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2 Demokratie als Steuerungsmodell komplexer Gesellschaften[19]

Nach dem Ende des Mythos vom Sozialismus ist nicht nur der Kapitalismus als Wirtschaftsform, sondern auch Demokratie als Operationsform moderner säkularer Gesellschaften auf sich selbst zurückgeworfen. Es stellt sich die Frage, ob Demokratie als eine Form der Selbstorganisation komplexer Sozialsysteme gelten kann, welche den Anforderungen gewachsen ist, denen sich am Anfang dieses Jahrhunderts die entwickelten Gesellschaften ausgesetzt sehen.

Absichtlich verwende ich hier das Konzept der Demokratie nicht als bloßes politisches Herrschaftsprinzip, sondern verallgemeinert als Idee der Selbstorganisation komplexer Sozialsysteme. Damit kommt zum Vorschein, dass die Erfindung der neuzeitlichen Demokratie durch ihre Philosophen und Vordenker wie Hobbes, Locke, Rousseau, Montesquieu, Madison und viele andere nicht allein die Frage politischer Herrschaft betraf. Sie bezog sich auch auf das umfassendere Problem der Ordnung einer Gesellschaft, die dabei war, in allen ihren Momenten – und nicht nur in der Frage ihrer Herrschaftsstruktur – das Wagnis der Moderne einzugehen.

Auf der anderen Seite erzwingt dieser Zugang zur Steuerungstheorie die Auseinandersetzung mit der Möglichkeit, dass nun, nachdem die Moderne jedenfalls in der Ersten Welt zur Entfaltung gekommen ist, Rückfragen an die Idee der Demokratie gestellt werden müssen. Inzwischen wird denkbar, dass die Ordnung hochkomplexer Gesellschaften durch Demokratie allein nicht mehr gewährleistet ist. Natürlich ist dieses Thema etwas heikel; deshalb will ich von vornherein klarstellen, dass es mir nicht um eine Demission der Demokratie geht, sondern um die Frage ihrer Revision unter dem Gesichtspunkt ihrer Tauglichkeit als Steuerungsmodell. In ihrem Bericht von 1991 an den Club of Rome konstatieren King und Schneider (1991, S. 69): »Die Demokratie ist kein Patentrezept. Sie bekommt nicht alles in den Griff, und sie kennt ihre eigenen Grenzen nicht.«

Bevor wir jedoch daran gehen, die Grenzen des Modells der Demokratie unter Steuerungsaspekten zu erörtern, empfiehlt es sich, die Stärken und die Steuerungskapazität von Demokratie näher zu betrachten. Unter dem bezeichnenden Titel »Die Intelligenz der Demokratie« hat Charles Lindblom (1965) ihre vehemente Verteidigung als Steuerungsprinzip vorgelegt. Zurecht betont er die Vorzüge dezentraler, verteilter Informationsverarbeitung und Entscheidungsfindung, einer nicht hierarchischen Kontrollstruktur, eines iterativen und diskursiven Prozesses der Meinungsbildung, eines pluralistischen[20] Spiels der Kräfte ohne »von oben« vorgegebene Zielfunktion und andere Merkmale der Demokratie, die besonders deutlich im Kontrast zur Fehleranfälligkeit autoritärer Systeme hervortreten. Er bestätigt in der Sicht der Demokratietheorie, was etwa zur selben Zeit vor allem im Ansatz des »systems dynamics«, aber auch in der Kybernetik und den frühen »cognitive sciences«, in der Hierarchietheorie oder in der Organisationstheorie verhandelt wird: eine zunehmende Skepsis gegenüber der Planbarkeit und Steuerbarkeit komplexer Systeme und der Versuch, unter den Stichworten Dezentralisierung, Enthierarchisierung, Heterarchie oder polyzentrische Struktur angemessenere Vorstellungen über die Steuerung und Selbststeuerung komplexer Systeme zu entwerfen.

Aber die Euphorie über die Intelligenz der Demokratie hält nicht lange an. Bereits ein Dutzend Jahre später fragt Lindblom besorgt, ob die Demokratie noch eine Zukunft habe (Lindblom 1977, S. 344). In einer Studie, die interessanterweise ausdrücklich steuerungstheoretisch angelegt ist (ebd. S. 11), vergleicht er Tausch, Autorität und Überredung (exchange, authority, and persuation) als grundlegende Methoden sozialer Steuerung und Kontrolle. Aus einer wohlbegründeten Skepsis gegenüber der Steuerungsleistung des Marktes einerseits, aber auch autoritärer Regime andererseits, kommt er zu einer historisch vielleicht verständlichen, aus heutiger Sicht aber merkwürdigen Überschätzung der Steuerungsleistung von Überredung (preceptoral systems). Darauf will ich nicht näher eingehen (siehe aber Willke 1992, Kap. 2.3). Interessanterweise sieht Lindblom den zentralen Mangel von Demokratie als Steuerungsprinzip moderner Gesellschaften darin, dass es den marktförmigen Austausch- und Anpassungsprozessen des formal demokratischen Spiels nicht gelingt, das faktische Übergewicht organisierter Akteure, vor allem der großen Korporationen, zu korrigieren. Damit aber bricht die fundierende Idee demokratischer Steuerung – die Nutzung dezentraler Intelligenz für das kollektive Wohl und der Schutz der verteilten Entscheider vor der Übermacht einzelner Akteure – zusammen:

»It has been a curious feature of democratic thought that it has not faced up to the private corporation as a peculiar organization in an ostensible democracy. Enormously large, rich in resources, the big corporations, we have seen, command more resources than do most government units. They can also, over a broad range, insist that government meet their demands, even if these demands run counter to those of citizens expressed through their polyarchal controls. … And they exercise unusual veto powers. They are on all these counts disproportionately powerful, we have seen. The large private corporation fits oddly into democratic theory and vision. Indeed, it does not fit« (Lindblom 1977, S. 356).

[21]Dieser ebenso klarsichtige wie ratlose Schluss des Lindblom’schen Buches zeigt, wie grundlegend sich inzwischen die Situation verändert hat. Obwohl die großen Korporationen auch heute keinen Deut weniger die Praxis der Idee der Demokratie bedrohen, sticht doch sowohl ihre Machtfülle ins Auge wie auch ihre Hilflosigkeit und Ohnmacht in anderen Hinsichten. Die Auflösung dieses scheinbaren Widerspruchs führt zu einem Kernproblem des gegenwärtigen Steuerungsdilemmas: Demokratische Gesellschaftssteuerung ist heute infolge der Globalisierung der großen Konzerne noch anfälliger für deren Ansprüche und Vetomachtpositionen, noch abhängiger von deren Ressourcen, Expertise und Implementierungskompetenz. Zugleich aber sind die Konzerne und Korporationen in entscheidenden Hinsichten ihrerseits abhängiger geworden von den Vorleistungen der Politik und anderer gesellschaftlicher Funktionssysteme wie Erziehung, Wissenschaft, Gesundheitssystem, Rechtssystem und sogar Familie.

Ich werde auf diesen Punkt zurückkommen. Hier geht es nur darum, die Komplizierung des Steuerungsproblems durch intensivere Verflechtungen, wechselseitige Abhängigkeiten und folgenreichere Verschachtelungen zwischen den Akteuren einer Gesellschaft zu bezeichnen. Entgegen Lindblom haben wir es nicht mit einem klargeschnittenen Konflikt zwischen demokratischer Legitimität und kapitalistischer Rentabilitätslogik zu tun, sondern mit der Dynamik einer Interaktion eigenlogischer Systeme, die ihre eigenen Blindheiten noch nicht sehen und sich von ihren wechselseitigen Abhängigkeiten noch unabhängig glauben.

Demokratie als politisches Steuerungsprinzip gerät in die Defensive, so eine erste nahe liegende Schlussfolgerung, sobald das politische Funktionssystem nicht mehr als klare Spitze einer hierarchischen Ordnung dieser Gesellschaft dominiert. Haben sich die anderen Funktionssysteme, vor allem Ökonomie, Finanzsystem, Wissenschaft und Massenmedien, aus dem Schatten einer übergeordneten Politik herausbewegt, und widerspricht zudem ganz grundsätzlich das Strukturprinzip der funktionalen Differenzierung jeglichem Vorrang nur eines Funktionssystems, dann konkurriert politische Demokratie mit einer Vielzahl eigenlogischer und prinzipiell gleichrangiger Steuerungsformen. Die Frage ist dann, welches Steuerungsprinzip für die Gesellschaft insgesamt gelten soll.

Mit dieser Frage haben wir uns dem zentralen Paradox der Steuerung moderner Gesellschaften genähert: Als Steuerungsmodell der Gesellschaft insgesamt ist »politische« Demokratie ausgeschlossen, will man nicht gegen die Logik funktionaler Differenzierung, also gegen die Logik der Modernität selbst, einen Primat der Politik gegenüber allen anderen Funktionssystemen der Gesellschaft erzwingen. Zugleich ist aber jede »undemokratische« Form der Gesellschaftssteuerung ausgeschlossen, will man nicht entgegen der[22] Logik der Moderne hinter die Errungenschaften der Menschenrechte und, darauf beruhend, die Errungenschaft der Nutzung individueller Varietät, Vielfalt und Interessiertheit zurückfallen. So bleibt als Entfaltung der Paradoxie wohl nur eine Revision der Idee der Demokratie als gesellschaftliches Steuerungsmodell.

Diesem Vorhaben einer Revision des Modells der Gesellschaftssteuerung kommen inzwischen mehrere Denkbewegungen entgegen. Zum einen hat die Debatte über Unregierbarkeit herausgestellt, dass demokratische Politik allein nicht vor gesellschaftlichen Fehlentwicklungen bis hin zu Steuerungskatastrophen schützt. Herkömmliche demokratische Willensbildung und Entscheidungsfindung ist kurzfristig orientiert und vernachlässigt systematisch mittel- und langfristige Selbstgefährdungen von Gesellschaften:

»Regierungen bevorzugen Lösungen, die kurzfristigen politischen Nutzen bringen, und vernachlässigen systematisch die langfristige Perspektive. … Regieren verkommt zur regelmäßig wiederkehrenden Krisenbewältigung, zum Taumeln von einem Notfall in den anderen – Finanzen, Soziales, Zahlungsbilanz, Arbeitslosigkeit, Inflation und dergleichen« (King und Schneider 1991, S. 104).

Zum anderen belegt eine inzwischen weitverzweigte Debatte um den Übergang von government zu governance, dass eine brauchbare Form politischer Steuerung gerade in undurchsichtigen und schwierigen Problemfeldern nur noch durch die Einbeziehung zivilgesellschaftlicher Akteure und Organisationen realisierbar erscheint (Chhotray and Stoker 2010; Willke and Willke 2012).

Schon vor der Diskussion um Unregierbarkeit hat Amitai Etzioni mit seinem bahnbrechenden Buch über »Die aktive Gesellschaft« (1971) Fundamente einer Steuerungstheorie komplexer Gesellschaften gelegt, die merkwürdigerweise bislang eher ignoriert als genutzt worden sind. Selbst Lindblom erwähnt diese Arbeit nicht ein einziges Mal, obwohl es ihm doch auch um die Frage grundlegender Formen sozialer Steuerung und Kontrolle geht. Der Grund dafür könnte sein, dass Etzioni ernsthaft eine Theorie der Steuerung anzielt (1971, Kap. 4), was nicht nur in einem amerikanischen Kontext gern als spekulativ abgewehrt wird. Jedenfalls ist bemerkenswert, dass die empirisch orientierten Überlegungen, aus denen Lindblom die Idee präzeptoraler Steuerung entwickelt, in allen drei behandelten Fällen (China, Kuba, Jugoslawien) dramatisch von der historischen Entwicklung widerlegt worden sind. Ebenso dramatisch hat sich auf der anderen Seite Etzionis Beschreibung entwickelter sozialistischer Gesellschaften bestätigt, die er als übersteuerte (»overmanaged«) Systeme charakterisiert, die den Bedürfnissen ihrer Mitglieder und Teilsysteme unempfänglich gegenüberstehen. Betrachten wir deshalb[23] die Grundzüge von Etzionis Idee der aktiven Gesellschaft etwas genauer (siehe dazu auch Willke 1992, Kap. 2.2).

Idealerweise sucht Etzionis Steuerungstheorie die Bedingungen der Möglichkeit aktiver Gestaltung sozialer Realität primär in der Form der Gesellschaft und reduziert sie nicht auf die Rolle der Politik. Dies liegt einem amerikanischen Gesellschaftstheoretiker sicherlich näher als einem europäischen. In Kontinentaleuropa durchzieht die Staatszentriertheit der Gesellschaftstheorie seit Machiavelli über Hegel bis zu Max Weber ungebrochen bis heute die Debatte. Dadurch kommt der Politik geradezu zwangsläufig eine herausgehobene Rolle in der Prägung der Form der Gesellschaft zu. Es ist in dieser Tradition sehr schwer, überhaupt wahrzunehmen, dass die Gesellschaft insgesamt inzwischen vielleicht ihre eigenen Formvorstellungen entwickelt und realisiert hat.

