus Spannung und Entspannung zu sein. Er wirkte verklärt und doch angestrengt. Wenn man sich still neben ihn setzte, hatte man den Eindruck, man könne seine rasenden Gedanken knistern hören.

Ohne ein Wort zu sagen, setzte ich mich dazu.

Er schien mein Kommen nicht bemerkt zu haben, schien von seinen Gedankengängen so weit entrückt zu sein, dass er die hiesige Welt nicht mehr wahrnahm.

Nach fast einer Stunde des Wartens hatte ich den Mut, ihn anzusprechen. Es konnte ja auch etwas Ungewöhnliches passiert sein. Er konnte krank geworden, am Verzweifeln sein und Hilfe brauchen. Aber wie sollte man einem Menschen helfen, wenn man nicht wusste, was ihn bedrückte.

«Na Alter, was ist los? Du bist so still», fragte ich.

Erst da sah er mich an.

In seinem Blick waren Fragen über Fragen. Alles an ihm schien nach Antworten zu suchen.

Wenn Ihr einmal einen Menschen so gesehen habt, werdet Ihr verstehen, was ich meine. Das vergisst man sein Leben lang nicht.

Der Alte schien völlig gebrochen.

Mit einem Zittern, das seinen ganzen Körper schüttelte, lehnte er sich an mich und begann zu weinen. Große, bittere Tränen rannen über seine Wangen und durchnässten meine Jacke. Ich hatte das Gefühl, als würden sie den Stoff verbrennen. Als ich die Nässe auf der Haut spürte, als seine Tränen selbst die letzte Stofffaser meiner Jacke durchdrungen hatten, erfasste mich tiefes Mitleid.

Dieser Alte zeugte vier Kinder. Sie mit seiner Hände Arbeit versorgt, sich, wie er sagte, für sie abgeschunden. Nun war er allein.

Seine Frau war schon seit einigen Jahren tot, und die Kinder hatten ein leichteres Auskommen gefunden. Einmal im Jahr, wenn überhaupt, kamen sie mit ihren Kindern, seinen Enkeln. Er kannte die kleinen Geister kaum. Sie nannten ihn immer Onkel.

Ich hatte damals eingewandt, «Deine Kinder müssen ihnen doch gesagt haben, wer Du bist.»

Der Alte hatte nur mit den Schultern gezuckt.

«Ach die, die haben andere Sorgen. Zum Beispiel, wie sie das neue Auto bezahlen.»

Die Bitterkeit seiner Worte war nicht zu überhören, obwohl er darüber lachte. Nun weinte er sich aus.

Zum ersten Mal, seit ich ihn kannte, erlebte ich ein solch offenes Gefühl bei ihm. Als er seine Tränen getrocknet hatte, sah er mich mit leerem Blick an.

«Mein Sohn, der Peter, Du weißt, wen ich meine. Mein Sohn ist tot!»

Ich erwartete Tränen, doch seine Augen blieben trocken. Er sah mich nur seltsam an.

Ich wollte ihm irgendetwas sagen. Wollte ihm sagen, wie leid es mir tut, ihm mein Mitgefühl ausdrücken. Es ging nicht. Die Worte blieben mir im Halse stecken, waren dort gleichsam angewachsen.

Dieser Mann hatte vieles erlebt, hatte selbst in seiner Verlassenheit immer darauf gehofft, den Hof an seinen einzigen Sohn weitergeben zu können. So wie er ihn von seinem Vater erhalten hatte. Nun trat eine neue Leere in sein langes Leben. Das ließ mich schweigen.

Was konnte diesen Mann noch trösten? Wohl bloß die eigene Erlösung. Doch was war für ihn Erlösung? Wie sollte seine Seele geheilt, wie Sorgen und Verzweiflung von ihm genommen werden? Ich war hilflos und konnte ihm nur über die Schulter streichen.

«Das ist so schade», war alles, was ich noch sagen konnte, «Das ist so schade.»

Er nickte stumm.

Wir saßen den ganzen Nachmittag vor dem Haus. Keiner sagte dem anderen etwas Belangloses. Nur sitzen und denken, denken und erinnern, erinnern und in sich hineinreden, war alles, was wir konnten.

Worte der Trauer zogen ihre Bahnen in meinem Hirn und ließen keinen Platz für andere.

Unter anderen Umständen hätte ich sie ausgesprochen, in der selbsttrügerischen Hoffnung, etwas Kluges zu sagen. Doch hier, in der allgegenwärtigen Beklommenheit, wagte ich es nicht. Alles was tiefgründig erschien, verlor an Gewicht. Erfahrungen wurden unsinnig. Jedes Wort verlor an Kraft, ehe es gedacht war.

Es dunkelte früh an diesem Tag. Und der Alte kommentierte das mit den Worten: Gott verhängt seine Fenster vor meinem Leid.

Die Zweifel des Alten, die Bitternis seiner Tage schwangen in diesen Worten mit. Wir gingen zu Bett.

Ich konnte lange nicht einschlafen. Dachte darüber nach ob ich, der ungebunden jeden Tag durch das Land zog, tatsächlich freier war als der Alte. Trieb mich nicht nur die Angst davor, dieses Elend zu erleiden? Oft hatte ich mich nach einem Heim, einer Familie gesehnt. Hatte mein Dasein als Wanderer verflucht. Doch in dieser Nacht bestätigte sich meine Lebensphilosophie.

Zugegebenermaßen war ich in meiner Freiheit gewissen Zwängen unterworfen, lief aber wenigstens nicht Gefahr, wie der Alte eines Tages zu zerbrechen.

Der Alte schlief schlecht. Stundenlang hörte ich sein Bett knarren, hörte sein Stöhnen und seine Rufe nach dem Sohn. Jeder schnitt mir ein Stück aus der Seele. Gegen Morgen schlief er endlich ein.

Die Last des Tages hatte ihn eingeholt und gab ihm den notwendigen Schlaf. Als wäre sein Schnarchen für mich das erlösende Signal, schlief ich auch ein.

Am Morgen erwachte ich kurz und vernahm aus der kleinen Küche geschäftiges Treiben.

Er war schon aufgestanden, hatte seinen Rhythmus wiedergefunden. Mit diesem Gedanken schlief ich erneut ein.

