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Teil I Rosary 1985–87
ОглавлениеAls ich die schwere, alte Steintreppe hinunterlaufe, fühlt es sich an wie in einer Kathedrale. Ich höre den Hall meiner eigenen Schritte, er schlägt von den Wänden zurück. Auf Paris brennt unermüdlich die Sonne nieder, doch hier, ins schattige Treppenhaus des alten Hauses, in dem ich vor zwei Monaten eine kleine Wohnung bezogen habe, findet sie ihren Weg nicht. Es ist angenehm kühl, der Boden und die Wände haben die Kälte gespeichert und schirmen das ewige Treppenhaus von der Hitze ab. Die Zeit scheint an diesem Ort stillzustehen. Wie ich da also so runterlaufe, zum Briefkasten, denn ich habe den Postboten klappern gehört, fühle ich mich wie in einer anderen Dimension, als seien die breiten Steinstufen und die dunkle Halle nicht Teil dieser Welt.
Im Briefkasten liegt die Zeitung. Vor einem Monat hat es am Gare du Lyon einen schrecklichen Unfall gegeben. 56 Menschen sind dabei ums Leben gekommen. Die Leichen der Opfer waren zu lange im Blech des Wagons eingeschlossen, man hätte sie nicht mehr einfrieren können. Als ich die Zeitung aus dem Briefkasten nehme, fällt eine Postkarte zu Boden. Ich habe schon auf sie gewartet. Sie wurde in Los Angeles aufgegeben, doch das Bild auf der Vorderseite zeigt eine Fotografie von Coney Island. Der Strand erstreckt sich menschenleer, nur ein schwarzer, großer Felsen am linken Rand irritiert das Bild. Er wirkt wie ein Fremdkörper, etwas, das später hinzugefügt wurde. Sofort erkenne ich die krakelige Schrift auf der anderen Seite.
Rosary, ich möchte dich bitten, alles aufzuschreiben. Genauso, wie du es empfunden hast, so, wie es war. Schreib auf, was wir getan haben, was geschehen ist, was du dich fragst. Ich umarme dich. Auf die Vergangenheit und die Gegenwart. Auf die Zukunft! Kachelbad.
Ich hole den Talisman aus meiner Tasche, den der Alte für mich gebastelt hat. Ich drehe die Schraube zwischen den Fingern und sehe ihn vor mir auftauchen. Das passiert immer, wenn ich den Anhänger betrachte, den er aus der Schraube und ein paar Muttern gefertigt hat. Auch, wenn sich meine Hand in der Hosentasche um das warme Metall zur Faust ballt, spüre ich Kachelbad bei mir. Der Talisman ist ein Medium, ein Portal, mit dem ich in meine Erinnerungen vordringen kann. Vielleicht hat Kachelbad das so gewollt. Bestimmt hat er es so gewollt.
Ich gehe zurück in die Wohnung, setze mich an den schmalen Schreibtisch und gieße mir einen Tee ein. Ich lehne die Postkarte an die Thermoskanne und lege den Briefumschlag dazu, den ich damals, bei unserem ersten Treffen, von Kachelbad bekommen habe. Vor mir steht die Maschine, die ich auf dem Trödel an der Seine gekauft habe. Ich beginne zu schreiben, tippe die ersten Worte. Die Maschine schnalzt mit der Zunge. Schnell füllt sich das Papier, die Buchstaben stürmen durch den Schnee wie Soldaten, die ein unentdecktes, ein unbeflecktes Land erobern, mit Bedeutung aufladen, mit Geschichte. Ihre kleinen Serifenstiefel stapfen durch die Landschaft und schreiben sich ihr auf ewig ein. Sie tun dem Land, in das sie da einmarschieren, Gewalt an, gleichzeitig erzeugen sie es überhaupt. Hier wächst kein Gras mehr. Hier steht etwas geschrieben.
*
Wir saßen in einem Diner und der dürre Kachelbad hatte ein Tablett vor sich stehen, auf dem noch ein paar Pommes lagen, die letzten Reste einer ohnehin kleinen Portion. Ich sah ihn selten essen und dies war das erste Mal. Wir sahen uns auch das erste Mal. Ja, bei unserer ersten Begegnung aß H.G. Kachelbad Pommes. Er bestellte sie immer nur, wenn sie dünn waren, taxierte beim Betreten unauffällig den Thekenbereich oder die Teller der anderen Gäste. Nur gesalzen mussten sie sein. Er bestellte sie stets ohne Ketchup oder dergleichen. Zu seinen Leibspeisen gehörten zudem Sandwiches, die er heimlich zu essen pflegte, in Unsichtbarkeit. An manchen Tagen, zur stillen Feier etwa, wenn wir wieder einmal erfolgreich einen Körper zur Suspension überführt hatten, machte er Bratkartoffeln mit Apfelmus, neben Kachelbads Namen einer der wenigen Hinweise auf seine deutschen Wurzeln. Der dürre Kachelbad wusste ein köstliches Mahl zuzubereiten, doch ging er sparsam mit dieser Begabung um.
Er hatte mir zur Begrüßung die Hand geschüttelt und seinen Namen gesagt. Seine Stimme klang kratzig, nicht besonders hoch, nicht besonders tief. Doch sie trug eine ganz eigene Note. Sie klang in ihrer Betonung sehr sicher, und das passte zu ihrer Quelle, denn Kachelbad wählte seine Worte mit Bedacht. Das Kratzen aber gab seinen Worten etwas Fragiles. Kachelbads Sprechen war wie ein Widerspruch.
Ich schaute auf ihn herunter. Er war kaum aufgestanden, hatte sich nur etwas aufgerichtet, mit dem linken Arm auf dem Tisch abgestützt. Sein Gesicht war faltig, das weiße, lichte Haar hatte er kurz geschoren. Seine Wangenknochen standen hervor, sonst waren die Gesichtszüge eher unauffällig.
»Rosary«, entgegnete ich ihm und schaute tief in seine trüben Augen, die aufblitzten, sich wieder zurückzogen, Rosary, was er also längst wusste. In dem Moment jedoch, in dem ich ihm meinen Namen zum ersten Mal selbst verriet, persönlich und während wir uns gegenüber waren und uns anschauen konnten, diesen Namen, den ich nicht verstehe und der die Menschen irritiert, den ich aber nicht loswerden kann, drückte seine fleckige Hand ein klein wenig fester zu und er legte die andere nur für einen trägen Augenblick auf meinen Unterarm, stand nun in der Hocke, im Übergang, seine Hand, die nach einem langen Leben aussah, und es wirkte, als würde er verstehen, als wolle er mir suggerieren, dass er verstand. Nicht mit einem Blick, nicht so, dass es sich wie ein Schauspiel und ganz sicher auch nicht so, dass es sich peinlich anfühlte. In seiner Geste interpretierte ich lediglich die Botschaft, dass er verstand, dass er wusste, schon lange. Was wusste? Nun, das versuche ich eben herauszufinden, während ich hier sitze, mit den Soldaten im Schnee, im Sommer über Europa.
Danach habe ich nicht mehr gesprochen, nicht an diesem Tag zumindest, nur meinen Namen habe ich gesagt und etwas zu essen bestellt, sonst nichts. Wir haben erst später angefangen zu reden. Auch Kachelbad war wortkarg, das war er bis auf wenige, sprudelnde Ausnahmen immer, an diesem Tag unserer ersten Zusammenkunft jedoch ganz besonders. Wie er schwieg aber, das war nicht unangenehm. Nicht schüchtern, eher bedacht. Auch wenn sein Blick oft finster war. Er hatte bereits in dem Diner gesessen, in das ich häufig ging und in dem wir uns nach dem letzten Telefonat verabredet hatten. Der Alte hatte für sich die Pommes bestellt, deren Reste nun vor ihm lagen, erkaltet, für mich ein Glas Wasser, das ihm gegenüberstand und mir beim Betreten des Restaurants anzeigte, wo ich mich hinsetzen sollte. Ohne Kohlensäure, so, wie ich es immer trank. Ein Glas Leitungswasser. Woher hatte er das gewusst? Wie ein Zeichen, das mich zu ihm führte, stand es dort, fleckig an den Rändern. Ein Zeichen jedoch wäre kaum notwendig gewesen, denn schon im Betreten des Diners hatte ich ihn erkannt. Er war der einzige Weiße.
Hier ging es auch nicht darum, zu sprechen. Unsere erste Begegnung sollte eine andere Überschrift tragen, die Augen, die Ruhe, die Anwesenheit, das alles spielte eine größere Rolle als unsere Stimmen, unsere Worte. »Nur noch du wirst mich sehen können«, sagte er. Dann herrschte wieder Stille. Die meisten Menschen hätten wohl noch in der Wahrnehmung eines solchen Satzes unmittelbar die Flucht ergriffen. Doch etwas hielt mich hier, bei Kachelbad, ich schenkte ihm Glauben. Aber warum vertraute ich ihm? Ich weiß es nicht. Er schien es auszustrahlen, schon damals in Harlem.
Wir schauten uns lange an, zwischendurch schloss ich sogar die Augen, ich hatte sehr schlecht geschlafen und spürte es, die Müdigkeit fraß an meinem Körper, wie zwei Hände umfasste sie von hinten mein Gesicht und zog daran. Ich träumte ja schlecht. Schon seit frühester Kindheit war ich von schrecklichen Albträumen verfolgt. Nach einer viertel Stunde, die wir zusammen dort saßen, lächelte Kachelbad mir zu, schaute sich langsam im Raum um und verschwand. Die anderen Gäste des Diners, die Bedienung, sie alle konnten ihn nun nicht mehr sehen. Nur ich. Er hatte mich eingeweiht. Sofort verstand ich und musste lachen, nur ganz leise, ich hielt mir die Hand vor den Mund, es blitzte kurz so auf. Kachelbads Atem ging langsamer, intensiver, ich sah, wie seine Brust sich hob und senkte, betrachtete das alte, furchige Gesicht, gezeichnet von einem sanften, kaum merklichen Lächeln, das ich in den folgenden zwei Jahren meist nur in diesen Situationen bemerken sollte. Die Bedienung kam und räumte seinen Teller ab, beachtete ihn nicht, schaute nur mich an und fragte, ob ich noch etwas wünschte. »Rührei und zwei Scheiben Toast, bitte«, sagte ich, »ein Glas Orangensaft und Kaffee, schwarz«, versuchte dabei, nicht Kachelbad anzuschauen, sondern sie. Ich musste wieder lachen, versuchte, es zu unterdrücken, die Bedienung hätte es nicht verstanden und sich vielleicht beleidigt gefühlt, mit Sicherheit aber wäre sie irritiert gewesen. Das hätte sie nicht verdient.
Als sie mit einem Tablett mit meiner Bestellung zurückkam, tauchte er wieder auf und das Mädchen erschrak ein bisschen. Sie hatte Kachelbad vergessen, nachdem er verschwunden war, und nun stockte ihr der Atem, das spürte ich. Ihre Stimme trat aus der Routine und sie sprach leise zu ihm, fragte nun auch ihn nach einem weiteren Wunsch. Kachelbad bestellte ein Glas Wasser, wandte sich dabei ein Stück weit der Bedienung zu, die ihm zunickte und von uns ging, rückwärts.
Während ich nun aß, saß Kachelbad einfach nur da und trank das Wasser. Dann, als ich mein Frühstück beendet hatte, stand er auf, legte ein paar Dollarscheine auf den Tisch und zog einen dicken Umschlag aus der Tasche, den er vor mir auf den Tisch legte. »Dieser Brief ist von Lee Won-Hong. Bis bald, Rosary«, sagte er, lächelte aufrichtig und verließ das Diner unauffällig. Ich schaute ihm hinterher. Er trug eine ausgeblichene, blaue Jeans, schlichte schwarze Schuhe, vielleicht waren es auch Stiefel, und eine bläulich graue Jacke, eine Art Anorak. Seine Kleidung war unauffällig, auch wenn sich hier in Harlem niemand so kleiden würde. Er trug die Uniform der alten Männer. Wie alt mochte Kachelbad sein? Ende 60 bestimmt, vielleicht Anfang 70. Ich wusste sein Alter nicht und schon war er verschwunden, bereits zum zweiten Mal innerhalb der kurzen Zeit unseres Kennenlernens.
Ich betrachtete den Umschlag. Dickes Papier, zerknittert an den Rändern und zerschlissen, hier und da mit schwarzem Panzerband verstärkt. Er schien etwas zu behüten, das dabei nicht auffallen wollte. Wie ein verfallenes Haus, in dem ein Tresor steht. Der Umschlag war mir nun anvertraut. Ich würde ihn beschützen, ihn verteidigen.
*
Als ich wieder vor die Tür trat, fühlte ich mich merkwürdig, wie in einem Übergang. Als würde ich jeden Augenblick die Vorstellung davon verlieren, wo oder zu welcher Zeit ich mich befand. An der Tür rempelte ich einen Mann an, der das Diner betreten wollte, ich versuchte, mich zu entschuldigen, doch kein Wort kam über meine Lippen. Nur ein verwirrter Blick stach mir aus den Augen, kurz spiegelte er sich in der Glastür und ich erschrak. Die Luft auf der Straße war heiß und drückend und die Gerüche kamen mir fremd vor. Ich schien nicht auf der Welt, schwankte. Etwas muss in dem Essen gewesen sein, dachte ich. Dann dachte ich, nein, etwas muss in dem Umschlag sein.
Der Briefumschlag war schwer, er lag wohlbehütet an meinem klopfenden Herzen, unter meiner Jacke. Auf dem Weg nach Hause begegnete ich Menschen, die zu meinem Leben gehörten, Verkäufer mit Karren, von denen es dampfte und zischte und nach Mais und Maronen roch, eine Blumenverkäuferin, von der ich zwar nie Blumen kaufte, weil ich kein Geld hatte, die mir aber jedes Mal, das ich an ihr vorbeikam, freundlich zuwinkte, der Polizist, Schwein, Zahnschmerzen bekam ich, wenn ich den Schlagstock sah, der ihm an der Seite herunterbaumelte. Immer schneller lief ich, umschlang meinen Körper mit den Armen, weil ich Schutz brauchte vor dieser Welt, die mir plötzlich fremd vorkam, fremder denn je, und weil ich alles verlieren durfte, nur den Umschlag nicht.
Ich öffnete ihn erst, als ich in meinem Zimmer im Wohnheim war. In dem schmalen Raum lag nur meine Matratze, das immerzu quietschende Bettgestell hatte ich in den Keller verbannt, außerdem war da meine Holzkiste mit der wenigen Kleidung, den Büchern, dem Fotoalbum. Ein paar Andenken an meine Kindheit. Der Affe aus Stoff, den ich mir nicht abgewöhnen kann und der mich begleitet, seit ich zu denken im Stande bin. Wahrscheinlich ist er sogar noch länger da, doch das weiß ich nicht.
Nachdem ich die Tür verschlossen und das Kofferradio auf eine Frequenz zwischen zwei Sendern eingestellt hatte, so, als müsse das lärmende Rauschen einen Schutzraum bieten, in dem mich niemand hören konnte, uns, mich und den Brief, öffnete ich den Umschlag, der von zwei Metallklammern geschlossen war. Ich zog den löchrigen Vorhang vor das gekippte Fenster, ließ mich auf die Matratze fallen. Da ging es schon besser, besser als auf der Straße. Ich zog die Seiten heraus und es fielen ein paar Blätter roten und gelben Laubs und ein Bündel Geldscheine mit aus dem Umschlag. Der Brief roch wie der Oktober. Ich zählte das Geld. Es waren 1000 Dollar und ich kann heute kaum mehr sagen, welche der drei Arten Papier mich damals schwindeliger machte. Das Laub verteilte sich auf dem Boden und wurde immer mehr, es tänzelte um meine Füße, und das Geld entlockte mir einen spitzen Schrei, mehr ein Schreck als eine Überraschung. So viel hatte ich noch nie besessen.
Ich las leise, wenn ich mir die Worte auch vorsprechen musste. Die ersten Blätter beinhalteten eine Nachricht an mich, mit einer Schreibmaschine geschrieben. Das Papier sah alt aus, vergilbt und fleckig. Fast wie das Laub auf dem Boden. Warum schrieb ein Mensch auf solch einem Papier?
Los Angeles am 21. April 1985
Rosary?
In der Zukunft. Auf die Zukunft!
Schwarzer Schatten zieht durch eine staubige Gasse, die Mauern kalt, die Mauern rau. Der Stoff seines Umhangs fällt weich und wendet die Wärme nach innen. Über ihm, geblendet vom Licht, hängen weiße Fetzen, Kleider, Hemden, gewaschen und zum Trocknen gespannt. In den Häuserschluchten flattern sie im Wind, geben ihre Feuchte dem Dunst, der ihnen den Geruch der großen Stadt einwebt. Der Schatten schaut nach oben, sein Blick geht zur Sonne, seiner Widersacherin, seinem Feind, seiner Quelle, der Zeit – durch die Hemden, durch die Hosen, durch die Kleider. Zwischen dem Weiß des Feuerballs und der Dunkelheit am Grunde der Schlucht zeichnet sich ein Spiel aus Graustufen. Er trägt einen Umhang, er ist ein Phantom. Er wohnt in einem Turm.
Verzeihen Sie mir diesen pathetischen Auftakt, Rosary, aber der Tod ist nicht das Ende. Von diesem Glauben zeugen die Religionen, die allesamt an die Existenz einer Form des ›Danach‹ glauben, den Himmel, die Hölle, an eine Wiedergeburt. Jeder weiß etwas. Selbst der Atheismus kennt ein Leben nach dem Tod, wenn der Körper in der Verwesung zum Nährboden der Maden wird. Vielseitig, die Angebote. Wird die Hülle also wieder eins mit der Mutter am Boden, gehen die Gläubigen davon aus, dass der Geist sich von ihr gelöst hat und längst an einem anderen Ort ist, ein Ort, den nur die Toten kennen, der alles sein kann. Einen Beweis dafür gibt es nicht, da gehen Sie d’accord? Wer braucht auch Beweise, wenn er einen Glauben hat, der Trost spendet und über die Unwissenheit hinwegtäuscht. Es scheint, als brauche der Mensch einen Glauben oder die Überzeugung von etwas ›Anderem‹, das er nicht erfassen kann. Er glaubt, dieses Andere zu erfahren, wenn er stirbt, wenn seine Zeit als lebendiges Kind der Mutter Erde vorbei ist. Der Mensch unterwirft sich dieser Unwissenheit und der Tod wird zum Schlüssel einer kommenden Erkenntnis. Der Mensch macht sich dumm, fügt sich der Dummheit. Bis zu dem Tag, an dem er stirbt. Ob er danach schlauer ist, weiß keiner, denn niemand ist je zurückgekehrt.
Auch wir haben einen Glauben. Aber dieser will sich auf die Religionen nicht verlassen: Die Kryonik ist eine Geisteshaltung, sie geht über das Leben hinaus. Der Geburt, dem Beginn des Lebens, ist der Mensch ausgesetzt, er wird ins Leben geworfen, das keinen Sinn, keine Verlässlichkeit trägt. Wir bemühen uns darum, dem Tod einen anderen Charakter zu geben.
Was also, wenn ein Leben nach dem Tod möglich wäre, hier auf der Erde, und Krankheit, das Alter, das Unglück wären besiegt? Was, wenn der Tod nicht das Ende wäre, sondern der Anfang eines Neubeginns? Vielmehr: Was wäre, könnten wir die Phase des Todes überspringen, eine Brücke bauen in eine Zeit danach, nicht im Jenseits, sondern hier und jetzt? Was wäre, wenn wir nicht verfallen würden, wenn wir zurückkämen, ohne Sorgen, ohne Leid?
Wir glauben an die Wiederauferstehung eines jeden Menschen, wir wissen davon – von einem zweiten Leben auf Erden. Irgendwann. Seit 1964 beschäftigt sich die Kryonik mit der Zukunft der Menschheit, nach ihrem Tod. Es existieren in den USA zwei Institutionen, die die Kryonik praktizieren. Eine davon ist Exit U.S., in deren Namen ich mich an Sie wende. Wir frieren Menschen ein, um sie eines Tages wieder aufzuwecken – wenn dem Verfall des menschlichen Körpers, den Symptomen des Alterns, dem Sterben adäquat begegnet werden kann. In der Forschung geht es pfeilschnell voran und bald schon wird es möglich sein, die Erkenntnisse der Universitäten in den Dienst der Kryonik zu stellen. Wir wollen das Sterben nicht länger akzeptieren.
Ich möchte Sie zu uns einladen, um Ihnen hier in Los Angeles persönlich vorzustellen, worin unsere Arbeit besteht. Ich hoffe, Sie erschrecken nicht und geben mir die Chance, mich zu erklären. Zunächst nämlich klingt es unheimlich: Nach dem Ableben unserer Klienten bewahren wir ihre gefrorenen Körper auf, bis in der Zukunft eine Möglichkeit gegeben ist, sie aufzutauen. Auf dieses Ziel arbeiten wir in intensiver Forschung hin. Wir sind sicher, dass das technologische Fortschreiten der Menschheit die Möglichkeit der Wiederauferstehung, des Erwachens aus dem Kälteschlaf, in greifbare Nähe rückt. Ja, eines Tages wird es möglich sein! Die Alten werden wir auftauen, wenn der Mensch gegen das Altern gesiegt hat, die Kranken erwecken, wenn ihre Krankheit heilbar ist, und jene, die heute nicht mehr leben wollen, begrüßen wir in einer anderen Zeit zurück, wenn sich die Bedingungen geändert haben, wenn ein Leben möglich ist, das ihren Bedürfnissen entspricht.
Die Gründe für eine Suspension sind äußerst unterschiedlich, sich dabei jedoch nicht unähnlich. Das Potenzial der Wiederauferstehung jedoch übersteigt die Vorstellungskraft des menschlichen Geistes. Was wir wissen: Der Mensch wird die Zeit besiegen, Krankheit, Alter und Tod, wird Distanzen zu fernen Planeten überbrücken können, Planeten, die noch nicht entdeckt sind, wird Orte finden in einer Distanz, für deren Überbrückung ein menschliches Leben nicht ausreichen kann. Er wird über der Zeit schweben. Wir werden unsterblich sein.
Die Frage nach dem größten Topos der Menschheitsgeschichte, dem Jenseits, der Zeit nach dem Tod, wird neu gestellt werden müssen. Die Religion und die Philosophie drehen sich schwindlig in dieser Auseinandersetzung, seit Menschengedenken, und so wurde diese Frage zum Grund für Kriege, Verfolgung und Auslöschung. Könnte ihre Beantwortung, ihre wirkliche, unwiderlegbare Auflösung, nicht gar für Frieden sorgen? Könnte sie nicht einen ewig währenden Streit mit der Wahrwerdung eines universellen Traums versöhnen?
In der Kryonik schlummern große Potenziale. Mit diesem Denken wenden wir uns jedoch nicht gegen die Religionen, wir wollen nur den Zeitraum verlängern, bis diese zuständig werden. Wir wollen ihnen zuspielen. Ihnen Gewissheit schenken. Ihnen ermöglichen, den Fokus neu auszurichten. Kein Hexenwerk: Auch Gläubige gehören zu unseren Schützlingen.
Doch unsere Arbeit stößt in diesen Tagen noch auf große Skepsis, weitestgehend agieren wir daher im Verborgenen. Es nützt ja nichts, Ihnen etwas vorzumachen, Rosary: Die Kryonik ist ein Tabu. Wir aber wollen sie emanzipieren. Der Weg ist geebnet, was wir tun, ist nicht illegal. Doch von der Gesellschaft, von den Religionen, von der Politik, vom Militär und von den vorwiegend konservativen Flügeln der Wissenschaft werden wir als Scharlatane angesehen. Nur in der Kunst und in der Philosophie haben wir Freunde. Auch in Ihnen hätten wir gerne eine Freundin. Ja, eine Komplizin. Denn wir brauchen Hilfe.