In der anglo-amerikanischen Tradition dagegen ist der Staat als Gegenstand gesellschaftstheoretischer Analyse nahezu verlorengegangen und muss erst mühsam wiederentdeckt werden (Evans 1985). Allerdings war die amerikanische Gesellschaftstheorie dadurch vor einer Überschätzung der Rolle der Politik bewahrt; es fiel ihr leichter, die Beiträge der anderen gesellschaftlichen Funktionssysteme in der Formung der Gesellschaft als ganzer wahrzunehmen. Eine beide Traditionen umschließende und aufhebende Position ist im Kontext einer systemtheoretischen Gesellschaftstheorie naheliegend, weil einerseits die Gesellschaft als das umfassende Sozialsystem verstanden wird, dem das politische System als differenziertes und spezialisiertes Funktionssystem angehört; weil sie andererseits das eigentliche Steuerungsproblem in der Organisation der Relationen zwischen unverzichtbaren, machtvollen, eigensinnigen, zugleich autonomen und interdependenten Akteuren und Funktionssystemen sieht.

Etzioni stützt in seinen theoretischen Überlegungen diese aufhebende Position, indem er die Steuerungsfunktion des Staates für eine notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung der Möglichkeit einer aktiven Gesellschaft begreift:

»A society without a state is largely passive, and a state without a societal base is a control network with only a limited capacity for the mobilization of consensus. … The state is more a mechanism of ›downward‹ political control than a mechanism of ›upward‹ societal consensus-formation« (Etzioni 1971, S. 106 f.).

Zugleich vermittelt dieses Zitat, dass es nach Etzioni nicht genügt, wenn das politische System über eine staatliche Kontrollkapazität zur Implementation politischer Programme verfügt. In »postmodernen«, »aktiven« Gesellschaften ist ein komplementärer Prozess der Mobilisierung von Konsensus (»compliance«, [24]kzeptanz) erforderlich, weil die eigendynamischen und innengeleiteten gesellschaftlichen Funktionssysteme ansonsten auf politische Intervention allergisch reagieren. Solange sich z. B. gesellschaftliche Gruppierungen nicht in Interessengruppen und korporative Akteure organisiert haben, sieht sich das politische System einer Gesellschaft ziemlich anderen Möglichkeiten und Schwierigkeiten sozialer Intervention gegenüber, als wenn diese Organisierung einen hohen Grad erreicht hat. Solange das Erziehungssystem, das Wissenschaftssystem oder etwa das Gesundheitssystem einer Gesellschaft nicht über professionalisierte Rollen, spezialisierte Organisationen und ein eigenständiges Kommunikationsmedium sich selbst autonom gesetzt haben, ist es für das politische System relativ einfach, in diesen Bereichen Veränderungen zu erreichen. Nach der Ausbildung von Autonomie und selbstreferenzieller Operationsweise lassen sich diese Funktionssysteme dagegen nur noch in höchst voraussetzungsvoller und spezifischer Weise von außen beeinflussen (siehe Systemtheorie II, Kap. 5).

Ich möchte mich im Folgenden darauf beschränken, einige prägende Momente in Etzionis Steuerungskonzeption der aktiven Gesellschaft hervorzuheben. In ihnen unterscheidet sich die Form der aktiven Gesellschaft grundsätzlich von traditionellen Beschreibungen, vor allem von den in der Tradition von Locke und Tocqueville stehenden Gesellschaftstheorien, welche nur Individuen und individuelle Akteure kennen. Folgende Merkmale werde ich herausgreifen und kurz erläutern:

 Die Hervorhebung des korporativen Systems (»collectivity«) als eigenständiger Handlungsrealität gegenüber individuellen Akteuren;

 die Idee der systemischen Interaktion (»representational interaction«), die es erlaubt, Kommunikationen auf korporative Systeme zuzurechnen;

 das Postulat der Selbsttransformation als Fähigkeit eines Systems, sich selbst aktiv nach einer bestimmten Idee oder Vision des Systems zu verändern; und

 die Rolle des kollektiven Wissens als (gegenüber dem individuellen Wissen) eigenständiger Instanz der Identität und der Selbststeuerung eines Sozialsystems.

Die formende Bedeutung kollektiven Handelns und kollektiver Akteure für gegenwärtige Gesellschaften unterstreicht Etzioni mit dem Konzept der »collectivity«: »A collectivity is a macro-scopic unit that has a potential capacity to act by drawing on a set of macroscopic normative bonds which tie members of a stratification category« (Etzioni 1971, S. 98). Um Missverständnisse zu vermeiden, übersetze ich hier den Begriff der »collectivity« mit »korporativem System«. Die »Inkorporierung« soll auf die wesentlichen Momente der[25] »collectivity«, die dichte soziale Vernetzung und die gemeinsame normative Bindung hinweisen.

Die Fähigkeit korporativer Systeme zu kollektivem Handeln – und zwar nicht im diffusen Sinne eines Massenphänomens, sondern im Sinne gerichteter strategischer Kommunikation auf der Basis der Verfügung über sozietale (gesellschaftliche, gesellschaftsweite) Ressourcen und der Verankerung im Stratifikationsmuster der Gesellschaft – verbietet es, eine Gesellschaft auf die Aggregation atomistischer Individuen zu reduzieren. Wenn aber korporative Systeme wie Organisationen, Vereinigungen, Interessengruppen oder öffentliche Körperschaften gesellschaftlich relevant handeln können, dann stellt sich unweigerlich die Frage ihrer kollektiven Rechte und Pflichten, sowie die Frage ihrer Einpassung in das Steuerungsmodell der Demokratie. Die Entwicklung gesellschaftlicher Akteure außerhalb der Politik verändert die Regeln des politischen Spiels um individuelle und kollektive Güter und Rechte – und sie verändert mithin die Steuerungsaufgabe und Steuerungsfähigkeit der Politik (Willke and Willke 2008). Aber es stellt sich auch die Frage der Beeinflussbarkeit und des Einflusses der korporativen Systeme, die Frage nach dem Modus und der Qualität der Interaktionen zwischen korporierten kollektiven Akteuren innerhalb und zwischen den Funktionssystemen einer Gesellschaft.

Lindbloms Verdikt, dass große Korporationen nicht in den Rahmen der Demokratie passen, muss umgeschrieben werden, weil die Realität moderner Demokratie als Organisationsgesellschaften nur die Wahl lässt, entweder diese Realität zu verleugnen oder aber das Modell Demokratie aufzugeben. Längst gibt es keinen vernünftigen Zweifel mehr an der Beobachtung, dass nicht nur der engere Bereich der Politik, sondern die Gesellschaft insgesamt von Großorganisationen beherrscht wird, so dass der politische Prozess aus der strategischen Interaktion einer Vielzahl von öffentlichen und privaten Organisationen resultiert:

»Eine wichtige Folge dieser Entwicklung ist die zunehmende Fragmentierung von Macht, die auf der Handlungsfähigkeit formaler Organisationen nach innen wie nach außen und auf ihrer Verfügungsgewalt über Ressourcen beruht; um das zu konkretisieren, braucht man nur an die großen Unternehmen, an Gewerkschaften und Wirtschaftsverbände oder an Ärzteverbände zu denken. In vielen Bereichen der Politik gilt daher, dass es der Staat längst nicht mehr mit einer amorphen Öffentlichkeit oder mit Quasi-Gruppen wie soziale Klassen zu tun hat, sondern mit korporativen Akteuren, die über eine eigene Machtbasis verfügen« (Mayntz 1993, S. 41).

Es liegt auf der Hand, dass dies die Undurchschaubarkeit, Komplexität und die Schwierigkeit politischer moderner Demokratien steigert. Aber muss deshalb[26] das Modell Demokratie aufgegeben werden? Diese Frage wird uns durchgehend beschäftigen, denn es ist die zentrale Frage einer Steuerungstheorie moderner Gesellschaften. Aber bleiben wir zunächst bei Etzioni.

Dieser bezeichnet es als eine zentrale Hypothese seiner Studie, dass im Gefüge der Typen von Interaktionen in modernen Gesellschaften sich charakteristische Verschiebungen ergeben. Während die Modi der direkten und der symbolischen Interaktion zwischen korporativen Systemen an Gewicht verlieren, steigt die sozietale Bedeutung der »repräsentationalen« oder systemischen Interaktion: »Representational interaction« nennt Etzioni eine über den institutionellen oder organisatorischen Apparat der korporativen Akteure geregelte Kommunikation, welche dem korporativen System insgesamt, nicht aber individuellen Akteuren, zugerechnet wird. Systemische Kommunikation und Interaktion wird zwar auch von kommunizierenden und handelnden Individuen, etwa Vorsitzenden, Vertretern oder Bevollmächtigten mitgetragen, ihre Inhalte und Wirkungen beziehen sich aber nicht auf diese Personen als Individuen, sondern als Repräsentanten des Systems. Ihre gesellschaftlichen Wirkungen entfalten systemische Kommunikationen aufgrund dieser Repräsentativität und ihrer Zurechnung auf das jeweilige korporative Sozialsystem, nicht aber, weil dort bestimmte Individuen handeln.

Sinnvoll ist diese Verdichtung von Kommunikationen durch Repräsentativität, weil in komplexen und dichten Sozialbeziehungen nicht jede Person und jede Gruppe in der Fülle ihrer Besonderheiten zum Zuge kommen kann, ohne das System völlig zu überlasten. Empirischen Anschauungsunterricht dafür erteilt gegenwärtig der amerikanische Kulturkampf einer völlig überzogenen »political correctness«, wonach jede noch so idiosynkratische Gruppe der Mehrheit die umfassende Berücksichtigung ihrer Besonderheiten aufzwingen kann – jedenfalls semantisch. In der Organisation komplexer Systeme sind viele Details der konkreteren Ebenen auf generalisierteren Stufen der Interaktion irrelevant, oder jedenfalls nicht unabdingbar wichtig. Der Aufbau organisierter Komplexität ist nur möglich, wenn die Dynamik und Varianz der konkreteren Ebenen durch Restriktionen der Relevanzgesichtspunkte kontrolliert und in vereinfachte Formen der Interaktion von Subsystemen gezwungen wird. In der naturwissenschaftlichen Theorie der Komplexität wird dies als Prinzip des »optimum loss of detail« bezeichnet:

»The principle states that hierarchical control appears in collections of elements within which there is some optimum loss of the effects of detail. Many hierarchical structures will arise from the detailed dynamics of the elements, as in the formation of chemical bonds, but the optimum degree of constraint for hierarchical control is not determined by the detailed dynamics of the elements. … hierarchical controls arise from a degree of[27] internal constraint that forces the elements into a collective, simplified behavior that is independent of selected details of the dynamical behavior of its elements« (Pattee 1973, S. 93).

Mit der Unterscheidung von direkter, symbolischer und systemischer Interaktion bietet Etzioni ein leicht nachvollziehbares Konzept für die Erklärung der nach wie vor höchst umstrittenen Frage, wie nicht individuelles, kollektives oder systemisches Kommunizieren und Handeln vorstellbar sein soll. Er zeigt auf, dass das Handeln von Systemen über die Figur der Repräsentativität nicht nur möglich und normal, sondern eben für komplexe Gesellschaften und ihre Makrodynamik besonders bedeutsam ist.

Diese frühen Hypothesen Etzionis sind in der nachfolgenden langjährigen Diskussion um die Theorie des Neokorporatismus eindrucksvoll bestätigt worden (Schmitter 1983; Willke 1983, Kap. 4). In korporatistischen Verhandlungssystemen, wie z. B. konzertierten Aktionen, kommunizieren die Vertreter von korporativen Systemen mit Wirkung für ihre Systeme und mit sozietalen Wirkungen, eben weil sie nicht als individuelle Personen, sondern als Repräsentanten von Systemen agieren. An diesen Fällen lassen sich auch einige der Konsequenzen systemischer Kommunikation gut beobachten: Entgegen naiven Vorstellungen von Kommunikation und Handeln kommt es für die Inhalte der systemischen Interaktion nicht nur – und heute vielleicht nicht einmal mehr vorrangig – auf die Intentionen oder Interessen der beteiligten Individuen an, sondern auch auf die Gesetzmäßigkeiten der Operationsweise der betroffenen handlungsfähigen und interessierten Sozialsysteme (siehe auch Systemtheorie II, Kap. 4.2).