Als ich dann gegen Mittag erwachte, hörte ich nichts mehr. Über dem Haus des Alten lag eine Stille, als hätte man ein Tuch darüber geworfen. Beunruhigt stand ich auf.

Der Alte war weg. Überall im Haus, auf dem Anwesen suchte ich ihn und fand nur eingedrückte Blecheimer mit Korn und Federvieh. Er war verschwunden, ohne einen Hinweis auf seinen Aufenthalt zu hinterlassen.

In dieser Situation konnte ich nicht weiterziehen. Es vergingen zwei Abende und zwei Morgen, der Alte blieb aus.

Das machte mich unruhig. War er so verzweifelt, dass man mit allem rechnen musste? Einen Tag wollte ich noch warten. Einen Tag mir einreden, dass ich das alles nur träumte.

Am vierten Tag, als ich die Hoffnung auf seine Rückkehr schon fast aufgegeben hatte, erwachte ich in meinem Bett und hörte die bekannten Geräusche aus der Küche.

Ohne mich lange zu besinnen, stand ich auf und ging zu dem Alten.

Mein erster Gedanke war, seine Abwesenheit war eine Fantasie. Doch ein Blick auf den Kalender belehrte mich eines Besseren.

Er wirkte im Gegensatz zu dem Tag seines Verschwindens völlig entspannt. Mit Ruhe und Bedacht verrichtete er jeden Handgriff. Sein Gesicht wirkte fast schön. In den Jahren unserer Freundschaft hatte ich ihn nie so erlebt.

Er bereitete das Frühstück, als hätte er das schon immer für uns getan. Deckte den Tisch. Er wies mit seiner knochigen Hand auf einen Stuhl und forderte mich zum Platznehmen auf.

«Setz Dich, mein Junge, und lass uns essen», war alles, was er sagte.

Ich setzte mich, obwohl mir die Anrede seltsam vorkam.

In seiner Stimme schwang keine Bitterkeit mehr. Da waren nur Wärme und Hoffnung, wie sie ein winterliches Kaminfeuer verbreiten kann.

Wir aßen, und ich bemerkte bei ihm einen ungewohnten Appetit.

‹Was ist mit ihm los?›, dachte ich bei mir. Warum auf einmal dieser Sinneswandel? Hatte ich alles doch nur geträumt? Auch die Nachricht vom Tod seines Sohnes? Er ließ mir meine Zweifel, vielleicht bemerkte er sie nicht einmal.

Als die Sonne sich anschickte, ihren höchsten Punkt zu erreichen, schien ihm der Moment gekommen, mich in sein Geheimnis einzuweihen.

Hannibal machte wieder eine Pause. Er stopfte sich eine neue Pfeife, wobei er zuvor die Wurzel gründlich reinigte. Mit tiefen Zügen inhalierte er den ersten Rauch. Mit jedem Zug wurde sein Gesicht verklärter, als gewinne er Abstand zu der Geschichte, als verarbeite er die Geschehnisse. Sogar die Falten auf seiner Stirn glätteten sich.

Der Rauch verteilte sich über die Runde der Zuhörer und hielt sie wie eine wärmende Decke zusammen.

Hannibal rührte mit einem Strohhalm im Glas herum. Als würde er im entstehenden Strudel seine Worte wiederfinden, begann er aufs Neue.

Wir saßen vor dem Haus, und die Sonne schien die Gedanken des Alten aufzutauen.

«Du wirst Dich gefragt haben, wo ich in den letzten Tagen war. Vielleicht hast Du Angst um mich gehabt, Dich vielleicht sogar nach mir gesehnt. Ich weiß es nicht. Aber ich war nicht allein. Ich war, Du wirst über mich lachen oder mich für verrückt erklären. Ich war bei GOTT.»

Er beobachtete meine Reaktion mit einem Seitenblick. Und ich muss zugeben, dass bei mir Sorgen um seinen Geisteszustand aufkamen.

«Wie? Du warst bei Gott.»

Der Alte setzte ein wissendes Lächeln auf. Wisst ihr, so wie Lehrer es haben, wenn sie eine Frage stellen und die richtige Antwort kennen.

«Du verstehst mich vielleicht nicht richtig. Ich habe es Dir auch nicht richtig gesagt.» Er fuchtelte mit den faltigen Händen.

«Ähm, nicht ich war bei Gott, sondern ER war bei mir.» Ein Lächeln zog seinen Mund glatt.

«Nicht wieder was Falsches denken. Ich hab‘ ihn nicht gesehen, nicht gehört, wie ich Dich höre und sehe. Doch ER hat zu mir gesprochen.»

Das wollte ich wissen. Was hatte der Alte erlebt, was war ihm widerfahren? Also fragte ich ihn frei heraus.

Der Alte nahm meine Hand in die seinen und machte ein geheimnisvolles Gesicht.

«Als Du neulich gekommen bist und ich Dir von meinem neuerlichen Unglück erzählt habe, konnte ich die ganze Nacht nicht so richtig schlafen. Immer wieder habe ich versucht herauszufinden, weshalb ich so geprüft werde.» Er wies mit dem Finger in den leeren Raum.

«Meine Kinder haben sich von mir zurückgezogen. Meine Frau ist schon lange tot, mein Hof, ja mein ganzes Leben hat an Sinn verloren. Immer wieder habe ich im Gebet gefragt, warum ich als Einziger weiterleben muss.» Er tupfte sich mit einem verwaschenen Taschentuch die Augen.

«Es gab keine Antwort, sondern neue Prüfungen und Qualen. Jeder Tag, den ich leben musste, war für mich ein weiteres Elend. Und oft habe ich mir gewünscht, das Haus breche über mir zusammen.» Dabei machte er eine ausladende Bewegung mit den Armen in Richtung Decke.

«Nichts dergleichen geschah, keine Ruhe, keine Erlösung für mich. In den vergangenen Jahren war mein Dasein nur darauf gerichtet, für meinen Sohn den Hof zu erhalten. Nun war alles umsonst. Als ich diese Nachricht erhielt, hatte ich auch den letzten Sinn meines Lebens verloren.»

‹Sag es schon!›, schrie es in mir.

«Ich gebe es zu», fuhr er fort, «ich hatte vor, mich aus dem Leben zu stehlen. Hatte mir einen Strick mitgenommen.» Mit einer flinken Bewegung um den Hals unterstrich er seine Worte.