Wir sind überzeugt davon, dass Sie die Fähigkeiten besitzen, unserer Idee zu dienen und uns zu unterstützen. Sie kennen den menschlichen Körper, wissen, wie er funktioniert. Wir möchten Sie in unsere Gruppe von Mitarbeitern aufnehmen und Ihnen die Kunst der Suspension – den Prozess hin zur Wiederauferstehung – beibringen.
Im Briefumschlag finden Sie ein wenig Geld, mit dem Sie sich um Ihre Angelegenheiten kümmern können. Sollte die Reise teurer werden oder sie darüber hinaus zu Ausgaben zwingen, werden wir selbstverständlich zusätzlich dafür aufkommen. Neben dem Geld liegen dem Brief weitere Informationen zur Kryonik bei, Zeitungsartikel, Forschungsbeiträge, Interviews, die Ihnen ein Bild unserer Tätigkeiten zeichnen sollen. Es werden Fragen bleiben, die dieser Brief nicht erschöpfend beantworten kann. Auf manche Fragen gibt es auch keine Antworten. Doch wir wollen es versuchen, soweit wir kommen.
In der Zukunft. Auf die Zukunft!
Lee Won-Hong
Das, was ich dort las, übte eine unbändige Anziehungskraft auf mich aus. Ich ging auf die Toilette auf dem Gang, schloss mich in meine gewohnte Kabine ein, die vorletzte auf der linken Seite, an deren Rückwand eine Ecke des verblendeten Fensters etwas Sonne spendete. Deutlich erinnere ich mich an das Licht, das dort hindurchfiel, und wie sich die Schatten der Blätter auf den weißen Kacheln bewegten. Es wirkte, als wögen sie langsamer hin und her. Ich blieb dort sicher eine viertel Stunde, ohne es zu bemerken. Erst, als jemand die Waschräume betrat, kam ich zurück in die Gegenwart. Ich stob mir kaltes Wasser ins Gesicht, dann ging ich wieder auf mein Zimmer und las die fünf Seiten erneut. Ich war ohne Zweifel willens, mich dem Gedankenspiel hinzugeben, mehr noch, mich mit Won-Hong und Kachelbad zu treffen.
*
Wenn etwas geschieht, also wirklich etwas geschieht, etwas, das Konsequenzen mit sich bringt, das sich nicht mehr rückgängig machen lässt, und man begreift diese Entwicklung, dann verändert sich auch die Umgebung. Der Ort, an dem man ist, wird zum Protagonisten jener Verschiebung, er nötigt einen, sich zu verhalten, zu reagieren, sich der neuen Situation zu stellen. So ging es mir damals, mit dem Brief in der Hand, dem Geld in der Tasche und dem Laub auf dem Boden. Das Zimmer kam mir bereits viel enger vor, enger denn je, die schmale Stube schob ihre Wände auf mich zu, und das Laub schien sich zu verdichten, schon waren meine Füße bis zu den Knöcheln davon bedeckt. Das Fenster, das diese Seiten mir geöffnet hatten, schrie nach mir. Es war der einzige Ausweg aus diesem Raum. Ich musste schnellstmöglich auch das restliche Papier begutachten, das in dem Umschlag steckte. Doch es sollte nicht hier geschehen, nicht an diesem Ort, nicht in meinem Zimmer, in dem die Wände keine Ohren hatten, wohl aber Augen. Ich wirbelte durch den Raum, das Laub stob auf und tänzelte in den dünnen Sonnenstrahlen, die durch die Löcher im Vorhang drangen. Langsam glitt es zu Boden. Die Blätter ließ ich liegen, sie passten in dieses Zimmer. In meine Tasche aber packte ich die Unterlagen, mein Notizbuch und den schlichtesten Kugelschreiber, den ich finden konnte, eine Sonnenbrille und eine dünne Decke. Dann verließ ich das Wohnheim.
Erst im Mount Morris Park las ich weiter, während ich mit einem weißroten Strohhalm von meiner Limonade trank, machte mir Anmerkungen. Die Kohlensäure kitzelte mir die Nase. Dem Brief und dem Geld war ein umfangreiches Dossier beigegeben. Zunächst fand ich die Kopien zweier Lexikoneinträge:
Dem Rana sylvatica, bekannt als Waldfrosch oder auch Eisfrosch, ist es möglich, den Winter zu überdauern, indem er seine Körperflüssigkeiten einfrieren lässt. Bei diesem Zustand völliger Passivität handelt es sich laut der Unterlagen nicht etwa um einen gewöhnlichen Winterschlaf, sondern um ein anteiliges Einfrieren des Körpers, das der Frosch in Reaktion auf einen starken Temperaturabfall begünstigen kann. Ein todesähnlicher Kälteschlaf. Der Frosch erfriert nicht, er gefriert. Das in Nordamerika und Kanada und bis zum Polarkreis vorkommende Tier erzeugt ein körpereigenes Frostschutzmittel aus Glukose und Harnsäure, welches verhindert, dass im Blut während des Einfrierens Eiskristalle entstehen, die die Adern von innen verletzen würden. Froschblut.
Ich musste an die Frösche denken, die ich als Kind im Sommer aufgelesen hatte, so groß wie eine Fingerkuppe, an ihre menschenähnlichen Extremitäten. Wie sie feucht in meiner Hand gelegen hatten, in geduckter Haltung, mich nervös taxierend. Fragend ihre schwarzen Augen, ob ich eine Gefahr für sie darstellte. Durch die Position ihrer Augen sah es dabei immer so aus, als schauten sie gleichzeitig von mir weg, wären in Gedanken schon woanders. Ihre kleinen Körper kitzelten kalt auf der Handinnenfläche und ich erinnere, wie mir ein angespanntes und zugleich euphorisches Gefühl durch die Arme zu meinem Herzen stieg. Ich hatte sie dann immer möglichst tief ins undurchsichtige Grün gebracht, wo sie niemand finden konnte.
In einem dieser Sommer hatte ich ein Feuchtbiotop gebaut, aus einem großen Einmachglas, hatte es mit Erde gefüllt und mit Schilf, hatte Wasser dazu gefüllt und Löcher in den Schraubdeckel gestochen, so, dass in der Sonne eine tropische Atmosphäre entstand. Stundenlang hatte ich beobachtet, wie die winzigen Tiere einfach nur dasaßen, auf einem Stein, geschützt von der unsichtbaren Wand. Was Frösche wohl träumen?
Es gab ein paar Jungs damals, ich sehe noch unscharf ihre Gesichter, denen es eine helle Freude machte, die Frösche zu quälen, ihnen Beine auszureißen oder sie gegen die Wand zu werfen. Die Frösche wollten leben, das zeigte sich in jedem Sprung, mit dem sie ihren Peinigern zu entfliehen versuchten. Aus dem Gebüsch beobachtete ich die Untaten der mir Gleichaltrigen, verfluchte sie, spürte Zorn und den Wunsch, auch ihnen ein Bein auszureißen oder sie mit eben jenen Feuerzeugen und Glasscherben zu malträtieren, mit denen sie die Frösche folterten. Am Ende des Sommers entließ ich meine Freunde aus dem Feuchtbiotop, zerstörte das Glas, zu groß war meine Angst, die Jungen könnten mein Werk entdecken, sodass der Schutzwall, den das Glas doch eigentlich ausmachte, den Fröschen zur tödlichen Falle würde. Im Jahr darauf machte ich mit Kellerasseln weiter, die sich als weitaus pflegeleichter herausstellten, nahm das Biotop sogar heimlich mit in mein Zimmer. Dann verlor ich das Interesse und wurde langsam erwachsen.
Ich verstand nicht alles, was in dem Artikel zu lesen war, wohl aber, dass die Frösche durch einen chemischen Prozess im Körper den Gefrierpunkt austricksen, damit sie keinen Schaden nehmen, dass sie aber de facto wirklich tot sind im Winter, dass die Atmung und in der Folge auch der Herzschlag ganz aussetzen und erst wiederkehren, wenn die Temperaturen milder werden und ihre Körper von der Frühlingssonne aufwärmen. Für diese Zwischenzeit, den Winter der Frösche, fehlte mir der Begriff, den Tod hatte ich immer als endgültig verstanden. Es handelt sich bei der Phase ja nicht um ein Koma oder dergleichen, die Frösche sind in dieser Zeit Dinge, Kadaver, leblose Körper, ehemalige Lebewesen, vorrübergehend tote Wesen. Bis sie in der Frühlingssonne wieder erwachen. Die Frösche leben dann weiter wie zuvor, kehren an ihre angestammten Laichplätze zurück, pflanzen sich fort, und wenn es wieder kalt wird, frieren sie ein, immer wieder. Sie sparen die unwirtlichen Zeiten aus, schalten sich ab, leben nur, wenn die Umwelt sich so konstituiert, dass sie ihnen ein unbeschwertes Dasein erlaubt.
Wie gern hätte ich Zeiten in meinem Leben einfach verschlafen. Die Winter in Harlem sahen schön aus, wenn der Schnee liegen blieb und alles ganz still wurde. Ich ging dann gerne spazieren oder kletterte auf ein Hausdach, um im Mondlicht die weißen Dächer und Straßen zu betrachten. Doch die Kälte durchdrang die maroden Fenster und das Mauerwerk der alten Häuser und sorgte dafür, dass ich die kalte Jahreszeit meist frierend und in einige Decken gehüllt verbringen musste, trotz Unmengen heißen Tees von schweren Erkältungen geplagt. Das Heim war alt, die Fenster undicht, die Heizung schwach. Ich konnte nicht mit meinem körpereigenen Adrenalin auf diese gefühlte Bedrohung reagieren, konnte nicht der dem übergreifenden Frost innewohnenden Gefahr der Vertrocknung durch die Produktion von Harnstoff entrinnen, konnte nicht im Erfrieren Glukose erzeugen, um meinen Körper gegen die Kälte zu schützen.
Auch ein paar Fotografien des Frosches waren in dem Artikel enthalten. Ich strich über seine graue Haut und musste an jene Bilder aus der Zeitung denken, die ein Mädchen zeigten, das in der Nachbarschaft verschwunden war und dessen Leiche man nach Monaten in einer Gefriertruhe fand. Sie war ermordet worden und blieb tot, auch, nachdem die Gerichtsmediziner ihren jungen Körper aufgetaut hatten. Auch ihre Haut war ganz grau, auf den Fotos ohnehin, aber auch in den Umschreibungen des Journalisten, der ihren Leichnam gesehen hatte. Ihr schmaler Körper verfolgte mich damals bis in den Schlaf. Träumen Frösche überhaupt?
Ich musste auch an die Obdachlosen denken, die wir im Winter auflasen, in der Zeit, als ich noch als Rettungssanitäterin gearbeitet hatte. An die vom Frost geschwollenen Finger, wie Ingwerknollen, blass, grau, fast blau. Wenn wir sie noch rechtzeitig fanden und auf die Station brachten, sie sich erholten und ihre Körper wieder aufwärmten, wurde ihre Haut dann bronzefarben, egal ob sie vorher dunkel oder hell gewesen war. Ein eigentümlicher Farbton, eigentlich ohne Vergleich. Oft jedoch hatten wir sie direkt ins Leichenschauhaus bringen müssen, wo sie grau blieben. Anders als bei dem Mädchen aus der Zeitung trugen ihre Gesichter am Ende immer friedliche Züge. Vielleicht hatten sie sich im Erfrieren vorgestellt, dass sie nur eine unwirtliche Zeit überdauerten, bis der Schnee wieder schmolz. Das Mädchen war schon tot, als man sie in die Truhe gesteckt hatte, hieß es. Ich nahm einen Schluck von meiner Limonade, um den Geruch aus der Nase zu bekommen, der sich in die Bilder meiner Erinnerung eingebrannt hatte. Keine Romantik lag im Sterben der Obdachlosen, ihre Haut war von der Kälte verbrannt, der Tod hatte ihnen die Farbe entzogen.
Der zweite Lexikoneintrag umschrieb das sagenhafte Wesen des Acutuncus antarcticus. Dieses außerirdisch erscheinende und nur unter einem Mikroskop sichtbare Tier ähnelt optisch einem See-Elefanten, hat acht Beine und ist nicht mehr als einen Millimeter lang. Es verfügt über eine Art Rüssel und scheint nach heutigem Kenntnisstand das resistenteste Lebewesen zu sein, das es auf der Erde gibt. Der Acutuncus antarcticus ist nicht nur äußerst unempfindlich gegenüber Umweltbedingungen, die für andere Organismen längst tödlich sind, er ist zudem, auch wenn er sich durch eine Befruchtung der vom Weibchen ausgetragenen Eier paaren kann, in seiner Fortpflanzung vom Sexualakt unabhängig. Diese wahren Überlebenskünstler lassen die Hypothese zu, sie seien eine außerirdische Spezies, ist ihre Resistenz doch Bedingungen angepasst, die auf der Erde schlichtweg nicht vorkommen. Sie können etwa Temperaturen von bis zu –273° Celsius aushalten, ein Kältegrad, der auf der Erde nicht natürlich existiert und nur künstlich hergestellt werden kann. Der Acutuncus antarcticus aber ist älter als die Labore der Menschen. Ähnlich wie der Waldfrosch sorgt er durch eine Reaktion des Stoffwechsels dafür, dass das in seinem Körper enthaltene Wasser nicht einfrieren kann. Diese Eigenschaft erlaubt ihm nicht nur eine für das menschliche Auge unsichtbare Population des gesamten Planeten, durch seine Widerstandsfähigkeit ist ihm ja ein Vorkommen bis in lebensfeindlichste Gefilde gewährt, es befähigt ihn darüber hinaus auch zu einer bis zu acht Monate andauernden todesähnlichen Dormanz, eine Entwicklungsunterbrechung, die sich ähnlich wie beim Frosch als totalen Kälteschlaf definieren ließe. Der Acutuncus antarcticus kann Umstände überdauern, die eigentlich den Tod bedeuten.
Handschriftliche Notizen in den Kopien kommentierten, dass dieser Schlaf bis zu 30 Jahre andauern könne, die Namen der entsprechenden Forscher jedoch konnte ich nicht entziffern. Als ich las, dass die einer ebenfalls in Kopie beiliegenden mikroskopischen Aufnahme nach äußerst niedlich wirkenden Lebewesen auch bei einer Testreihe im Weltraum mühelos überlebten, musste ich die Papiere zur Seite legen und mich hinlegen. Ich schüttelte den Kopf, immer wieder.
*
Als Nächstes fand ich einen Zeitungsartikel über eine norwegische Ärztin, die bei einem Skiunfall unter die Eisdecke eines Flussbettes gesogen worden war, wo sie zunächst zwar in einer Luftblase noch hatte atmen können, dann aber, nach etwa einer Dreiviertelstunde, aufgrund der Unterkühlung und Erschöpfung das Bewusstsein verlor. Als sie schließlich geborgen werden konnte, hatte ihr Körper bereits eineinhalb Stunden im Eiswasser gelegen. Ihre Begleiter, zu ihrem Glück ebenfalls Ärzte, unternahmen ohne Unterlass Wiederbelebungsmaßnahmen, doch bis sie mit einem Rettungshubschrauber ins nächstgelegene Krankenhaus eingeliefert werden konnte, waren drei Stunden vergangen. Ihre Körpertemperatur lag unter 15° Celsius und sie war klinisch tot, weder das Hirn noch das Herz zeigten Aktivität. Die Ärzte zapften ihr Blut über einen Schlauch ab, wärmten es in langsam steigender Temperatur wieder auf und reicherten es mit Sauerstoff an, parallel wurde die Frau bereits seit ihrer Bergung künstlich beatmet, eine Hydraulikpumpe unternahm zudem eine stetige Herzmassage. Keiner der Ärzte glaubte daran, dass ihr Körper eigenständig würde überleben können. Dann jedoch fing ihr Herz wieder an zu schlagen, ihr Hirn wurde aktiv. Nach zwei Wochen hatte sie sich von ihrem Unfall und ihrem klinischen Tod erholt, noch im selben Jahr konnte sie ihre Arbeit als Ärztin wieder aufnehmen.
Bis zu diesem Ereignis hätte ein Mensch, dessen Herz und Hirn nicht mehr selbstständig arbeiteten, als tot gegolten. Den bis zu diesem Präzedenzfall gültigen Kriterien nach also wäre der Körper der Ärztin eigentlich als Leiche gewertet worden, als man sie barg. Doch sie kehrte zurück, weil die Ärzte ihren kurz vor dem Gefrierpunkt stehenden Organismus permanent Wiederbelebungsmaßnahmen aussetzten, man sie in langsamen Schritten erwärmt und ihr Blut dabei präpariert hatte. Ein paar der Erkenntnisse des reißerisch verfassten Zeitungsartikels kannte ich schon aus meiner Ausbildung und Praxis als Rettungssanitäterin, die Verschiebung der Definition des Todes etwa, seit in den 1960er Jahren die Herz-Lungen-Maschine entwickelt worden war, die auch das Überleben der Ärztin begünstigt hatte. Was dieser Umstand jedoch letztendlich für eine Tragweite hatte, was er wirklich bedeutete, wurde mir erst jetzt bewusst.
Die weiteren Unterlagen versammelten wissenschaftliche Papiere, die die Erkenntnisse und Potenziale fundierten, die sich aus den ersten Artikeln ableiten ließen. Auch wenn noch nicht klar war, ob eines Tages die Körper der tiefgefrorenen Menschen wieder aufgetaut werden könnten, geschweige denn, ob es eine Antwort auf die Gründe geben würde, aus denen sie sich einfrieren ließen, das Altern, tödliche Krankheiten oder schlichtweg das Unvermögen, in dieser Gegenwart zu leben, war bereits die Möglichkeit gegeben, Menschen so zu präparieren, dass ihre Körper nach dem Tod zumindest keine Veränderung, keinen Verfall durchlebten. Es war möglich, den Toten die Zeit anzuhalten. Das war die bisherige Grenze der Erkenntnis. Doch es half mir, die Stasis zumindest als etwas Weltliches zu begreifen. Und ich wollte mehr erfahren, über die Kryonik, über Kachelbad und die Unsichtbarkeit. Was sprach nicht alles dafür. Ich hatte New York nicht oft verlassen und war auch nie in Los Angeles gewesen. Das Geld sollte für die Reise reichen. Oder für ein paar unbeschwerte Monate in Harlem?
Ich hatte den Tod allein aus medizinischer Perspektive immer als endgültig akzeptiert, hatte nie darüber nachgedacht, dass es einen Weg geben könnte, einen Menschen wieder aufzuwecken. Den Begriff der Kryonik, seine Bedeutung, kannte ich erst seit der Kontaktaufnahme durch Exit U.S. Wie so oft merkte ich, wie ich mich in meinem Denken selbst überholte, stolperte, mich um mich selbst wand, verknotete, den Überblick verlor. Doch diesmal hatte ich einen guten Grund dazu. Fragen rauschten durch meinen Kopf. Was waren das für Menschen, die ein Verfahren anboten, dessen Ausgang völlig ungewiss war? Und wer waren die Menschen, die sich von Exit U.S. einfrieren ließen? Warum reiste Kachelbad quer durch die Vereinigten Staaten, um mich zu treffen? Warum ich? Niemand sonst interessierte sich doch für mich.
Noch im Morgengrauen lag ich wach, das Radio rauschte wieder, und bis die Sonne aufging, blickte ich in die Dunkelheit, die nur vom Scheinwerferlicht der Autos durchbrochen wurde, die sporadisch am Wohnheim vorbeifuhren. Mein Körper war durchdrungen von einer kitzelnden Unruhe, ich lag dort, ganz still, doch ich spürte schon die Bewegung, verspürte einen Drang, direkt aufzubrechen, wollte keine Zeit mehr verlieren. Im Dunkel der Nacht tanzte das Laub durchs Zimmer. Alles hinter mir lassen. Alles verlassen. Auf die andere Seite der Vereinigten Staaten reisen. Umziehen. Niemanden kennen. Bei Fremden anheuern. Wieder mit dem Tod zu tun haben. Leichen einfrieren. Mir wurde warm und kalt bei dem Gedanken an die in einen flüssigen Stickstofftank getauchten Körper.
Kachelbad. Ich hatte ihn verschwinden sehen und ich wollte ihm dorthin folgen.
*
Kurze Zeit später saß ich in einem Flugzeug nach Los Angeles. Ich flog vom östlichsten Zipfel der USA in den tiefsten Westen. Das Unternehmen Exit U.S., das ich neben Kachelbad bisher lediglich in der Person Lee Won-Hongs kannte, mit dem ich noch ein kratziges Telefongespräch geführt hatte, bestand nur aus diesen beiden. Es gab noch einen Arzt, ein paar Anwälte, Techniker, Lieferanten und Helfer, deren Dienste sie bei Bedarf in Anspruch nahmen, aber der feste Kern bestand aus dem Guru der Kryonik, Won-Hong, und seinem Helfer H.G. Kachelbad.
Mir gefiel das Fliegen, auch wenn sich beim Start meine Hände tief in die Armlehnen krallten und ich kurz die Augen schließen musste. Durch die Wolken zu fliegen aber, mit dem Drang, durch das runde Fenster in sie hineinzugreifen, ihren Geschmack zu erfahren, war ein wunderbares Gefühl. Ich hatte die Erdoberfläche noch nie aus solch einer Distanz betrachtet, was mich zu gleichen Teilen ängstigte wie auch beruhigte. So waren meine ersten Berührungspunkte mit Exit U.S. bereits ein Abenteuer, noch bevor meine Beschäftigung dort begann.
Meine wenigen Sachen waren vorsorglich im Keller des Wohnheims verstaut. Alles, was ich wirklich benötigte, hatte ich in eine große Reisetasche gepackt. Auch den Stoffaffen hatte ich mitgenommen und das Fotoalbum. Sollte ich mich überzeugen lassen, für Exit U.S. zu arbeiten, würde meine Tätigkeit direkt beginnen.
In Harlem ließ ich keine Freunde zurück. Ich war allein. Selbst im Wohnheim war niemand, von dem mir der Abschied hätte schwerfallen können. Mama Neté, die für viele von uns Mädchen eine Mutter bedeutet hatte, war zwei Jahre zuvor gestorben. Mit ihrem Tod war ich zum zweiten Mal verwaist und dabei endgültig erwachsen geworden. Ich wusste also nicht, ob ich jemals zurückkehren würde. Zeit, dass ich unabhängig wurde. So war dieses Angebot bereits jetzt schon für mich zu einer Tür geworden, ein anderes Leben zu betreten, egal, ob dies sich in Los Angeles oder irgendwo sonst auf der Welt abspielen würde. Ich ließ etwas hinter mir, ohne genau zu wissen, was auf mich zukam.
Die Reise in der großen Maschine dauerte über sechs Stunden und wie gebannt starrte ich aus dem Fenster, beobachtete die Wolken unter mir. Eine Stewardess nahm die Bestellung der Reisenden auf. Ich ließ mir Kaffee bringen, wollte wach bleiben, den Flug zurück durch die Wolken nicht verpassen, wenn wir schließlich zur Landung ansetzten. Noch einmal alles von oben betrachten.
