Читать книгу Die 2. Mission der tollkühnen Bücher - Hendrik Lambertus - Страница 7
Оглавление»Waaas?«, rief Paulchen empört. »Worauf warten wir dann noch? Schnappen wir die dreisten Schurken. Tschakka!«
Das Piratenbuch machte einen aufgeregten Buch-Fu-Hüpfer, sodass es fast aus der Tasche fiel.
Reginald eilte voraus, dicht gefolgt von den anderen. Es ging in einen Nebenraum der Ausstellung, der in dämmriges Licht getaucht war. An der Wand hing ein großes Plakat. Es zeigte einen schwarzen Vulkankegel, aus dem sich glühende Lavaströme ergossen. In der Mitte des Raumes stand eine einzelne Vitrine. Alle sahen sofort, was Reginald ihnen zeigen wollte: Im Deckel der Vitrine klaffte ein großes Loch, als hätte ein Riese das Glas mit der Faust durchschlagen. Scherben lagen ringsum auf dem Fußboden verstreut.
»Was wurde denn gestohlen?«, fragte Arthur atemlos und beugte sich über den Glaskasten. Drei seltsame Objekte waren darin ausgestellt. Sie sahen ein wenig aus wie die antike Schriftrolle, die sie gerade bewundert hatten. Doch die Dinger waren so schwarz und gekrümmt, dass sie eher verkohlten Grillwürsten glichen.
»Das sind Schriftrollen aus Herculaneum«, erklärte Hedy rasch. Die beiden Kinder schauten sie fragend an.
»Das ist eine alte Römerstadt, die beim Ausbruch des Vulkans Vesuv verschüttet wurde. Unter der Asche hat sich eine ganze Bibliothek aus wertvollen Schriftrollen erhalten. Inzwischen arbeiten die Menschen daran, einige von ihnen mit speziellen Verfahren zu entziffern, und es gibt noch viel zu erforschen. Aber …« Hedy stutzte kurz. »Hier waren eigentlich vier Schriftrollen ausgestellt. Eine fehlt.«
»Exakt!«, rief Reginald aufgebracht. »Die vierte Rolle muss der Bücherdieb mitgenommen haben.«
Mit einem kühnen Salto sprang Paulchen aus der Tasche. »Na, dann los!«, drängelte das Piratenbuch. »Lass uns nach Spuren suchen! Wir müssen den Kerl – oder die Kerlin – kriegen!«
Alle machten sich daran, die Umgebung der Vitrine abzusuchen. Insbesondere Reginald lief wichtig mit seiner Lupe herum und murmelte dabei vor sich hin. Schließlich hielt er frustriert inne. »Ich verstehe das einfach nicht. Keine verdächtigen Diebesspuren! Und meiner Lupe entgeht nichts …«
»Außerdem finde ich seltsam«, ergänzte Arthur, »dass der Dieb nur eine Schriftrolle mitgenommen hat. Wenn die so wertvoll sind, hätte er doch einfach alle vier einpacken können.«
»Wurde er vielleicht gestört?«, überlegte Paulchen Piratenkind. »Möglicherweise war eine menschliche Museums-Aufpasserin in der Nähe.«
»Oder er hatte einen Auftraggeber, der ihn nur für einen ganz bestimmten Gegenstand bezahlt«, murmelte Reginald, während er nachdenklich auf und ab ging, die Arme hinter dem Einband verschränkt. »So wie in Reginald Ratlos jagt die Langfinger-Lemurin.«
Mel sagte nichts dazu. Sie war ganz damit beschäftigt, sich die Vitrine gründlich von allen Seiten anzusehen. Sie kroch sogar halb darunter, um die Unterseite zu untersuchen. Als sie wieder auf tauchte, räusperte sie sich. »Ich denke nicht, dass die fehlende Schriftrolle gestohlen wurde«, sagte sie.
Die anderen schauten sie mit großen Augen an.
»Wie meinst du das?«, hakte Hedy vorsichtig nach.
»Schaut euch doch mal die Scherben an«, führte Mel aus. »Sie liegen auf der Vitrine und auf dem Boden ringsum. Keine einzige liegt in dem Ding drinnen.«
Reginald sprang sofort auf den Glaskasten und fuhrwerkte ausgiebig mit seiner Lupe herum. »Stimmt!«, rief er schließlich. »Gar nicht schlecht beobachtet – für eine Nicht-Detektivin.«
Paulchen runzelte den Einband. »Und warum soll das wichtig sein, wo die Scherben gelandet sind?«
»Es kann kein Dieb das Glas von außen zerschlagen haben«, erklärte Mel. »Die Scherben würden sonst innen liegen.«
»Das heißt …«, begann Paulchen staunend.