«Doch zuvor wollte ich es wissen, wollte von IHM hören, warum er mich so quälte.» Er wies mit der Stirn in Richtung des Kruzifixes über der Tür.

«Ich ging in den Wald. Ging tief hinein, immer in der Absicht, eine Stelle zu finden, an der ich sicher vor Entdeckung wäre.» Der Alte trank einen Schluck des frisch gebrühten Kaffees.

«Die Zweige hingen zunehmend tiefer, der Weg wurde immer mühsamer. Nichts hielt mich auf. Der Farn schnitt mir in die Finger, ich ging weiter. Wenn ich Geräusche hörte, hoffte ich, es sei irgendein wildes Tier, das mich anfallen und töten werde. So gelangte ich an eine Stelle, von der ich keine Ahnung hatte, dass es sie gibt.» Er blickte mich Antwort heischend an, ohne eine zu erwarten.

«Du weißt doch, dass ich den Wald wie meine Westentasche kenne. Und doch hatte ich noch nie zu dieser Stelle gefunden.» Der Alte machte dabei ein Gesicht, als würde er über die ewige Belehrbarkeit des Menschen sprechen.

«Die Stelle war wunderschön.» Er strich mit der Hand durch die Luft, als würde er ein Bettdeck glatt streichen.

«Das Gras am Waldboden schmiegte sich schmeichelnd an meine Füße. Die Stämme der Bäume sahen aus, wie auf einem Zeichenbrett entworfen, so perfekt waren sie. In den Ästen der Tannen hingen so prachtvolle Zapfen, dass es jedes Eichkaterherz erfreut. In der Luft war ein Flirren, schön wie eine träumerische Melodie.» Ein zufriedenes Lächeln huschte über sein Gesicht.

«Ich ging wie betrunken durch dieses Waldstück, bis ich auf eine Lichtung trat. Sie war ganz mit Moos bedeckt, das eine so satte Farbe hatte, dass sogar mir das Wasser im Mund zusammenlief. Ja, dachte ich, hier ist der richtige Platz, um aus dem Leben zu gehen, hier wird sogar das Sterben zur Freude.» Sein Gesicht erhellte sich, als hätte er die Letzte aller Weisheiten erfahren.

«Mitten auf der Lichtung standen zwei Pappeln. Beide gleich groß, doch die eine schien schon sehr alt zu sein.

Ihre Blätter waren dunkler, ihre Rinde war von tiefen Furchen durchzogen. Als ich zu ihrem Wipfel hinaufblickte, sah ich, dass sie hier und da schon kahle Stellen zeigte. Sie war alt, doch unendlich schön.» Wieder erhob er seinen Arm, wies zur Zimmerdecke und darüber hinaus.

«Die kaum zehn Meter davon entfernt stehende Schwester war ebenso schön, jedoch war sie von einem frischen Grün. Ihre Blätter breiteten sich wie unzählige Fächer über alles Leben unter ihr. Sie stand stolz aufgerichtet mit glatter ebenmäßiger Rinde. Es stand das junge Leben neben dem alten, verbrauchten. Ich fragte mich, was das bedeuten sollte.» Er runzelte fragend die Stirn.

«Die alte Pappel hatte sicherlich ihre Aufgabe erfüllt und würde von einem Förster schon bald zum Fällen freigegeben werden. Was sollte sie noch hier? Ich setzte mich zwischen die beiden Bäume. Meine Hände fanden zusammen und ich begann zu beten.» Er faltete tatsächlich die Hände.

«Ich betete darum, doch endlich zu erfahren, wozu ich noch da war. Bat darum, zu wissen, warum eine Prüfung nach der anderen mich ereilte. Weshalb ich keine Erlösung von dem Elend fand. So saß ich einen Tag und eine Nacht, saß und betete. Nichts tat sich.» Enttäuschung machte sich auf seinem Gesicht breit und deckte das Lächeln, wie eine frische Schneedecke zu.

«Als ich lange genug gewartet hatte, ohne eine Antwort zu finden, stand ich auf und ging auf eine der Kiefern am Rande der Lichtung zu. Es kostete mich einige Mühe, den Baum zu erklimmen, mich mit einer Hand zu halten und das Seil mit der anderen zu befestigen.

Als ich es geschafft hatte und schon die Schlinge formte, hörte ich ein berstendes Geräusch hinter mir. Dem Bersten folgte ein Pfeifen, und im selben Augenblick glaubte ich, ein unendlich schmerzerfülltes Stöhnen zu hören. Ich drehte mich um und sah, dass eine der Pappeln umgestürzt war.

Das alles nahm ich zunächst nur unbewusst wahr, doch dann sah ich, dass nicht der alte, verbrauchte der beiden Bäume zu Boden gestürzt war, nein, es war die frische, die junge Pappel. Das interessierte mich sehr.»

Ich klebte an seinen Lippen, als wäre ich dort festgefroren.

«Jeder Mensch weiß wohl, wie hart das Holz dieses Gewächses ist. Warum brach eine junge, voll und satt grünende Pappel zusammen? Ich ließ mich von meinem Hochstand heruntergleiten und ging zum gerade gestorbenen Baum.» Wieder huschte ein Lächeln über sein Gesicht, von dem nur er wusste, was es zu bedeuten hatte.

«An der gestürzten Pappel angekommen, bemerkte ich zunächst nichts Ungewöhnliches. Jedoch als ich mir den kaum über den Boden hinausragenden Stumpf ansah, stellte ich die Ursache für den frühen Tod des Baumes fest. Der Stamm war fast völlig ausgehöhlt, hatte im Inneren eine ungesunde grün - braune Farbe angenommen. Es wurde mir übel von dem fauligen Geruch, der dieser Ruine entströmte.» Der Alte rümpfte die Nase. Wedelte vor seinem Gesicht herum.

«Es stank ekelerregend. Ich wusste nicht, dass Holz so riechen kann. Der Baum war trotz seiner äußerlichen Erscheinung schon sehr lange dem Tode geweiht, hätte sicherlich bald seine Blätter verloren, wäre ein langsames trauriges Ende gestorben.» Er nickte heftig in meine Richtung.