»Kann ich sonst noch etwas für Sie tun?«, fragte die nette Dame und durchdrang mich mit ihren tiefen, weißen Augen. »Nein«, antwortete ich, »vielen Dank, ich glaube nicht.« Das Essen rührte ich nicht an, schenkte es dem Mann neben mir, der es gierig verschlang. »Das erste Mal nach L.A.?«, fragte er irgendwann, doch ich gab ihm nicht mehr als ein »Ja« und ein flüchtiges Lächeln, wir kamen nicht ins Gespräch. Ich fühlte mich wie auf einer geheimen Mission. Auf eine Art war ich das ja auch.
Die Landung dann war unsanft und meine Hände krallten sich wieder in die Sitzlehnen, doch anders als beim Start lächelte ich diesmal. Bevor ich die Maschine verlassen konnte, kritzelte ich mit einem Bleistift ein Haiku auf die Bordkarte und ließ sie in der Hoffnung auf meinem Sitz liegen, dass die Stewardess sie finden würde. Es ist nie verkehrt, ein flüchtiges Gedicht zu verschenken.
Landung im Nebel
Ein Tretminentanz
Dein Brief hat mich erreicht
Vor dem Terminal wartete Kachelbad auf mich, er stand vor seinem grauen Lieferwagen, den ich schon in Harlem vor dem Diner gesehen hatte. Der Alte war also mit dem Van mindestens einmal quer durch die USA gefahren, vielleicht zweimal. Er trug dieselben Sachen wie bei unserer ersten Begegnung. Ich betrachtete das Fahrzeug nun eingehender, während ich mir ein paar Atemzüge gab, in Los Angeles anzukommen. Die Schrift auf der Seite des Transporters war entfernt worden, dort jedoch, wo die Zeichen und Buchstaben gestanden hatten, war das bläuliche Grau des Blechs etwas heller. So offenbarte sich die vorherige Berufung des Wagens zunächst in chinesischen Schriftzeichen, die ich jedoch nicht zu lesen vermochte. Darunter aber fand sich in kleinerer Schrift eine Übersetzung. New World Laundry. Der an den Rändern der Radkästen schon vom Rost ergriffene Ford hatte zu einer chinesischen Wäscherei gehört. Ich ahnte, was nun darin transportiert wurde.
Kachelbad reichte mir die Hand zur Begrüßung, in seinem Gesicht lag bereits etwas mir Vertrautes, auch wenn wir uns erst ein einziges Mal gesehen hatten. Meine Tasche stellte ich zwischen uns auf die Sitzbank. Kachelbad startete den Motor und fädelte sich mit gekonnter Zurückhaltung in den dichten Stadtverkehr ein. Der Transporter wirkte im Inneren viel neuer und auch der Motor hörte sich kräftiger an, als das leicht lädierte Äußere des Fords vermuten ließ. Ich strich über das Armaturenbrett.
»Der Wagen ist zuverlässiger, als man auf den ersten Blick meinen könnte. Ich habe den Motor verbessern lassen, in einer Werkstatt. Ein paar Sachen habe ich auch selbst gemacht. Dieses Auto hier ist sehr schnell. Aber es ist unauffällig, weil es Patina angesetzt hat. Schnelle Fahrzeuge stimmen misstrauisch. Du sitzt in einem Phantom, Rosary.«
Kachelbads Stimme wirkte etwas angespannt auf mich, doch er lachte, während er über den Lieferwagen fachsimpelte, schien sich zu freuen, dass ich in L.A. angekommen war. Während der Fahrt schilderte ich ihm meine Eindrücke vom Fliegen und nahm Abstand davon, ihm all jene Fragen zu stellen, die mich, seit ich nach unserer ersten Begegnung das Dossier gelesen hatte, nicht mehr losließen. Ich ging davon aus, dass der Besuch bei Exit U.S. Licht in dieses Dunkel bringen würde. Vielmehr interessierten mich in diesem Augenblick außerdem die Fragen nach der Unsichtbarkeit.
»Wie du das in dem Diner gemacht hast, das war unglaublich. Wie funktioniert das?«
»Wir reden darüber, wenn es an der Zeit ist.«
*
Das Institut, so nannten sie es, auch wenn es kein Institut war, lag in einem Industriegebiet am südlichen Rand von Los Angeles. Rechtlich gesehen war Exit U.S. eine Stiftung, anders hätten Won-Hong und Kachelbad ihre Tätigkeiten nicht ausüben können. Doch was dort geschah, hatte in meinen Augen nicht viel mit der Arbeit einer Stiftung zu tun.
Die Gegend, in der das Institut lag, war schmutzig. Anders als in Harlem. Auch dort lag der Dreck auf den Straßen, hier aber schien sich der scharfe Smog, der Unrat und der Abfall der Zivilisation in den Asphalt, das Mauerwerk, ja, schlichtweg in die gesamte Umwelt eingeschrieben zu haben. Trotzdem wuchsen zwischen den Steinplatten des Gehwegs und dort, wo der Boden aufgebrochen war, grüne Gräser in Nachbarschaft verdorrter Triebe, und überall schoss der Löwenzahn aus dem Boden. Viele der Anlagen, die wir passierten, schienen ungenutzt, waren verfallen, lagen brach, die Fensterscheiben eingeworfen. Schrott stand auf den fahlen Grünflächen und Schmierereien zierten das Mauerwerk. Inmitten dieser Landschaft lag also eine Halle mit gefrorenen Körpern, die auf eine bessere Zukunft hofften.
Wir hielten schließlich vor einem von Stacheldraht gesäumten, maroden Maschendrahtzaun, der ein weiter hinten liegendes Gebäude umgab. Es sah verglichen mit der Umgebung recht intakt aus. Kachelbad stieg aus und öffnete ein massives Vorhängeschloss, das mit schweren Ketten um das Tor gewunden war, dann fuhren wir auf die Lagerhalle zu. Etwa zehn Meter hoch erhob sich der anonyme Kasten in den Himmel von Los Angeles, bis auf ein paar Oberlichter war er komplett fensterlos. Das Gebäude schien eine alte Fabrik oder Lagerhalle zu sein, es wirkte robust, massiv, die Mauern waren dick und unverwüstlich. Wie ein überdimensionales Mausoleum erschien mir die Niederlassung von Exit U.S., und mit dieser Assoziation hatte ich ja auch nicht ganz unrecht.
Wir fuhren langsam auf den Eingang zu, nachdem Kachelbad den Drahtzaun wieder sorgsam verriegelt hatte, hielten vor dem Rolltor, das sich nun klappernd und wie von Geisterhand nach oben schälte. Die Farbe war weitläufig abgeblättert. An der Seite, äußerst unauffällig gehalten, erkannte ich auf einem verblichenen Schild das Exit U.S.-Logo, das ich bereits in dem Dossier gesehen hatte. Dafür, dass es hier um die Zukunft der Menschheit gehen sollte, sah der Laden ziemlich runtergekommen aus.
Als sich das Tor in etwa so weit nach oben bewegt hatte, dass der Transporter hindurchpasste, fuhren wir in den dunklen Schlund dieses unheimlichen Ortes. Kurz ging mir durch den Kopf, dass niemand wusste, dass ich hier war. Ich musste an die Kühltruhe aus dem Zeitungsartikel denken, an das gefrorene Mädchen. Wenn niemand weiß, wo ich bin, dann bin auch ich bereits unsichtbar, dachte ich, während wir die kalte Grabesstätte betraten.
Lee Won-Hong wartete am Rolltor, welches er hinter uns wieder absenkte. Der kleine, schmächtige Mann betätigte einen Lichtschalter, und als die Leuchtstoffröhren mit einem Knall aufflackerten und die weite Halle in ein schmerzendes Neonlicht tauchten, erkannte ich die Tanks, über die ich schon im Dossier gelesen hatte. Sie nahmen mit einigem Abstand zueinander fast die gesamte rechte Seite der Halle ein, zwei nebeneinander, etwa zehn hintereinander. In dunklem Grau erhoben sie sich vor meinen Augen. Sie erinnerten in ihrer Anordnung an die Grabsteine eines riesigen Friedhofs, nur dass sie rund waren und gut fünf Meter hoch. Massive, mit Stickstoff und gefrorenen Körpern gefüllte Grabkammern, der Mikrokosmos einer künstlichen Eiszeit. Aus dem Dossier wusste ich, dass in jeden der Tanks sechs Körper passten. Bis zu 120 eingefrorene Menschen umgaben uns also, und auch, wenn ich wusste, dass es völliger Unsinn war, meinte ich, ihre kalten Blicke zu spüren.
Wir fuhren noch ein Stück weiter in die Halle und hielten neben einem flachen Pavillon, der in der riesigen Halle einem Schuhkarton gleichkam und in dem sich durch die Fenster ein Büro erkennen ließ. Kachelbad stoppte den Wagen mit einem kurzen Quietschen der Reifen und wir stiegen aus. Ein chemischer Geruch drang mir in die Nase, nicht sehr intensiv, aber durchaus spürbar. Auch er passte zu dem, was ich hier sah. Ein von Menschenhand geschaffenes Konstrukt, das zwischen Leben und Tod operierte, eine Brücke zwischen zwei Welten, eine Pforte ins Reich der Toten und zurück, vielleicht zurück. Eine Zwischenwelt. Der Geruch hing über dem ganzen Raum und wurde intensiver, je näher man dem Operationssaal kam, der sich weiter hinten in der Halle befand. Vorne in der Halle lag ein Tank auf einer Rollkonstruktion, die mit einem Gabelstapler verbunden war. Liquid Nitrogen stand darauf. Sicher beherbergte er den flüssigen Stickstoff, der regelmäßig nachgefüllt werden musste. Auch davon hatte ich im Dossier gelesen, doch die Dinge nun direkt vor mir zu sehen, sie anfassen zu können, hatte einen ganz anderen Effekt auf mich. Der abstrakte Gedanke wurde konkret, ich konnte nun sehen, dass es die Kryonik wirklich gab, sie unlängst Praxis war. Menschen betraten hier einen hypothetischen Raum, den Tod zu überlisten. Gleichzeitig machte sich die Hypothese vom Menschen abhängig. Der Tank mit dem flüssigen Stickstoff koppelte die Vision der Kryonik ja an die Menschheit, denn es brauchte stets eine Person, die für den Nachschub sorgte. So war der Tank gleichzeitig eine Kette am Bein und ein umgekehrter Mutterkuchen, der nicht Leben schenkte, sondern es aufhielt, stoppte, aussetzte. Ich warf meine gefütterte Jeansjacke über, knöpfte sie zu und schlug den Kragen hoch. Dann wandte ich mich um und blickte zu Won-Hong, der mit weit geöffneten Armen lächelnd auf mich zuschritt.
»Rosary. Willkommen im Kühlhaus!«
»Guten Tag.«
Lee Won-Hong umarmte mich und drückte mich an sich, als würden wir uns schon lange kennen, eine Geste, die mich irritierte. Seine Kleidung roch alt, doch es war ein Geruch, der fest an ihm haftete, egal, was er trug. Dieser Geruch schien der Zeit enthoben, genau wie Lee Won-Hong. Er war anders als die Menschen, die ich kannte, er verkörperte eine Idee, hinter der er als Mensch zu verschwinden schien. Anders noch als Kachelbad, der eine Passivität besaß, eine Zurückhaltung, die sich auch in seinem Vermögen zur Unsichtbarkeit manifestierte, wirkte Lee Won-Hong dabei wie ein Geschäftsmann. Er trug den Anzug eines Handelsvertreters, der Zweiteiler hatte seine besten Jahre hinter sich. Die Kleider waren durchaus gepflegt, aber abgenutzt, der Stoff schon dünn an den Knien und Ellenbogen. Ich schätzte Won-Hong auf etwa 50 Jahre, war mir aber nicht sicher. Sein Körper und seine Haut wirkten auf mich wie ein Kostüm, was eine Einordnung seines Alters schwierig machte. Auch sonst entzog er sich mir. Trotz seiner Offenherzigkeit war er nicht wirklich greifbar. Ein Hochstapler, dachte ich.
Nach ein paar mehr oberflächlichen Sätzen Lee Won-Hongs meine Anreise betreffend folgte eine Führung durch die weite Halle. Die Tanks wurden oberhalb von einem begehbaren System verbunden, das sich in Gittern über die ganze Halle erstreckte und so ermöglichte, die monolithischen Zylinder zu betreten.
Die Körper wurden durch einen zur mobilen Hebebühne umgebauten Gabelstapler nach oben geschafft, um dann in die Tanks getaucht zu werden. Vor meinem inneren Auge sah ich sechs Körper, sechs pro Tank, ausdruckslos. Ein kalter Schauer zog mir über den Rücken, er verband sich mit der Kälte des weiten Raumes.
Dann erklärte mir der Kopf von Exit U.S., was ich bereits gelesen hatte. Die Leichen wurden in dem Operationssaal präpariert, in dem Won-Hong gemeinsam mit einem Arzt, den er pro Suspension bezahlte, das Blut über ein Transfusionsverfahren gegen eine Flüssigkeit aus Ethylenglykol und Dimethylsulfoxid austauschte. Bei dem Arzt handelte es sich um Dr. Gruber, den ich bald kennenlernte, und auch, wenn ich diesem Verdacht nie auf den Grund ging, strahlte er in meiner Wahrnehmung eine Vergangenheit aus, die es ihm verbot, in seriöseren Umfeldern sein Geld zu verdienen. Er sprach kaum. Ich sah ihn immer nur, wenn wir jemanden zur Suspension einlieferten oder wenn er mal mit zu einem kalten Mieter fuhr, wie wir die Klienten von Exit U.S. nannten, um den Totenschein auszustellen.
Das Gemisch, das mit einer Pumpe während der sogenannten Vitrifikation über die Halsschlagader gegen das Blut getauscht wird, dehnt sich bei Frost nicht aus, sondern verglast, wodurch kein Schaden im Gewebe entstehen kann. Bis der Körper aber auf den Operationstisch gelegt wird, hat eine hydraulische Herzkompressionsmaschine hundert Mal in der Minute einen Druckimpuls auf den Brustkorb gegeben, über eine Beatmungsmaske wird zudem im besten Fall ab dem eindeutig festgestellten Todesmoment alle zwanzig Sekunden Luft in die Lunge gepumpt. Auch, wenn der Mensch offiziell tot ist und dies ja auch bleiben soll, zunächst zumindest, müssen die Zellen am Leben erhalten werden. Durch die medikamentös gedrosselte Wiederbelebung wird der Verfall des Körpers, der mit dem Tod einsetzt, verhindert. Keine Wiederbelebung also. Für dieses Stadium fehlt letztlich das Vokabular, die Kryonik trifft sprachlich auf eine Grenze. Es handelt sich um eine Art De-Animation. Ein Wort zwischen Leben und Tod. Ein Widerspruch. Wenn die Grenzen unserer Sprache die Grenzen unserer Welt ausmachen, betreten wir hier eine neue.
Die Verwesung also, die ja nichts weiter ist als eine Vergiftung des Körpers, wird aufgehalten. Alle Zellen, alle Moleküle und jedes Atom sollen bleiben, wo sie sind. Für die Körper wird durch die Animation die Zeit angehalten, sie befinden sich dann in einem statischen Zustand zwischen Leben und Tod. Herz und Hirn arbeiten nicht mehr selbstständig, doch durch Beatmung und die maschinelle Herzmassage wird der Prozess des Ablebens unterbrochen. Nach wenigen Minuten gewinnt die Haut, die nach dem Tod aschgrau geworden ist, wieder an Farbe, schimmert in einem bronzenen Ton, was gleichzeitig ein Indikator dafür ist, dass der Gasaustausch in den Zellen funktioniert. Bleibt die Haut grau, ist eine Fortführung der Suspension sinnlos.
Den Klienten, den leblosen Körpern, die sie werden, verabreicht man Medikamente, ein Beruhigungsmittel, eine Heparin-Spritze ins Herz als Gerinnungshemmer und Morphium, sodass sie nach ihrem offiziell bestätigten Tod nicht versehentlich wieder aufwachten. Sie sollen ja aufwachen, aber erst, wenn es bestimmten Kriterien nach Sinn macht.
Lee Won-Hong redete sich in seinen Erläuterungen in Rage und ich verstand, dass in ihm zwar ein unternehmerischer Geist schlummern mochte, er hier aber vielmehr seinem Idealismus folgte. Er ruderte mit den Armen, seine Stimme wurde schärfer.
»Die Kryonik ist ein auf den ersten Blick vorsichtiger, zaghafter, bei genauerer Betrachtung jedoch äußerst wilder Tanz auf einem schmalen Grat, ja, die Tanzenden müssen auf dem Kuppelring eines Vulkans balancieren und ihn dabei immer wieder umrunden, und auf ihren Schultern tragen sie die leblosen Körper ihrer Schützlinge. Ein Abrutschen bedeutete den sicheren Tod oder eine verfrühte Wiedergeburt, doch weder das eine noch das andere soll in dem Moment der Suspension stattfinden. Die Kryonik bedeutet, nicht blinzeln zu dürfen, über Jahre, trotz Sonne, Wind und Müdigkeit, trotz des Sandes der Zeit, welcher sich in den Augen festsetzt. Sie muss auf einem schmalen Grat balancieren, ein Abrutschen wäre mehr als ein Fehltritt, es relativierte das gesamte Unterfangen und zöge uns Wächter mit in den Abgrund. Es muss so lange balanciert werden, bis eine Lösung gefunden ist, bis eine noch unbekannte Hand Halt gibt, einem die Körper abnimmt und auf festen Untergrund befördert, sich um sie kümmert. Sie wieder zu lebendigen Menschen macht, repariert, integriert, erlöst. So lange werden wir balancieren müssen, selbst wenn die Erde bebt, wenn der Vulkan Lava spuckt, wenn es Asche und Gestein herabregnet. Und wenn wir alt sind, wenn der Sandsturm über uns hereinbricht, müssen wir neue Generationen von Wächtern ausbilden.«
Er sprach wie der Führer einer Sekte, griff zu abgedroschenen Bildern, die sich mir jedoch einprägten. Er schaute mich eindringlich an. Ich sollte eine neue Wächterin werden.
*
Das Blut und die Gewebeflüssigkeit gegen das Frostschutzmittel auszutauschen, das vom Prinzip dem Gemisch entspricht, welches der Waldfrosch selbst zu produzieren im Stande ist, wird notwendig, damit die Adern unversehrt bleiben. Ohne diese Operation würden sie zerplatzen, wie es mit Rohren geschieht, die durch das Gefrieren des Wassers bersten. Ideal wäre es, diese Operation bereits direkt nach Eintreten des Todes zu unternehmen, doch die Apparaturen, mit denen der Austausch der Flüssigkeiten vollzogen wird, sind zu sensibel, als dass man sie in einem Wagen mit zu den Orten bringen könnte, an denen die Klienten von Exit U.S. sterben. Deshalb kommt es beim Transport der Leichen auf die Zeit an. Der Körper wird schon beim Transport heruntergekühlt, ein Prozess, der direkt nach dem Tod beginnt. Das Eiswasser in dem sargähnlichen Behälter wird durch eine Pumpe zur Zirkulation gebracht, damit keine schädlichen Erfrierungen entstehen. Je nach Dauer der Fahrt muss Eis nachgefüllt werden, damit der Körper von seiner durchschnittlichen Temperatur von 36,5° Celsius langsam immer weiter abkühlt. Durch dieses Verfahren werden alle chemischen Prozesse heruntergefahren. Dann, bevor es zu den konservierenden Maßnahmen kommt, wird das Kopfhaar abrasiert und die Haut ein letztes Mal gewaschen. Es folgt der Blutaustausch, der wichtigste Teil des Verfahrens, und anschließend wird der Körper in einer Art Kühlschrank stufenweise weiter heruntergekühlt, bis er gegen 3° Celsius die Temperatur von Eiswasser erreicht hat. Schließlich wird der präparierte Leichnam dann in einen der Tanks getaucht, wo er am Ende der Suspension bei –196° Celsius auf unbestimmte Zeit eine vorläufige Ruhestätte findet.
Als Won-Hong erwähnte, dass die Körper kopfüber in den flüssigen Stickstoff getaucht werden, blickte ich ihn fragend an. Er lächelte, so wie ein Lehrer es tut, dem eine einfache Frage gestellt wird, die er mit Freude und etwas Müdigkeit zu beantworten weiß. Er erklärte mir, dass der Kopf das Wichtigste sei, wenn ein Mensch eine Suspension durchläuft. Im Gehirn nämlich ist die Persönlichkeit des Menschen verortet, die Erinnerungen, aus denen sich das individuelle Wesen konstituiert.
»Die Seele?«, fragte ich, doch Lee Won-Hong antwortete nicht, fuhr unentwegt fort. Sollte ein Tank etwa ein Leck haben und der Stickstoff auslaufen, würde der Kopf so am längsten konserviert bleiben. Won-Hong schaute mich an und verwies darauf, dass sich unser Wesen über ein Verlustgefühl oder das Leiden an einer Einschränkung hinaus nicht verändert, wenn dem Menschen etwa ein Arm oder ein Bein amputiert wird, wohingegen der Kopf und damit das Gehirn unabdingbar sind. Angewidert grinste ich ihn an, mit skeptischem Blick, auch wenn mir die Erklärung einleuchtete. Dr. Lee Won-Frankenstein.
Die Eindrücke machten mich müde, hinzu kam die Erschöpfung der Reise. Won-Hong schien dies zu spüren. Wir gingen zurück zu dem kleinen Büroraum, der auch das Besprechungszimmer von Exit U.S. beherbergte. Davor stand noch immer der Transporter, der mir in der riesigen Halle nun winzig klein vorkam. Erschöpft sank ich in einen der tiefen Sessel, die um den eckigen, dunkelbraunen Holztisch gruppiert standen. Die Männer setzten sich zu mir und Kachelbad schenkte uns schwarzen Tee ein. Die Becher schienen zusammengeklaubt, sie waren von unterschiedlicher Farbe und Form, auch das Exit U.S.-Logo suchte ich vergeblich. Kachelbad hüllte sich in Schweigen, weiterhin, er wirkte auf mich schläfrig und still. Lee Won-Hong war weitaus fahriger, somit aber auch umso gesprächiger.
»Ist das legal, was hier vor sich geht?«
»In Kalifornien schon, auch in ein paar anderen Regionen. Aber nicht in allen Bundesstaaten verhält es sich so. Deshalb die Transporte. Wir operieren mittlerweile in den ganzen USA, wobei zum Teil die Überführung der Leichen noch zu lange dauern würde. Aber daran arbeiten wir, stetig. Es lassen sich auch erste Menschen aus dem Ausland einfrieren.«
»Was passiert, wenn ein Transport von der Polizei kontrolliert wird?«
»Das darf nicht passieren.«
»Also ist das, was geschieht, illegal.«
»Nein, aber die Polizei bedeutet immer einen Verlust von Zeit, und Zeit gibt es in der Kryonik erst nach der Suspension. Sagen wir es so: Wir handeln im Interesse unserer Schützlinge und die Gesetzgebung ist dem Potenzial und den Bedingungen unserer Disziplin noch nicht angepasst. Auch das ist eine Frage der Zeit. Die Debatte um den postmortalen Kälteschlaf, wie ich zu sagen pflege, bewegt sich langsam erst in die Öffentlichkeit. Ich will ganz ehrlich sein, Rosary. Noch ist unsere Arbeit nicht sehr hoch angesehen, noch werden wir nicht ernst genommen. Aber das wird sich ändern. Die Wissenschaft macht große Fortschritte, und wenn es eines Tages möglich ist, die Körper der kalten Mieter aufzutauen und sie wiederzubeleben, wird man uns danken. Wir werden als Pioniere gelten. Wir dienen hier einer Idee. Ja, wir werden die Ersten sein und unsere Klienten werden den Fortgang der Geschichte ändern. Das ganze Leben wird sich verändern.«
Lee Won-Hong gestikulierte beim Sprechen, als würde er der Wirkmacht seiner Worte nicht trauen. Mit den Armen und Händen forderte er ein, seinen Argumenten zu folgen.