Dass die systemische Interaktion korporativer Akteure zum Normalfall gesellschaftlich relevanter Kommunikationen geworden ist, bedeutet allerdings nicht, dass die beteiligten Organisationen sich automatisch an einem übergeordneten Systeminteresse, etwa am öffentlichen Interesse oder am Gemeinwohl orientieren. Vielmehr ergibt sich, wie Renate Mayntz betont (1993, S. 52), eine Mehrebenenstruktur der Kommunikation, in welcher mehr oder weniger bornierte Partialinteressen und aufgeklärte, reflexive (und in diesem Sinne gemeinwohlorientierte) Interessen durcheinanderlaufen. Häufig kommt es in Großorganisationen, seien dies Unternehmen, Gewerkschaften oder Parteien, zu einem Konflikt zwischen eng und kurzfristig definierten Maximierungsinteressen einerseits und stärker fachlich und professionell orientierten mittelfristigen Optimierungsinteressen andererseits. Letztere ermöglichen eher Koalitionsbildungen, Verhandlungen, Kooperationen, Allianzen etc. Sie sind deshalb steuerungstheoretisch und -praktisch besonders interessant.

[28]Ein dritter zentraler Aspekt des Steuerungsmodells der aktiven Gesellschaft ist die Fähigkeit zur Selbsttransformation sozialer Systeme, die über Homöostase und Ultrastabilität hinausgeht, indem sie Selbstthematisierung und Selbstbeschreibung (ausführlicher zu diesen Begriffen Systemtheorie I, Kap. 5.1) einschließt.

»A societal unit has transformability if it also is able to set – in response to external challenges, in anticipation of them, or as a result of internal developments – a new self-image which includes a new kind and level of homeostasis and ultra-stability, and is able to change its parts and their combination as well as its boundaries to create a new unit. This is … an ability to design and move toward a new system even if the old one has not become unstable.« (Etzioni 1971, S. 121, Hervorhebungen im Text).

Etzioni sieht klar, dass die Fähigkeit zur Selbsttransformation mehr voraussetzt als bloße Anpassung an Umweltbedingungen oder -veränderungen. Die Ausbildung einer alternativen systemischen Identität ist ein intern ausgelöster Prozess, der auf interne Bedingungen des Systems antwortet. Also muss die betreffende soziale Einheit in der Lage sein, als System ihre internen Bedingungen zur Kenntnis zu nehmen und mit Blick auf alternative Realitäten Veränderungsprozesse abzuwägen und in Gang zu setzen.

Auf der anderen Seite verändert die Fähigkeit sozialer Systeme zur Selbsttransformation grundlegend die Bedingungen, unter denen das politische System einer Gesellschaft arbeitet. Denn Selbsttransformation setzt die operative Autonomie des Systems voraus. Systemtheoretische Überlegungen haben sehr viel genauer spezifiziert, was unter operativer Autonomie eines Sozialsystems zu verstehen ist. Ein System erreicht Autonomie, wenn es auf der Grundlage einer selbstreferenziellen Operationsweise sich selbst steuert und spezifische, durch seinen Kommunikationscode und seinen Operationsmodus vorgezeichnete Umweltbeziehungen unterhält. Es ist dann autonom in dem Sinne, dass es nach Maßgabe seines eigenen Codes operiert und in dieser Tiefenstruktur seiner Selbststeuerung von seiner Umwelt unabhängig ist (siehe Systemtheorie I, Kap. 3 und Systemtheorie II, Kap. 4.1).

Für hochdifferenzierte, komplexe Gesellschaften ist festzuhalten, dass Teilsysteme wie Politik, Ökonomie, Wissenschaft, Erziehung, Gesundheitswesen, Unterhaltungs- und Pop-Kultur, Recht, Sport etc. jeweils inzwischen hochkomplexe, selbstreferenzielle Systeme geworden sind. Ihre Operationsweise als soziale Systeme, d. h. die Strukturregeln und -muster der in ihnen ablaufenden Kommunikationen, richtet sich primär an internen Konditionalitäten aus und erst darauf aufbauend und nachrangig an externen Bedingungen. Die Operationsweise eines spezialisierten Systems gehorcht in erster Linie der Logik dieses Systems selbst; es kommt zu einer zirkulären Vernetzung seiner[29] Operationen, zu einer »basalen Zirkularität« (Maturana), nach welcher das System auf sich selbst reagiert, sich selbst Probleme schafft und nur nach Maßgabe der Logik seiner Selbststeuerung aus externen »Ereignissen« Informationen ableiten kann. So reagiert etwa das ökonomische System sensibel auf Schwankungen der Geldmenge oder der Inflationsrate, nicht aber auf eine Millionenzahl von Arbeitslosen, weil Letztere kein relevantes wirtschaftliches Datum darstellen. So reagiert das politische System sehr genau auf spezifisch politische Daten wie etwa Wahltermine, Wählerwanderungen oder neue korporative Akteure, aber nur sehr träge auf »objektiv« drängende Problemlagen wie etwa Überrüstung, Umweltzerstörung oder technologische »Restrisiken«, da diese nicht unmittelbar politische Relevanzkriterien ansprechen.

Entgegen dieser zu beobachtenden Selbstreferenz und Selbstbeschränkung funktional spezialisierter Teilsysteme gehen gegenwärtige Theorien des Staates, des Rechts und der Politik immer noch von einem expansiven Politikverständnis aus. Dieses weist der Politik die hierarchische Spitze und mithin den Steuerungsprimat in der Gesellschaft zu. Die Politik als Teil ist für das Ganze der Gesellschaft verantwortlich und soll deshalb in der Lage sein, gesellschaftliche Teilbereiche in direktem Zugriff zu steuern. Eine entsprechende Auffassung des gegenwärtigen Wohlfahrts- und Interventionsstaates betont aus diesem Grund die Fähigkeit von Staat und Recht, von außen her innerhalb der jeweiligen Bereiche bestimmte Wirkungen zu erzielen.

Nimmt man dagegen den Primat funktional differenzierter Teilsysteme in modernen Gesellschaften ernst und interpretiert ihn in diesem Sinne als die Ausbildung selbstreferenzieller Funktionssysteme für Teilaspekte des gesellschaftlichen Kommunikationszusammenhangs, dann lassen sich mit einer präziseren Fassung der Voraussetzungen und Folgen funktionaler Differenzierung und operativer Autonomie auch die Idee der aktiven Gesellschaft und ihr Steuerungsproblem präzisieren.

Wenn Veränderungen, Reformen, Strukturwandel etc. in erster Linie innere Angelegenheiten der autonomen korporativen Systeme sind, dann gewinnen diese mit ihrer operativen Autonomie den Handlungs- und Entscheidungsspielraum, der diese verteilten, dezentralen und differenzierten Sozialsysteme innerhalb einer Gesellschaft zu aktiv handelnden Akteuren macht. Im Anschluss an Etzioni lässt sich deshalb formulieren, dass eine aktive Gesellschaft in dem Sinne und in dem Maße aktiv ist, als ihre verteilten korporativen Systeme zu eigener kollektiver Handlungs- und Selbststeuerungsfähigkeit gelangen. Daraus folgt eine Form der aktiven Gesellschaft, die nicht durch ein konsensgeleitetes, einheitliches »gesamtgesellschaftliches« Aktivitätsniveau gekennzeichnet ist, sondern durch eine Vielzahl konkurrierender und divergierender, zunächst und grundsätzlich in Dissens zueinander operierender Sozialsysteme, die aber – darauf kommt es hier an – je für sich das[30] Niveau eines aktiven gesellschaftlichen Teilsystems erreicht haben. Diese Form der Gesellschaft ist aktiv im Sinne eines eigendynamischen, nicht trivialen und selbsttransformierenden Systems, aber sie erreicht dieses Niveau einer »self-triggered transformability« als Folge einer ungesteuerten Kombination aktiver Teilsysteme.

Die Fähigkeit großer Organisationen und korporativer Akteure zur Selbsttransformation beruht zwar auf einer Eigenkomplexität, die zu Selbstreferenzialität, zu Selbstthematisierung und operativer Geschlossenheit und mithin zu hohen Graden der Indifferenz und Unbeeinflussbarkeit dieser Systeme führt. Aber das heißt nicht, dass sie sich nicht verändern könnten. Was ihnen an direkter Zugänglichkeit für externe Interventionen abgeht, gewinnen sie an Sensibilität gegenüber internen Zuständen und Ereignissen. Dies kann so weit gehen, dass Systeme sich entlang der Richtschnur intern imaginierter Leitbilder verändern. Die Fähigkeit zur Selbsttransformation verweist auf die Rolle von Selbstbildern (»self-image«), Leitbildern und Visionen für die Selbstorganisation und Selbststeuerung von Systemen. Auch in dieser Hinsicht nimmt Etzioni eine Idee vorweg, die erst gegenwärtig wieder hoffähig wird: die Wiederentdeckung von Ideen, Werten und Visionen als Kriterien der Systementwicklung (siehe z. B. Majone 1993).

Die Fähigkeit der politischen Systeme entwickelter Demokratien zur Selbsttransformation ist wesentlich, weil die Politik (als Bestandteil einer verteilten, polyzentrischen Form von Gesellschaft) vor historisch neuartigen Schwierigkeiten der Erfüllung ihrer gesellschaftlichen Steuerungsfunktion steht – der Produktion und Durchsetzung kollektiv verbindlicher Entscheidungen. Die erprobten Mittel direkter Intervention und extern verfügter Veränderung, nämlich Macht und Geld, genügen angesichts der Komplexität, Undurchdringlichkeit und Innen-Orientierung korporativer Systeme nicht mehr (Näheres dazu in Kapitel 5 und 6). Damit haben diese Mittel nicht ausgedient; für die Masse der Routineprobleme und Alltagsinterventionen in überschaubaren und individualisierbaren Problemlagen sind sie auf der Höhe ihrer Zeit und inzwischen gewissermaßen perfektioniert. Aber mit Blick auf die qualitativ neuartigen Problemlagen von atomaren, biologischen und chemischen Gefährdungen, Umweltzerstörung, Massenarbeitslosigkeit, sozialem Elend, Drogenkonsum, organisierter Kriminalität, Finanzkrise, öffentliche Verschuldung etc. muten die herkömmlichen Mittel des Staates für regulative Politik an wie die Tomahawks der Indianer gegenüber den Winchester-Gewehren der Siedler.

Wichtiger ist als eine Revision der Mittel der Politik ist zunächst eine Revision der Form der Demokratie als gesellschaftliches Steuerungsmodell. Grob vereinfacht lässt sich sagen, dass die Form des Wohlfahrtsstaates sich an der Herausforderung entfaltet hat, die individuellen Leiden an den Kosten[31] der Modernisierung zu lindern. Ein weitergehender Anspruch gesellschaftlicher Steuerung kommt zu seiner Form, wenn die Politik sich der Herausforderung stellt, die kollektiven Leiden an den negativen Externalitäten der Arbeitsweise der aktiven Gesellschaft auf ein systemverträgliches Maß zu bringen. Die gravierendste Veränderung sowohl in der Form der aktiven Gesellschaft wie in der korrespondierenden Form aktiver Gesellschaftssteuerung sehe ich in der gegenüber früheren gesellschaftsgeschichtlichen Formationen einschneidend gestiegenen Bedeutung von Wissen. Die gesellschaftliche Produktion, Allokation, Dislozierung und Verwendung von Wissen ist zum Angelpunkt der Ausbildung der aktiven Gesellschaft geworden: »Processes long considered largely the domain of economic and coercive factors are increasingly influenced by the allocation, withholding, and management of knowledge« (Etzioni 1971, S. 134). Sie werden auch zum Angelpunkt der Antwort auf die Frage werden, ob es gelingt, eine dem Entwicklungsstand der Gesellschaft entsprechende Form aktiver Steuerung zu schaffen.

In Etzionis Theorie der aktiven Gesellschaft hat die Frage des Umgangs mit kollektivem Wissen als zentraler Ressource sozietaler Steuerung konstitutive Bedeutung. In der Anerkennung der formenden Rolle kollektiven Wissens kann er sich zwar auf wichtige Arbeiten der Wissenssoziologie berufen, doch bringt er insofern einen neuen Aspekt ins Spiel, als er in gesellschaftstheoretischer Absicht Wissen neben Macht und Geld als eigenständigen, in seiner Steuerungswirkung zumindest ebenbürtigen Faktor der säkularen Konstruktion gesellschaftlicher Realität ernst nimmt. Der erste Schritt hierzu ist ein Verständnis der Bedeutung des kollektiven Wissens gegenüber dem gewöhnlich im Vordergrund stehenden individuellen Wissen. Das in den gesellschaftlichen Operationsmodus eingegrabene und institutionalisierte Wissen, von Konventionen, Regelsystemen, der Sprache über spezialisierte Steuerungsmedien bis hin zu den identitätsstiftenden Symbolen und geschichtlich gewordenen Selbstverständnissen, ist in eigensinniger Weise unabhängig von individuellen Wissensbeständen. Es unterliegt autonomen Entwicklungsbedingungen und Dynamiken und zeigt deshalb sozietale Wirkungen, die von den Wirkungen individuellen Wissens grundverschieden sind. Dies werde ich in Kapitel 7 ausführen. Festzuhalten ist hier, dass Existenz und Relevanz kollektiven Wissens mit hinreichender Plausibilität zeigen, dass eine auf Individualmerkmale und individuelle Eigenschaften reduzierte Beobachtung nicht nur nicht ausreicht, sondern sogar irreführend ist. Ihr entgehen diejenigen Momente von Gesellschaft, welche diese als emergente Ebene der Systembildung über die bloße Aggregation von Individuen hinaus zu einer eigenständigen »sozialen Tatsache« machen.