»… die Schriftrolle wurde gar nicht weggenommen«, beendete Reginald den Satz. »Sie ist ausgebrochen.«
»Kommt das öfter vor?«, fragte Arthur. »Dass ein Buch abhaut, auf das ihr aufpassen müsst, meine ich.«
»Aber nein, nicht doch!«, rief Paulchen empört. »Unsere Aufgabe ist es, auf die schlafenden Bücher aufzupassen. Die heißen so, weil sie das nicht selber können. Und schon gar nicht weglaufen.«
»Was machen wir denn jetzt?«, erwiderte Arthur ratlos. »Wir können ja schlecht zu den Museums-Wachleuten gehen und melden, dass ein Buch getürmt ist.«
»Das ist ein Fall für Regel Nummer 19 des Codex«, verkündete Reginald wichtig. »Wenn der Agent nicht mehr weiterkann, rückt er mit Verstärkung an.«
Als die fünf Buchagenten im Hauptquartier ankamen, stand Tabula Smaragdina gerade über die Buchkontrollanlage gebeugt. Das war ein Holzkasten mit zahllosen Antennen, Kabeln und Blinklichtern, der Alarm gab, wenn irgendwo ein Buch in Not war. Auf den Bücherregalen, die ringsum die Wände bedeckten, tuschelten die anderen Buchagenten durcheinander. Das aufgeregte Rascheln ihrer Seiten hörte sich an, als würde trockenes Laub im Herbstwind knistern.
Dina wandte sich rasch den Neuankömmlingen zu. »Da seid ihr ja – mit euch wollte ich sprechen!«, sagte sie. »Und schön, dass ihr die Menschenkinder mitgebracht habt. Die Kontrollanlage zeigt einen Notfall im Museum an – aber ich werde nicht schlau daraus, was genau passiert sein soll …«
»In der Ausstellung ist ein Buch abgehauen!«, rief Hedy atemlos. Das Getuschel in den Regalen ringsum wurde lauter.
»Wie konnte das denn passieren?«, fragte der Buchagent Dracula vorwurfsvoll.
»Hat ein gemeiner Bücherdieb das Buch verzaubert?«, überlegte der Buchagent Robinson Crusoe.
»Oder war vielleicht ein Buchagent versehentlich in der Ausstellung eingesperrt?«, warf die Buchagentin Heidi ein.
»Ruhe bitte!«, rief Tabula Smaragdina streng, und das Gemurmel verstummte. »So, nun berichten die diensthabenden Agenten der Reihe nach, was eigentlich passiert ist.«
Aufgeregt erzählten Hedy Hexensocke, Paulchen Piratenkind und Reginald Ratlos, wie sie die aufgebrochene Vitrine entdeckt hatten.
»Und was genau waren das für Bücher in der Vitrine?«, fragte Dina schließlich, die ihnen konzentriert zugehört hatte.
»Schriftrollen aus dem alten Herculaneum«, erklärte Hedy. »Du weißt schon, diese Römer-Bibliothek, die unter der Vulkanasche begraben wurde.«
Dinas Einband verfärbte sich blass. Selbst die prächtigen Smaragde, mit denen er vierziert war, hatten plötzlich ein kränkliches Grün.
»Das kann nicht sein …«, murmelte das alte Zauberbuch. »Nein, wirklich, das darf nicht sein …«
»Was denn? Was darf nicht sein, Dina?«, fragte Hedy schüchtern.
In diesem Moment trat eine Gestalt aus dem Schatten eines Regals. Es war ein alter Buchagent mit einem mächtigen Backenbart, der sich beim Gehen auf einen Stock stützte. »Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm« stand auf seinem Einband geschrieben.