»Und wann wird das sein?«
»Der Zeitpunkt ist ungewiss. Vielleicht werden wir schon nicht mehr leben, wenn die Reanimation nach dem Kälteschlaf möglich ist. Nun, ich werde mich natürlich auch einfrieren lassen. Doch unser Vermächtnis hat Geduld, soviel ist gewiss. Wenn sich die Körper in der Stasis befinden, verändern sie sich nicht mehr. Es muss nur regelmäßig der Stickstoff nachgefüllt werden, ein- bis zweimal im Monat. Dann macht es keinen Unterschied, ob sie fünf oder fünftausend Jahre eingefroren sind.«
Würde ich mich einfrieren lassen? Ich weiß es nicht, weiß es bis heute nicht. Vielleicht bin ich zu jung für derlei Gedanken. Ich blickte Kachelbad an, doch der reagierte nicht. Würde er in einen der Tanks ziehen, eines Tages, wenn es zu Ende ging mit ihm? Etwas an seinem Wesen schien mir zu sagen, dass er aus anderen Gründen hier war. Es ging nicht um seine Zukunft. Er schaute ins Leere, und während Lee Won-Hong wild gestikulierte, schien er irgendwo anders.
»Aber was hat das mit mir zu tun? Warum haben Sie gerade mich eingeladen? Mich interessiert sehr, was hier geschieht, aber ich verstehe noch immer nicht ganz, welche Rolle ich dabei spielen soll.«
Ich war überrascht, wie selbstsicher ich Lee Won-Hong gegenüber auftrat. Ich war im Gespräch mit anderen Menschen nicht gerade geübt, aber hier war meine Stimme fest, zitterte nicht, wie sie es sonst fast immer tat, wenn ich mit Fremden sprach.
»Nun, wir brauchen jemanden, der mit Kachelbad zusammenarbeitet. Jemand, der sich auskennt. Du sollst ihm helfen, sollst dich darum kümmern, dass die Körper angemessen behandelt werden und gekühlt bleiben, bis sie hier ankommen. Wir haben bei den Suspensionen auch die Erfahrung gemacht, dass es besser ist, wenn eine Person fährt und eine andere Person den Körper des Klienten versorgt.«
Als ich den Alten anschaute, der reglos dasaß und auf die Leere hinter seinem Becher starrte, meine Frage aber an Won-Hong richtete, warum sie gerade mich ausgesucht hätten, hier in Los Angeles gäbe es doch sicher genug Menschen mit ausreichenden und gar besseren Qualifikationen, blieb es für einen Moment still. Dann sagte mir der Chinese, dass es nicht nur um ein Handwerk ginge, sondern um das Wesen eines Menschen, etwas, das ich damals noch nicht verstand. Ich weiß heute, dass diese Worte von Kachelbad stammten, Lee Won-Hong sie aber aussprach. Er sagte, Kachelbad habe den Wunsch geäußert, mit mir zusammenzuarbeiten. Mein Blick schwankte fragend zwischen den beiden hin und her. Der Chinese sagte, nur ich sei in der Lage, Kachelbad zu helfen, das wüssten sie, und dass niemand sonst für diese Aufgabe in Frage käme.
Ich schüttelte den Kopf und fragte wieder, wie sie auf mich gekommen seien, meine Stimme wurde unruhig. Die Situation schien zu kippen. In dem Moment, in dem diese Veränderung im Raum spürbar wurde, blickte Kachelbad auf, schaute mich an, gebückt saß er in dem großen Sessel, in dem er fast zu verschwinden schien, den Kopf nach vorne geneigt, mit hängenden Schultern.
»Du bist allein«, sagte er.
*
Ich blieb in Los Angeles. Lee Won-Hong mietete eine kleine Wohnung für mich an, nicht größer als mein altes Zimmer im Wohnheim in Harlem. Doch ich lebte allein dort und das war gut. Die Wohnung verfügte über eine Dusche, eine kleine Küchenecke und einen schmalen Raum mit einem Bett. Ich hatte nicht viel mitgebracht, nur den Stoffaffen, Kleidung, das Fotoalbum. Ach, und das Radio. Das hatte ich auch mitgenommen. Daran hing ich. Es steht auch jetzt hier im Zimmer in Paris. Wenn ich es gar nicht aushalte, schalte ich das Rauschen an.
In einer meiner ersten Nächte in L.A. tobte ein wilder Sturm, wie ihn die Küste wohl schon lang nicht mehr gesehen hatte. Ich war zuhause und hatte mir etwas zu essen gemacht, schaute aus dem Fenster. Aus dem Radio rieselte es, denn es ging mir nicht gut, immer wieder tauchten Bilder meiner Familie auf und dann die Flammen. Zwischendurch erklangen im Radio Fetzen einer Stimme, als wollte die Nachrichtensprecherin mich erreichen, mir etwas mitteilen. Fast klagend klangen die Worte, die kaum durchkamen und sich mit dem Heulen des Windes vermählten. Der Regen peitschte und gab dem Wind ein nasses Gesicht, ich stand am Fenster und konnte im Licht der Straßenlaternen die Körper der Böen erkennen, die über die Häuser stoben. Im Zimmer hatte ich das Licht gelöscht, nur eine Kerze war entzündet und die Flamme flackerte, auch wenn ich das Fenster geschlossen und ein Tuch vor den Türspalt gestopft hatte. Boote rissen sich los in dieser Nacht, Dächer hoben ab und Bäume knickten um. Es war, als wolle mich das Unwetter begrüßen, mich willkommen heißen in Los Angeles, mir raten, mich vorzusehen. Ich hielt eine Hand an die Scheibe und versprach.
Irgendwann legte sich der Regen schließlich und die Oberfläche der Stadt blieb erschöpft zurück. Dort, wo der Himmel von den Lichtern schwach erleuchtet schien, sah ich die schwarzen Silhouetten der Palmen, die langsam im Wind hin und her wogten, sich von der Nacht abzeichneten wie vor dem Schein eines dunklen Feuers. Ich musste an die gefrorenen Körper in den Tanks denken, und die Kälte verdrängte die Bilder der Flammen. Ich fragte mich, ob sie sich bei Wind stärker bewegten als an stillen Tagen.
Die ganze Nacht über blies der Wind durch die Straßen, bis in meine Träume hörte ich das rieselnde Geräusch des Sandes, den er dünn in seinem Atem trug. Als ich am nächsten Tag am Strand entlanglief, war die Erde voller Palmblätter, die am Boden klebten. Sie sahen aus wie die überfahrenen Tiere an den Rändern der großen Straßen.
In den folgenden Wochen führte mich Kachelbad in die Technik der Kryonik ein, gab mir eine Ausbildung für einen Beruf, der kaum existierte. Geduldig beantwortete er mir meine Fragen, schilderte mir die Abläufe, übte mit mir die zu vollziehenden Handgriffe. Die ersten Tage blieben theoretisch, wir nahmen keine Suspension vor. In dieser Zeit aber lernte ich bereits die Versorgung der Tanks, kletterte auf ihnen herum, hoch oben in der Halle, deren opake Weite aus dieser Perspektive noch viel stärker auf mich wirkte. Kachelbad reichte mir von unten den Stahlschlauch an und ich füllte den Stickstoff nach. Ich konnte die Füße der Körper sehen, die in den Tanks eingelagert waren. Sie sahen aus, als seien sie weit durch den Schnee gewandert, barfuß, ohne Stiefel. Wer sie wohl waren?
Bei der ersten Suspension dann, auf die ich gewartet hatte wie ein Schütze vor dem Schuss, fühlte ich mich trotz allem wie gelähmt, auch wenn sie uns sehr gut gelang. Ich hielt mich im Hintergrund und mein Mentor regelte alles, doch die praktischen Handgriffe konnte ich bereits anwenden. Meine erste kalte Mieterin war jenseits der 80 Jahre und saß im Rollstuhl. Ihre Hausärztin, die uns gerufen hatte, als die Frau zu sterben begann, füllte den Totenschein aus. Sie war instruiert und beeilte sich, handelte im Willen ihrer Patientin. Ein Glücksfall. Doch es fühlte sich unwirklich an und sehr aufregend, kaum wagte ich es, mich in der dunklen Wohnung der alten Frau umzusehen. Ich justierte die Pumpe und legte die Atemmaske an. Wir hoben den leichten Körper in den Eissarg und machten uns auf den Rückweg. Zurück in der Halle in L.A. präparierte ich gemeinsam mit Kachelbad den Körper, bereitete ihn für die Lagerung vor und beobachtete den Blutaustausch aus einiger Entfernung. Dr. Gruber war mir unheimlich. Er hatte schon in der Halle gewartet und meine Hand zur Begrüßung etwas länger festgehalten, als man das für gewöhnlich tat, hatte mich auf eine Art angesprochen, mit der ich mich gezwungen fühlte, das Gespräch fortzusetzen. Doch ich entzog mich. Kachelbad war zufrieden mit meiner Arbeit, was er mir nicht sagte, aber deutlich zeigte. Es gab Bratkartoffeln mit Apfelmus.
Beim zweiten Mal ging es schon viel besser. Das seltsame Gefühl aber, das jede Suspension begleitete, ergriff mich auch da. Die wachsende Routine in unserem Handwerk prallte auf die Einzigartigkeit eines jeden Todes. Trotzdem ähnelten sich die Abläufe. Wir warteten auf die Ärzte, drückten ihnen manchmal, um die Prozedur zu beschleunigen, einen Umschlag mit Geld in die Hand, verzogen uns in ein Nebenzimmer, um sie bei ihrer Arbeit nicht aufzuhalten und auch keine Blicke mit ihnen wechseln zu müssen. Wir standen uns dann schweigend gegenüber oder ließen unsere Blicke durch die Wohnungen und Häuser der kalten Mieter gleiten, die mit dem Tag unserer Ankunft zu Höhlen des Vergessens wurden. Wenn wir dann den Kugelschreiber auf dem Klemmbrett kratzen hörten, legten wir los. Wir zogen dem Menschen die Kleider aus, schnallten Beatmungsgerät und Pumpe an, legten den nackten Körper in die mit Eis gefüllte Wanne, aktivierten die Maschine und füllten den Sarg mit noch mehr Eis auf, bis der Leichnam ganzflächig bedeckt war. Dann schlossen wir den Deckel, der zur Abdichtung mit einigen Scharnieren fixiert werden musste. Anschließend bockten wir den schweren Behälter hoch und schoben ihn vorsichtig über eine Schiene in den Fond des Transporters. In diesen Momenten ähnelte unsere Arbeit eher der Praxis eines Bestatters. Lag die Wohnung in einem höheren Stockwerk und gab es keinen Aufzug, mussten wir Helfer bezahlen mit anzupacken, blind und taub. Von ihnen ernteten wir stets skeptische Blicke.
Doch es waren dabei nicht die Toten, die mich irritierten. Von meiner früheren Arbeit war ich es ja gewohnt, Leichen zu sehen und auch zu berühren. Es war vielmehr der Umstand, dass wir sie präparierten, dass wir sie in die Stasis überführten, dass wir sie für etwas vorbereiteten, dessen Eintreten niemand sicher erwarten konnte. Wir gaben ihnen eine Hoffnung, von der ich selbst nicht wusste, ob ich an sie glauben sollte. Doch auch, wenn ein mulmiges Gefühl blieb, verdrängte ich die Zweifel in der Routine, die jede Tätigkeit irgendwann erlangt, immer mehr.
*
Kachelbad gab mir immer wieder Bücher mit, manchmal brummte er dabei etwas, das ich nicht verstand. Es war mehr ein Ton, der die Geste der Buchübergabe begleitete, eine wortlose Empfehlung. Doch es herrschte eine stille Übereinkunft darüber, dass er mir etwa im Abstand einer Woche etwas mitbrachte. Immer waren es Taschenbücher, die abgegriffen aussahen, so, als habe jemand sie wirklich benutzt. Auf der ersten Seite fand sich bei jedem der Bücher ein X, als habe Kachelbad markiert, dass er sie bereits gelesen hatte. Die Bücher waren gut und ich las viele von ihnen mehrmals. Ich hatte auch schon zuvor gelesen, vor meiner Begegnung mit Kachelbad, doch diese Texte waren anders. Sie hoben mich aus den Fugen, drehten mich um, setzten mich woanders wieder ein. Wie eine formbare Tür, die ganz unterschiedliche Durchgänge öffnen und schließen lernt, an einen Stall passt oder an ein Schloss. Ich gewann den Eindruck, dass Kachelbad mich mit ihnen auf etwas vorbereiten wollte. Er kommentierte das nie, die Bücher blieben unbesprochen. Doch er schien einen Plan mit mir zu haben.
Wenn ich nicht arbeitete oder schlief, las ich also oder unternahm lange Spaziergänge durch Los Angeles, fuhr mit dem Bus den Sunset Boulevard hinunter, erforschte Friedhöfe, stand vor den Häusern der Reichen, die in den Bergen wohnten. Dort sah ich kaum Schwarze. Nur weiße Frauen, die zusammen joggen gingen und dabei unmögliche Kleidung trugen, Männer in großen Autos und Mexikaner auf Transportern, die den Weißen die Gärten machten und im Haushalt halfen. Trotzdem ging ich dort spazieren. Ich sah anders aus als die Anwohner und ich spürte, dass ich dort eigentlich unerwünscht war. Doch sie bemerkten mich nicht. Niemals sprach mich jemand an oder blickte mir hinterher. Es war, als existierte ich für die Bewohner des Stadtteils nicht. So lief ich durch die Straßen wie ein Schatten ohne Körper. Ich unternahm dann immer eine Art Spiel, das Kachelbad mir gezeigt hatte. Man muss sich dazu eine Farbe aussuchen und dieser folgen. Ich ging also auf Gelb und suchte mir in der Umgebung ein gelbes Objekt nach dem anderen, welcher Art auch immer. Der Blick musste immer auf etwas Gelbem haften und von dort zum nächsten Gegenstand springen. Alles ist möglich, ein gelbes Hemd, ein Taxi, die Fassade eines Hauses, eine Blume, ein Reklameschild. Man hangelt sich von Gelb zu Gelb und dieser Modus gibt dem Laufen einen Rhythmus, der von der Beschaffenheit der Umwelt bestimmt wird und den Geist gleichzeitig für diese sensibilisiert. Die Farben scheinen aus der Oberfläche hervorzutreten, scheinen auf sich aufmerksam machen zu wollen. Sie fungieren wie Lianen, mit denen man sich durch den Großstadtdschungel hangelt. Es ist beeindruckend, man entdeckt Dinge, die einem sonst verborgen blieben. Ich geriet in Assoziationsketten, die ganz konkret von dem beeinflusst waren, was sich scheinbar willkürlich miteinander kombinierte. Es war, als diktierten mir Fragmente meiner Umgebung flüchtige Erzählungen. Das Spiel funktioniert mit allen Farben und man kann sie auch innerhalb eines Spaziergangs wechseln, wobei ich feststellen musste, dass manche Farben etwa in Beverly Hills kaum vorkamen.
In diesem Wahrnehmungsmodus entdeckte ich im nördlichen Westen der Stadt auch viele Plätze, die ich bereits aus Kinofilmen kannte oder aus den Zeitungen und Magazinen. Sie sahen in Wirklichkeit ganz anders aus. Trister. Der Trost, den das Zelluloid ihnen einschrieb, hatte hier keine Chance. Beverly Hills war von einem traurigen Weiß. Die sauberen Fassaden wirkten wie eine blankpolierte Grenze, die einem noch unterstreichen sollte, wie hart man an ihr abprallen würde bei dem Versuch, sie zu überschreiten. Sie zeigten auch auf, wie sich die Menschen hinter dieser Farbe isolierten. Ganz anders als in meinem Viertel, wo der rote Stein der Häuser dreckig und mit Graffiti beschmiert war. In Echo Park auf Farben zu laufen, führte einen an die verrücktesten Orte und ließ mich den Stadtteil als ein Meer aus Farben entdecken. Alle Lichter schienen dort zu flackern, ohne Ausnahme.
Die ärmlichen Verhältnisse, die weiter fest an mir hafteten, bestimmten auch das Leben von Lee Won-Hong und Kachelbad. Mit der Kryonik war kein Geld zu verdienen und ich hegte bald den Verdacht, dass Lee Won-Hong neben dem Tiefkühlgeschäft noch weitere Betätigungsfelder hatte, die weitaus tiefer im Schatten lagen als die Tanks in der Halle. Zwielichtige Geschäfte, die ihn kaum schlafen ließen und eine leichte Paranoia erzeugten. Ich hatte keine Indizien für meinen Verdacht, aber ich spürte es. Er drehte sich häufig um oder senkte die Stimme. Doch er handelte für seine Vision, mit allem, was er tat. Er glaubte an sein Vorhaben, geschäftlich wie auch in philosophischer Hinsicht. Und diese Vision hatte einen hohen Preis, im übertragenen Sinne, aber auch ganz konkret. Die Pacht für die riesige Halle, die Wartung und das Nachfüllen der Tanks, die Operationen und die Kosten, die durch den Transport der Klienten ins Lager in L.A. entstanden, verschlangen das Geld, das durch die Lebensversicherungen der Klienten reinkam. Lee Won-Hong musste zudem den Behörden Schmiergelder bezahlen, die in absoluter Willkür agierten, was wohl auch darauf zurückzuführen war, dass sie keine Referenz hatten für das, was wir hier taten. Kaum konnte man das den Behörden vorwerfen, war die Kryonik doch auf eine Art äußerst abstrakt, ja, kombinierte sich ihr geheimnisvolles Verfahren mit dem Wahnsinn einer Idee, den man sonst nur in den obskuren Sekten vorfand, die in den Ausläufern der 1960er Jahre die Hollywood Hills pflasterten.
Die konstanteste finanzielle Belastung war das Nachfüllen des flüssigen Stickstoffs in die Tanks. Alle zwei Monate kam ein Laster unseres Lieferanten Auerbach und brachte Nachschub. Wenn der Laster mit dem alten leeren Vorratstank abfuhr, sah der Chinese aus, als trage er etwas durch die Halle, das zu schwer für ihn war. Der flüssige Stickstoff selbst war gar nicht so teuer, doch die Lieferung und der Austausch und die Häufigkeit dieser Prozesse machte die Kryonik zu einer kostspieligen Angelegenheit. Lee Won-Hong lief gebückt, ohne es zu bemerken.
Auch die Ärzte, die die Totenscheine ausstellten, ließen sich dafür bezahlen. Dafür, dass sie nicht genau hinschauten und sich dabei noch beeilten, hielten sie die Taschen auf. Das Unterfangen litt darunter, dass es letztendlich rechtlich abgesichert war, die Rechtmäßigkeit aber permanent behaupten, ja, sie immer wieder aufs Neue erkämpfen und noch mit ein paar Dollars extra absichern musste. Das Problem war ja, dass die Zeit fehlte, die Rechtmäßigkeit zu beweisen. Es war keine Sanduhr, die uns einsog, vielmehr standen wir mit den tonnenschweren Tanks auf dem schmelzenden Eis.
*
Auch wenn Kachelbads Fähigkeit, sich unsichtbar zu machen, scheinbar auf den Wagen abfärbte, meistens nämlich fuhren wir unbehelligt mit den kalten Leichen durch das Land, musste er während der Transporte immer ausreichend Geld bereithalten, um gegebenenfalls die Arme der Exekutive zu beschwichtigen. Ich erinnere einen Vorfall dieser Art besonders, er geschah in meiner ersten Zeit bei Exit U.S. Wir hatten einen Körper im Tank, hinten im Wagen. Die Suspension hatte einige Probleme bereitet, da unser neuer Mieter sehr korpulent war und ich die Pumpe einige Male hatte nachjustieren müssen. Auch dass sein Körper einen Großteil des Transportbehälters einnahm und ich nicht ausreichend Eis aufschichten konnte, machte Schwierigkeiten. Doch schließlich war alles fest justiert und wir machten uns auf den Weg. Immer wieder hielten wir an, um Eis nachzufüllen. Irgendwann schließlich mussten wir an einer Tankstelle Nachschub kaufen. Ich erinnere mich noch an das verblüffte Gesicht des Tankwarts, als ich ihn fragte, ob wir den gesamten Inhalt der Eistruhe kaufen könnten, die vor der Tankstelle im Schatten des Gebäudes stand. Aber es funktionierte, auch wenn wir ein wenig improvisieren mussten. Einige Stunden später fuhren wir durch die Wüste Kaliforniens, die Sonne ging langsam unter, als uns ein Polizist auf einem Motorrad überholte, um uns rauszuwinken. Wir hielten am staubigen Rand des Highways und Kachelbad sagte mir, ich solle ganz ruhig bleiben. Ich bemerkte seine Anspannung. Der Polizist trat ans Fenster, verlangte Kachelbads Führerschein, und während der Alte die Dokumente hervorholte, traf sich mein Blick mit dem des jungen Mannes. Da wusste ich, dass er kein echter Polizist war. Ich konnte es Kachelbad in dem Moment nicht sagen. Aber ich war mir ganz sicher. Die Art, wie er mich betrachtete und auch ein paar Details an seiner Uniform und dem Motorrad, das vor uns auf dem Seitenstreifen stand, schienen mir wie ein Beweis. Seine Kleidung war abgetragen, sah billig aus, und auch das Motorrad wies einige Verschleißspuren auf. Er wies uns an, auszusteigen, und wir folgten diesem Befehl. Der Polizist ging vorne um den Wagen und stellte sich ganz nah vor mich, sodass ich seinen Atem spüren konnte. Er roch nach Pfefferminz. Der Mann war ganz still. Ich hatte Angst, gleichzeitig wusste ich irgendwie, dass mir nichts passieren würde. Ich brachte meine Atmung unter Kontrolle und versuchte dabei, dem schneidenden Blick des Officers standzuhalten. Das war ein Trick. Wenn man wegschaut, hat man verloren, das wusste ich aus New York. Er kam mir noch ein Stück näher, doch dann drehte er sich um und ging zu Kachelbad.
»Was haben Sie da hinten drin?«
»Eine gefrorene Leiche. Wir haben Papiere dafür, es ist alles legal. Wir sind von einer Stiftung und überführen den Körper zur Lagerung nach L.A.!«
Kachelbads Stimme blieb ganz ruhig. Der Polizist ging näher an ihn heran, flüsterte ihm etwas ins Ohr und schaute dann zu mir. Auch Kachelbad blickte mich an, die Lippen zusammengepresst. Er schüttelte den Kopf und zwinkerte mir unauffällig zu. Er sah traurig aus in diesem Augenblick. Dann nahm der Alte seine Brieftasche aus der Jacke und gab dem Polizisten 200 Dollar, der sich nicht von mir abwandte, während er das Geld in seiner Hemdtasche verschwinden ließ. Wir standen noch etwa drei Minuten so, ganz regungslos. Unentwegt starrte der Polizist mich an. Dann bestieg er wieder sein Motorrad und fuhr davon. Kachelbad und ich sprachen nie wieder über diesen Vorfall.
»Möchtest du wissen, wie man verschwindet?«, fragte er mich später während der Fahrt, und ich entgegnete ihm, dass ich es sehr gerne lernen würde.