«Ja, ich glaube, dass auch Bäume sterben. Und wenn schon nicht sie, dann doch die Tiere, die ihn als Nahrung brauchen. Bei diesem Gedanken blickte ich zu dem alten Baum. Was ich da sah, ließ mich alle Antworten finden, die ich jahrelang gesucht hatte.

Am Fuß der alten Papel tummelte sich allerlei Getier, suchte Schutz und Nahrung. Dieser Baum hatte seine Daseinsberechtigung, war noch mit Sinn im Leben.» Das Lächeln des Alten wechselte in den Zustand tiefer Erkenntnis. Solche Erkenntnis, wie sie nur ein im Glauben ruhender Mensch haben kann.

Ihr habt sicher alle schon einmal ein Bild Buddhas gesehen. Ein solches Lächeln meine ich.

«Während der andere nur noch eine Hülle war, die über sein wirkliches Leiden hinwegtäuschte, war dieser ganz auf die bedacht, die ihn brauchten, und verschwendete nicht seine Kräfte an eine leere, zerfressene Hülle. Ich stand auf und ging aus dem Wald.» Er sank in sich zusammen, als wäre er bei etwas ertappt worden.

«Ich war noch keine fünf Minuten gewandert, da fiel mir ein, dass ich meinen Strick hatte hängenlassen. Also ging ich zurück, um ihn zu holen. Ich wollte ihn wiederhaben. Nicht, weil ich ihn nicht entbehren kann, nein, er sollte mir Erinnerung sein, wenn ich mal wieder verzweifele.

Und hol es der Teufel. Ich fand die Lichtung nicht mehr. Obwohl ich meinen Spuren folgte, blieb sie unauffindbar. Genau an der Stelle, wo sie noch zehn Minuten zuvor war, fand ich nur Unterholz und Gestrüpp. Ich begriff alles und ging leichten Herzens nach Hause.» Der Alte trank seinen inzwischen wohl kalt gewordenen Kaffee mit einem Zug aus.

«Unterwegs überfiel mich die Sorge um Dich. Und ich schämte mich dafür, dass ich Dich bestimmt geängstigt hatte. Es muss schlimm gewesen sein, und es tut mir aufrichtig leid.»

Ich verstand immer noch nicht, was der Alte mir mit der Geschichte sagen wollte.

«Aber was hat denn nun die Pappel mit Deinem Leben zu tun?», wollte ich wissen.

Der Alte wurde ganz still. Er drehte sein von Falten durchfurchtes Gesicht mir zu, und einen Augenblick lang glaubte ich meinen Vater in ihm wiederzuerkennen.

«Genau das: Ein Leben hat solange Berechtigung, wie es auch nur eine einzige Aufgabe hat. Selbst wenn uns diese noch so nichtig erscheint, für einen anderen hat sie vielleicht allumfassende Bedeutung.» Er hob belehrend den Zeigefinger.

«Und solange ein Mensch auch nur einen Gedanken an ein anderes Wesen hegt, ist diese Aufgabe schon erfüllt.

Genau das hat ER mir damit gesagt. Nun habe ich Ruhe.»

Ich verstand ihn.

Sein Sohn kümmerte sich schon seit Jahren um keinen Menschen mehr, hatte jedes Quäntchen Menschlichkeit und Mitgefühl verloren. Seine Krankheit hat dem nur ein Ende bereitet.

Die Frau des Alten war jahrelang auf den Tod krank gewesen. Doch sie hatte trotzdem die Sorge um den Hof und die Familie mit dem Alten geteilt. Erst als sie nichts mehr von dem mitbekam, was um sie und mit ihr geschah, starb sie.

Der Alte hatte zumindest durch meine unregelmäßigen Besuche eine Erfüllung seiner Tage. Wenn er schon nicht mehr für seinen Sohn den Hof erhalten konnte, so doch wenigstens dafür, dass wir es gemütlich hatten, wenn ich kam.

Hannibal kramte ein schmutzstarrendes Taschentuch aus der Hose und schnäuzte sich.

Die anderen saßen mit betretenen Gesichtern da.

Als wäre ein Damm gebrochen, sprudelten sie ihm die einzig offene Frage entgegen.

«Aber was ist aus dem Alten geworden?», klang es mehrstimmig.

Hannibal schnäuzte sich noch einmal. Kleine, bittere Tränen rannen über seine Wangen.

«Ich nahm damals an, er wäre über seinem Leid verrückt geworden und ging nicht mehr hin. Als ich im darauffolgenden Jahr an seinem Hof vorbeikam, fand ich den Garten und das Gehöft völlig verwahrlost vor. Ich rief nach dem Alten, doch er antwortete nicht. Eine Nachbarin hörte die Rufe und kam auf den Hof.»

«Da sind Sie ja endlich», rief sie, als hätte sie mich schon lange erwartet. Sie breitete die Arme aus, als würden wir uns kennen und immer so begrüßen.

«Wo um Gottes willen wo waren Sie denn?»

Als ich sie nach dem Alten fragte, erzählte sie.

«Ach», seufzte sie, «der Arme. Ich habe ihn oft am Gartentor stehen sehen, wie er den Weg hinuntersah.»

Sie wies mit dem Kinn den Weg entlang.

«Als ich ihn einmal fragte, worauf er wartet, hat er mir gesagt: Auf einen lieben Freund. Dann hat er mich nur angebrummt.» Sie schnäuzte sich, als würde sie unter einen heftigen Sommerschnupfen leiden.

«Irgendwann stand er nicht mehr am Gartentor. Es war mir seltsam vorgekommen, aber ich wollte ihn nicht behelligen. Er begann die Nachbarn, die Kirche und die Enkel mit Geld zu beschenken.» Sie tupfte sich die Augen und machte ein Gesicht, als würde sie gerade eine Todsünde gestehen.

«Nicht, dass Sie denken wir hätten das erwartet oder vielleicht ihn dazu bewegt. Nein, er tat es einfach so. Ich glaube, es machte ihm Freude.» Sie schüttelte so heftig den Kopf, dass ihr Kopftuch flatterte.

«Natürlich erfuhren seine Kinder davon. Sie ließen ihn entmündigen. Nicht nur so ein bisschen.» Mit bebenden Fäusten zeigte sie ihren Zorn darüber. «Vollständig, sage ich. Was eine Schande!» Sie beruhigte sich und ließ die Arme hängen.