»Ich kann euch sagen, was unser Oberhaupt umtreibt«, verkündete er mit dunkler Stimme. »Eine Bedrohung aus der Vergangenheit ist zurückgekehrt.«
»Ich weiß nicht, Grimm«, erwiderte Tabula Samaragdina. »Nach so langer Zeit? Das wäre doch gar zu schrecklich …«
»Wer denn bloß?«, rief Arthur. Er wurde rot, als er bemerkte, dass er das laut gesagt hatte. »Ich meine, wer ist zurückgekehrt? Wovon sprecht ihr?«
Der alte Grimm straffte sich und holte tief Luft, um eine seiner Geschichten zu erzählen. Doch Dina hob abwehrend eine Hand. »Nein, bitte nicht. Mach ihnen keine Angst. Noch wissen wir es doch gar nicht sicher …«
Plötzlich ertönte ein lautes Poltern. Alle fuhren erschrocken zusammen. Der Papierkorb aus Blech, der in einer Ecke des Raumes stand, war umgefallen und lag nun auf der Seite. Zusammengeknüllte Blätter ergossen sich über den Fußboden.
»Wer war das?«, rief der Ritter-Buchagent Don Quichote alarmiert und umklammerte seine Lanze fester. Dort in der Ecke stand niemand, nicht einmal in der Nähe des Papierkorbs. Er musste ganz von selbst umgefallen sein.
Auf einmal veränderte sich der Korb auf merkwürdige Weise. Seine Öffnung verfärbte sich dunkel. Es sah aus, als sei der Papierkorb in Wahrheit der Schlund einer stockfinsteren Höhle.
»Was soll der Unsinn?«, rief Mel mit gerunzelter Stirn. Und wich erschrocken einen Schritt zurück. Denn plötzlich waren Bewegungen in der dunklen Papierkorb-Öffnung zu sehen. Und eine Horde schwankender Gestalten kam aus der Dunkelheit herangeschlurft!
Es waren viele, richtig viele, und sie sahen irgendwie aus wie Buchagenten – laufende Bücher mit Armen und Beinen.
Ihre Einbände waren jedoch angeschlagen und eingerissen, ihre Seiten zerknittert. Bei manchen von ihnen war das Papier durch Wasserschäden aufgequollen, andere hatten gelbliche Altersflecken oder gar keinen Einband mehr. Sie sahen aus, als würden sie jeden Moment auseinanderfallen.
Mit schlurfenden Schritten bewegten sie sich vorwärts, wobei sie die kurzen Ärmchen tastend ausstreckten. Ständig stießen sie beim Gehen aneinander oder purzelten über ihre eigenen Füße, als würden sie ihre Beine zum ersten Mal benutzen. Ihre Gesichter hatten grobe, schiefe Züge, wie von einem Kleinkind gemalt. Ihre grau verschleierten Augen starrten stur geradeaus.
»Alarm!«, brüllte Paulchen Piratenkind und schwang den Säbel durch die Luft. »Wir werden geentert! Alle Mann, Frau, Buch und sonstige auf ihre Posten!«
»Was sind das für Wesen?«, fragte Hedy besorgt.
»Zombücher!«, rief der Buchagent Dracula von seinem Regal herunter. »Finstere Finsterlinge. Ungeschickt, aber kaum aufzuhalten. Nehmt euch in Acht!«
Der Strom der Zombücher wollte schier kein Ende nehmen. Immer mehr der raschelnden, zerknitterten Gestalten stiegen aus der Öffnung und ergossen sich in das Antiquariat.
»An alle Agenten, bitte bereit machen!«, befahl Tabula Smaragdina über das Durcheinander hinweg. »Allgemeine Buch-Fu-Verteidigung! Treibt die Zombücher zurück. Denkt an Regel Nummer eins des Codex: Mit Herz und Hand, Einband und Seiten, wollen wir zum Schutz der Bücher schreiten!«
Ihre Worte wirkten wie ein machtvoller Zauber. Die Buchagentinnen und Buchagenten formierten sich und gingen entschlossen zum Gegenangriff über!
Paulchen sprang wie ein Gummiball kreuz und quer über den Boden, und wo immer das Piratenbuch aufprallte, scheuchte es die Zombücher mit seinem Säbel zum Papierkorb zurück. Die Buchagentin Heidi ließ sich jodelnd aus dem Regal fallen und landete genau auf einem Zombuch, das gerade nach dem alten Grimm greifen wollte. Reginald Ratlos sauste im Pinguin-Galopp herum und verteilte Buch-Fu-Schläge, wobei er jede Bewegung mehr oder weniger geistreich kommentierte: »Darf ich mit einem kleinen Handschlag behilflich sein? Gute Nacht, Schurke!«
Nun zeigte sich, dass die Zombücher zwar grauselig aussahen – aber eigentlich ziemlich dämlich waren. Wenn man ihnen ein Bein stellte, fielen sie einfach auf die Nase. Wenn man vor ihnen davonlief und einen Haken schlug, konnte man sie so lenken, dass ein Zombuch das andere fing. Doch es waren viele, und es wurden immer mehr …
Zwei von ihnen drängten gerade den Buchagenten Robinson in die Ecke. Da kam Dracula angesaust! Das Vampir-Buch flatterte wie eine Fledermaus mit seinem aufgeklappten Einband durch die Luft und warf die Angreifer auf den Rücken.