»Du wirst es aber nicht rückgängig machen können. Diese Fähigkeit verändert einen, Rosary. Du wirst immer mehr sehen können, wirst dich nicht mehr blind verschließen können. Das, was ich dir gezeigt habe, was mit meinem Verschwinden damals in Harlem begonnen hat, wird stärker werden. Und du wirst von Menschen bemerkt werden, wenn du dich unsichtbar machst. Von anderen Unsichtbaren, die gefährlich sein können. Diese Fähigkeit findet viel Missbrauch. Aber sie wird dir helfen, Rosary, du wirst sie nutzen, für dich und dein Wohlergehen, wirst sie nicht falsch anwenden. Vielleicht brauchst du sie eines Tages auch für das, was wir tun.«
Er hielt kurz inne, doch diese Pause wirkte nicht wie die Stille des Zweifels, sondern eher wie eine Sorge oder eine Angst. Er ging damit einen großen Schritt, und ich folgte ihm, sollte nun eine Pforte durchschreiten, durch die es keinen Weg zurückgab. Eine Tür, die offen steht, erzeugt zwangsläufig den Drang, hindurchzugehen. Es ist das Dahinter, das einen anzieht. Dann erklärte Kachelbad mir das Grundprinzip der Technik.
»Zunächst musst du jeden Menschen, der dich anschauen kann, beobachten, nur kurz. Du musst sie zuerst sehen. Jeder Mensch, der dich entdecken könnte, muss zuerst von dir gesehen werden. Es ist also eine Frage deiner Aufmerksamkeit. Du kannst das üben. Wenn du spazieren gehst etwa, schaue dich um, richte deine Aufmerksamkeit auf die Menschen in deiner Umgebung. Versuche ihnen keinen Grund zu geben, dich anzuschauen. Das geht nur in der Praxis. Du musst herausfinden, was es bedeutet, unauffällig zu sein. Mit der Zeit wird das immer einfacher und mit ein wenig Übung genügt es dann irgendwann, die Menschen mit deinen Blicken nur noch zu streifen. Sie werden in deinem Bewusstsein sein, ohne dass du dich darauf konzentrieren musst. Wenn du dann ihre Bewegungen begriffen hast, musst auch du dich bewegen. Es geht darüber hinaus, nur unauffällig zu sein. Du musst sie spiegeln, aber mit viel weniger Intensität, so, als deutetest du ihre Bewegung nur an. Als ob du sie mit einer sanften Parodie entkräftest. Dabei musst du ihre Impulse ins Negative reflektieren. Bewegt sich also jemand zu dir hin, musst du dich ihm so zuneigen, dass deine Bewegung in seiner verschwindet. Du musst dich anspannen und gleichzeitig weich bleiben. Du reagierst wie die Nadel von einem Kompass. Dein Atem wird dann langsamer, du sprichst auch nicht mehr. Wenn du die Bewegungen der anderen Menschen irgendwann zu spüren weißt, kannst du auch die Augen schließen, das hilft beim Verschwinden. Du lernst es nur aus einer Geisteshaltung und der Erfahrung. Die Unsichtbarkeit ist eine Art zu denken. Du weißt es schon, jetzt musst du es nur noch machen. Du bist dazu begabt.«
Ich weiß diese Sätze auswendig, seit wir damals gemeinsam durch die Wüste fuhren. Es war, als hätte Kachelbad sie in meinen Kopf gelegt. Die Unsichtbarkeit war ein Prozess, der zu diesem Zeitpunkt längst für mich begonnen hatte. Es hatte angefangen, als ich zum ersten Mal Kachelbads Verschwinden beigewohnt hatte, damals, am Ende meines alten Lebens. Meine Augen hatten sich ein zweites Mal geöffnet und ich hatte begonnen, die Möglichkeit zur Unsichtbarkeit in mir zu erkunden. Nun hatte Kachelbad sie mir offenbart, mir die Methode des Verschwindens erläutert. Ich begriff, dass es sich bei der Unsichtbarkeit nicht nur um eine Technik handelte, sondern dass sie eine Philosophie war, auf die ich mich erst zubewegen musste.
Heute kann ich verschwinden und ich sehe alle Menschen. Die Unsichtbaren, die nach Sichtbarkeit streben und verzweifeln, genau wie jene, die in der Lage sind, leise zu verschwinden. Es zerfrisst mich. Ich sehe ihr Leiden. Ich kann sie nicht mehr vergessen. Ich kann sie nicht übersehen. Die Unsichtbarkeit ist Segen und Fluch. Sie ist von Kachelbad auf mich übergegangen. Er hat mich angesteckt.
*
Noch lange dachte ich über diesen Tag nach. Die Ereignisse schienen in Zusammenhang zu stehen, als habe mir Kachelbad eine Waffe geben wollen, mich künftig selbst zu verteidigen. Das Erlebnis mit dem falschen Polizisten war zwar ein Sonderfall, doch in derlei Situationen steckte immer dasselbe Risiko. Würden wir es auf das Prozedere ankommen lassen, wäre das Ergebnis ja die erstaunte Erkenntnis der Officer auf der Wache, dass unser Handeln legal war. Doch im Moment dieser Feststellung, die einiges Warten bedeutete, wäre es bereits zu spät, das Eis geschmolzen, die Körper warm, die Haut so grau wie der Winter über Harlem. Ich kannte die bürokratischen Prozesse der Polizeiarbeit aus meiner Zeit als Rettungssanitäterin. Nahmen sie einen Verdächtigen mit aufs Revier, brauchte das mehr Zeit, als wir Eis in den Truhen hatten.
Ich hatte damals auch Sorge, dass die Polizisten doch etwas finden würden, das sie uns zur Last legen könnten. Die Patienten schlossen spätestens mit ihrer Entscheidung zur Suspension eine Lebensversicherung ab, durch die sie die Überführung, das Präparieren und die Lagerung ihrer Körper finanzierten. Die Versicherungen waren auf Exit U.S. ausgeschrieben. Starben die Klienten also, wurde das Geld angelegt, um es zu vermehren. So erklärte es mir Lee Won-Hong und ich fand das einleuchtend. Bis zu diesem Punkt war alles legal. Mit dem Geld aber musste er den ganzen Laden zusammenhalten, und da es nur so eben reichte, für die Suspension, die Grundversorgung der Tanks und die vielen Löcher, die dieses Gewerbe in seine Hosentaschen fraß, musste er zusätzlich auf anderen Wegen Geld auftreiben.
Ob er so träumte wie ich? Ich war ratlos in meinen Träumen, war den Fragen ausgesetzt, die meine neuen Erfahrungen mit sich brachten. Wenn ich schlief, begegnete mir all das viel schonungsloser, weil ich keine Ablenkung finden konnte, keine Routinen. Meine Träume waren viel ehrlicher zu mir, als ich es selbst im Wachzustand je sein konnte. Hier war der Wahnsinn des Unterfangens nicht zu leugnen, hier war ich ihm ausgeliefert, immer wieder, auf die eine oder andere Art. Doch das kannte ich ja schon, ich träumte bereits mein ganzes Leben auf diese Weise. Nur in diesen Zeilen steckt mehr Ehrlichkeit. Das Schreiben ist wie eine Brücke, die die Schlucht zwischen Traum und Wirklichkeit begehbar macht. Von hier aus kann man tief in den Abgrund blicken.
Was träumten wohl die Menschen, die in Trauer oder Hoffnung in die dunkle Lagerhalle pilgerten? Ihre Sehnsucht war eine andere, ihre Sehnsucht war von Verlust geprägt, sie schwelgten in Erinnerungen, erfuhren den Schmerz in der Gegenwart. Ihre Vorstellung von der Zukunft, in der sie die verlorenen Menschen wieder aufrecht gehen sehen wollten, war geprägt von einer Trauer, die entgegen ihrer Natur nicht endgültig sein konnte, da sie sich an eine irrationale Hoffnung anschloss, die ein Loslassen noch viel weniger erlaubte als der Tod. Einen Verstorbenen in einem Stickstofftank zu besuchen, führte den Prozess des Loslassens, der beim Tode eines Menschen so wichtig ist, ad absurdum. Die Kryonik konnte die Trauer zu einem Gefühl verdammen, das sich unentwegt im Kreis drehte. Wie auf einem Friedhof standen die Hinterbliebenen vor den mit flüssigem Stickstoff gefüllten Gruften, die sich sechs einander fremde Menschen miteinander teilten. Sie hielten vor den monolithischen Tanks inne oder setzten sich auf ein paar Plastikstühle davor, blickten auf die undurchdringbare Oberfläche der kalten Gräber, strichen über die Schilder, auf denen neben dem Exit U.S.-Logo die Namen der im Tank aufbewahrten Mieter standen. Auch das Geburtsdatum und das Datum der Suspension waren aufgeführt. Dieses zweite Datum ersetzte in der Hoffnung der Kryonik den Zeitpunkt des Todes. Rechts auf den Schildern blieb eine Stelle frei. Was könnte eines Tages dort eingetragen werden? Das Datum der Wiederauferstehung? Das Datum des zweiten und nun endgültigen Todes? Das Zeichen für die Unendlichkeit?
Der Gedanke an ein Gelingen der Kryonik blieb mir in der ganzen Zeit bei Exit U.S. abstrakt und ist es noch heute. Auch weil er durch und durch hypothetisch ist. Irgendwann, wenn der Plan aufgeht, wenn die Wissenschaft so weit ist, sollen die Menschen aus den Tanks erweckt werden. Und dann? Die Trauernden werden dann nicht mehr da sein, es sei denn, sie lassen sich selbst einfrieren. Sie sahen verloren aus, in der weiten, großen Halle. Aber konnte die Kryonik nicht auch ihnen Erlösung bringen? Manche Menschen empfinden mehr Schmerz am Leid der Lebenden, denen sie nicht helfen können, als sie an ihrem eigenen Leben überhaupt erfahren. Vielleicht trauerten sie auch nicht nur um den Menschen in dem Tank, sondern auch um ihrer selbst wegen, weil sie gleich doppelt verlassen waren. Nicht nur den Tod eines ihnen nahestehenden Menschen mussten sie verkraften, sondern auch den Umstand, dass sich dieser ein Leben in der Zukunft ohne sie vorstellen konnte und sogar bereit war, für dieses Leben das hauchdünne Eis der Kryonik zu betreten. Geld zu bezahlen. Geld, das doch auch die Hinterbliebenen hätten nutzen können, Kinder und Kindeskinder für ihre Ausbildung hätten gebrauchen können. Sicher, die Trauergeschichten unterschieden sich, jeder Verlust war individuell, doch sie alle, egal ob sie Blumen brachten, die Oberfläche der Tanks ansprachen oder ihre Hände auflegten, einte eine gewisse Fassungslosigkeit. Und dieser Zustand manifestierte sich in den grauen Zylindern. Die Tanks jedoch verweilten mit ihren Bewohnern weiter stoisch im Dunkel der Halle. Die Zukunft war eine Illusion.
Ich stehe auf und schließe das Fenster, gehe in die Küche. Das Schreiben erschöpft mich, mir schwirrt der Kopf. Was ich erlebt habe, kann ich erzählen, meine Gedanken aber scheinen mir so durcheinander. Doch ich will alles festhalten, bevor der Schnee schmilzt und die Soldaten mir davonlaufen. Ich muss mich wirklich konzentrieren, um all das aufzuschreiben. Es strengt mich an, überfordert mich, meine Gedanken verwischen. Das alles kommt mir vor wie ein Traum. Mir ist kalt, vielleicht bin ich auch unterzuckert. Ich sollte wohl etwas essen. Da sind noch ein paar geschälte Kartoffeln von gestern und ein bisschen Gemüse. Nicht viel, aber für eine schmale Mahlzeit wird es reichen. Ich schneide alles in dünne Stifte, so groß wie meine kleinen Finger. Wenn ich die rohen Kartoffeln und das Gemüse nun brate, wird das Essen schneller durch. Das habe ich von Kachelbad. Ich stelle eine Pfanne auf den Gasherd und entzünde die Flamme, erhitze ein wenig Sonnenblumenöl. Als es richtig heiß ist, schmeiße ich die Kartoffelstifte hinein, wende sie immer wieder, so dass sie nicht festbacken oder schwarz werden. Als ich riechen kann, dass sie weich werden, sich ihr Aroma im Raum entfaltet, gebe ich zwei gehackte Zehen Knoblauch hinzu. Eher sollte man den Knoblauch nicht in die Pfanne werfen, dann wird er zu dunkel und bitter, das verdirbt alles. Dann kommen die Möhrenstifte und schließlich die Zucchini, ich gebe Salz und Pfeffer hinzu, erhöhe die Flamme, so dass es richtig heiß wird, gieße einen Schwall Reisessig in die Pfanne. Ich bewege die Pfanne in der Luft vor und zurück. Schließlich, kurz bevor ich alles auf einen Teller schiebe, gebe ich ein paar Spritzer Sesamöl dazu. Es ist ganz einfach.
Lee Won-Hong hat immer gesagt, ich sei zu dünn. Vielleicht hatte er recht. Aber wer hat gesagt, ich wolle das von ihm wissen? Ich mag es nicht, wenn man mir Dinge mitteilt, die mich betreffen und zu denen ich mich verhalten muss, ohne dass ich mir das aussuchen kann. Ich lächle dann immer verlegen und schaue weg, suche mir irgendeine andere Beschäftigung. Oder ich verlasse den Raum. Nach dem Essen öffne ich das Fenster und schaue hinaus, lüfte die Wohnung, während auf dem Herd ein Kaffee durch die kleine Kanne dampft. Dann gehe ich zurück zum Schreibtisch, betrachte noch einmal die Postkarte, fahre mit den Fingern über Kachelbads krakelige Handschrift.
*
Die Zahl der Suspensionen hielt sich in Grenzen, manchmal geschah wochenlang nichts, dann wieder häuften sich die Aufträge innerhalb kürzester Zeit. Die Tode waren ja nicht immer planbar. Ohnehin, dies war der wohl komplizierteste Teil des Unterfangens. Ging es um einen Menschen mit einer schweren Krankheit, gab es zumindest die Möglichkeit, wenn der jeweilige Patient etwa an lebenserhaltende Maschinen angeschlossen war, diese über eine Patientenverfügung abzustellen. Dann musste ein Arzt einen offiziellen Totenschein ausstellen und wir konnten mit der Arbeit beginnen. Komplizierter verhielt es sich jedoch in den Fällen, in denen die Klienten trotz körperlicher Gesundheit die Entscheidung trafen, sich einfrieren zu lassen. Wenn sie etwa in der Hoffnung, die Zukunft würde sie glücklicher machen, aus einem Leben schieden, das ihnen unerträglich erschien. Wenn sie es sich also einfach leisteten, darauf ankommen ließen. Diese Menschen konnten zwar den Zeitpunkt ihres Todes selbst bestimmen und mit uns möglichst ideale Bedingungen für ihre folgende Suspension vorbereiten, schoben uns aber gleichzeitig in eine Grauzone. Wir konnten nicht immer Dr. Gruber mitnehmen, der ja in unserem Dienst stand und die Totenscheine sofort unterschrieb, irgendwann wären wir damit aufgeflogen. Die Ärzte, die den Totenschein ausstellten, schmierten wir in diesen Fällen also, zahlten ihnen mehr als die üblichen Ermunterungen, sich zu beeilen, was zudem eine intensive Vorarbeit erforderte, damit verbunden mit dem Suizid keine polizeiliche Ermittlung unternommen wurde.
Letztendlich glich kein Fall dem anderen. Die Hinterbliebenen respektierten in der Regel den Wunsch derer, die wir nach ihrem Abschied an die Beatmungsmaschine anschlossen, denen wir eine Hydraulikpumpe um den Brustkorb schnallten, die wir auf Eis legten und in Eile mitnahmen. Ihre Gefühle uns betreffend aber schienen selten von Verständnis geprägt. Wir wussten, dass wir für all die Witwer und Witwen, die Waisen, Geschwister und Freunde in diesen Momenten zu Leichenfledderern wurden. Sie kauften uns unsere Arbeit nicht ab, hielten uns für Geier, für Hochstapler. Nicht selten bekamen wir ihren Schmerz in Form ihrer Wut zu spüren, und das war ein bedrückendes Gefühl.
Das, was wir taten, war eine Form von Sterbehilfe, nur dass wir sie in der Hoffnung unternahmen, den Menschen, dessen Tod wir unterstützten, eines Tages wieder lebendig machen zu können. Am einfachsten, technisch zumindest, war es mit den einsamen, körperlich gesunden Menschen, die sich entschieden, zu sterben, sich einfrieren zu lassen, um in der Zukunft einen Ort zu finden, an dem sie glücklicher zu werden hofften. An dem sie weniger einsam waren. Ihre Mienen zeigten eine traurige Entschlossenheit, aber da war auch Trauer, weil sie spätestens in dem Moment, in dem die Prozedur begann, verstanden, wie einsam sie waren. Sie erlebten den Weg zu ihrer Beerdigung in einer Konstruktion, die dem Tod nicht gut zu Gesicht stand, erlebten den Trauermarsch zu ihrem kalten Grab allein. Nur wir standen da, und ein gekaufter Arzt. Wir aber waren alles andere als eine Familie, die zum Abschied kam.
Ich möchte nie wieder mit Toten arbeiten, die Lebenden sind mir lieber geworden. Ich will Wärme, ich brauche Wärme, ich kann nicht mehr in der Kälte leben. Kachelbad muss das gespürt haben, als sich unsere Wege trennten. Als er unsere Wege trennte. Ich hatte mir meine Arbeit viel pragmatischer, viel technischer vorgestellt. Ach, ich weiß gar nicht, was ich gedacht hatte, das mich erwarten würde. Doch auch, wenn ich nur die Beisitzerin solcher Momente war, betrafen sie mich.
21 Suspensionen habe ich begleitet in den zwei Jahren, ich war in einer Hochphase der Kryonik zu Exit U.S. gestoßen. Meistens übernahm Kachelbad dabei das Reden, und er war gut darin. Zwischen ihm und unseren Klienten, die wir ja zum Teil noch lebendig vorfanden und kurz darauf in einen eisigen Sarg legten, bemerkte ich immer wieder eine gewisse Vertrautheit. Kachelbad war der letzte Mensch in ihren Leben, denn er war es, der sie auf den letzten Metern begleitete. Auch vor dem Moment unseres finalen Besuchs. Ich war nie dabei, doch ich bekam mit, dass er mit den Klienten von Exit U.S. sprach, lange bevor wir sie aufsuchten und wie der Tod an ihre Türen klopften. Sie kannten ihn schon, wenn wir auftauchen, sie nickten ihm zu. Die Menschen fanden Vertrauen zu ihm. Kachelbad besaß die seltene Gabe einer aufrichtigen Empathie.
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Was ist das, die Zukunft? Die Zukunft findet nur im Kopf statt, sie ist ein erdachter Raum, der auf Erfahrungen und Wahrscheinlichkeiten beruht, gleichzeitig aber gefärbt ist von Sehnsüchten und Ängsten. In meinem Denken war die Zukunft ein Ort, den ich nicht betreten konnte, weil ich begriff, dass dieses Betreten ihn zur Gegenwart und im gleichen Schritt zur Vergangenheit machte. Die Zukunft wurde zum Wunsch eines Ankommens im Sinne eines Höhepunkts, in dem ich Ruhe und Frieden finden würde. Zumindest an Tagen, an denen ich keine Angst verspürte. Ich entwarf diesen mir verschlossenen Ort, an den ich mich nur träumen konnte, in ganz konkreten Bildern. Ich sah mich in einer zukünftigen Welt, in fünf Minuten, in 5000 Jahren, und mir wurde dieses Denken als Illusion bewusst. Die Zukunft kann nur in den Gedanken der Gegenwart existieren, die augenblicklich zum Teil der Vergangenheit werden. Sie ist so hypothetisch wie die Kryonik.
Je mehr ich über den Fluchtpunkt der Stasis nachdachte, desto komplexer wurde die Fragestellung. Wo sollten die Menschen hin, stürben sie nicht mehr? Der Körper, der nicht stirbt, verfällt auch nicht, wird nicht zu Erde. Was also, wenn die Menschen sich fortpflanzten, aber nicht mehr starben? Die Erde würde nicht mehr ausreichen, die irdischen Ressourcen eben so wenig wie der Platz. Die Menschen taten ja jetzt schon alles dafür, dass dieser Planet immer weniger bewohnbar wurde, verhielten sich, als gäbe es kein Morgen. Immer weniger Tiere gab es, und immer mehr Menschen.
Auch wenn es in der Versorgung im Vergleich der Kontinente gravierende Unterschiede gab, ließ sich in der Medizin bereits eine Tendenz ablesen, die in der Idee der Kryonik ihre Überspitzung fand. Was also wäre, wenn sich die Zahl der Menschen weiter vervielfältigte? Sie müssten umsiedeln. Der Gedanke an die Bevölkerung fremder Planeten ließ mich auf dem Wasser treiben, das Grübeln über die Gründe eines interstellaren Exils jedoch sog mich tief darin ein. Was wäre mit den Tieren, die dann nicht bereits ausgestorben waren? Was wäre mit den Fröschen? Wer würde die Erde verlassen? Die Alten? Die Jungen? Es wäre eine Frage des Reichtums. Vielleicht würde sich die Kryonik auch einfach nicht durchsetzen, das Projekt scheitern. Vielleicht würde auch niemals eine Möglichkeit gefunden, die Menschen wieder aufzutauen, und unsere Mieter in den Tanks blieben tot. Oder aber, die Anzahl der Menschen, die sich für den Versuch der Kryonik entschieden, blieb so gering, wie sie es jetzt war. Es gab in den USA noch ein zweites Institut, Future Mind in Arizona, das von Lee Won-Hong zwar als ein Haufen Stümper abgetan wurde, aber eine ähnliche Anzahl Menschen eingefroren hatte. In Arizona waren sie jedoch darauf spezialisiert, nur die Köpfe ihrer Klienten einzufrieren, was kostengünstiger war als die Suspension bei Exit U.S. Sie arbeiteten darauf hin, eines Tages, wenn die Wiederauferstehung technisch umsetzbar würde, den Geist auf einen anderen Körper oder ein vergleichbares Trägermedium zu transplantieren. Im Vergleich zu dieser Praxis kam mir unsere Methode der Suspension fast harmlos vor. Auch in China machten sie Versuche, über die wir allerdings kaum etwas herausfinden konnten.
Wichtiger für uns jedoch war Russland. Dort gab es ein großes Regierungsprojekt, das sich mit der Kryonik beschäftigte und angeblich bereits mehrere Menschen eingefroren hatte. Doch auch hier war es schwierig, an weitere Informationen zu kommen. Die Hoffnung Lee Won-Hongs stützte sich auf die Erkenntnisse der Russen, die nur vage zu uns durchdrangen. Er hoffte auf den globalen Fortschritt und dass die Forschung eines Tages im Dienst einer größeren Sache, wie er das nannte, nicht mehr von den Grenzen der Länder und Kontinente aufgehalten würde. Weltweit schätzte Lee Won-Hong die Zahl der Eingefrorenen auf etwa 500.