«Das hat ihm dann endgültig das Herz gebrochen und er starb kurz darauf.» Tränen bahnten sich den Weg über ihre rosa Wangen.

«Wir haben ihn gefunden. Der Pastor und ich, als wir ihm den Sonntagssegen bringen wollten.» Sie wies auf das Haus.

«In der Küche saß er auf seinem Stuhl. In sich zusammengesunken und einsam. Der arme Alte!» Sie konnte nicht mehr an sich halten und lief laut schluchzend davon.

«Der arme Alte! Was für ein Unglück!»

*

Hannibal trank seinen Becher aus und stellte ihn sanft, als wollte er ihn streicheln, auf den Tisch zurück.

Der Gastwirt wischte sich die Tränen aus dem feisten Gesicht. Er sah sich um. Die Gaststube war leer. Alle waren gegangen.

«Es ist früh am Morgen», durchbrach er die Ruhe.

«Die Zeche geht auf meine Rechnung. Das ist mein Vorschlag: Wir gehen schlafen und treffen uns heute Abend wieder hier. Ich lasse Euch ein Zimmer richten, damit Ihr einen ruhigen Schlaf habt.» Sprach es und lud die drei Wanderer nach oben in die Pension ein.

Es war ein schönes Zimmer. Es warm war und sauber. Das war alles, wonach sie sich sehnten, ein Zimmer, welches ein Zuhause ausstrahlte. Es waren nur drei Betten darin. Ein eigenes Bad hatten sie nicht.

‹Was bedeutet ein Zimmer ohne Bad gegen eine Zelle im städtischen Gefängnis?›, ging es Hannibal durch den Kopf, als sie das Zimmer betraten. Sie wuschen sich an der Pumpe im Hof ausgiebig und gingen bald zu Bett. Der Morgen graute schon, als Hannibal sich an seine Kumpane wandte.

«Nun, was meint Ihr? Ob wir uns hier ein paar Tage aufhalten können, ohne dafür zahlen zu müssen?» Er bekam keine Antwort, denn die anderen schliefen schon.

«Alte Schlafmützen», brummte er noch, bevor auch er einschlief.

*

Ein Strecken lief durch den erwachenden Körper des Wirtes.

Sein Bauch unter der Decke schien noch zu schlafen, denn erst nachdem der restliche Leib sich wieder entspannt hatte, streckte sich der Bauch. Er trat als große runde Kugel hervor und ließ das Bett plötzlich voller erscheinen.

Der neben ihm liegende Körper schien nicht nur aus der Rippe gemacht, er formte das Bett nach seinem Bilde, groß und rund.

Der Wirt richtete sich auf und warf einen Blick auf den noch warmen Körper neben ihm. Sie hatten für sie ein extrabreites Federbett anfertigen lassen, denn sonst wären ihre Seiten nicht bedeckt worden.

‹Ob sie Dich vermissen wird, wenn Du einmal nicht mehr bist?›, fragte er sich.

Seine Frau lebte gut bei ihm. Sie musste zwar hart ran wie er, aber wem tut das nicht gut?

Er tastete den Leib mit seinen Blicken ab.

«Bist ganz schön fett geworden, unter meiner Fuchtel», murmelte er leise.

Plötzlich regte sich der angesprochene Körper fast unmerklich. Er verbarg ob seiner Fülle kleinere Bewegungen.

«Du bist aber auch nicht gerade das Abbild des Apoll.»

Der Wirt zuckte zusammen.

Sie war zwar nicht boshaft zu nennen, aber er legte sich lieber nicht mit ihr an. Ihre Zunge und Blicke konnten sehr spitz sein. Er nannte das DEN BLICK. Seit ewigen Zeiten fürchten sich Männer davor. Nur Frauen beherrschen ihn. Männer können ihn nicht erlernen. Ohne ihre Hilfe und vor allem ihr Geld wäre er nie zu solchem Wohlstand gekommen.

«Ich hab es nicht böse gemeint», versuchte er einzulenken und schwang sich aus dem warmen Bett.

«Das sagst Du immer, wenn Du bei einer Bosheit ertappt wirst.» Sie kicherte mädchenhaft.

Als er in der Tür stand, rief sie ihn zurück.

«Wart doch mal. Ich hab da noch eine Frage.»

‹Oh Gott›, dachte der Wirt, ‹jetzt kommt es.›

«Wer sind denn diese drei Typen, die Du heute Morgen aufgenommen hast?»

Der Wirt begann die Mundwerkzeuge zu bewegen, als hätte er zähes Fleisch am Gaumen kleben. Ein Zittern durchfuhr ihn und ließ den Bauch wie einen übergroßen Pudding beben.

«Niemand weiter. Ähm. Nur ein paar Wanderer, die hier schlafen wollen.»

Sie sah ihn prüfend an.

«So! Ein paar Wanderer!», antwortete sie, wobei sie das: So besonders dehnte.

«Ja wirklich, nur ein paar Landstreicher. Ich weiß auch nicht, wohin sie wollen», sagte er leichthin und zog die Mundwinkel herunter.

«Was interessiert mich, wohin die wollen? Solche Typen haben kein Ziel. Die kennen doch nur eins: Dem lieben Gott den Tag stehlen.» Sie zog missbilligend die Augenbrauen zusammen.

«Mich interessiert nur, ob sie auch zahlen können.»

Der Wirt entspannte sich.

«Ach, wenn Dir das Sorgen bereitet, dann kann ich Dich beruhigen.» Für diesen Fall hatte er sich Geld von seiner heimlichen Rücklage geholt. Er kramte in der Hosentasche.

«Hier sind Zeche und Miete. Denkst Du, ich will die umsonst beherbergen?» Er lachte künstlich, um seinen Worten Gewicht zu verleihen.

«Gut!», war alles, was seine Frau dazu noch zu sagen hatte. Er war entlassen und konnte so seinem Tagewerk nachgehen.

*

Als der Abend anbrach, sich die Gaststube füllte, sah der Wirt zur Treppe hin. Er hatte die drei Wanderer den ganzen Tag noch nicht gesehen. Nun konnte er ihr Kommen nicht mehr erwarten. Es konnte sein, die hatten sich verdrückt, und er kam um seinen Lohn. Es wurde immer später, die ersten Gäste gingen schon, als der Wirt, stramm hinter dem Tresen stehend, den ersten der drei sah.