So kommt es z. B. für das Aktivitätsniveau und den Grad der Reflexionsfähigkeit sowohl von Gesellschaften wie von Organisation nicht nur auf die[32] Wissensbestände und das Lernverhalten ihrer Mitglieder an. Zumindest ebenso bedeutsam sind die in »standing operation procedures« und unpersönlichen Satzungen und Regelwerken eingelassenen Definitionen von systemischen und systemisch relevanten Erwartungen, die das Handeln der Mitglieder steuern. Steuernd wirkt dabei die organisierte Selektivität der in den spezifischen Regelsystemen stabilisierten Erwartungsmuster, die bestimmte Anschlüsse fördern und andere erschweren und den Fortgang der Operationen so in eine eigensinnige Ordnung bringen. Regelstrukturen, Sprachspiele und semantische Ordnungen sind es auch, die festlegen, wie soziale Systeme mit ihrem kollektiven Wissen umgehen, es erarbeiten, aufbereiten, einsetzen und auch, wie dieses Wissen revidiert und veränderten Umweltbedingungen und -restriktionen angepasst wird. Die Folge ist z. B., dass es innovative und regredierende, risikobereite und risikoscheue, verknöcherte und responsive Sozialsysteme gibt und dass die Differenz in hohem Maße durch die Art der systemisch organisierten Informations- und Wissensverarbeitung bestimmt ist (siehe dazu Systemtheorie II, Kap. 4).

In der folgenden Tabelle fasse ich die hier hervorgehobenen vier Punkte der Konzeption Etzionis zusammen und beziehe sie einerseits auf die generelle Problemstellung einer Theorie aktiver Gesellschaften, auf welche sie antworten, und andererseits auf die spezifischen Steuerungsprobleme komplexer Sozialsysteme, die uns hier auch weiter beschäftigen werden.

Mit der Betonung gesellschaftlicher Steuerungskonzeptionen (Lindblom, Etzioni) und der Vereinnahmung von Demokratie als Form der Selbstorganisation komplexer Sozialsysteme habe ich eine – insbesondere von der Ökonomik gepflegte – Tradition überspielt, nach der als Hauptformen der Lösung komplexer Koordinationsaufgaben gewöhnlich nicht Demokratie und Hierarchie kontrastiert werden, sondern Markt und Hierarchie. Für die Wirtschaftswissenschaften mag dies sinnvoll sein, auch wenn Demokratie als Koordinationsmodell dabei herausfällt; für eine gesellschaftstheoretisch orientierte Soziologie ist diese Verkürzung des Interesses von der umfassenderen Form der Demokratie auf den Markt nicht nur widersinnig, sondern auch irreführend. Auf der anderen Seite muss sich allerdings auch eine soziologische Analyse der Steuerungsproblematik mit der Existenz des Marktes als Koordinationsmechanismus auseinandersetzen. Ich werde deshalb in einem Exkurs das Verhältnis von Demokratie- und Marktmodell unter Steuerungsgesichtspunkten beleuchten.

Tabelle 1.1: Die Konzeption Etzionis

TheorieproblemSteuerungsproblemAntwort Etzionis
trans-individuelle HandlungsebeneMechanismen der Bildung kollektiver Identität»collectivity« als eigenständige Systemebene
trans-individuelle Zurechnung von Kommmunikationenorganisierte Verantwortungsystemische Interaktion (»representational interaction«)
WandelWandel trotz operativer SchließungSelbsttransformation
Generalisierung und Speicherung individueller ErfahrungFormung und Revision der systemischen Wissensbasiskollektives Wissen

[33]2.1 Exkurs zum Markt als Steuerungsform

Soziologisch gesehen ist der »moderne« Markt ein abgeleitetes Phänomen. Der auf der Kunstfigur des »Homo oeconomicus« aufbauende Markt, in dem isolierte Individuen nach rationalen Kalkülen private Güter tauschen, setzt die Transformation der traditionalen Gemeinschaft zur modernen, funktional differenzierten Gesellschaft voraus, als Bedingung der Befreiung des ökonomischen Kalküls von den Bindungen der Familie, der Freundschaft, der Moral, der Religion oder der Herrschaft. An die Stelle dieser traditionalen treten allerdings andere Bindungen, die überhaupt erst die Stabilität des Marktes garantieren. Es sind dies Durkheims berühmte »nicht kontraktuellen Teile des Kontrakts«, also die institutionellen Rahmenregelungen, welche erst den Freiraum für eine so unwahrscheinliche Konstruktion wie die des freien Marktes schaffen: im Kern eine moderne freiheitliche politische Ordnung und ein diese Freiheiten prozessual abstützendes modernes Rechtssystem. Besonders deutlich hat Mark Granovetter (1992) herausgearbeitet, dass auch noch moderne Märkte in diesem Sinne in die Institutionen der sie tragenden Gesellschaften eingebettet sind.

Sogar Ökonomen würden vermutlich zugeben, dass ein preisgesteuerter Markt nicht ohne eine Fülle von Rahmenregelungen funktionieren kann. Diese müssen kollektiv verbindlich gelten, können also in einer modernen Gesellschaft nur von der Politik bereitgestellt werden: Rechtssicherheit, Vertragsfreiheit, Eigentumsrechte, Rechtsdurchsetzungsgarantien, Selbstbeschränkung politischer Macht etc. Innerhalb dieser Einbettung erweisen Märkte ihre besondere Leistungsfähigkeit darin, unter der (keineswegs selbstverständlichen) Voraussetzung des freien Marktzugangs und des freien Austritts, über den Preismechanismus eine extrem schnelle und extrem kostengünstige Koordination zwischen Angeboten und Nachfragen zu bewerkstelligen.

[34]Schnell ist die Koordination, weil sie einerseits in »Echtzeit« erfolgt: Anbieter und Nachfrager müssen im Prinzip nicht mehr lange über den angemessenen Preis verhandeln, sondern können auf kontinuierliche, mitlaufende Beobachtungen des Marktgeschehens zurückgreifen und daraus »auf der Stelle« den situativ angemessenen Preis errechnen; in den meisten Fällen ist sogar nicht einmal dies erforderlich, weil kontinuierlich angepasste Marktpreise feststehen, also überhaupt nicht mehr verhandelt werden. Zum anderen ist die Koordination wegen des kurzfristig organisierten Transaktionsgeschehens schnell: Idealtypisch gelten die Bedingungen der je gegebenen Situation, die Zukunft wird ausgeklammert oder diskontiert. (Dies lässt sich gut mit Vertragstypen vergleichen, bei denen die Zukunft eine bedeutende Rolle spielt, etwa Arbeits- oder Eheverträge).

Dass der moderne Markt anders als frühere Formen wie Palavern, Ringtausch oder Basaren, massive Zeitersparnisse und Tempovorteile ermöglicht, ist unbestritten. Schwieriger ist die Frage der Kostengünstigkeit. Zwar zweifelt kaum jemand daran, dass moderne Warenmärkte eine besonders kosteneffiziente Form der Koordination von Angebot und Nachfrage darstellen – sonst hätte sich diese Form nicht weltweit durchgesetzt und auch noch die machtgestütze Konkurrenz zentral verwalteter sozialistischer Quasi-Märkte aus dem Rennen geworfen. Auch stellt wohl niemand in Frage, dass es für »einfache« Güter und »einfache« Beziehungen zwischen Anbieter und Nachfragern keine effizientere Form als die des modernen Marktes gibt.

Die Zweifel an der Kostengünstigkeit des Marktes beginnen dort, wo ökonomische Transaktionen den Rahmen einfacher, freier, kurzfristiger, direkter und insofern für alle Beteiligten gut überschaubarer Beziehungen zwischen Anbietern und Nachfragern sprengen. Der Markt selbst war eine geniale Erfindung zur Reduktion der Komplexität sozialer Austauschbeziehungen auf »rational choice«. Aber offensichtlich lässt die gesellschaftliche Evolution einen solchen, durch Reduktion eroberten Freiraum nicht lange unbesetzt. Er dient nur als Treibhaus für den Aufbau neuer Komplexität. Je stärker Marktbeziehungen nun ihrerseits dem Moloch Komplexität wieder anheimfallen, je komplexer sich die Produkte, Produktionsformen, Austauschbeziehungen, Zeithorizonte und Kosten-Nutzen-Kalküle von Anbietern und Nachfragern darstellen, desto problematischer wird die Annahme, dass der Markt kostengünstig ist, weil er praktisch ohne Transaktionskosten (ohne Verzögerung und ohne besondere Koordinationsanstrengung) funktioniert. »Invisible time« und »Invisible hand« als konstituierende Merkmale des idealen Marktes konnten gegenüber der Herausforderung durch Komplexität nicht bestehen.

Aufschlussreich ist, dass die klarste Formulierung dieser Zweifel nicht im Rahmen einer Theorie des Marktes entwickelt wurde, sondern im Rahmen einer Theorie der Firma. 1937 veröffentlichte Ronald Coase einen inzwischen[35] klassischen Artikel über ebendiese »Theorie der Firma« (1937). Ausgangspunkt dafür war Ronald Coases Verwunderung darüber, dass offenbar nicht der Markt die alleinige Koordinationsinstanz für ökonomische Transaktionen ist (wie es die Theorie des Marktes vorsieht), sondern dass Firmen einen wichtigen Teil der notwendigen Koordination übernehmen. In einer von Märkten gesteuerten Ökonomie könnten diese nicht überleben, würden sie die von ihnen übernommenen Koordinationsaufgaben nicht effizienter verrichten als der Markt selbst: »Coase identified transaction-cost economizing as a primary reason for the existence of the firm (as an alternative to the ad hoc purchasing of services within a market)« (Cyert und March 1992, S. 219). Diese Beobachtung führte zu Coases zentraler Idee: Er schlug vor, Märkte und Firmen als alternative Modelle der Koordination ökonomischer Transaktionen zu verstehen und sie unter dem Gesichtspunkt ihrer Transaktions-Kosteneffizienz zu vergleichen. Transaktionskosten, so hat Douglas North (1990, S. 362) kompakt formuliert, sind die Kosten für die Schließung und Sicherung von Verträgen.

Über den engeren wirtschaftswissenschaftlichen Kontext hinaus ist Coases Theorem höchst brisant. Denn es postuliert gegenüber dem liberalistischen Dogma moderner Gesellschaften, das auf pluralistische und dezentrale Selbstorganisation in demokratischen und marktförmigen Strukturen setzt, eine in manchen Hinsichten überlegene Koordinationsleistung hierarchischer Strukturen. Zwar spezifiziert Coase diese Hinsichten nicht, weil er Begriff und Inhalt von Transaktionskosten nicht operationalisiert; aber dies macht sein Argument noch massiver, weil es so verstanden werden kann, dass für alle nicht trivialen, komplexen Transaktionen Hierarchie die bessere (d. h. kostengünstigere) Wahl sei.

Wie wir in Kapitel 3 sehen werden, stimmt Coases Theorem nahtlos mit Max Webers Idee der überlegenen Rationalität formal bürokratischer Steuerungsformen überein. Erstaunlicherweise wird auf diesen Zusammenhang bis heute kaum hingewiesen. Allerdings benötigten sogar die Wirtschaftswissenschaften über 35 Jahre, bis sie die Bedeutung der Ideen von Coase erkannten. Vor allem Oliver Williamson (1975; 1985; 1991) entdeckte zu Beginn der 1970er-Jahre Coase wieder und arbeitet seitdem am Ausbau und an der Operationalisierung einer Theorie der Transaktionen, Transaktionskosten und der Systeme der Koordination von Transaktionen. Für unseren Zusammenhang sind Coase und Williamson bedeutsam, weil sie direkt auf einen Vergleich der Koordinationsleistungen von Markt und Hierarchie zielen. Sollte sich herausstellen, dass für komplexe Transaktions- und Interaktionsbeziehungen mit hohen Transaktionskosten Hierarchie tatsächlich das überlegene Steuerungsmodell ist, dann hätte das Modell demokratischer Selbststeuerung im Kontext komplexer, wissensabhängiger Problemlagen schlechte Karten.