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Eines Nachts hatte ich einen neuen Traum, er kam mir nach einer Suspension und kehrte unwillkürlich wieder, bis ich aus L.A. wegging. Ich befand mich in einem großen Flugzeug. Stets wachte ich auf einem Platz rechts hinten an einem der Bullaugen auf und mir war kalt. In dem Flugzeug war es dunkel, nur die Leuchten am Boden spendeten etwas Licht. Also drückte ich die Lampe über meinem Kopf an, die Leselampe, und als das Licht anging, erschrak ich jeden Traum aufs Neue. Außer mir war niemand in dem Flugzeug, ich war ganz allein. Ich warf mir eine Decke über, wie einen Umhang schwang ich sie mir um die Schultern und hüllte mich darin ein, richtete mich dann in meinem schützenden Kokon langsam auf, blickte durch die endlosen Sitzreihen und suchte nach einem Menschen. Doch da war wirklich niemand. Ich drückte auf den Knopf neben der Lampe, mit dem man das Bordpersonal ruft, hörte, wie irgendwo ein leiser Ton erklang, weiter hinten im Flugzeug. Ich blieb allein. Tiefer wickelte ich mich in die Decke, denn es war furchtbar kalt, ich konnte meinen Atem kondensieren sehen, der Dunst tänzelte langsam durch den Schein des Leselichts, das seine elektrischen Strahlen nach unten schoss. Dann drehte ich mich zum Fenster und schob die Blende hoch. Das Flugzeug flog sehr tief, fast wie im Landeanflug, ich konnte den Boden erkennen. Überall brannte es und Qualm stieg in den Himmel, an vielen Stellen war er schwarz. Häuser brannten und Autos, Bäume und Büsche, die Straße brannte, Asphalt brannte, Ampeln und Schilder brannten, Mülleimer, Briefkästen, Litfaßsäulen, Parkbänke, undefinierbare Haufen, sie brannten, alles brannte. Die Oberfläche des ganzen Planeten schien in Flammen zu stehen und ich konnte nirgendwo auch nur einen Fleck erkennen, nach dem noch nicht das Feuer züngelte. Der Himmel war rot und hätte von der blauen Kälte im Flugzeug nicht weiter weg sein können, und obwohl ich wusste, dass ich dort sofort verbrennen würde, wollte ich dahin, wollte auf die Erde, in die Wärme. Ich musste nachschauen, wo die Menschen waren, musste sie finden, doch ich wurde panisch, wusste ich doch, dass sie dieses Feuer wohl kaum überlebt hatten. Meine Hand presste ich gegen die Scheibe, doch auch das Glas war eiskalt und fast meinte ich, daran festzufrieren. Mein Atem ging schnell, Tränen liefen mir über die Wangen. Irgendwer musste doch dieses Flugzeug fliegen und wissen, was passiert war, irgendwer musste mir doch sagen können, was dort unten geschah.
Der Schein des Feuers auf der Erde erhellte nun auch die Kabine, gespenstisch flackerte das Licht im gedrungenen Torso des Flugzeugs. Ich trat auf den Gang und rannte in Richtung des Cockpits, rannte und rannte, die Decke noch immer wie zum Schutz um mich gewunden. Das Flugzeug schien mehrere Abteile zu haben, wie ein Zug, und ich hastete von Raum zu Raum. Sie alle waren nun erfasst von jenem gespenstisch flackernden Licht, das nicht zu dieser Kälte passte, und sie alle waren von nichts als den leeren Sitzen bevölkert. Schließlich erreichte ich das Cockpit und riss die Tür auf, die nur angelehnt war. Der Pilot saß am Steuer. Durch die Fenster konnte ich das Feuer sehen, wie es sich über die Oberfläche der Erde erstreckte. Der gesamte Horizont war Feuer, alles brannte. Der Pilot drehte sich zu mir, doch ich konnte seine Augen nicht erkennen, sie lagen im Schatten des Schirms seiner Mütze.
»Wir können hier nicht landen, Rosary.«
Woher wusste er meinen Namen? Seine Stimme klang ganz schwach, ich konnte ihn kaum verstehen.
»Wir können hier nirgendwo landen, es ist aussichtslos. Wir müssen oben bleiben. Die Erde brennt, alles brennt, wir können nicht landen. Wir würden direkt in das Feuer fliegen, wenn wir runtergingen, Rosary. Es besteht keine Hoffnung. Rosary, die Menschen sind tot. Die Tiere sind tot. Die Vergangenheit verbrennt, die Gegenwart schmilzt und die Zukunft ist nur Asche und Staub. Wir müssen hier oben bleiben, eine Landung ist ausgeschlossen. Es besteht keine Hoffnung mehr. Die Zeit ist mit sich eins geworden, sie hat aufgehört zu existieren.«
In diesem Augenblick wachte ich auf, und auch wenn es auf dem Planeten meines Traums gebrannt hatte, wenn auch die Hitze die Welt fest in ihrem feurigen Griff hatte, fror ich, und so wickelte ich mich in meine Decke ein und versuchte, die Bilder wegzuwischen.
Als ich aufhörte, für Exit U.S. zu arbeiten, veränderten sich die Träume, doch noch bis heute bin ich in jeder Nacht irgendwann allein, zwischen den Tanks oder auf irgendwelchen Gängen, in Abteilen, in Fabrikhallen, immer allein und auf der Suche nach Menschen, obwohl ich schon weiß, dass sie nicht mehr da sind, dass sie mich verlassen haben, so wie meine Familie mich verlassen hat. Im Feuer, das auf der Erde wütet. Doch ich finde keinen Piloten, mit dem ich sprechen kann, finde keinen Menschen, der weiterweiß. Meine Träume sind menschenleer. Meistens bin ich in der Halle, durchschreite einsam die Gänge zwischen den Zylindern, die immer weiter zu werden scheinen. Ich kann mich nicht an jedem Morgen daran erinnern, doch sie sind da, die Gänge, die Gräber, die kalten Tanks. Die Halle ist von einem blauen Licht beschienen. Es leuchtet nur schwach und lässt die Dinge im Dunkeln. Ich meine, in den Schatten der Tanks Bewegungen wahrzunehmen, schnelle Bewegungen, als ob dort dürre Körper umherhuschten, sich in die Winkel drückten, mich beobachteten. Ich höre ihren kalten Atem. Es sind die Geister der Toten, der gefrorenen Körper, die Geister der Menschen, die ich auf Eis gelegt habe. Sie suchen mich heim. »Rosary«, sagen sie, »was hast du getan?«
»Ihr habt es doch so gewollt«, will ich ihnen antworten, doch im Traum bleibe ich stumm. Wie ein Kind, das zu schüchtern ist, etwas zu sagen. Selbst wenn es damit seine Unschuld beweisen könnte.
Aus der Küche hole ich mir ein Glas Wasser und spüle damit zwei der Tabletten hinunter. Beim Schreiben zittern mir die Hände und ich verliere langsam die Kraft. Die Tabletten gehen mir mit dem Wasser durch den Hals, kurz reiben sie an meinem Inneren entlang. Ich halte mich mit beiden Händen an der Kante der Spüle fest und schaue auf eine Orange, um die aufgeregt eine Fruchtfliege schwirrt. Wie der Mond um den Planeten, auch das Größenverhältnis könnte stimmen. Die Teekanne ist leer. Ich setze einen Kessel auf, warte darauf, dass das Wasser kocht. Ich habe frischen Ingwer aufgeschnitten. Es stört mich nicht, einfach dazustehen und zu warten, bis der Kessel pfeift. Wenn man den Ingwer im Wasser kocht, ist der Sud noch stärker und ganz trüb, aber das ist mir jetzt zu scharf, raubt mir außerdem zu viel Zeit. Ich brühe die gelben Scheiben auf, gehe mit der Thermoskanne zurück zum Tisch und werfe mir eine Decke über, hülle mich darin ein wie in meinem Traum. Ich öffne noch ein Fenster. Mir ist kalt, ja, aber ich brauche die frische Luft von draußen, um nicht müde zu werden. Draußen ist einer dieser merkwürdigen Tage, die sich nicht entscheiden können, ob sie schon Frühling oder noch Winter sind, doch ungeachtet dessen setze ich mich zurück an die Schreibmaschine.
*
Wenn man sich dem Gefriergeschäft verschrieben hat, bedeutet das viel Warten. Bei den Suiziden oder dem Abschalten der Maschinen, sagen wir vielleicht lieber dem Umschalten der Maschinen, lässt sich der Moment zwar recht gut bestimmen, der Radius um den Zeitpunkt aber ist immer weit gefasst. Als wir etwa Amelia Morales abholen wollten, die vorletzte Suspension, bei der ich assistierte, suggerierte sie uns, dass sie noch Zeit bräuchte. Ich war ergriffen von der unendlichen Ruhe ihrer tiefen Stimme. Sie wolle noch etwas vollenden, teilte sie uns an der Tür mit, freundlich, aber bestimmt. Sie sagte, sie werde den Arzt anrufen, mit dem wir im Vorfeld schon gesprochen hatten, der instruiert und bezahlt war. Dann würde sie einen der schweren Vorhänge des Wohnzimmers öffnen und uns mit einer Taschenlampe das Signal geben. Als Zeichen, dass sie nun ihr Leben vorerst beenden könnte. Sie sagte uns das an der Tür, an ihrer Tür, ließ uns auch nicht in ihre Wohnung, sondern instruierte uns äußerst sachlich auf der Veranda. Ich konnte das verstehen. Wenn ich vor meinem Freitod stünde, wäre ich davor sicher auch ein wenig merkwürdig. Auch wenn es für Amelia Morales ja nur ein Zwischenstadium sein sollte.
So oder so, wir hätten wohl auch noch zwei Tage gewartet. Wenn sich jemand entscheidet, seinem Leben ein Ende zu setzen, ist es wichtig, allen Wünschen dieser Person nachzukommen. Ama, wie sie von uns genannt zu werden wünschte, gab uns eine Thermoskanne mit Kaffee und ein paar wirklich vielversprechend aussehende Sandwiches, außerdem zwei Äpfel, mit denen Kachelbad und ich es uns vorne im Wagen gemütlich machten. Das Eis war verteilt auf mehrere Kühlboxen, einige Säcke hatten wir auch direkt in den isolierten Sarg gepackt, mit dem wir Ama bald nach Los Angeles bringen würden. Für unseren Transport hatten wir 300 Kilo Eis vorgesehen, die mit ihrem Körper nicht komplett in den knapp bemessenen Kasten passen würden. Aber angesichts der Wegstrecke von etwa zehn Stunden, die wir mit ihrer Leiche noch in dieser Nacht zurückzulegen hatten, brauchten wir es als Nachschub und für den Fall, dass wir aufgehalten wurden. Wenn der Körper im Eis liegt, schmilzt dessen Wärme das gefrorene Wasser, während dieses gleichzeitig den Körper herunterkühlt. Die Temperaturveränderungen bewegen sich aufeinander zu, unterstützt von der im Behälter arbeitenden Pumpe. Unten im Sarg befindet sich ein kleines Ablaufventil, das mit einem Schlauch verbunden ist, der durch den Boden des Wagens geht, sodass das Schmelzwasser abtropfen kann.
Noch aber war Amelia Morales nicht tot und es tropfte kein Wasser aus dem grauen Wagen. Wir tranken den Kaffee, aßen die vorzüglichen Sandwiches und ließen dabei das Fenster nicht aus den Augen. Zwischendurch schaute ich heimlich zu Kachelbad herüber. Wieder dachte ich über ihn nach. Was wollte er vom Leben? Wie lebte er? Ich hatte ihn so gut wie nie mit einem anderen Menschen gesehen, Lee Won-Hong mal ausgenommen, doch auch dieses Verhältnis erschien mir äußerst distanziert. Ich hätte nicht einmal sagen können, ob sich die beiden mit ihren Vornamen ansprachen, sowieso hörte ich sie so gut wie nie reden. Wenn Kachelbad Won-Hong etwas mitzuteilen hatte, trat er für gewöhnlich an ihn heran, beugte sich etwas vor und sprach mit flüsternder Stimme. In der Kombination hatten die beiden etwas Unheimliches, wie ein verrückter Wissenschaftler mit seinem kahlen, alten Laborassistenten. Dieser Eindruck ergab sich aus ihrer Tätigkeit, also aus dem Umstand, dass er auf eine Art stimmte. Kachelbad schien einsam, wie es die alten Männer oft sind, die etwas hinter sich gelassen haben. Menschen, die in einem Alter arbeiten, in dem sie für gewöhnlich vor dem Fernseher ihrem Ende entgegensehen. Nicht so Kachelbad, der ins Ungewisse schaute.
Als Ama den Vorhang zur Seite zog, dämmerte es bereits und wir hatten eine ganze Weile nicht mehr gesprochen. Die Taschenlampe blitzte drei Mal auf und wir blitzten in der gleichen Frequenz zurück. Eins, zwei, drei. Wir warteten nun zehn weitere Minuten. Kachelbad und ich gingen dann ans Heck des Transporters und zogen die Rampe heraus. Wir ließen den Sarg die Schiene herab auf das Gestell mit den vier Rollen. Ich hob die Maschine und das Gerät mit der Beatmungsmaske auf den fahrbaren Kasten und wir schoben ihn langsam zur Veranda.
Die Bedingungen in diesem Fall waren gut, der Arzt war instruiert und bezahlt worden. Er hatte sehr viel Geld erhalten, damit er Amas Tod als Herzinfarkt einstufte, sodass die Polizei keine Ermittlungen aufnehmen würde. Ama Morales verfügte über mehr Geld als für die Suspension und ihre Unterbringung notwendig war. Sie hatte auch keine Erben. Ama war vorbereitet und hatte entsprechend unserer Empfehlungen alles dafür getan, dass ihre Konservierung ohne Abstriche gelingen sollte. Der Arzt traf eine viertel Stunde, nachdem sie uns das Zeichen gegeben hatte, ein. Er versuchte, uns nicht in die Augen zu schauen. Der Mediziner ging mit uns in das Badezimmer am Ende des Hausflurs, in dem Ama Morales, die sich mit Cyanid das Leben genommen hatte, in der Badewanne lag. Kachelbad hatte ihr das tödliche Mittel schon in der richtigen Dosierung gegeben. Für die Suizide bot sich das Cyanid an, da es in einer Menge zum Tode führte, die über das Ableben hinaus für den Körper keine Konsequenzen hatte. Kein Schaum vor dem Mund, kein inneres Zersetzen, keine Schmerzen. Bei einer zu hohen Menge Gift hätte ihr Körper Schaden genommen. Kachelbad jedoch wusste präzise mit dem Gift umzugehen, er kannte sich anscheinend gut damit aus.
Ama hatte sich in kaltes Wasser gelegt, wie wir es ihr geraten hatten. Sicher waren das nicht die angenehmsten Umstände eines Suizids, doch sie sah friedlich aus, wie wir sie vorfanden. Der Arzt brauchte etwa zwei Minuten, dann hatte er das Papier ausgefüllt und nickte uns zu. Er nahm den Umschlag entgegen und verließ zügig das Haus. Er hustete dabei sehr laut.
Wir hatten bereits die im Sarg befindlichen Säcke aufgerissen und den Boden des Kastens, in dem wir Ama Morales nun nach L.A. bringen würden, mit Eis ausgelegt. Schnell legte ich ihr die Beatmungsmaske um, schnallte sie fest, so dass sie nicht verrutschen und auch keine Luft entweichen konnte. Während nun das kalte Wasser ablief, spritzte Kachelbad ihr eine Ampulle in den Arm, ein Beruhigungsmittel, damit der Körper durch die Wiederbelebung nicht versehentlich aufwachte, und ich injizierte ihr anschließend einen Gerinnungshemmer ins Herz, um das Blut für die spätere Transplantation frisch zu halten. Mit der Spritze das Herz zu erwischen, verlangte einiges Geschick, doch das hatte ich in meiner Ausbildung als Rettungssanitäterin gelernt und in der Praxis einige Male anwenden müssen, wenn es sich in diesen Fällen auch um Adrenalinspritzen handelte, die hier unangebrachter nicht sein könnten. Wir hielten ihren Körper so in jenem Schwebezustand, der den Übergang in die Stasis ermöglicht. Eine Dosis Morphium hatte sich Ama bereits selbst injiziert, das zweite Einstichloch war neben dem neuen roten Punkt auf ihrem Arm noch sichtbar. Es hatte ihr sicherlich auch geholfen, in die kalte Badewanne einzusteigen.
Gemeinsam hoben wir dann die schlanke Frau aus dem Wasser und ich trocknete sie ab. Kachelbad hielt Amelia Morales an den Armen, sodass ihr Körper aufrecht saß. Eine schreckliche Haltung. Ich kniete hinter ihr und schnallte ihr die Herzkompressionspumpe um. Dann legten wir sie vorsichtig ins Eiswasser und brachten die Maschinen zum Laufen, und noch während wir das Eis auffüllten, gewann ihr Körper eine lebendige Farbe zurück. »Sehr gut«, murmelte Kachelbad. Wir verschlossen den Sarg, als ihr Körper weitestgehend mit Eis bedeckt war, füllten ihn durch eine schmale Luke auf der Oberseite ganz damit auf. Wir packten nun auch die beiden Maschinen auf den Sarg und fixierten sie an den dafür vorgesehenen Scharnieren. Wir hatten schnell und effizient gehandelt, unsere Bewegungsabläufe waren lange schon synchronisiert.
Vorsichtig schoben wir nun den Sarg aus dem Haus und über die Schiene zurück in den Transporter, was einige Anstrengung kostete. Kachelbad verband das Ablassventil mit dem Schlauch am Boden und wir zogen den Behälter mit Lastengurten fest, damit er nicht verrutschen konnte. Das restliche Eis blieb zunächst in den drei Kühltruhen, die an der Seitenwand fixiert waren. Dann verschlossen wir das Haus und machten uns auf den langen Weg nach Los Angeles.
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Im Traum begegnete mir Shabbatz Krekov, den wir einige Zeit zuvor eingefroren hatten und dem Ama nun bald in Tank C87 Gesellschaft leisten würde. Auf eine Art passten die beiden zusammen, sie waren geheimnisvoll und ungreifbar, und nun würden sie Nachbarn. Beide übten eine gewisse Anziehungskraft auf mich aus, nicht nur wegen ihrer Entscheidung. Auch weil sie so anders waren als die Menschen, die ich kannte. Eigentlich hatte damals ja mit Shabbatz Krekov alles begonnen. 1982 muss das gewesen sein. Ich war Rettungssanitäterin, noch in Harlem. Ich bin mir nicht mehr ganz sicher, aber doch, es muss 1982 gewesen sein, ich bin noch keine dreißig gewesen. Wir waren zu Krekov gerufen worden, er hatte einen Flattermann, wie er sagte, der Alkohol. Als wir ihn stabilisiert hatten, waren unsere Blicke sich begegnet, und in diesem Moment geschah etwas Merkwürdiges, eine Art Übergabe. Ich kann das nicht genau sagen, es sollte bis zu seinem Tod auch unsere einzige Begegnung bleiben, doch schon damals ahnte ich, wusste ich vielmehr, dass dieser Augenblick Einfluss auf mein weiteres Leben nehmen sollte. Ich weiß auch nicht, etwas hatte in Krekovs Blick gelegen. Ich bat ihn, mir seine Telefonnummer aufzuschreiben, warum, kann ich nicht mehr genau sagen. Ich wollte vielleicht mehr von ihm wissen und sorgte mich sicher auch um ihn. Krekov besaß eine Anziehungskraft, die schnell ihre Wirkung entfaltete. Wir telefonierten dann noch ein paar Mal und die Gespräche verliefen immer ähnlich. Ich erkundigte mich nach seinem Befinden und Krekov fragte seine Fragen, als habe er eine Liste am Apparat liegen, die er durchging: »Woran glauben Sie? Was bedeutet für Sie der Tod? Wie stellen Sie sich die Zukunft vor?« Wie bei einer Sekte. Ich hatte damals keine Ahnung, dass Krekov das erste Glied einer Verkettung von Ereignissen war, die schließlich mein Leben verändern sollte.
Kachelbad hatte nach meiner Anstellung bei Exit U.S. nie wieder wirklich von ihm gesprochen, obwohl Krekov der einzige Freund des Alten war, von dem ich wusste. Als er starb und wir die Suspension über die Bühne brachten, hatte Kachelbad auf mich einen sehr gefassten Eindruck gemacht. Krekov war bestimmt 90 Jahre alt, und es schien, als habe er ein reiches und erfülltes Leben gehabt. Nun, und es bestand ja die vage Hoffnung, dass dieses Leben eines Tages weitergehen würde. Vielleicht ließ ihn Kachelbad deshalb so einfach gehen. Es hatte auf mich fast so gewirkt, als ob Krekovs Tod Kachelbad eine Last von den Schultern nahm.
Im Traum sah ich ihn vor mir liegen, den dürren, eingefallenen Körper, kahlgeschoren und nackt. Ich schwebte durch den Raum, in dem Krekov auf einer Art Altar aufgebahrt war. Der Ort meines Traumes war nicht der OP, auf dem ich ihn tatsächlich zuletzt gesehen hatte, sondern das Zimmer, in dem wir uns das einzige andere Mal begegnet waren. Ich hatte den fensterlosen Raum völlig vergessen, doch im Traum tauchte er mir klar und deutlich vor den Augen auf, auch wenn ich dabei wusste, dass es nur diesen Raum gab und dass außerhalb seiner Mauern, die durchsichtig schienen, so als beschrieben sie lediglich eine Grenze, nichts war, als schwebte vielmehr dieser Raum ohne Beziehung zu irgendeinem anderen Ort. Es war unheimlich, und so fokussierte ich Krekovs toten Körper, der mir weitaus weniger Unbehagen bereitete. Langsam näherte ich mich dem Gesicht. Er sah friedlich aus und schien sogar zu lächeln. Ich wusste nicht viel von ihm. Er war Schriftsteller und hatte bis zuletzt in New York gelebt, war dann hierhergekommen, weil es zu Ende ging mit ihm. Auch wo er in L.A. zuletzt gewohnt hatte, wusste ich nicht. Im Traum verlor ich mich in hektischen Mutmaßungen über seine Geschichte, die mir in Satzfetzen durch den Kopf schossen. Plötzlich, ich war ganz dicht bei ihm, verkrampfte sein Gesicht zu einer schrecklichen Fratze. Krekov riss die Augen auf. Er blickte mich an und fing an zu schreien. Erschrocken wachte ich auf. Der Laut, den Krekov in meinem Traum von sich gegeben hatte, stammte von mir. Ich war von meinem eigenen Schrei erwacht, und noch im Öffnen meiner Augen zuckte ich zusammen. Es war, als sei ich im Traum irgendwo runtergefallen. Für einen Moment wusste ich nicht, wo ich mich befand.
Ich schaute nach links, doch Kachelbad war nicht da. Der Transporter stand auf einem Rastplatz. Ich nahm mir eine Minute, um durchzuatmen. Aus dem Fenster konnte ich nur eine vierköpfige Familie sehen, die zusammen bei einem Picknick saß, sonst schien der Ort verlassen. Sie frühstückten in der Morgendämmerung an einem Tisch, der kurz vor der Baumgrenze stand. Hinter dem Platz lag ein dicht bewachsener Wald. In ihm schien völlige Dunkelheit zu herrschen. Nur der Nebel der Nacht bewegte sich noch darin, züngelte an der Baumgrenze wie eine Schlange, als wolle er vorsichtig den heranbrechenden Tag taxieren. Der Nebel strahlte etwas Unheimliches aus. Ich überlegte, ob ich versuchen sollte, mich unsichtbar zu machen. Die Familie hatte mich noch nicht entdeckt und wäre sicher eine gute Übung gewesen. Aber ich war noch verschlafen und so entschied ich mich dagegen.
Ich spazierte ein paar Meter. Als ich mich auf der Höhe der Familie befand, winkten mir die zwei Kinder zu und ich erhob zum Gruß die Hand. Dann machte ich kehrt und lief langsam zum Transporter zurück. Ich stieg hinten ein und überprüfte die Temperatur, füllte Eis aus der ersten Kühltruhe nach. Plötzlich hörte ich eine Stimme.
»Was machst du da?«
Die Tochter der Familie, ein vielleicht zehn Jahre altes Mädchen, stand am Heck des Transporters und schaute mir neugierig zu.
»Ich fülle das Eis nach.« Etwas anderes fiel mir nicht ein.