Als würde er einen alten Bekannten nach Jahren wiedergesehen, lief er quer durch die Gaststube. Mancher Gast sah wegen der ungewohnten Behändigkeit des Wirtes beunruhigt auf. Der Wirt fasste ihn um die Schultern und fragte ihn nach seinen Kameraden aus.

«Wo wart Ihr denn. Ihr hättet auch gut bei mir essen können. Heute gab es Bratkartoffeln mit Sülze. Die Remoulade macht meine Alte selber.» Er formte die Fingerkuppen zu einer Spitze und presste sie an seine Lippen.

«Köstlich, sage ich. Wenn sie eins richtig gut kann, dann kochen!»

Der Wanderer, er nannte sich Siegfried, befreite sich aus der Umarmung des Wirtes.

«Sie kommen ja, sie kommen», mehr brachte er nicht heraus.

Der Wirt gab sich damit zufrieden, drückte Siegfried einen Becher Wein in die Hand und ging an seinen Platz hinter dem Tresen. Kaum, dass er dort angelangt war, besser, sich aufgebaut hatte, kamen Hannibal und sein Adlatus die Treppe herunter.

Sie gingen selbstbewusst an den Stammtisch, riefen Siegfried herüber. Der Wirt nahm es mit ungewohnter Geschwindigkeit. Sonst rief er dem Gast zu:

«Ja gleich. Wenn ich hier fertig bin!»

Als einer der Stammgäste sich über die Belagerung des Stammtisches beklagen wollte, verteidigte er die Drei.

«Lass mal gut sein Herbert, die sind meine Gäste.» Dagegen war nichts einzuwenden, denn wer legt sich in einem verlassenen Ort wie diesem, schon mit dem einzigen Wirt an? Die Stunden schlichen dahin. Der Wirt konnte es nicht mehr erwarten, bis der letzte Gast ging. Mit seinen Blicken schien er die Uhr aufzufordern die Zeit schneller vergehen zu lassen. Endlich hörte er das Knarren der Tür, hinter der der letzte einsame Trinker verschwand. Der Wirt mahnte seine Frau, zu Bett zu gehen. Sie ging kopfschüttelnd und er konnte sich endlich zu den Wandergesellen setzen. Um nicht mit leeren Händen zu kommen und gleichzeitig anzudeuten, wie erwartungsvoll er war, brachte er eine Karaffe Wein mit.

«So, meine Freunde, dann wollen wir mal», eröffnete der Wirt das Gespräch.

Hannibal tat entrüstet.

«Was soll denn das heißen? Denken Sie, eine Geschichte schwebt wie Kaffeeduft im Raum?» Er machte eine vieldeutige Geste.

«Man kann sie nicht einfach so inhalieren, sie muss in einem aufsteigen, wie Bauchschmerzen etwa.» Hannibal schmunzelte vielsagend.

Zwischen den drei Wanderern entstand eine Diskussion über die Geschichte des Vorabends.

Hannibal erwies sich als der streitbarste, ohne rechthaberisch zu werden. Er verteidigte seine Geschichte, als gelte es den Ursprung des Menschseins zu schützen. Doch Siegfried war ein gerechter, aber unbarmherziger Gegner.

«Gurre nicht, wie eine Taube, die ihr erstes Ei gelegt hat. Nun gut, sie war ganz aufschlussreich, aber was hat sie gesagt. Nichts, als dass ein ohnehin alter Mann noch älter wird in seiner Erkenntnis.» Er schaute bedeutsam in die Runde.

«Was ich aber erlebt habe, das ist, was uns nachdenklich machen sollte.» Hannibal schürzte die Lippen.

«Deine Geschichten kannst Du Dir sparen, wir kennen sie alle schon. Durch und durch vor Liebe triefend.»

«Ja, Ihr kennt sie schon. Glaubst Du zumindest. Hast aber vergessen, dass wir uns schon fast ein Jahr nicht mehr gesehen haben.» Siegfried war sichtlich verärgert.

«Nein, bitte erzählen Sie», bat der Wirt, dieser vermeintlichen Liebesgeschichte entgegenfiebernd. Er mochte Liebesgeschichten, Sie hatten etwas Berückendes an sich. Er war schon lange nicht mehr berückt. Wenn er solche Geschichten hörte oder las, konnte er sein eigenes, verdorrtes Dasein vergessen.

«Bitte, lasst ihn doch erzählen. Wir hatten nicht vereinbart, was für Geschichten hier auf den Tisch kommen», brach es aus ihm heraus. Der Wirt wischte sich verschmitzt lächelnd die Stirn, während Siegfried ihm dankbar zunickte.

«Nicht, dass Ihr denkt, ich will euch mit einer dieser Schmuse - Geschichten ermüden», hob Siegfried an, «es ist zwar eine Geschichte über die Liebe, aber sie geht tiefer.»

Hannibal war damit nicht zufrieden.

«Also doch eine Liebesgeschichte.» Er warf den Kopf abschätzig in den Nacken.

«Na, dann wollen wir mal!» Es war als Einladung formuliert, barg aber so viel Ablehnung in sich, dass Siegfried die Lust am Erzählen fast verlor.

«Was soll das denn?» Siegfried wurde heftig, wies auf den Tisch. «Wenn es Dir auch nicht gefällt, das hier ist nicht mehr bloße Unterhaltung, es ist ein Wettstreit. Du warst auch damit einverstanden. Nicht Du, der Wirt soll Schiedsrichter sein. Wenn er sagt, ich war schlecht, ist es mein Pech, dann war ich eben schlecht und muss mich verbessern, also lass bitte deine Spitzen.»

Hannibal nahm die Worte mit einer um Verzeihung bittenden Geste hin. Er wusste, dass es ungerecht ist, eine Geschichte abzuurteilen, ehe sie erzählt war.

«Komm. Ist schon gut, erzähl nur.» Hannibal war zwar oft aufbrausend, aber er war nie ungerecht.

«Ohne, dass Du es wolltest, hast Du mir einen Aufhänger für meine Geschichte gegeben. Du hast mich verurteilt, ohne genau zu wissen, was ich will und warum ich es will.