[36]Wohlgemerkt sprechen sowohl Coase wie auch Williamson nicht von Demokratie, sondern vom Markt als Gegenmodell zur Hierarchie. Aber das ist die übliche Einseitigkeit von Ökonomen – und wohl auch die berechtigte Angst davor, mit der Bevorzugung von Hierarchie Demokratie als Modell zu diskreditieren. Für eine soziologische und insbesondere für eine steuerungstheoretische Betrachtungsweise allerdings ist demokratisches Pathos wertlos, wenn sich nicht genauer begründen lässt, warum und in welchen Hinsichten Demokratie als Steuerungsmodell komplexer Gesellschaften vorzuziehen ist. Im folgenden Abschnitt werde ich zeigen, dass es eine Reihe guter Gründe gibt, der überkommenen Idee von Demokratie als Steuerungsmodell kritisch zu begegnen. Aber auch am Modell hierarchischer Steuerung lässt sich grundlegende Kritik üben – sogar gerade im Kontext hochkomplexer Transaktions- und Interaktionsbeziehungen (siehe Kapitel 3.1). All dies führt dazu, gegenüber der Routine dogmatischer Rechtfertigungen gegenwärtiger Formen von Demokratie und Hierarchie konsequent und geduldig nach »dritten« Formen zu suchen, die der Herausforderung hoher organisierter sozialer Komplexität besser gewachsen sind.

Sicherlich unterscheiden sich Demokratie und Markt als Steuerungsmodelle für die Koordination komplexer sozialer Systeme. Vor allem, darauf hat mich Fritz Scharpf in einem hilfreichen Kommentar hingewiesen, geht es im Fall des Marktes um die individuelle Verfolgung individueller Zwecke, während Demokratie die individuelle Partizipation an kollektiven Entscheidungen über kollektive Ziele meint. Da mich hier Markt ebenso wie Demokratie vorrangig als Modi der Systemsteuerung interessieren, betone ich eher die Gemeinsamkeiten der Makroeffekte beider Steuerungsformen. Sie liegen in den systemischen Effekten einer dezentralen, verteilten Koordination, die sich in beiden Fällen nicht in bloßer Aggregation erschöpft, sondern in einer Transformation der unterliegenden Rationalität – auch wenn sie sich in beiden Fällen »hinter dem Rücken der Akteure« vollzieht. Bei gutem Verlauf erzeugen beide Koordinationsformen aus der Interaktion rationaler Egoisten dann »public virtues« (genauer: nicht beabsichtigte Kollektivgüter), wenn erwartet werden kann, dass die Interaktionen sich kontinuierlich in eine absehbare Zukunft fortsetzen werden (Axelrod/Keohane 1985).

Gegenüber den durchaus vorhandenen und wichtigen Unterschieden zwischen den Formen Markt und Demokratie hebe ich also hier ihre grundlegenden Affinitäten hervor, ihre funktionalen und strukturellen Übereinstimmungen. Der Markt lässt sich als »demokratisches« Modell eines Güteraustausches (»eine Mark = eine Stimme«) verstehen, der von den Rücksichten auf Stand und Klasse, Moral und Religion, Familie und Freundschaft befreit und nach dem Prinzip »eine Person, eine Stimme« (bei der Bildung des Preises) organisiert ist. Demokratie kann als Markt für politische Herrschaft gelten, [37]strukturiert nach dem Prinzip »eine Person eine Stimme« (bei der Bildung politischer Repräsentation). Auf diesem Markt konkurrieren »politische Unternehmer« um Anteile an der Übertragung öffentlicher Macht (Schumpeter). Tatsächlich hat die letztere Sichtweise zu einer weitverzweigten und in Teilen überzogenen »Ökonomischen Theorie der Demokratie« geführt.

Über diese Ähnlichkeit hinaus scheint mir die wichtigere Affinität von Demokratie und Markt darin zu bestehen, dass es homologe Formen der Koordination sind, die prinzipiell durch Selbstorganisation, Dezentralität, verteilte Intelligenz, weitgehende Autonomie der Teilsysteme, inkrementale Entscheidungsfindung, leichte Reversibilität der getroffenen Entscheidungen und insbesondere durch formale Gleichheit der Entscheider /Nachfrager/ Konsumenten/Wähler gekennzeichnet sind. Charakterisiert sind beide Formen durch Kurzfristigkeit der Entscheidungslogik, Diffusität der Verantwortlichkeit, Anfälligkeit für Stimmungen, Moden, Trends und massenmediale Werbung und insbesondere eine immanente, schwer kontrollierbare Selbstgefährdung durch organisationale Verdichtung und Marktmachtbildung, die das konstituierende Prinzip des freien Wettbewerbs untergräbt.

In Kapitel 3 werden wir feststellen, dass demgegenüber Hierarchie spiegelbildlich auf die jeweils andere Seite der Medaille setzt, also auf Fremdorganisation, Zentralisierung, hierarchisierte Intelligenz, Beschränkung der Autonomie der Teile, Top-down-Planung als Form der Setzung von Entscheidungsprämissen, Blockierung der Reversibilität der Entscheidungen und insbesondere auf die formalisierte Ungleichheit der Mitglieder auf den unterschiedlichen Ebenen der Hierarchie. Entsprechend ist Hierarchie anfällig für ihr »internes« Gegenmodell der informalen Organisation, der Verwischung hierarchischer Grenzen und Stufen, der Aufweichung klarer Verantwortlichkeit in »organisierter Unverantwortung« (Beck) und der Chaotisierung durch Informationsüberflutung.

Spannend wird es erst bei der Frage der Mischformen von Demokratie und Hierarchie, etwa des Einbaus von internen Märkten in (hierarchische) Organisationen oder des Einbaus von kontextueller Steuerung in die Institutionen der Demokratie – also bei der Frage, ob die reinen Typen von Demokratie und Hierarchie, Markt und Organisation sich zu viablen »dritten« Formen der Steuerung hoher organisierter Komplexität fortentwickeln lassen. Ich werde in Kapitel 4 diesen Faden wieder aufnehmen.

Wie schon erwähnt, werde ich in den Kapiteln 5 bis 7 die steuerungstheoretische Bedeutung der Steuerungs- und Transaktionsmedien Macht, Geld und Wissen ausführlich erörtern. Zuvor aber sind mehrere Lücken zu füllen. In einem ersten Schritt möchte ich unterschiedliche Vorschläge für eine Revision des Steuerungsmodells demokratischer Gesellschaften auswerten. Danach präsentiere ich in Kapitel 3 Hierarchie als zweites zentrales Steuerungsmodell [38]für komplexe Sozialsysteme. Auch hier schließt sich ein Abschnitt über die Frage der Revision des Hierarchiemodells an. In Kapitel 4 diskutiere ich im Rahmen des allgemeinen Problems der Koordination die Frage, ob Verhandlungssysteme die gesuchte dritte Form der Steuerung sein könnten.

2.2 Ideen zur Revision der Demokratie als Steuerungsmodell

Wir haben bereits gesehen, dass Lindbloms Vermutung nicht gerade bestätigt worden ist, die Demokratie könne sich zwischen der Skylla des Marktversagens und der Charybdis des Versagens eines autoritären, hierarchischen Staates fortentwickeln zu dem »präzeptoralen System« einer belehrten und lernenden Gesellschaft. Dennoch bleibt seine Idee wertvoll und aufschlussreich. Denn in dieser dritten Form kommt ein alter Traum politischer Erneuerung zum Ausdruck, der Rousseau ebenso bewegt hat wie John Stuart Mill, Hobbes ebenso wie Tocqueville Er wird immer dann besonders virulent, wenn sich einmal mehr gezeigt hat, dass weder Autorität noch Tausch, weder physischer Zwang noch materieller Anreiz genügen, um jene humane Qualität gesellschaftlicher Organisation zu erreichen, die reflektiert, dass sowohl Menschen wie soziale Systeme ihre Kommunikationen auf Expertise und Unterscheidungsvermögen aufbauen und insofern wissensbasiert operieren. Wie Autorität und Tausch ist auch Erziehung als abstraktes Prinzip unbestimmt und lässt sich in ihren Konsequenzen für die Strukturierung politischer Prozesse erst abschätzen, wenn die Kriterien offenliegen, nach denen Belehrung tatsächlich stattfinden oder realisiert werden soll. Präzeptorale Formen reichen von Indoktrination, Gedankenkontrolle und Propaganda über Information, Werbung, Schulung, und Überredung bis zu Ermahnung, Erziehung, Wissensvermittlung und Beratung. Präzeptorale Formen zielen immer auf den »neuen Menschen«; aber die Frage ist, nach welchem Bild dieser neue Mensch geformt sein soll.

Bereits die traditionellen Antworten auf diese Frage spiegeln die notwendige Paradoxie jeder Erziehung, die zuerst darin begründet lag, dass der Erzieher, und sei er Gott, auf der Freiheit zur Perfektion bestehen musste, ohne diesen Zwang zur Freiheit präzeptoral begründen zu können. Heute wird die Paradoxie präzeptoraler Absichten dadurch verschärft, dass auch der Zögling um dieses Dilemma jeder Erziehung wissen kann und deshalb auch Selbstveränderung nur noch Einsicht in die Notwendigkeit operationalisiert. Solange es nur um die Verhältnisse zwischen Personen ging, um Lehrer und Schüler, Aufklärer und Unwissende, Herrscher und Beherrschte, Freie und zu Befreiende, ließ sich die doppelte Paradoxie jeder Erziehung[39] im Wohlgefallen eines Fortschritts zur Mündigkeit auflösen. Aber mit der Verdichtung sozialer Strukturen und gesellschaftlicher Organisiertheit wurde Erziehung bereits im 19. Jahrhundert mit Hegel und Marx zu einer sich selbst dementierenden Aufklärung über Fortschritt, die Theodor Adorno dann auf den Begriff der »negativen Dialektik« brachte. Jedenfalls im Bereich sozialer Relationen und Operationen war Fortschritt nicht mehr von den Kosten des Fortschritts zu trennen und der Weg gesellschaftlicher Selbstbewegung von der Dialektik als Aufklärung zur negativen Dialektik gestaltete sich sehr kurz.

Auch Lindblom gesteht ohne Umschweife zu, dass die Versuche der politisch organisierten gesellschaftlichen Erziehung der Massen in der UdSSR, in China oder Kuba nicht besonders erfolgreich waren. Die Perversion der gemeinten Überzeugungsarbeit scheint bei Lindblom deutlich auf, wenngleich er die zugrundeliegende Paradoxie nicht bemerkt:

»Für die UdSSR, Kuba und China gilt gleicherweise, dass die Schablone für den neuen Menschen aus Elementen sozialistischen Gedankenguts, George Orwells Roman ›1984‹ und der Wertewelt des viktorianischen Englands modelliert worden ist … Bei dieser neuen Persönlichkeit sind zwei Eigenschaften unabdingbar: ›Erziehung‹ versucht Menschen zu schaffen, die kollektiven Interessen ›autonom‹ dienen, d. h. die aus eigener Initiative das tun, was man ihnen in anderen Gesellschaften befehlen oder wozu man sie überreden müßte. ›Erziehung‹ hat außerdem Menschen zu schaffen, die sich für besondere Aufgaben dem Staat und der Partei freiwillig zur Verfügung stellen« (Lindblom 1980, S. 103).

Heute, über 30 Jahre später, wissen wir genauer, wie selbstzerstörerisch diese Versuche waren. Dennoch erledigt diese Einsicht nicht die Relevanz des präzeptoralen Modells politisch-ökonomischer Organisation moderner Gesellschaften. Denn auch liberale Demokratien haben der Versuchung präzeptoraler Lenkung der Freiheit nicht widerstanden. Sie sind aber aufgrund ihrer Offenheit der Paradoxie von Überredung stärker ausgesetzt und mussten und konnten deshalb diese Paradoxie besser verstecken, was Lindblom in einem erstaunlich gebauten Argument konstatiert und zugleich zur Stützung der »Normalität« präzeptoraler Systeme nutzt: »Wenn sich Herrschaft und Autorität im liberalen Verfassungsstaat des Westens hinter einer Rhetorik der Partizipation und Initiative verbergen, dann darf es nicht überraschen, sie auch in einer präzeptoralen Ideologie verschleiert zu finden« (Lindblom 1980, 112). Aber er geht einen Schritt weiter und hebt diejenigen Aspekte der präzeptoralen Gesellschaftssteuerung hervor, die heute und auch im Fall liberaler Demokratien besonderes Augenmerk verdienen: Zum einen sind das einige bemerkenswert humane Elemente der präzeptoralen Vision sozialer[40] Organisation, die etwa in dem berühmten Wort Maos ausgedrückt sind, wonach von allen Dingen in der Welt Menschen das Kostbarste sind. Als Vision vom erzogenen und schließlich mündigen Bürger ist diese Formel nicht zwingend weniger attraktiv und weniger human als die nach wie vor dominanten Formeln vom marktrationalen und machtrationalen Bürger. Sie spiegelt den in allen präzeptoralen Versuchen durchscheinenden Vorbehalt gegen zu hohe Spezialisierung, Einseitigkeit und gegen Kästchendenken und trifft sich darin einerseits mit aktuellen Entwicklungen in der Organisationsund Unternehmenssteuerung (ausführlicher dazu Systemtheorie II, Kapitel 4); und andererseits mit neueren Überlegungen zu den Folgekosten und Risiken hochgetriebener Spezialisierung und Differenzierung moderner Gesellschaften (dazu Willke 1993b; (Willke 2007a; Willke 2009).