»Was ist in dem Ding da drin?«
»Fische. Da sind Fische drin. Die sind gefroren, wir bringen sie zum Markt. Und Fleisch. Fleisch ist da auch drin.«
»Und was machst du mit dem Eis?«
Sie zog das letzte Wort in die Länge. Eigentlich mag ich Kinder, aber dieses Exemplar raubte mir den letzten Nerv. Wo war Kachelbad?
»Wenn du nicht ruhig bist, packe ich dich dazu.«
Das Mädchen glotzte mich an und sagte nichts, ihre Augen aber weiteten sich. Ich machte einen Satz nach vorn.
»Buh!«
Das Kind stieß einen quiekenden Schrei aus und rannte wieder zu der Familie. Mein Herz schlug mir bis zum Hals und ich hörte das Schneestapfen in meinem rechten Ohr. Ich schloss die Klappe und knallte die Türen am Heck zu. Warum hatte Kachelbad mich nicht gewarnt? Wo war er? Das Mädchen lief zu seiner Familie und rief nach seiner Mutter. Da sah ich Kachelbad, er eilte auf den Transporter zu, schaute irritiert zu der Familie am Waldrand. Er kam aus der Richtung einer Telefonzelle, ich konnte erkennen, dass der Hörer baumelnd herabhing.
»Wo warst du? Warum hast du mich nicht gewarnt?«
Kachelbads Augen flackerten.
»Es tut mir leid, Rosary. Ich musste telefonieren. Hat das Mädchen etwas gesehen? Was war los? Ich habe sie schreien gehört.«
»Nein. Hat es nicht. Nichts gesehen. Nur ein Kind. Kinder. Schreien manchmal einfach. Ist alles gut bei dir?«
»Ja, mach dir keine Sorgen.«
Wir fuhren weiter. Die Familie schaute uns irritiert hinterher. Sicher rätselten sie, was wir in Wirklichkeit für eine Fracht transportierten. Ob sie ihrer Tochter Glauben schenken sollten. Ich fühlte mich verunsichert. Was wir hier taten, konnte man wirklich keinem normalen Menschen erzählen. Aber was heißt das schon.
Auch Kachelbad wirkte angespannt, er fuhr schneller als erlaubt, was mich wunderte, achtete er sonst doch allein schon, um nicht aufzufallen, immer peinlich genau auf die Geschwindigkeitsbegrenzung. Er saß leicht vornübergebeugt am Steuer und hielt das Lenkrad fest umschlossen, die Knöchel traten weiß unter der Haut hervor. Seine Ärmel waren hochgerutscht und zum ersten und letzten Mal sah ich, dass seine Unterarme ganz von Brandnarben übersäht waren. Ich traute mich in dem Augenblick nicht, ihn danach zu fragen, und später habe ich es vergessen. Kachelbad schaute konzentriert auf die Straße. Es schien, als wolle er sich davor abschotten, dass ich ihm weitere Fragen stellte. Wen hatte er angerufen? Er war so voller Geheimnisse.
Ich erinnerte mich in dem Moment, wie ich Kachelbad einige Wochen zuvor mit einem jungen Mann auf der Straße gesehen hatte. Kachelbad hatte ihn gestützt. Ich war in der Straßenbahn an ihnen vorbeigefahren und hatte Kachelbad ganz deutlich erkannt, als sie über eine Kreuzung gegangen waren. Der andere Mann ging gebückt und hatte sich bei Kachelbad untergehakt. Er war in eine dünne Decke gehüllt. Was den Altersunterschied betraf, hätte der junge Mann sein Sohn sein können, doch Kachelbad hatte nie von einer Familie gesprochen. Der Junge war sehr hübsch, doch er hatte krank ausgesehen, schwach und ausgemergelt. Kachelbad reagierte merkwürdig, als ich ihn am nächsten Tag darauf ansprach.
»Du hast ihn gesehen?«, hatte er gefragt und dabei für einen winzigen Augenblick nahezu panisch gewirkt. Dann hatte er die Fassung zurückgewonnen.
»Wer war der Mann, den du gestützt hast?«
»Das war mein Nachbar«, hatte er geantwortet und an mir vorbeigeschaut, und die Art und Weise, wie er es sagte, war merkwürdig, passte nicht. Als ob er sich verteidigen wollte. So wie jetzt. Damals hatte ich nachgehakt.
»Geht es ihm nicht gut?«
»Nein, er ist sehr krank. Er wird sterben.«
Dann war er weggegangen.
Ich schaute eine ganze Weile aus dem Fenster, versuchte, nicht weiter über den kleinen Vorfall nachzudenken. Dann probierte ich, mich unsichtbar zu machen, wählte Kachelbad als Bezugspunkt, der sich kaum bewegte. Es klappte immer besser.
»Gut«, murmelte der Alte nach einer Weile, aus der Starre erwacht, ohne seinen Blick von der Straße abzuwenden, »du lernst schnell.«
Ich musste an Ama Morales’ Körper denken. Auch sie war eine Unsichtbare, das hatte ich bemerkt, Kachelbad hätte es gar nicht erwähnen müssen. Sie war schlank und groß, ihr Körper hatte etwas Burschikoses, auch ihre Brüste waren nicht üppig, sondern klein und fest. Trotz des Alters hatte ihre Haut straff gewirkt und ihr schwarzes Haar zeigte keinerlei Grau. Nicht das Kopfhaar, nicht das Schamhaar. Ich fragte Kachelbad, warum so viele der kalten Mieter auch Unsichtbare seien, und er antwortete, dass das mit ihrem Verhältnis zum Leben zu tun habe. Ich ahnte, was er damit meinte.
*
Der Abkühlungsprozess verlief weiterhin planmäßig, und zweieinhalb Stunden bevor wir etwas früher als geplant im Kühlhaus ankommen sollten, rief Kachelbad vom Telefon eines Diners in Lost Hills Dr. Gruber an, um uns anzukündigen. Nach dem Anruf setzten wir uns für ein Sandwich und einen Kaffee an einen Tisch. Mir war eine Idee gekommen, die ich mit Kachelbad besprechen wollte.
»Vielleicht ist es der Transporter. Der sieht komisch aus, als gehöre er einem Verbrecher. Wenn wir der Polizei oder den Leuten generell zeigen würden, dass darin eine Leiche transportiert wird, wäre es vielleicht viel einfacher. Weil sie dann gar nicht skeptisch würden. Wenn wir den Leuten nichts verheimlichen, werden sie auch nicht misstrauisch.«
Kachelbad schaute mich interessiert an. Er hatte einen dicken Bissen von seinem Sandwich genommen und sprach mit vollem Mund.
»Wie meinft du daf?«
»Leichenwagen. Die fahren durch das Land und werden nicht angehalten. Weil jeder sieht, was ihre Fracht ist. Diese Fahrzeuge genießen beinahe einen diplomatischen Status. Hast du jemals gesehen, dass das Auto eines Bestattungsunternehmens von der Polizei angehalten wurde?«
Kachelbad sagte nichts dazu. Doch er sah aus, als dächte er angestrengt nach, während er die letzten Bissen seines Sandwichs vertilgte.
Die drei Kühlboxen hatten wir gut kalkuliert. Als wir in die Lagerhalle fuhren, war kein Eis zum Nachlegen mehr übrig. Wir passierten das Rolltor, brachten den Sarg in den Operationssaal, rasierten Ama Morales den Schädel, wuschen sie und legten sie auf den OP-Tisch, die Geräte auf einem Rollwagen daneben. Kachelbad, der Ama die Haare schor, hielt ihr Haupt wie den Kopf eines Säuglings.
Ohne ihr Haar sah Ama aus wie ein außerirdisches Wesen. Wie meine Vorstellung eines außerirdischen Wesens. Lange Arme und Beine, groß, schlank, kahl. Dieses Bild jedoch stammte nicht aus meiner Vorstellung, sondern von den Aliens, die ich im Fernsehen und in Magazinen gesehen hatte, in Comics. Ihr Aussehen war von Menschen erdacht. Wer weiß, ob außerirdisches Leben überhaupt eine Form besaß, die für uns Menschen erfahrbar war. Vielleicht waren sie auch immateriell, im Vergleich zum Menschen gigantisch gewachsen oder winzig klein. Ich folgte mit den Augen Amas großen Füßen, den Beinen, lang und schlank, die sich oben in einem schwarzen Busch trafen, betrachtete die Wölbung des Venushügels, die kleine Erhöhung ihres Bauches, die schmale Hüfte, ihren Nabel, ein paar Rippenbögen, die festen Brüste mit den dunklen, spitzen Brustwarzen und ihr sanftes Gesicht, die nun kahle Kopfhaut. Bis auf ihre weiße Hautfarbe ähnelten sich unsere Körper.
Eine Leiche zu betrachten war niemals gleich. Niemals leicht. Ich sprach zu ihr, in Gedanken, ich wünschte der toten Amelia Morales, dass sie eines Tages erweckt werden würde. Wie sie es sich wünschte. Wann auch immer. Warum auch immer. Ob die Menschen in diesem Zustand vielleicht noch hören können? Ihre Zellen hielten wir ja am Leben, durch die Beatmung und die Herzkompression.
»Ama«, flüsterte ich. »Hörst du mich? Wir passen auf dich auf.«
Gruber kam herein, er nickte uns zu, ein Zeichen, dass er ab hier übernahm. Ich ging zu Kachelbad, der im Konferenzraum in sich versunken auf einem Stuhl saß. Auf seinem Schoß hielt er eine kleine Kiste. Durch das Fenster sah ich, dass sie mit Sand gefüllt war. Auch einen schwarzen Stein konnte ich erkennen. Als Kachelbad mich durch die Scheibe erblickte, klappte er die kleine Blechbox zu und steckte sie in seine Jackentasche. Ich betrat den kleinen Raum.
»Ruh dich aus«, sagte Kachelbad. »Ich melde mich bei dir, wenn ich dich brauche.« Er hatte meine Erschöpfung wohl bemerkt. Ich lächelte und nickte ihm zu. Seine Augen waren gerötet. Er bewegte langsam den Kopf hin und her, sehr langsam, fast, als ob er damit einer Melodie folgte. Etwas schien ihn zu bedrücken. Ich wollte ihm helfen, doch das ist nur möglich, wenn sich der Mensch öffnet, um den es geht. Sonst macht man es nur noch schlimmer.
»Wenn etwas ist oder du Sorgen hast, kannst du mir davon erzählen, ja?«
»Danke, Rosary. Wir sind wohl einfach beide ein wenig erschöpft.«
Ich verabschiedete mich von ihm und schaute ein letztes Mal in Richtung Ama, der in diesem Augenblick das Blut gegen ein Frostschutzmittel ausgetauscht wurde. Es schüttelte mich und ich verließ die Lagerhalle, spazierte durch das Industriegebiet nach Hause, trotz der Müdigkeit, eine Stunde lang. Ich übte dabei zu verschwinden, bis ich schließlich bei meinem Appartement in Echo Park ankam und über die flimmernde Stadt blickte. Dann schloss ich mich in meiner Wohnung ein und zog die Vorhänge zu. Ich aß ein Croissant, das ich auf dem Weg gekauft hatte, und trank einen Kaffee, anschließend ging ich unter die Dusche. Ich genoss das heiße Wasser, das auf meinen Rücken prasselte, blieb lange unter dem harten Strahl, bis das ganze Bad von schwerem Wasserdampf verhangen war und ich meine Füße nicht mehr sehen konnte. Ich war nicht unsichtbar, das war nur der Dampf. Aber dann versuchte ich, zu verschwinden und mehr von diesem Gefühl zu erlangen, von dem Kachelbad gesprochen hatte. Ich spürte es tatsächlich kommen. Es kam mir ganz anders vor als die Technik, die ich für gewöhnlich auf der Straße übte. Es kostete Kraft, doch ja, ich fühlte bereits ein leises Kitzeln. Ich verschwand jedoch nicht. Oder doch? War das der Nebel? Konnte man alleine unsichtbar werden, oder brauchte man dazu einen anderen Menschen? Es gab noch so viele Dinge, die ich Kachelbad fragen wollte.
In diesem Moment war ich traurig, dass ich es Amelia Morales nicht fragen konnte. Mit ihr hätte ich mich gerne über das Verschwinden unterhalten. Es stimmte, was Kachelbad mir gesagt hatte. Ich wusste sofort Bescheid darüber, dass auch sie eine Unsichtbare war, hatte es gleich bemerkt. Wie ein kurzer Stich, der durch den Körper geht, ein milder elektrischer Schlag. Wenn man einem anderen Unsichtbaren begegnet, dann spürt man das sofort.
Draußen wird es langsam dunkel. Ich schließe das Fenster, zünde ein paar Kerzen an. Der Ingwertee ist jetzt richtig scharf, das gibt mir Kraft. Ich laufe ein paar Meter in der Wohnung auf und ab, betrachte die vergilbten Tapeten. Nur noch ein paar Seiten, dann habe ich alles aufgeschrieben. Dann habe ich es erledigt.
*
Nicht immer war es so glatt gelaufen wie bei Amelia Morales’ Suspension, hier waren die Bedingungen ideal gewesen. Doch nicht immer konnten wir die Körper so schnell an die Maschinen anschließen, auf Eis legen, überführen. Und nicht immer war die Strecke, die wir zurücklegen mussten, so unkompliziert. Bei manchen Fahrten, besonders im Sommer, mussten wir Eis nachkaufen, unterwegs, an Tankstellen, was immer das Risiko vergrößerte, erwischt zu werden. Oder aber, und da lag das eigentliche Problem, wir mussten auf unserer Fahrt ins Institut Bundesstaaten durchqueren, in denen der Transport eines tiefgekühlten Toten schlichtweg verboten war. Wir konnten ja auch nicht davon ausgehen, dass die Polizei überhaupt verstehen würde, was wir da taten, fände sie einen rostigen Transporter vor, mit einem alten Mann am Steuer und einer jungen Frau auf dem Beifahrersitz, die im Fond des Wagens eine an Beatmungsmaske und Herzkompressionsmaschine angeschlossene Leiche transportierten. Wir hatten auch Körper verloren. Aber das gehört hier jetzt nicht hin.
Ama Morales jedoch hatte alles bedacht und vorbereitet, ihr Tod schien nur den notwendigen Teil eines größeren Plans darzustellen, der eben ideal verlaufen musste, und so hatte sie es uns um ihrer selbst willen sehr einfach gemacht, hatte sogar ein Schreiben aufgesetzt, in dem sie die Rechtmäßigkeit des Transports bestätigte und ihn als ihren ausdrücklichen Wunsch unterstrich. Das war hilfreich, doch ich war froh, dass wir gar nicht in die Situation kamen, die Rechtmäßigkeit unseres Unterfangens beweisen zu müssen.
Bis zum Abend bewegte ich mich ziellos durch die Wohnung, räumte auf, setzte mich hin, stand wieder auf, schaltete das Radio an und aus. Als es dunkel wurde, legte ich mich schlafen, versuchte, an nichts zu denken. Noch Stunden später wälzte ich mich auf der schmalen Matratze hin und her und fand in dieser Nacht keinen Schlaf. Immer wieder stand ich auf. Nervös spazierte ich durch die Wohnung, schaute aus dem Fenster, las ein paar Seiten, schweifte mit meinen Gedanken ab, trank ein Glas Wasser, bis ich schließlich in einen nervösen Halbschlaf verfiel, in dem ich von riesigen Fröschen verfolgt wurde, Fröschen, aus deren Mündern ein klebriger Schleim tropfte und deren heißer, fauliger Atem mir den Magen umdrehte.
Als ich am nächsten Morgen erwachte, war mir schlecht und ich rief von der Telefonzelle unten am Haus Lee Won-Hong im Institut an, der mir noch mal zu der reibungslosen Überführung gratulierte und sagte, der Austausch des Blutes habe ohne Probleme funktioniert und Amelia Morales hänge schon kopfüber in Tank C87.
Ich fragte mich, ob sich die Leute eigentlich aussuchen können, mit wem sie in einen Zylinder getaucht werden wollen. Vermutlich war das nicht möglich, da ja meist noch gar nicht feststand, wer wann zu einem Bedarfsfall wurde, wie Lee Won-Hong das nannte. Häuser voller kalter Mieter. Sie kannten sich nicht, obwohl sie nebeneinander schliefen. Womöglich verbrachten sie in der Stasis in unmittelbarer Nachbarschaft eine Zeit, die weitaus länger war als ihre Lebensdauer. Ohne etwas voneinander zu wissen.
Lee Won-Hong gab mir ein paar Tage frei, als ich ihm sagte, dass es mir nicht gut ginge. Es stehe gerade nichts an und ich solle ruhig eine Pause machen. Kraft tanken, so formulierte er das. Kraft für was? Er fragte nicht weiter nach, was los sei, aber letztlich wusste ich es ja auch selbst nicht so genau. Hatte er mit Kachelbad gesprochen? Ich fühlte mich erschöpft und bemerkte einmal mehr, dass mich das, was ich hier in Los Angeles erlebte, stark beanspruchte.
Den Tag verbrachte ich damit zu lesen. Am Abend machte ich mir etwas Leichtes zu essen und ging nach einem langen Spaziergang, bei dem ich einige Versuche unternahm, mich unsichtbar zu machen, wieder so lange duschen, bis das kleine Bad voller Dampf stand. Ich spürte, wie ich dem Verschwinden immer näherkam, spürte ein Kitzeln in meinem Körper. Wie Kachelbad gesagt hatte, ging es bei der gewählten Unsichtbarkeit um eine Geisteshaltung. Ich schien im Begriff, dieses Denken in ein Handeln umzusetzen.
In dieser Nacht schlief ich ein wenig besser und auch die schlimmen Träume blieben aus. Ich träumte zwar etwas, konnte mich aber nur vage erinnern. Da war ein Ort, ich konnte ihn sehen und gleichzeitig nicht, schien ihn zu kennen, obwohl ich noch nie dort gewesen war. Wie viele solcher Orte einem im Schlaf begegnen, an die man sich im Wachzustand nicht mehr erinnern kann. Meinem bewussten Ich offenbart sich ja nur das, was ich auch erinnere. So findet ein anderes Leben statt, des Nachts, zu dem ich kaum einen Zugang habe.
*
Am nächsten Tag, es war bereits Mittag, klopfte es an meiner Tür. Ich ging leise zum Wohnungseingang und schaute durch den Spion. Da stand Kachelbad im Flur und hielt eine braune Papiertüte hoch. »Ich habe eingekauft«, sagte er, als wüsste er, dass ich ihn in diesem Moment durch das Guckloch betrachtete, obwohl ich regelrecht auf Zehenspitzen zur Tür geschlichen war. Es klopfte hier eigentlich nie, und so erschrak ich jedes Mal, wähnte irgendeine Bedrohung oder zumindest etwas, mit dem ich mich auseinandersetzen musste. Ich freute mich über seinen Besuch, wenn er mich auch irritierte. Die Tür quietschte, als ich sie öffnete. Kachelbad trat ein, schaute sich vorsichtig um. Ich blickte ihn fragend an.
»Ich habe dich noch nie besucht.«
»Wir arbeiten ja auch nur.«
»Heute nicht.«
Kachelbad stellte die Tüte ab und ich bedankte mich, räumte die Einkäufe aus, die er mitgebracht hatte. Es waren ganz einfache Lebensmittel, Nudeln, Tomaten, eine Aubergine. Knoblauch. Ein paar Kräuter. Ich bedankte mich noch mal.
»Ich habe heute frei. Ich dachte, wir kochen ein Mittagessen und gehen spazieren.«
Ich stimmte natürlich zu. Kachelbad bereitete ein sizilianisches Gericht zu, die beste Pasta alla Norma, die ich je gegessen habe.
»Du musst die Auberginen erst salzen und dann nach einer Weile mit den Händen ausquetschen, sodass nicht mehr so viel Wasser darin ist. Manche lassen sie eine Stunde im Salz, aber ich bin der Meinung, dass auch zehn Minuten völlig reichen.«
Manchmal fand ich ihn fast drollig, wenn er etwa vergleichsweise banale Handlungen ausführte oder darüber sprach. Er operierte an der Schnittstelle von Leben und Tod und im nächsten Moment kochte er Nudeln. Das war auf eine Art urkomisch. Ich setzte mich an den winzigen Küchentisch und schaute ihm zu. Kachelbad kochte sehr flink, verwandte die meiste Zeit darauf, alles vorzubereiten. Sein alter Körper bewegte sich schwungvoll, auch wenn er in einer ihm unbekannten Küche kochte, die so klein war, dass sie diese Bezeichnung kaum verdiente. Kachelbad aber bewegte sich vollkommen selbstsicher. Manchmal sprach er den ganzen Tag kaum ein Wort und nun stand er hier und es roch nach Tomaten und Knoblauch.
Während des Kochens spülte er bereits ab, wischte die kleine Arbeitsfläche immer wieder sauber. Als das verheißungsvoll dampfende Essen vor mir auf dem Tisch stand, sah es in meiner winzigen Wohnung beinahe besser aus als vorher. Wir hatten schon manches Mal im Institut zusammen gegessen, auch dort hatte Kachelbad für Lee Won-Hong und mich Essen gemacht. Nach Suspensionen, wie kleine Festessen. Bratkartoffeln zur Beerdigung. Dieses Gericht aber hatte Kachelbad mir vorenthalten, auch wenn es so wirkte, als habe er es bereits unzählige Male zubereitet.
Es war merkwürdig, mit ihm an einem privaten Ort zu sitzen, aber auch sehr schön. Ich war nie bei ihm zuhause gewesen und jetzt war er mir zuvorgekommen. Aber er hatte mich auch nie eingeladen und machte auf eine Art auch ein Geheimnis um seine Wohnung. Kachelbad lebte nicht weit von Exit U.S. entfernt, doch die wenigen Male, die er von seinem Zuhause sprach, klang es fast so, als befände es sich auf einem fremden Planeten. In den zwei Jahren, die ich bereits in L.A. lebte, war er hier nie aufgetaucht, kam gar nicht auf die Idee, mich zu besuchen oder einzuladen, und dann klopfte er plötzlich an die Tür. Ich wurde nicht schlau aus diesem Burschen. Manche Menschen sind einem vielleicht näher, wenn sie ihr Geheimnis wahren, weil man in Verborgenem, das man wähnt, eine unausgesprochene Verbindung finden kann. Öffnen sich Menschen, kann das der Beginn eines Abschieds sein.
Wir aßen schweigend zusammen an dem winzigen Tisch und ich musste daran denken, wie wir uns das erste Mal gegenübergesessen hatten, in jenem Diner in Harlem, und wie wir kaum etwas gesagt hatten. Was seitdem alles geschehen war und in welch merkwürdige Welt es mich gezogen hatte. Doch hier war ich.
Ich erlebte nie Freundschaften, zeit meines Lebens war ich allein. Ich hatte ein paar wenige sexuelle Kontakte zu ein paar Jungs, doch folgten sie keinem Schema und geschahen nur sporadisch. Eine Konstante gab es nicht, hatte es nie gegeben. Auch Kachelbad machte mir niemals Avancen, schien kein sexuelles Interesse an mir zu haben. Er war das, was man ganz altmodisch formuliert als anständig bezeichnen würde. Ich hatte mich früher in Harlem auch herumgetrieben, war auf Partys gegangen, ins Kino, aber es war in meinen zwischenmenschlichen Beziehungen immer dabei geblieben, dass ich mich wie ein Trabant für eine kurze Zeit um eine bestehende Welt gedreht hatte, um dann mit Schwung wieder aus dieser Umlaufbahn zu entfliehen. Monde haben keine Monde, sie sind einsam. Ich glaube, dass ich noch nie in etwas gesteckt habe, von dem aus ich vermisst worden wäre. Noch nie hatte mich ein Mensch auf seiner Liste gehabt. Nur Kachelbad. Ist das eigentlich traurig? Ich weiß es nicht.