Gut, ich weiß, dass Du Unrecht nicht akzeptierst, dass Du nicht zuletzt wegen einer Ungerechtigkeit Wanderer geworden bist, aber Du warst einen Moment ungerecht, das muss ich so sagen.» Siegfried klopfte versöhnend Hannibals Schulter.

«Aber es sollte Dich trösten, nicht nur Du bist damit behaftet. Viele von denen, die sich Menschen nennen, sind so.

Sie geifern und witzeln, lügen und verleumden, um dann, im Moment der Offenbarung all dessen, was sie gesagt und getan haben, mit dem Finger auf den anderen zu weisen. Dann, im Moment des Sich - Bekennens werden sie schwach. So sehr es sie auch grämt, sie suchen die Schuld für das eigene Verhalten bei anderen Leuten. Die menschliche Zunge ist schnell, sie bewegt sich oft genug hitziger, als es der Verstand befiehlt.

Dabei kommen Worte über die Lippen, die lieber nicht gesagt worden wären. Ein anderer Mensch wird verletzt, manchmal sogar verleumdet.»

Es wurde zunehmend stiller, denn seine Worte trafen jeden auf eine Weise, die nur derjenigen selbst ergründen konnte.

«Doch sagt man ihnen auf den Kopf zu, was sie damit anrichten, wollen sie keine Silbe davon gemeint, geschweige denn gesagt haben.» Sein Gesicht verklärte sich und der zuvor ernste Blick, wich einem sanften Ausdruck.

«Wenn man den Geschichten der Menschen zuhört, wird man feststellen, dass sie nichts anderes interessiert als die Liebe. Sie finden sie furchterregend und stimulierend zugleich. Verweigern sich ihr und gehen doch in ihr auf.» Sein Ausdruck wechselte zu Zorn.

«Dann ist da noch das Gefühl der verratenen Liebe. Sie ist schmerzlich, und manch einer kann sie nicht ertragen.

Sie beißt sich in die Seele des Abgewiesenen fest. Zerfrisst ihn von innen heraus. Zerstört ihn, ohne ihn auch nur körperlich zu berühren.» Siegfried fletschte die Zähne, als wolle er ein reißendes Tier nachahmen.

«Wenn ein solcher Mensch von der Liebe eines anderen hört, kann es vorkommen, dass der Neid auf dieses keimende Glück ihn noch mehr zerfrisst.»

Siegfried machte eine kurze Trinkpause.

«Er hat keine ruhige Minute mehr in seinem Leben. Keinen Augenblick, in dem das Denken nicht um diese Liebe kreist. Wenn dieser Mensch nicht mehr kann in seiner Pein, wenn das Gefühl allgegenwärtig wird, erbricht er tausend Worte der Unvernunft. Und um ihn herum erwacht das Interesse an seinen Lügen.»

Der Wirt rutschte auf seinem Stuhl hin und her. War es in seiner Ehe nicht auch zu solchen Situationen und Worten gekommen? Wie soll man die Liebe festhalten? Wenn das überhaupt geht.

«Er spürt das», redete Siegfried weiter, «badet seine wunde Seele in dem neuen Gefühl. Es ist ihm, als hätte er endlich die heilsame Salbe für seine klaffenden Wunden gefunden. Mit gierenden Fingern greift er danach, sorgt dafür, dass der Vorrat nie enden wird. Neue Worte quellen ihm aus der Seele, nehmen den unheilvollen Weg über die Lippen, werden zur Natter. Ja, zur Natter, sage ich», rief Siegfried und hob beschwörend die Arme, «zur Natter der Verleumdung, Lüge und Verzweiflung. Sie kriecht von Ohr zu Ohr, findet hier und da nur kargen Boden. Doch gemeinhin erwartet sie ein wahres Dorado menschlicher Neugier.» Er trank rasch einen Schluck Wein. Sein Gesicht war rot vom Rufen und reden.

«Sie frisst sich satt, um dann, fetter denn je, ein anderes Ohr über den Mund zu erreichen. Das geht so lange gut, bis sie zu fett ist, nicht mehr in die Gehörgänge passt. Sie platzt!» Siegfried schlug mit der flachen Hand auf die Tischplatte.

«Dann kommt der entscheidende Moment. Noch ehe sie sich zerteilt hat, kann sie Junge gebären. Je nachdem, wie nahrhaft der Boden war. Es sei denn der Acker war vergiftet und durchsetzt von Zweifeln. Das ist der Tod der Natter. Was interessiert nun ein solches Reptil mehr als schnelle, flüchtige Liebe, der Moment?» Siegfried wies nichtssagend in den Raum.

«Da sind ein Mann und eine Frau, voller Angst vor der eigenen Einsamkeit. Sie suchen den Partner, der sie durch das Leben begleiten kann. Doch wer sucht, wird auch leicht betrogen. Immer gibt es Leute, die die Angst anderer auszunutzen verstehen. Sie riechen das, gehen der untrüglichen Spur nach und stoßen bald auf ein Opfer. Wer so ein Opfer sucht, geht am besten zu einer Tanzveranstaltung, in Kaffees oder Tanzbars. Dort findet er, was er sucht.»

Die Zuhörer konnten sich nicht des Eindruckes erwehren, dass Siegfried von sich sprach.

«Da stehen sie rum. Männlein und Weiblein, schön getrennt voneinander, sich nicht berührend. Alle wissen um die Not der anderen. Man braucht nur hinzugehen, ein paar belanglose Worte zu sagen, das Haar oder die Ausstrahlung loben, schon schmilzt das Eis in der Wärme der Versprechen. Wer glaubt, vergessen worden zu sein, ist besonders empfänglich für Interesse.»

Seine Stimme wurde plötzlich leiser, behutsamer.

«Die Sache hat einen Haken. Häufige Partnerwechsel werden ruchbar, öffentlich. Hat ein Mann viele Bekanntschaften, steigt sein scheinbarer Wert. Bei einer Frau ist es umgekehrt.» Siegfried formte einen abschätzigen Gesichtsausdruck.

«Warum eigentlich? Sie wird doch nicht schmutzig davon.»

Hannibal hatte seinen Freund so noch nie gehört.

«Ist gut Kumpel. Brauchst Dich doch nicht aufregen. Wir wollen doch nur eine Geschichte hören.»

Siegfried schien Hannibal nicht zu hören. Er redete einfach weiter.