Hier genau, im Bereich hochkomplexer liberaler Demokratien, könnte das Modell einer präzeptoralen Steuerung die Brisanz gewinnen, die es für unterentwickelte sozialistische Gesellschaften wie Kuba oder China längst verloren hat. Denn es ist kaum erkennbar, wie das Marktmodell gesellschaftlicher Selbstorganisation auf der einen Seite, das Machtmodell politischer Steuerung der Gesellschaft auf der anderen Seite ausreichen könnten, um die manifesten Funktions- und Steuerungsprobleme in den Griff zu bekommen, welche in wesentlichen Merkmalen auf eine wild gewordene Marktlogik einerseits, eine stumpf gewordene Machtlogik andererseits zurückgehen. Bei einer ganzen Reihe unzweifelhaft drängender, explosiver und risikoreicher Problemlagen wie etwa der gegenwärtig laufenden Zerstörung des tropischen Regenwalds und der schützenden Ozonschicht, aber auch bei Problemen wie dem der Abfallbeseitigung, des Raubbaus an endlichen Energieträgern, der Vergiftung von Boden, Wasser und Luft, des Drogenkonsums etc. verquicken sich zudem ökonomische Borniertheit und politische Machtlosigkeit, so dass es nicht viel Vorstellungsvermögen braucht, um zu erkennen, dass die Logiken des Marktes und der Macht allein für zu viele Problemlagen keine ausreichenden Lösungen in Aussicht stellen.

Tatsächlich spielt Lindbloms dritte Steuerungsform neben Macht und Markt gerade bei den genannten Problemen eine besondere Rolle. Die Bildung neuer individueller und kollektiver Verhaltensweisen ist einerseits unabdingbare Voraussetzung für nachhaltige Problemlösungsstrategien; andererseits wissen wir inzwischen aus Erfahrung, dass sich die erforderlichen Verhaltensänderungen weder befehlen noch kaufen lassen. Aufklärung und Erziehung sind deshalb notwendige zusätzliche Steuerungsformen, auch wenn längst nicht klar ist, wie dieses »people processing« wirksam gestaltet werden könnte, ohne die betroffenen Personen – und das sind in der Regel wir alle – zu Schulkindern zu degradieren. Die meisten staatlichen Aufklärungskampagnen sind eher abschreckende Beispiele. Andererseits gibt es[41] ermutigende Beispiele für erfolgreiche Lernprozesse in Teilbereichen des Umweltschutzes, der Abfallvermeidung, des Umgangs mit Aids, des Schutzes von Nichtrauchern etc. besonders dann, wenn die Kampagnen von privaten Organisationen und Betroffenengruppen getragen werden.

Vielleicht ist es der wichtigste Beitrag Lindbloms zum Projekt der Revision der Demokratie, dass er die beengende Alternative von Markt und Staat aufgebrochen und mit der Vision eines durch präzeptorale Elemente durchsetzten Systems angereichert hat. Nach vielen desillusionierenden Erfahrungen kann man heute wissen, dass alle bislang vorgeschlagenen »dritten Wege«, einschließlich Lindbloms präzeptoralem Regime, konzeptionell zu einfach angesetzt und gerade in weniger entwickelten Gesellschaften praktisch chancenlos waren. Eine Anreicherung der Demokratie setzt wohl eine bereits hochentwickelte Form von Demokratie voraus – eine Bedingung, die in China, Kuba oder Jugoslawien nicht gegeben war.

Theoretisch gesehen, ist selbst in hochentwickelten Demokratien ein Erfolg präzeptoraler Elemente unwahrscheinlich, weil die Schwierigkeiten der verändernden Intervention in komplexe personale oder soziale Systeme sehr viel grundsätzlicher sind, als bislang angenommen. Erst auf dem Hintergrund einer elaborierten Systemtheorie, Kommunikationstheorie, Theorie der Beobachtung und einer Interventionstheorie lässt sich begreifen, wie voraussetzungsvoll gelingende Intervention ist – und mithin, wie schwierig die kontrollierte Veränderung sozialer Systeme.

Auch Etzioni schlägt eine Weiterentwicklung des Steuerungsmodells moderner Gesellschaften vor, um über die Beschränkungen der gegenwärtigen Form von Demokratie hinaus zu gelangen. Nicht zufällig zielt sein Vorschlag in eine ähnliche Richtung wie der Lindblom’sche, auch wenn er ein anderes Begriffsinstrumentarium verwendet. Sein Ausgangspunkt ist die Unterscheidung zweier Arten von Ressourcen der Systemsteuerung, Konsens und Kontrolle. Konsens erzeugt die Art von Kohäsion und Zusammenhang, die eher passive Sozialsysteme des Typs Gruppe und Gemeinschaft kennzeichnen, während Kontrolle das Hauptmerkmal eher aktiver und zielorientierter Sozialsysteme wie Organisationen und staatlicher Einheiten ist. Allerdings, so Amitai Etzioni, verfügen alle konkreten Sozialsysteme über beide Momente in unterschiedlichen Gewichtungen, so dass ein bestimmtes System im Laufe seiner Entwicklung unterschiedliche Mischverhältnisse ausbilden und so auch unterschiedliche Identitäten annehmen kann:

»Societal units may be thus viewed in terms of a ›two-dimensional activeness space‹. They may be characterized as commanding varying degrees of controlling and consensus-forming capacities. Above all, it is important to note that there is no necessary contradiction between cohesive units[42] and control networks; both are important for increasing the societal capacity to act, and active units command both cohesive and control elements« (Etzioni 1971, S. 109).

Etzioni überträgt diese Grundidee auf ganze Gesellschaften und kommt, je nach Mischungsverhältnis von Konsens- und Kontrollkapazitäten, zu vier idealtypischen Ausprägungen von gesellschaftlichen Systemen der Selbststeuerung (siehe Tabelle 2.1).

»To start with an elementary classification derived from the basic components of societal guidance, four types of societies suggest themselves: (1) those low in both control and consensus-building, passive societies, a type approximated by many underdeveloped nations; (2) those whose control capacities are less deficient than their consensus-building mechanisms, overmanaged societies, a type approximated by totalitarian states; (3) those whose consensus-building is less deficient than their control capacities, drifting societies, a type approximated by capitalistic democratic societies; (4) and societies effective in both realms, active societies, a type which is a ›future system‹ or societal design« (Etzioni 1971, S. 466).

Bemerkenswert ist die Einordnung gegenwärtiger demokratischer Industriegesellschaften als dahintreibend. Diese frühe Diagnose Etzionis, die vor allem vom Bild der USA geprägt und auf diese bezogen war, ist auch heute keineswegs überholt. Alle westlichen Demokratien haben sich von ihren je gegenwärtigen Problemen treiben lassen und ihre Zuflucht in kurzfristigem Krisenmanagement gesucht. Wäre der Gewöhnungseffekt nicht so massiv, so müssten wir entsetzt sein über die Steuerungsleistung moderner Demokratien: Sie schieben ein Millionenheer von Arbeitslosen vor sich her und Schuldenberge, die jedes Vorstellungsvermögen übersteigen; sie vergeuden knappe Ressourcen, als gäbe es kein Morgen und vernachlässigen Zukunftsinvestitionen, als gäbe es keine nächsten Generationen. Sie lassen sich von der Rücksicht auf den nächsten Wahltermin beherrschen und missverstehen diese Borniertheit als Herrschaft des Volkes. Sie unterwerfen sich Technologien – Beispiele: Autoverkehr, Energieerzeugung oder das globale Schattenbankensystem –, die den Verwertungsinteressen privater Anleger entsprechen, ohne die sozialen Auswirkungen, Folgekosten, Risiken und mögliche Alternativen ernsthaft zu prüfen.

Tabelle 2.1: Steuerungstypen nach Etzioni

Kontrolle Konsensschwachstark
schwachpassivübersteuert
starkdahintreibendaktiv

[43]Die gesellschaftliche Steuerungsleistung politischer Demokratie ist bewundernswert, vergleicht man sie mit derjenigen anderer real existierender politischer Formen. Aber sie ist miserabel, sobald man sich von diesem bequemen Maßstab löst. Gemessen an ihren selbsterzeugten Problemen gleicht politische Demokratie mit fortschreitender Entwicklungsdynamik moderner Gesellschaften einem Kamikazeunternehmen. Solange es möglich war, alle internen Widersprüche politischer Demokratie mit Verweis auf abschreckende Alternativen (und äußere Bedrohung) zu überspielen, war auch die Legitimität des Projekts nahezu selbstverständlich. Aber diese Automatik hat sich mit der Implosion des Sozialismus und der Explosion der sozialen und ökologischen Probleme moderner Demokratien überlebt (Rosenau 1999). Entweder die Demokratie als Steuerungsmodell korrigiert ihren Kurs oder sie gerät in Gefahr abzustürzen.

Die von Etzioni vorgeschlagene Kurskorrektur geht denn auch genau in Richtung einer verbesserten Fähigkeit zu Selbststeuerung. Sie soll dadurch erreicht werden, dass gegenüber den (weniger defizienten) Mechanismen der Konsensbildung »von unten nach oben« verstärkt Instrumente und Netzwerke der Kontrolle und Steuerung »von oben nach unten« etabliert werden. Etzioni hält es für geboten, die Regierungsfähigkeit demokratischer Systeme zu verbessern, weil ansonsten die in repräsentativen systemischen Kommunikationen formulierten Programme, Projekte oder gar Visionen keine Chance auf eine Realisierung haben. Eine zu stark gewichtete Konsens-Komponente überflutet das System mit Ansprüchen, Anforderungen, partikularen Interessen, Einzelvorhaben, Gruppenegoismen etc., ohne dass komplementäre Möglichkeiten bereitstünden, die Anspruchsinflation durch eine Konfrontation mit den Restriktionen der Durchführung und der Systemverträglichkeit zu dämpfen – Restriktionen wie zum Beispiel Durchsetzungsprobleme, Kosten, Widersprüche zwischen Programmen, mittelfristige Folgen für soziale, sozietale und ökologische Zusammenhänge.

Selbstverständlich kann eine einfache Vier-Felder Schematik (Etzioni) oder ein Drei-Formen-Modell (Lindblom) nicht die Problematik und die Tragweite einer Revision des Demokratiemodells einfangen. Sie können aber vielversprechende Richtungen aufzeigen und eingefahrene Alternativen – wie die zwischen Markt und Staat, zwischen Konsens und Kontrolle – überwinden[44] helfen. Die wichtigste Leistung beider Modelle scheint mir deshalb darin zu bestehen, Visionen einer »besseren« Demokratie zu entwerfen. Beide Autoren haben ein feines Sensorium für die Steuerungsdefizite sowohl des Marktes als auch des Staates, sowohl der konsensorientierten als auch der kontrollorientierten Modellen der Organisation komplexer Sozialsysteme. Sie beide präsentieren elaborierte Konzeptionen eines dritten Weges, der die humanen und emanzipatorischen Errungenschaften der traditionellen Form von Demokratie bewahrt, zugleich aber ihre Steuerungskapazität verbessern soll. Ohne eine solche Weiterentwicklung, das ist ihre gemeinsame Botschaft, läuft auch das so erfolgreiche Demokratiemodell Gefahr, an der neuen Wirklichkeit hochkomplexer, interdependenter und eigendynamischer Sozialsysteme zu scheitern.

In neueren Arbeiten verdeutlichen beide Autoren, dass sie eine solche Gefahr als durchaus realistisch ansehen. Als Steuerungstheoretiker müssen sie sich mit der zutiefst paradoxen Erfahrung auseinandersetzen, dass nach einer gewissen Erschütterung der eingeschliffenen Regeln und Selbstverständlichkeiten in den westlichen Demokratien und einem gewissen Aufbruch der demokratischen Verhältnisse Ende der 1960er- und Anfang der 1970er-Jahre in den dann folgenden 20 Jahren eine tiefgreifende Restauration formaler, repräsentativer, von den etablierten Parteien dominierter demokratischer Herrschaft stattfand. Für sich genommen, wäre dies wenig bemerkenswert: democracy as usual. Ihre Brisanz erhält diese Rückkehr zum Bewährten erst im Kontext einer gleichzeitig hereinbrechenden gesellschaftlichen Entwicklungsdynamik, welche in einem Schwung von »Postmodernisierung« das Gesicht moderner Gesellschaften verändert hat. Neue Technologien, neue Risiken, neue Wissensbestände und Wissensdefizite; Informatisierung, Digitalisierung und Vernetzung; Internationalisierung, Globalisierung und neue Regionalisierung; eine Ausweitung der wechselseitigen Abhängigkeiten und Unkalkulierbarkeiten, ein hitziger werdender Wettbewerb der (westlichen) ökonomischen, sozialpolitischen und technologischen Systeme bei gleichzeitiger intensiver Kooperation und transnationaler Verflechtung etc.; insgesamt eine dramatische Steigerung der Komplexität und Dynamik individueller, sozialer und gesellschaftlicher Kommunikationen in unterschiedlichsten Zeithorizonten und mit nicht mehr beherrschbaren kombinatorischen Folgen.