Die beiden Menschenkinder hatten sich inzwischen hinter den Tisch mit der Buchkontrollanlage zurückgezogen. Doch die Zombücher kamen von allen Seiten herangeschlurft und streckten die Arme nach ihnen aus. Arthur presste sich eng an seine Schwester.
»Zurück, ihr Scheusale!«, rief Hedy Hexensocke ärgerlich. Dann haspelte sie einen Zauberspruch herunter:
»Zi, Za, Zombuch, Eindringling,
wart, bis dich mein Zauber fing, nee, fängt, meine ich!«
Eine leuchtende Kugel löste sich von ihren Händen, zischte wie eine Feuerwerksrakete durch den Raum und zerbarst mit einem lauten Poff über der Zombuch-Horde. Ein Regen aus leuchtendem, neonpinkem Glitzer ging auf die Fleddergestalten nieder. Keine drei Sekunden später sahen die Zombücher aus, als hätte man sie in rosafarbener Zuckerwatte gewälzt. Leider nicht nur die Zombücher – sondern auch sämtliche Buchagentinnen und Buchagenten, die zufällig in ihrer Nähe gestanden hatten. Don Quichote musterte empört seine quietschrosa leuchtende Lanze.
»Ernsthaft?«, fragte Reginald ungläubig. »Du bekämpfst diese Monster mit Glitzer?«
»Glitzer-Kleber!«, verbesserte Hedy stolz. »Sehr viel Glitzer-Kleber …«
Die Zombücher versuchten, weiter voranzustapfen. Doch dank des Klebers konnten sie sich nicht mehr richtig bewegen. Sie stolperten übereinander, fielen auf die Nase und blieben mit strampelnden Beinen auf dem Boden liegen. Den Agenten, die Hedys Zauber erwischt hatte, erging es ärgerlicherweise ebenso.
»Buch-Fu-Technik des Staubigen Seitensturms!«, kommandierte nun Tabula Smaragdina. »Drei, zwei, eins – los!«
Eine Gruppe von Buchagentinnen und Buchagenten nahm Aufstellung und klappte die Umschläge auf. Gemeinsam begannen sie, mit ihren Buchseiten zu schlagen, als wären sie Vögel mit seltsamen Flügeln. Das erzeugte zunächst nur jede Menge Staub – bis Dina einen Zauber murmelte. Aus dem Geflatter der Seiten wurde plötzlich ein mächtiger Wind, der durch das Antiquariat fegte. Die verklebten Zombücher wurden von ihm erfasst – und zum Papierkorb zurückgetrieben. Die verklebten Agenten jedoch befreite derselbe Wind von ihrer glitzernden Last.
»Die Feindesschar flieht!«, verkündete Don Quichote und hob stolz seine Lanze. Ein Zombuch nach dem anderen wurde von der Dunkelheit des Papierkorbs verschluckt.
»Moment mal!«, rief Mel. Ihr war aufgefallen, dass zwei der Fleddergestalten ein Buch fest umklammert hielten. Sie wollte gerade aufspringen, um es zu retten, da waren sie auch schon fort.
»Besten Dank!«, ertönte plötzlich eine dunkle Stimme aus der Papierkorb-Höhle. »Jetzt habe ich, was ich brauche. Wir werden uns bald wiedersehen!«
Ein schauderhaftes Lachen folgte – und verstummte abrupt. Das letzte Zombuch war in dem Tunnel verschwunden. Dann verblasste die Dunkelheit, und von einer Sekunde auf die andere war der Papierkorb einfach nur wieder ein Papierkorb.
»Was war das denn?«, fragte Melusine fassungslos.
Der alte Grimm räusperte sich ernst. »Das war Liber Veneficiorum«, verkündete er. »Das dunkelste Zauberbuch aller Zeiten. Es ist zurückgekehrt.«