«Dann gibt es da noch die Jäger. Sie sind spezialisiert auf derartige Opfer. Sie machen sie aus, wie ein Wilderer das Wild wittert. Nach dem Schuss lassen sie es leiden und rauben nur eine Trophäe. Das sind die Schmutzigsten, die Natterfütterer. Jeden Tag ein neues Opfer, eine neue Tat, für die es keine Strafe gibt. Es sei denn, das Schicksal selbst legt seinen Finger in die Wunde und richtet.»

Siegfried griff nach dem Becher. Eigentlich war er ein schweigsamer Mensch, umso mehr staunten seine Freunde über diese Wortflut. Es musste etwas ganz Besonderes sein, das er ihnen mitteilen wollte. Sie ließen ihn in Ruhe seinen Wein trinken und sich besinnen.

«Tja, was soll ich sagen?», begann er.

«Wie Ihr aus eigener Erfahrung wisst, kann unsereiner nicht immer einen geeigneten Schlafplatz finden. Manchmal soll man mit dem Vorlieb nehmen, was man gerade vorfindet. Eine Parkbank, eine Brücke, einen abbruchreifen Schuppen oder aber eine Friedhofsmauer. An einer solchen übernachtete ich vor knapp einem halben Jahr. Mir war es recht gruselig dort, denn wer weiß schon im Voraus, ob da nicht einer spukt.

Ich legte mich also in den Windschatten der Mauer und hoffte auf einen raschen Schlaf. Nachdem ich mich lange hin und her gewälzt hatte, schlief ich auch glücklich ein.

Als ich erwachte, ich muss gestehen, dass ich trotz des ungewöhnlichen Schlafplatzes gut geschlafen hatte, wurde ich Zeuge einer Beerdigung.

Die Sonne stand schon recht hoch und stach in die Augen, aber ich konnte erkennen, dass man gerade einen Sarg in die Erde senkte. Da ich nun mal da war und auch nicht ungesehen verschwinden konnte, stellte ich mich zu der Trauergemeinde. Der Pfarrer sprach salbungsvolle Worte, aus denen man einiges heraushören konnte. Beim Vaterunser sprach er die Worte und vergib uns unsere Schuld besonders laut, was die Anwesenden unwillkürlich nicken ließ. Nachdem der Sarg in die Grube gesenkt war, trat einer nach dem anderen vor, warf Erde in die Grube.» Er wies in die Tiefe des Raumes.

«Die ganze Zeit war mir ein etwas abseitsstehendes, nicht in diesen Rahmen passendes Paar aufgefallen. Sie waren etwa Mitte siebzig und dezent gekleidet. Ihre Gesichter vermittelten den Eindruck, dass sie das alles hatten kommen sehen und dies hier nur die unausweichliche Folge war. Die Frau hielt einen beigen Gegenstand in der Hand und versuchte die ganze Zeit, ihn zu verbergen. Als alle Trauergäste am Grab waren, löste sie sich von ihrem Begleiter und trat an das Grab. Man hörte ihren Begleiter rufen: Tu es nicht. Doch sie ließ sich nicht beirren.

Alle starrten in ihre Richtung, als sie das Päckchen auseinanderfaltete. Es war ein beigefarbenes Kleid. Mitten auf dem Kleid prangte wie eine Anklage ein tiefroter Fleck. Sie warf das Kleid in die Grube, drehte sich um und ging. Keiner der Anwesenden machte den Versuch, sie aufzuhalten oder das Kleid aus dem Grab zu holen. Die Trauergemeinde verlief sich, und das Grab wurde in aller Eile geschlossen. Nur der Geistliche blieb und mir schien, er betete.

Mein Interesse war geweckt. Ich wollte wissen, was es mit dem Kleid auf sich hatte, wer diese beiden Alten waren und was sie mit dem Verstorbenen zu tun hatten. Ich ging zu dem Pfarrer hin und fragte ihn.

«Entschuldigen Sie, Herr Pfarrer, aber ich wurde versehentlich Zeuge dessen, was hier gerade passiert ist. Was hatte das zu bedeuten?»

Der Geistliche sah mich verstört an.

«Tja, was hier ablief?», fragte er mit ruhiger Stimme. «Ich darf es Ihnen nicht erzählen, Sie wissen ja.» Er zeigte erst auf seinen Mund und dann zum Himmel.

Ich tat alles, um ihn zu überreden. Nach kurzer Zeit hatte ich den Eindruck, es sei mir gelungen, denn er schlug vor, doch besser zu ihm zu gehen. Als wir im Pfarrhaus angekommen waren, ließ der Pfarrer uns einen Kaffee bereiten. Ich trank ihn nach dieser Nacht mit Genuss.

«Dieser junge Mann», begann der Gottesmann ohne Übergang, «dieser junge Mann hat sich das Leben genommen. Er war gesund, strotzte vor Gesundheit. Und doch hatte sich etwas in sein Hirn gepflanzt. Ein solches Leiden ist wohl auch Ihnen bekannt. Es ist die Gewissheit unerwiderter, ausgenutzter Liebe.

Pit war sein Name und er wurde von seinen Eltern wahrhaft geliebt. Diese Liebe war so groß, dass sie ihm alles verzieh, ihn in der ständigen Gewissheit beließ, dass seine Eltern zu ihm standen.

Nun könnte man glauben, dieser Pit sei mit seinen dreiundzwanzig Jahren reif genug gewesen, dass er über die Bedeutung dieses Gefühls Bescheid wusste. Doch genau das war er nicht. Er nutzte jede Gelegenheit, um sich an den unterhaltsamen Seiten des Lebens zu erfreuen, ohne die anstrengenden, auch nur zu erwägen. Er war das, was man einen Luftikus nennt. Zumindest, bis er Cécile kennenlernte.

Von da an war er wie ausgewechselt. Alles in ihm drängte danach, sie wiederzusehen, im Arm zu halten. Sie glücklich zu machen. Cécile spielte mit ihm. Wie damals.» Hier stockte der Geistliche, versuchte einen Augenblick lang, sich zu sammeln.

«Was das heißen soll, dieses damals. Nun, Sie werden es erfahren. Ich werde es Ihnen erzählen, denn auch ein Geistlicher braucht irgendwann einen Menschen, dem er sich anvertrauen kann.»

Drei Wanderer

Подняться наверх