All dies überrollt die herkömmlichen Formen und Verfahren der Demokratie. Die Kluften zwischen Politikern und Experten, Repräsentanten und Betroffenen, nationalen Belangen und transnationalen Zwängen, Risikogebern und Risikonehmern, kurzfristigen und mittelfristigen Kalkülen, individuellen und kollektiven Rationalitäten etc. wachsen sich zu potenziellen Sprengsätzen eines Systems aus, von dem nicht mehr klar ist, was es im Innersten noch zusammenhält. Die Demokratie als Steuerungsform gerät[45] zwischen die Mühlsteine einer »postmodernen« Individualisierung einerseits (Welsch 1994, S. 20) und einer technologiegetriebenen Globalisierung andererseits – allerdings ohne dass dies den politischen Akteuren bislang besonders aufgefallen wäre (siehe dazu Willke 1993a).

Unter diesen Umständen ist es bemerkenswert, dass sowohl Etzioni wie auch Lindblom – wenn auch mit unterschiedlichen Gründen – in neueren Arbeiten von der Idee abrücken, gegenwärtige demokratische Gesellschaften wären kontrollierbar, planbar und in diesem Sinne steuerbar. Sie reagieren auf die angedeuteten Umwälzungen, indem sie aus ihren mehrdimensionalen Modellen demokratischer Steuerung das Element der auf Expertise gestützten Kontrolle und Belehrung nahezu gänzlich verschwinden lassen.

In einer resümierenden Arbeit über die Schwierigkeiten des Versuchs, Gesellschaften zu verstehen und zu formen, kontrastiert Lindblom (1990) nun die beiden Modelle einer wissenschaftlichen Gesellschaft (»scientific society«) und einer selbststeuernden Gesellschaft (»self-guiding society«). Er kritisiert alle Versuche einer »wissenschaftlichen« Gesellschaftssteuerung, von Platon über Saint-Simon und Marx bis zu modernen Systemanalytikern als illusorisch und irregeleitet, weil Vernunft Macht nicht ersetzen könne. Eine idealtypische Gegenüberstellung beider Modelle ergibt folgenden Befund:

»The one puts science, including social science, at center stage. In that model, social problem solving, social betterment, or guided social change (regarded as roughly synonymous) calls above all for scientific observation of human social behavior such that ideally humankind discovers the requisites of good people in a good society and, short of the ideal, uses the results of scientific observation to move in the right direction. Social science also of course studies and learns how to go where it has learned society ought to go. In contrast, the model of the self-guiding society brings lay probing of ordinary people and functionaries to center stage, though with a powerful supporting role played by science and social science adapted to the lay role in probing volitions. … The self-guiding society displays much less hostility to power; there, authorized power has a necessary and honorary contribution to make to problem solving, even if it often degenerates into playing politics« (Lindblom 1990, S. 214 u. 222).

Gegenüber seinen eigenen früheren Vorstellungen einer (auch) präzeptoralen Gesellschaftssteuerung gewinnt das Element der machtgestützten Durchsetzung der – hauptsächlich von den betroffenen Laien und nicht von fernen Experten – beschlossenen politischen Veränderungsvorhaben die Oberhand. Lindblom begründet dies vor allem mit der Erfahrung, dass eine ganze Reihe von Großproblemen im Kontext der gegebenen Institutionen, Prozesse und Routinen unlösbar geworden sind. Nicht, weil dafür keine vernünftigen, wissenschaftlich[46] fundierten Lösungsvorschläge vorlägen, sondern weil im Rahmen der geltenden demokratischen Entscheidungsprozesse niemand die für eine Problemlösung nötige Kosten tragen möchte und die nötige Mobilisierung leisten kann oder will. Probleme wie die Reform des Gefängnissystems, die Jugendkriminalität in Städten oder die Zerstörung der Umwelt sind theoretisch durchaus lösbar, aber es fehlt der politische Wille, sie zu lösen – und dieser politische Wille lässt sich nicht durch Expertise ersetzen:

»For such problems, all solutions remain closed off unless and until people experience sufficient distress to induce them to reconsider the institutions, social processes, or behavioral patterns up to that moment regarded as parameters. Expert opinion and social research on policies for such problems come to nothing in the absence of a reconsideration of volitions, nor can social scientists or experts of any other kind themselves accomplish the reconsideration. … If people do not feel an aversion to a situation or state of affairs, they cannot formulate it as a problem, nor will they seek to escape from that state of affairs, nor is there any reason why they should or would« (1990, S. 217, Hervorhebung H. W.).

Lindblom kommt hier zu Schlussfolgerungen, die ziemlich frappierend den systemtheoretischen Konzeptionen der Selbststeuerung komplexer Sozialsysteme und der Unwahrscheinlichkeit gelingender Intervention in komplexe Problemlagen entspricht (siehe dazu ausführlich Systemtheorie II, bes. Kap. 5). Allerdings scheint seine Perspektive zu sehr von den Erfahrungen misslingender oder gar unmöglicher Reformen (in einem amerikanischen Kontext) geprägt zu sein, so dass an manchen Stellen der Eindruck entsteht, er schütte das Kind mit dem Bade aus. Zur besseren Übersicht kontrastiere ich die unterschiedlichen gesellschaftlichen Steuerungmodelle von Lindblom in Abbildung 2.1.

Insbesondere scheint mir zu kurz zu kommen, dass moderne Demokratien wesentlich von einer fortgeschrittenen funktionalen Differenzierung der gesellschaftlichen Teilsysteme geprägt sind. Fortgeschrittene funktionale Differenzierung bedeutet, dass sich die Funktionssysteme (Politik, Ökonomie, Wissenschaft, Erziehung, Gesundheitssystem etc.) nicht nur aufgrund ihrer Eigensinnigkeit und Eigendynamik politisch schwerer erreichen und steuern lassen, sondern dass sie auf der anderen Seite eigenständige interne Problemlösungskapazitäten ausbilden, einschließlich spezifischer professioneller und organisatorischer Expertise. Es ist deshalb gar nicht nötig, aus der (berechtigten) Ablehnung des »wissenschaftlichen« Modells heraus nun Selbststeuerung vorrangig oder gar ausschließlich auf die schwachen Schultern von Laien zu verlagern. Die Hauptlast der Selbststeuerung tragen in hochorganisierten Gesellschaften nicht isolierte Einzelne, sondern organisierte und korporative Akteure, die in der Lage sind, kollektives Handeln in differenzierten, lokalen und vernetzten Organisationen und Gruppierungen zu mobilisieren.

[47]

Quelle: Eigene Darstellung

Abbildung 2.1: Evolution der gesellschaftlichen Steuerungsmodelle nach Charles Lindblom

Korporative Akteure können sich – und sie tun dies in der Regel auch – von den Interessen und Absichten ihrer Mitglieder unabhängig machen, obwohl es diese Mitglieder sind, welche den korporativen Akteur zunächst schaffen:

»Once individual actors create a corporate actor – vest authority and resources in it and entrust it with the right to represent them, to act and negotiate in their name – this actor usurps new competences, mobilizes new resources and engages in new fields of activity in pursuit of its own interest in survival and power« (Flam 1990, S. 9).

Aus diesem Grund ist es unabdingbar, neben Personen auch korporativen und anderen kollektiven Akteuren eine eigenständige Handlungs- und Strategiefähigkeit zuzuschreiben.

Hinzu kommt, dass moderne Demokratien eine ganze Reihe von komplexen Sachfragen von Mehrheitsentscheidungen freigestellt und professionellen Organisationen oder Einrichtungen überantwortet haben. Gerichte bis hin zum Verfassungsgericht, Untersuchungskommissionen, Zentralbanken, Regulierungsbehörden (»regulartory agencies«), Ethikkommissionen im Forschungssystem etc. setzen zur Erfüllung ihrer Aufgaben »eher auf Qualitäten[48] wie Expertise, Professionalismus, Unabhängigkeit und Kontinuität (…) als auf direkte demokratische Verantwortlichkeit« (Majone 1993, S. 104).

Insofern ist in meiner Sicht die Stoßrichtung der Lindblom’schen Kritik zwar richtig und berechtigt. Er lässt sich aber von der etwas grobschlächtigen Dichotomie von wissenschaftlicher und selbststeuernder Gesellschaft zum entgegengesetzten Extrem einer Laienherrschaft hinreißen, die angesichts der unwiderruflichen Verwissenschaftlichung, Technisierung, Komplizierung und Vernetzung aller Momente gesellschaftlicher Wirklichkeit hoffnungslos alteuropäisch erscheint. Zwar gibt es seit einigen Jahren eine unüberhörbare Diskussion über die Einführung oder Erweiterung von Möglichkeiten des Volksentscheids in westliche Verfassungen (Beedham 1993) – dem würde Lindbloms Argument entsprechen. Aber die meisten der in der Debatte für Volksentscheide angeführten Argumente sprechen weniger für eine Stärkung direkter Demokratie als für eine Stärkung des Subsidiaritätsprinzips. Kernpunkt der Auseinandersetzung ist deshalb gerade nicht Laienherrschaft, sondern die Selbststeuerung der in einer bestimmten Sache oder Problemlage betroffenen und kompetenten Sozialsysteme. Die überkommene Form repräsentativer Demokratie bewegt sich auf der Grenzlinie zwischen einer latenten und einer manifesten Krise, nicht weil sich »oben« die Experten befinden und »unten« die Laien, welche nach Lindblom nun ihren Leidensdruck selbst in Veränderungsenergie umsetzen müssen, sondern weil in den politischen Zentren Repräsentanten ohne Expertise und ohne professionelle Schulung für ihre spezifische Aufgabe sitzen, welche die Sprache der dezentral verteilten Experten, Involvierten und Professionellen gar nicht mehr verstehen können.

Den Hauptmangel von Lindbloms revidiertem Modell einer selbststeuernden Gesellschaft sehe ich deshalb darin, dass er die »mittlere« intermediatisierende Ebene der Gruppierungen, Organisationen und Korporationen vernachlässigt. Betont man diese Ebene, dann verliert der Gegensatz von wissenschaftlicher und selbststeuernder Gesellschaft seine Schärfe. Dann kommt in den Blick, dass auch eine selbststeuernde Gesellschaft auf eine möglichst intelligente Verknüpfung von dezentraler Expertise und dezentraler Mobilisierung von Macht zur Durchsetzung wissensbasierter Veränderungsstrategien angewiesen ist. Das Großproblem Umweltzerstörung bietet dafür einen harten Anschauungsunterricht: Es ist schwer zu sehen, wie etwa im Bereich alternativer Verkehrssysteme der »normale« Bürger als Laie zu Vorstellungen und dann zur Mobilisierung von politischer Macht kommen könnte, um in diesem extrem komplexen und verschachtelten Problemfeld umweltverträglichere Lösungen herbeizuführen. Nicht nur sind einige der folgenreichsten Risiken des Individualverkehrs wie Zerstörung der Ozonschutzschicht, Zerstörung der Wälder oder Vergiftung der Luft gerade nicht unmittelbar erfahrbar, so dass auch kein unmittelbarer Leidensdruck entsteht; [49]vielmehr scheinen praktische Verbesserungen deshalb so schwer durchsetzbar zu sein, weil jede Lösung zunächst mehr Verlierer als Gewinner, mithin mehr Widerstand als Zustimmung, mehr Kosten als Nutzen erzeugt.

Solange es nicht gelingt, qua Überzeugung, Expertise, Ausgleichsmaßnahmen, Verhandlungskunst und generalisierter politischer Macht aus dieser Mechanik der Verhinderung von Veränderung auszubrechen und eine zumindest mittelfristige Perspektive der Problemlösung – und das heißt der Verteilung von Nutzen und Kosten – zu etablieren, solange bleiben auch bei einer verstärkten Beteiligung von Laien und einer verstärkten Berücksichtigung von (durch Betroffenheit generierten) individuellen Machtpotenzialen die gegenwärtigen Großprobleme unlösbar.

Einen anderen Weg back to basics verfolgt Amitai Etzioni in seinen späteren Arbeiten. Angesichts einer manifesten Unfähigkeit selbst entwickelter Demokratien zu aktiver und prospektiver (d. h. zukunftsweisender und zukunftsverantwortlicher) Selbststeuerung teilt er mit Lindblom das Ziel, neue Formen und Verfahren der demokratischen Aktivierung von Machtpotenzialen zu entwickeln. Während Lindblom gegenüber einer als zu gewichtig eingeschätzten Rolle von Wissenschaftlichkeit, Vernunft und Sachverstand nun den »gesunden Menschenverstand« des Laien ins Spiel bringt, setzt Etzioni auf Moral. Beide Auswege aus der Steuerungskrise des Demokratiemodells müssen systemtheoretisch aufgeklärten Europäern Schauer über den Rücken jagen. Aber in den USA funktionieren Begriffe und Konzeptionen anders (Ackerman 1991, Kap. 1). Dort hat die Erneuerung der Demokratie aus der Erneuerung von Familie, Kommune und »communities« eine Tradition, die bis zur Landung der Mayflower zurückreicht. Die »praktische Vernunft« des einfachen Bürgers ebenso wie die »kommunitarischen Werte« der primären Lebensgemeinschaften sind sicherlich die stärksten Wurzeln der amerikanischen Demokratie – und insofern ist es schon weniger verwunderlich, dass sowohl Lindblom wie auch Etzioni darauf zurückkommen.

Lindblom sieht die Intelligenz der Demokratie durch die partikulare Intelligenz der Experten und Wissenschaftler graduell ausgehebelt; er plädiert deshalb für eine Verstärkung der Mechanismen der Selbststeuerung und dafür, die Aktivitäts- und Machtpotenziale der vielen Laien besser zu nutzen. Komplementär dazu postuliert Etzioni eine folgenreiche Verzerrung unseres Verständnisses kollektiver Entscheidungsfindung durch die massive Vorherrschaft des »rational-choice-Modells«, also eines Modells der Person als isoliertem rationalem Akteur. Er argumentiert, dass es für die Konstruktion eines viablen (lebensfähigen) Steuerungsmodells moderner Gesellschaften nicht ausreiche, wenn rationale Individuen gemäß ihrer je privaten und egoistischen Kosten-Nutzen-Kalküle zwischen Optionen auswählen; denn in diesem Prozess gesellschaftsweit summierter Egoismen verkümmerten gemeinschaftliche[50]Werte und die Rücksicht auf gemeinschaftliche Güter. Zugleich aber kritisiert er »starke« Kommunitaristen wie Sanders, MacIntyre oder Walzer, die wiederum einseitig auf die Steuerungswirkung gemeinschaftlicher Moral setzten und darüber das Individuum und seine individuellen Rechte vernachlässigten.

». those who recognize only the primacy of the community and consider individual rights either secondary and derivative or assert simply that ›there are no such rights‹ (MacIntyre 1984, p. 69), open the door to the intolerance, or worse, the tyranny found not only in totalitarian ideologies but also in absolutist theology and authoritarian political philosophies. Equally unacceptable are positions that focus exclusively on individual rights, particularly the extreme libertarian stand; few endorse policy ideas such as those that allow an individual the right to choose whether or not he or she wishes to defend his or her country (Nozick 1974). This may leave few to defend a country … The problems of the libertarian position hold for other common goals we all value, from concern for future generations to the condition of the environment (Etzioni 1991, S. 66).

In diesem Dilemma versucht Etzioni eine vermittelnde Synthese beider Positionen, ein Modell des »I & We«, das er allerdings nicht sehr weit ausarbeitet. Immerhin stellt er die entscheidende Frage nach der angemessenen Balance beider Momente und illustriert die Konsequenzen jeglicher Einseitigkeit bezeichnenderweise an unterschiedlichen Modellen der Gesellschaftssteuerung:

»Wherein lies the proper balance? While no simple guideline suggests itself, the social-historical context provides an important criterion: societies that lean heavily in one direction tend to ›correct‹ in the other. Thus, communist societies have been moving recently to enhance individual liberties. At the same time, American society, believing itself to have tilted too far toward Me-ism [hier: Kunstwort aus Me und ism, H. W.] and interest-group dominance, has been shifting toward a greater emphasis on national priorities and obligations to the community. Other such ›balancing‹ criteria remain to be evolved (Etzioni 1991, S. 67).

Immerhin hat die jüngste Geschichte dieses Argument eindrucksvoll bestätigt. Die kommunistischen Gesellschaften sind auch – und vielleicht sogar vorrangig – an ihrem Mangel an individuellen Freiheiten zerbrochen; und in den USA ist ein Präsident und eine Administration 2013 zum zweiten Mal an die Macht gekommen, die ausdrücklich die Verpflichtungen der einzelnen für die Gemeinschaft und für kollektive Güter (z. B. ein brauchbareres Gesundheitssystem und Erziehungssystem) wieder stärker betonen.

[51]Der Generaleinwand gegen diese wohldurchdachten und ernstzunehmenden Ideen zur Revision des Steuerungsmodell Demokratie ist, dass beide Autoren die Wirkung des einen Faktors unterschätzen, der wie kein zweiter die Problematik der Steuerung moderner Gesellschaften prägt: funktionale Differenzierung. Die Radikalisierung der »gesellschaftlichen Arbeitsteilung« zur funktionalen Autonomie und zur operativen Geschlossenheit der gesellschaftlichen Teilsysteme erzeugt erst die zentrifugale Dynamik, der die westlichen Demokratien auch nicht durch den Rückgriff auf gesunden Menschenverstand und Moral entrinnen können. Im Gegenteil: Um die eigensinnigen Funktionssysteme und die sie prägenden Organisationen und Assoziationen dazu zu bringen, miteinander zu kommunizieren, bedarf es nicht nur einer elaborierten Verhandlungslogik und voraussetzungsvoller Fähigkeiten des kollektiven und strategischen Handelns (Elster 1987, Kap. 1.4). Darüber hinaus ist genau das nötig, was den gesunden Menschenverstand ebenso überfordert wie eine auf die eigene »community« bezogene Binnenmoral – nämlich die Fähigkeit zur Reflexion des Teils auf die Bedingungen der Möglichkeit des Ganzen.

In der politischen Praxis vor allem der west- und nordeuropäischen Demokratien entwickelte sich in den 1970er-Jahren als Reaktion auf zunehmende Probleme der Regierbarkeit eine Form der kollektiven Entscheidungsfindung und Interessenmediatisierung, die in der wissenschaftlichen Diskussion unter dem Titel Neokorporatismus Aufmerksamkeit fand. Praxis und Theorie des Neokorporatismus sind für eine Steuerungstheorie moderner Gesellschaften aufschlussreich, weil sie als Versuch verstanden werden können, in einem gesellschaftlichen Großexperiment die Grenzen des politischen bzw. parlamentarischen Demokratiemodells neu zu definieren. Im Kern ging es (und geht es nach wie vor) darum, eine Form des Demokratiemodells zu erfinden, die den Ursprung des Modells in der vom Primat der Schichtendifferenzierung geprägten liberalen, bürgerlichen Gesellschaft des späten 18. und 19. Jahrhunderts aufhebt in einer Revision, welche die humanen und emanzipatorischen Errungenschaften der demokratischen Revolutionen bewahrt und zugleich den Weg für eine Berücksichtigung der Folgen funktionaler Differenzierung freigibt.

Eine besonders massive Folge ist die Multiplizierung, Pluralisierung und Dezentrierung von Machtbasen in unterschiedlichsten organisierten Sozialsystemen (Organisationen, Professionen, Assoziationen, Korporationen, Netzwerken etc.) innerhalb einer Gesellschaft. Die Politik als ihrerseits ausdifferenziertes Teilsystem mit der Funktion, für die Gesellschaft insgesamt die erforderlichen kollektiv verbindlichen Entscheidungen zu treffen und durchzusetzen, kann nicht einmal mehr hoffen, diese Aufgabe ohne die Beteiligung der großen Quasi-Gruppen und ihrer korporativen Akteure[52] lösen zu können (Mayntz 1993, S. 42). Gerade in Politikfeldern, in denen sich machtvolle autonome Verbände herausgebildet haben, nämlich in der Wirtschafts-, Gesundheits-, Sozial-, Wissenschafts-, Energie- oder Verkehrspolitik, kann von einer unabhängigen Entscheidungskompetenz der Politik keine Rede sein. Gewerkschaften, Unternehmerverbände, Krankenkassen, Ärzteverbände, Krankenhausträger, Wohlfahrtsverbände, Wissenschaftsvereinigungen, Automobilklubs, regionale Energieverbände etc. sind Beispiele für eine Vielzahl gesellschaftlicher Akteure, die nicht zum engeren Bereich der Politik gehören – und ohne deren Beteiligung in den entsprechenden Politikfeldern dennoch keine nachhaltige Politik gemacht werden kann.

Idee und Praxis des Neokorporatismus kommt hier das Verdienst zu, die gesellschaftsgeschichtlich allmählich gewachsene Struktur der Interessenmediatisierung in komplexen, hochorganisierten Gesellschaften ans Tageslicht gebracht und einer demokratietheoretischen Überprüfung zugänglich gemacht zu haben (Schmitter 1983). Sie haben eine Praxis, die lange als Pluralismus, Politikberatung, »pressure-group-politics«, Verbändepolitik etc. verbrämt wurde, aus dem demokratischen Halbdunkel gezerrt und die Frage unabweisbar gemacht, ob Demokratie als Steuerungsmodell einer komplexen Organisationsgesellschaft haltbar ist oder nicht.

Wie nicht anders zu erwarten, sind die Antworten auf diese Frage sehr unterschiedlich ausgefallen (Czada u. a. 1993; Lehmbruch 1984; Lehmbruch 1979; Nollert 1992; Willke 1983, bes. Kap. 4.2). Bei aller Heterogenität lassen sich folgende Einsichten festhalten:

1 Die Wahrscheinlichkeit gelingender Gesellschaftssteuerung durch Konzertierung der betroffenen Interessen in neokorporatistischen Verhandlungssystemen ist in Verhandlungsdemokratien höher als in Demokratien mit polarisierendem Mehrheitswahlrecht, also z. B. in der Schweiz, Deutschland, Niederlanden oder Österreich höher als in Großbritannien, Neuseeland oder Frankreich (Schmidt 1993, S. 385).

2 Die auffälligsten Ausnahmen von dieser Regel sind die USA und Japan. Aufgrund ihrer zersplitterten politischen Struktur sind die USA trotz eines ausgeprägten Mehrheitswahlrechts auf Verhandlungen angewiesen – aber es fehlen hochorganisierte Verbände vor allem in den wirtschafts- und sozialpolitischen Politikfeldern, welche die Notwendigkeit einer Konzertierung erzwingen könnten. Japan dagegen ist trotz eines Mehrheitswahlrechts aufgrund seiner kulturellen Tradition durchgehend auf Konzertierung ausgerichtet. Es hat denn auch in den 1970er-Jahren die deutlichsten technologie- und wirtschaftspolitischen Erfolge einer konzertierten Gesellschaftssteuerung aufweisen können.

3 Die Hauptschwierigkeit einer Stabilisierung sozietaler Verhandlungssysteme in den neokorporatistischen Ländern liegt darin, Asymmetrien in[53] den Kosten-Nutzen-Relationen der involvierten Verbände und Korporationen zu vermeiden. Einige Akteure verfügen über mehr Drohpotenzial und Vetomacht als andere, was eine angemessene (d. h. gesamtsystemisch optimale) Kompromissbildung erschwert.

4 Der massivste Druck auf entwickelte Demokratien, ihre Formen der Entscheidungsfindung, Konzertierung und Steuerung zu überdenken, kommt nicht mehr von innen, sondern von außen – von einem schärferen und folgenreicheren internationalen Wettbewerb der nationalen wissenschaftlich-technologischen, wirtschaftspolitischen und sozialpolitischen Steuerungsmodelle, einschließlich ihrer Infrastruktursysteme der zweiten Generation (Datensuperhighways, neue Verkehrsleitsysteme, neue Energieleitsysteme, neue Fortbildungssysteme).

5 Dieser Druck führt gegenwärtig dazu, dass die noch relativ vereinzelten neokorporatistischen Verhandlungssysteme (konzertierte Aktionen, Sozialräte, runde Tische) in ein allgemeineres Modell der Verhandlungsdemokratie überführt werden. An diesem Punkt steht in Praxis und Theorie eine Revision des Steuerungsmodells der politischen Demokratie zur Debatte, weil inzwischen die Evidenz überwältigend scheint, dass die Koordinationsleistung der repräsentativen-parlamentarischen Demokratie für die Bedarfe hochkomplexer, differenzierter Gesellschaften suboptimal geworden ist.

Ich werde auf das Problem der Verhandlungssysteme in Abschnitt 4.1 ausführlicher eingehen. Zunächst möchte ich das zweite große Modell der Steuerung komplexer Systeme diskutieren, das Modell der Hierarchie. Erst wenn wir die Steuerungsproblematiken beider Großmodelle, Demokratie und Hierarchie, umrissen haben, können wir daran gehen, die Idee der Verhandlungssysteme als mögliches alternatives Modell der Steuerung komplexer, funktional differenzierter Sozialsysteme eingehender zu prüfen.

Systemtheorie III: Steuerungstheorie

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