So konnte ich auch nicht beurteilen, ob zwischen mir und Kachelbad eine Freundschaft bestand. Wir waren ja Arbeitskollegen, und diese Arbeit war so unüblich, dass auch unser Verhältnis sich gängigen Definitionen entzog. Manchmal fühlte es sich an, als seien wir Komplizen in einer geheimen Sache, Schmuggler, Schieber, Wahnsinnige. Dann waren wir wieder Handwerker, die eine Arbeit erledigten. Das Geheimnis um Exit U.S. machte uns gleichzeitig zu Verschworenen. Nun, und wir waren beide einsam. Aber wo dazwischen waren wir? Ab wann redet man von einer Freundschaft, wer definiert das? Braucht es eine Übereinkunft? Vermutlich braucht es das, ja, doch ich glaube, dass ab diesem Zeitpunkt, zu dem sich zwei Menschen als Freunde begreifen, nur diese die Bedingungen, die Ansprüche, den Rhythmus bestimmen sollten, wobei dies auch nicht zwingend angesprochen und eingefordert werden muss. Nur das Verständnis ist von Bedeutung, die Übereinkunft, einander wichtig zu sein. Ein Blick genügt, oder ein Ausspruch. Oder eine Frage. Ich sehnte mich nach einem Freund.
»Sind wir Freunde?«, fragte ich.
»Ich glaube schon.«
Ich bemerkte, dass er genau so wenig wusste wie ich, was das eigentlich bedeutete, dass wir aber etwas hatten, das davon unabhängig sein konnte. Wir waren unsichtbare Freunde.
»Komm, Rosary, wir fahren ein Stück und gehen spazieren.«
*
Vor dem Haus parkte der graue Lieferwagen. Ich musste lachen, als ich ihn sah. Auf der Seite prangte ein Schriftzug. OTREMBA FUNERAL SERVICE stand da, in großen schwarzen Lettern, außerdem eine Telefonnummer.
»Otremba? Wie kommst du denn darauf?«
»Deine Idee neulich hat mich überzeugt. So wird das Auto unsichtbar für die, die es übersehen sollen.«
»Wie bist du denn auf diesen bescheuerten Namen gekommen?«
»Ich dachte, wir bräuchten einen Eigennamen, der ein wenig geheimnisvoll klingt und gleichzeitig völlig nichtssagend ist. Da fiel mir eben Otremba ein. Ich habe mal einen gekannt, der so hieß. Magst du den Namen nicht?«
»Ich weiß nicht. Aber die Idee ist gut.«
Wir lachten noch, als wir längst Richtung Süd-Osten unterwegs waren, bis wir im späten Nachmittagsverkehr schließlich in Chinatown ankamen.
»Hier gibt es auch ein Chinatown, das ist ganz anders als in New York. Bist du dort schon mal gewesen?«
»In Chinatown in New York?«
»Ja.«
»Nicht so oft. Ich habe mich dort immer ein wenig fremd gefühlt.«
»Ich verstehe. Ich habe dort gelebt. Bevor ich nach L.A. gegangen bin und angefangen habe, für Exit U.S. zu arbeiten.«
»Was hast du da gemacht?«
»Ich habe geschrieben.«
Kachelbad klang andächtig, er schien in Erinnerungen versunken, blickte in vergangene Bilder, holte sie aus seinem Gedächtnis hervor.
»Du hast geschrieben? Was denn? Davon hast du mir nie erzählt.«
»Ich war da einmal sehr glücklich, und bin es noch, in meinen Erinnerungen. Aber wir mussten fort.«
»Wen meinst du mit wir? Warst du verheiratet?«
»Nein. Das erzähle ich dir ein anderes Mal. Jetzt ist nicht die richtige Zeit dafür.«
Eigentlich wusste ich nichts über seine Vergangenheit. Kaum etwas über seine Gegenwart. War es das Schicksal der Unsichtbaren, so ungreifbar zu sein? Ich betrachtete ihn von der Seite. Zwei Jahre kannten wir uns, und gerade hatten wir unsere Freundschaft beschlossen. Ich studierte Kachelbads furchiges Gesicht, das wie eine Landkarte aussah. Er wirkte abwesend. Als er scharf abbremsen musste, erwachten wir beide wieder aus unseren Gedanken.
»Findest du es nicht merkwürdig, Rosary, dass es mehrere Chinatowns gibt und dass sie ganz unterschiedlich sind?«
»Schon. Aber es gibt ja auch unterschiedliche Orte und Menschen in China.«
»Da hast du recht. Ich habe einige dieser Orte besucht. Ich mag das. Man ist wie in einer anderen Welt, aber man fällt nicht auf, weil es doch Amerika ist. Man geht in die Fremde und bleibt dort in vertrauter Umgebung.«
Wir gondelten durch die Straßen, bis Kachelbad schließlich den Wagen am Rande einer Parkanlage zum Stehen brachte und wir ausstiegen. Wir spazierten über die hügeligen Schotterwege und setzten uns irgendwann auf eine Parkbank, von der aus wir über den Stadtteil gucken konnten.
»Ganz anders als in New York«, sagte Kachelbad. Da begriff ich, wie sehr er in der Vergangenheit lebte. Was hatte er in New York zurückgelassen? Was war dort mit ihm geschehen?
»Komm, Rosary, wir üben weiter. Versuche, deinen Atem zu kontrollieren.«
Ich entspannte mich. Wurde langsamer, taxierte meine Umgebung, versuchte, mich in einem zunächst kleinen Radius als Zentrum meiner Umwelt zu begreifen. Dann beobachtete ich die Menschen in unserer Umgebung, probierte, mich auf eine natürliche Art nicht zu bewegen. Es war wie eine Mediation und ich entspannte mich. Ich erweiterte den Radius und merkte, wie ich langsam alle Geräusche und Gerüche viel intensiver wahrnahm, auch die Temperatur spürte ich jetzt deutlicher, eine abschwellende Hitze drückte noch ein wenig, umspülte mich, aber da war bereits der kühle Wind einer sich langsam ankündigenden Dunkelheit.
»Gut, und jetzt versuche, auch diese Sinne zu nutzen, um dich zu den Quellen zu verhalten. Bewege dich zur Temperatur, zum Geruch, zu den Geräuschen.«
Es funktionierte, wirklich, ich spürte, wie ich langsam verschwand und das kitzelnde Geräusch sich über meinen Körper verteilte. Es war nicht intensiver als unter der Dusche oder bei meinen Spaziergängen, aber konsequenter und gleichförmiger.
»Sprich jetzt nicht mehr. Gleich gehen wir ein Stück und mischen uns unter die Leute. So lernst du es am besten. Du wirst es heute schaffen.«
Wir blieben noch eine Weile sitzen und mit der Zeit merkte ich, wie ich die Unsichtbarkeit steuern konnte. Mal drückte ich etwas zusammen, innerlich. Ich merkte, wie sich etwas zwischen mir und der Welt fast verschob. Dann ließ ich locker und spürte wieder mehr Boden unter den Füßen.
Kachelbad stand auf und wir liefen langsam durch die Straßen von Chinatown. Und wirklich, die Menschen konnten uns nicht sehen, sie gingen an uns vorbei, wichen uns zwar aus, blieben aber dabei in einer Bewegung, die nicht auf uns als Menschen reagierte, sondern als Hindernisse. Wir schlängelten uns durch eine Gruppe chinesischer Senioren, die auf einem Platz miteinander tanzten. Wir gingen mitten durch sie hindurch, doch zu keinem Zeitpunkt wurden wir berührt, und niemand schaute uns an. Als ob sie uns vergessen hätten. Dann liefen wir die Hauptstraße runter, ich weiß nicht mehr, wie sie heißt, vorbei an all den kleinen Lebensmittelmärkten, den Restaurants und Imbissstuben. Im Fenster hing das rote Fleisch und es dampfte aus den Türen. Auch hier bemerkte uns niemand, wir waren unsichtbar. Ich konnte es kaum fassen. Es fühlte sich an, als würde ich fliegen.
Irgendwann bog Kachelbad in eine schmale Gasse ein, ging ein paar Meter, ich folgte ihm. Ich wusste jetzt, wie es ging. Man hört einfach auf, verhält sich nicht mehr zur Umwelt, sondern begreift sich wieder als Teil von ihr. Eine Gänsehaut ging mir über die gesamte Oberfläche. Ich stützte meine Hände auf die Oberschenkel und beugte mich vornüber, blies eine Locke meiner kurzen schwarzen Haare aus dem Gesicht. Ich fing laut an zu lachen. Kachelbad drehte sich zu mir um. Auch er lachte. Ja, er strahlte mich geradezu an.
»Wie fühlst du dich?«
»Gut. Ich fühle mich gut.«
Kachelbad kam zu mir herüber und umarmte mich. Das hatte er noch nie getan und es fühlte sich sehr schön an. Ich inhalierte den Geruch seiner alten Kleider, spürte den knochigen Körper. Dann trat er einen Schritt zurück, hielt mich an den Schultern und schaute mich eindringlich an. In seinem Blick entstanden Worte. Sie sagten mir, dass ich diese Fähigkeit nicht ausnutzen durfte. Dass ich sie nur einsetzen durfte, um mich zu schützen. In diesem Augenblick erfuhr ich nicht nur von den anderen Unsichtbaren, die wie ich die Fähigkeit zu verschwinden besaßen. Ich begriff, dass da auch andere waren, Menschen, die von der Unsichtbarkeit befallen waren. Das alles wusste ich, wusste ich schon seit einer langen Zeit, doch Kachelbad offenbarte es mir in einem Blick. Ich nickte.
Dann gab Kachelbad mir den Talisman. Eine kleine Schraube, etwa in der Größe eines halben kleinen Fingers, auf deren Stift sich verschieden große Unterlegscheiben befanden, unterbrochen von Schraubmuttern. Zwischen dem Kopf und der ersten Mutter lugte zudem eine Schlaufe aus Kupferdraht hervor. Er wog bereits in diesem Augenblick so warm und schwer in meiner Hand, wie er es noch heute tut. Während ich diese Zeilen schreibe, liegt er neben der Schreibmaschine auf dem Tisch. Als ich meinen Blick auf den Talisman konzentriere, fährt unten ein schwerer Lastwagen vorbei und die Tischplatte vibriert, sodass die Schraube sich einige Millimeter zu mir hinbewegt.
Im Institut war weiterhin nicht viel zu tun. Ein weiterer Bewohner nach Ama kündigte sich noch nicht an, und so nutzten wir die nächsten Tage, um die Anlage aufzuräumen, zu putzen, alles zu überprüfen. Ich genoss die Anstrengung, bedeutete sie doch, etwas Intensives zu tun, ohne dass man allzu viel nachdachte. Zwischendurch, oder wenn ich in den Schatten der Tanks umherwandelte, mit einem Besen die Zeit zusammenschob, die an ihren Hüllen abprallte, machte ich mich immer wieder unsichtbar. Lee Won-Hong durfte es nicht wissen. Er besaß diese Gabe nicht, so hatte es mir Kachelbad erklärt, und daher durfte er nichts davon mitbekommen. Eine Gabe? Ich hatte die Unsichtbarkeit erlernt. Was hatte das mit einer Gabe zu tun? Ich fegte und verschwand, fegte und verschwand. Der letzte Schritt in die Unsichtbarkeit hatte etwas in mir verändert. Wenn ich nun abends durch die Straßen nach Hause ging, unter Leuten, dann sah ich sie. Menschen, die übersehen wurden, die Unsichtbaren der Gesellschaft. Ich hatte sie auch schon vorher bemerkt, mein Leben lang, aber nun sah ich sie wirklich. Ich bemerkte ihr Leid, ihre Not.
*
Nach ein paar Tagen, die wir mit den Arbeiten in der Halle verbracht hatten, war Kachelbad plötzlich weg. Er kam nicht ins Institut, für zwei Tage. Das war sehr unüblich, er ließ mich sonst zumindest immer wissen, was der Plan für die nächste Zeit war. Sein merkwürdiges Verhalten in den Tagen zuvor, auch dass er plötzlich bei mir aufgetaucht war, machte mich stutzig. Ich war in Sorge um meinen Freund. Das ging schnell bei mir, zu schnell, doch ich spürte, dass etwas nicht in Ordnung war. Auch dass er mir den letzten Schritt zur Unsichtbarkeit offenbart hatte, verstärkte diesen Eindruck. Es fühlte sich so an, als breche eine Veränderung an. Eine große Veränderung, die ich nur erahnen konnte, Kachelbad aber schon erkannte. Ich wurde unruhig.
Lee Won-Hong schien das alles kaum zu bemerken, er war seit einer Woche mit einigen Aktenordnern und panischen Telefonaten beschäftigt, kaum blickte er auf, wenn man an ihm vorbeilief oder ihn grüßte. Als er zum Mittagessen die Halle verließ, ging ich ins Büro und suchte aus den Personalakten Kachelbads Adresse heraus. Das Wort Personalakte ist als Umschreibung vielleicht etwas hochgegriffen, es handelte sich dabei um eine schmale Mappe mit ein paar Bögen Papier.
Eine halbe Stunde später bereits stand ich vor dem Gebäude, in dem Kachelbad wohnte. Es war heruntergekommen, müde hingen ein paar verdorrte Pflanzentriebe die Hauswand herunter. Unten schien einst ein Geschäft gewesen zu sein, das Schild über der Tür aber war verblasst und die Fenster waren mit Holz verbarrikadiert. Links im Hof stand allerlei Gerümpel und Unrat. Im vierten Stock jedoch, das sah ich von hier unten ganz deutlich, standen einige wohlgepflegte Pflanzen auf dem Balkon. Ich mutmaßte, dass das Kachelbads Etage war, und klingelte dort, wo in blasser Schrift sein merkwürdiger Nachname auf einem kleinen Schild stand. Ich wartete. Oben bemerkte ich eine Bewegung, ein Vorhang wurde ein Stück zur Seite und dann wieder zugezogen. Dann passierte etwa eine Minute nichts. Schließlich ging ein Fenster auf und Kachelbad erschien. Mit seiner kratzigen Stimme rief er meinen Namen. »Rosary?« So eine Stimme habe ich seitdem nicht wieder gehört.
»Unten ist abgeschlossen. Hier ist der Schlüssel. Fang!«
Er warf mir ein Knäuel Socken herunter, in das er den Schlüssel gesteckt hatte. Er hatte gut gezielt, ich fing das Knäuel auf und puhlte den Schlüssel hervor. Dann machte ich mich durch das Treppenhaus auf in den vierten Stock. Die Wohnungstüren und der gesamte Flur sahen so heruntergekommen aus wie das Äußere des Gebäudes, und erst auf Kachelbads Etage wurde es schöner. Da hingen ein paar Gemälde und bei genauerem Hinschauen erkannte ich, dass es Drucke aus Tageszeitungen waren, die hinter dem Glas der Bilderrahmen gleich viel hochwertiger aussahen. Pflanzen standen dort im Flur und vor der Tür lag ein abgewetzter marokkanischer Teppich. Und es roch verdammt gut. Ich zog meine Schuhe aus und klopfte. Kachelbad öffnete die Tür. Er wirkte etwas angespannt.
»Rosary, das ist aber eine Überraschung. Komm doch rein.«
In der Wohnung meinte ich, eine Tür zuschlagen zu hören, bevor Kachelbad zur Seite trat, aber da kann ich mich auch irren. Im Gedächtnis verschiebt sich so manches. Man meint, etwas gehört zu haben, und in der Erinnerung ist man sich dann schon viel sicherer, weil man das Geräusch imaginiert und es plötzlich wirklich da ist, und wenn man sich ein zweites oder drittes Mal erinnert, erinnert man die Erinnerung, und sie wird zur Wahrheit. So gesehen ist der gesamte Teil der Menschheitsgeschichte, der nicht dokumentiert ist, eine Vermutung. Keine Ahnung also, ob da das Geräusch einer Tür zu hören war. Vielleicht war es auch der Wind.
Die Wohnung war klein und voll von großen Topfpflanzen, die direkt auf dem Boden standen. Die Palmblätter bewegten sich wie vom Windhauch eines vorbeieilenden Körpers. Auf dem Gasherd links von der Wohnungstür stand eine Pfanne, in der ein paar Kichererbsen und einige Möhrenscheiben brutzelten, daneben köchelte ein Topf Reis. Ich schaute mich um. Links an der Wand stand ein Tisch mit zwei Stühlen, darauf ein Bonsaibaum und ein kleiner Topf mit Erde, eine Schere und ein paar kleine Gartengeräte. Rechts war ein Bett gemacht, auf dem Boden. Behelfsmäßig hatte Kachelbad aus einer alten Holzkiste einen Nachttisch gebaut, auf dem sich ein paar Bücher und eine Öllampe befanden. Und überall diese großen, rankenden Topfpflanzen. Fast wirkte der Raum wie ein Dschungel, nur dass man nicht die Geräusche von Tieren und Insekten hörte, sondern die der Zivilisation. Das Gas des Herdes zischte, das Essen brutzelte und von draußen drang das Brummen der Straßenbahn und der Autos zu uns hoch. Am geöffneten Fenster am Ende des Raumes, aus dem Kachelbad auch den Schlüssel runtergeworfen hatte, stand ein Schreibtisch mit einem Stuhl davor. Ich ging darauf zu. Auf dem Tisch stand ein graues Wählscheibentelefon, ein paar Notizbücher und ein Federmäppchen, außerdem eine Art Aufnahmegerät mit Kopfhörern. Und eine tragbare Schreibmaschine. Was er darauf schrieb? Ich habe keine Ahnung. Es geht auch niemanden etwas an, was ein Mensch schreibt.
Links neben dem Schreibtisch, angrenzend an das Fenster also, befand sich eine Tür, sie stand offen, und ich konnte sehen, dass auch auf dem reichlich bewachsenen und äußerst schmalen Balkon neben einem geöffneten Sack Erde ein paar Bonsaipflanzen standen.
»Schön hast du es hier. Ich hoffe, ich störe nicht. Ich habe mir Sorgen gemacht und dachte, ich schaue mal nach dem Rechten. Tut mir leid, wenn ich hier so reinplatze.«
»Du störst nicht, Rosary. Es ist lieb von dir, dass du nach mir siehst. Ich mache mir gerade ein bisschen was zu essen. Möchtest du auch etwas?«
»Nein, danke. Ist alles in Ordnung bei dir?«
»Ja, es ist alles gut. Ich fühle mich nicht so wohl. Ich glaube, ich werde krank. Weißt du, Rosary, ich bin alt. Ich muss lernen, auf meinen Körper zu hören. Und vor zwei Tagen hat er zu mir gesagt, ich solle lieber zuhause bleiben. Ich hätte im Institut anrufen sollen, dann hättet ihr euch keine Sorgen gemacht. Möchtest du wirklich nichts essen?«
Kachelbad lächelte sein schüchternes Lächeln und ich merkte, dass ich gar nicht richtig wusste, was ich hier wollte oder was ich überhaupt bei ihm suchte. Sicher, ich machte mir Sorgen, doch ich muss gestehen, dass ich mich nahezu gefreut hatte, durch Kachelbads überraschende Abwesenheit einen Anlass gefunden zu haben, ihn aufzusuchen. Doch wieso? Ich wollte weiter zu ihm vordringen, wollte ihm näherkommen. Ich wollte, dass wir richtige Freunde wurden. Freunde, die man sehen kann.
»Ich finde es sehr gemütlich hier bei dir. Und ich würde vielleicht doch gerne einen kleinen Teller essen. Es riecht so gut.«
»Dann setz dich doch an den Tisch.«
»Kann ich kurz dein Bad benutzen?«
Kachelbad zögerte, doch dann wies er auf eine alte Tür hinten links, von der schon die Farbe abblätterte. Das Bad war zu einem Drittel ausgefüllt von einer alleinstehenden Badewanne, sie schien sehr alt, auch ihr war die Farbe hier und da abgesprungen. Auf dem Boden lag ein Teppich und an der Wand hing ein großer Spiegel, der bis zum Boden ging. Ich setzte mich auf die Toilette und schaute mich weiter um. Ein Waschbecken war da, ein behelfsmäßig zusammengezimmertes Regal, ein paar Kerzen. Genau wie in dem Zimmer standen auch im Bad viele Pflanzen, nicht nur Palmen, sondern auch ein paar Orchideen. Sie belebten diesen Ort. Sanft bewegten sich die Blätter in der hereinströmenden Herbstluft.
Ich wusch die Hände, betrachtete mich lange in dem großen Spiegel. In meinem rechten Ohr hörte ich das Blut rauschen, im Rhythmus meines Herzschlags. Wieder klang es so, als ob ein paar Füße durch frischen, tiefen Schnee wanderten. Stiefel. Dann wurde ich zittrig und merkte, dass mir Tränen aufstiegen. Ich spürte, wie mich etwas wegzog, weg aus Amerika. Ein noch fremder Ort rief nach mir, ganz plötzlich. Ich schluckte, wusch mir noch mal die Hände und atmete ein paar Mal tief durch. Dann ging ich zurück zu Kachelbad und aß ein letztes Mal zusammen mit ihm. Es war köstlich. Am nächsten Tag starb Lee Won-Hong und die Ereignisse überschlugen sich.
*
»Der Tod ist ein wichtiger Augenblick im Leben eines Menschen. Er ist, im besten Fall, kein Kampf, aber in seiner Endgültigkeit steht er titanisch am Ende des Lebens, taucht alles Vorherige in seinen Schatten. Egal wo auch die Sonne steht, am Ende verschwindet der Mensch in diesem Schatten. Er geht auf den Tod zu wie auf einen Turm, auf einen schwarzen Monolithen, und was dahinter liegt, kann er nicht erkennen. Am Ende stehen wir so nah am kalten Mauerwerk, dass wir nicht dahinter sehen können. Der Tod ist ein Turm und er ist sichtbar, von jedem Punkt der Welt aus. Jedem Menschen steht ein Turm, jeder geht darauf zu, jeder klopft dort an die Tür. Wir müssen diesen Turm als Turm begreifen, nicht als Mauer, nicht als Grenze. Wir können an ihm vorbeigehen, können um ihn herumgehen, können auf seine Spitze klettern. Wir können diesen Turm bewohnen. Durch die Stasis findet der Sterbende, und das sind wir alle, eine Zeit, den Tod zu erkunden, er sensibilisiert sich, weil der Tod seine angestammte Bedeutung verändert und neu interpretiert werden kann. Der Turm ist nur ein Ort von vielen in der Zeit.«
Ich erinnerte mich deutlich an den letzten dieser pathetischen Monologe Lee Won-Hongs, zu denen er sich immer dann bemühte, wenn er eine Ungerechtigkeit gegenüber seiner Sache empfand, wenn ihm neue Schranken gesetzt wurden, die einen Weg abschnitten oder verkomplizierten. Dann redete er sich in Rage, predigte, bis man den Schaum vor seinem Mund wähnte, gestikulierte, verlor die Fassung und lief mit lauter und eindringlicher Stimme durch die Halle, schmiss etwas um, warf etwas an die Wand. In Wort und Bildsprache ähnelten sich diese Monologe, und so wurden sie zu einer Routine, einer poetischen Kompensation der Widerstände, welche die Kryonik erfuhr. Es war auch eine der letzten Äußerungen von Lee Won-Hong, die ich überhaupt erinnere. Wenige Tage vor seinem Tod muss das gewesen sein. Aus heutiger Sicht empfinde ich seine Worte für die darauffolgenden Ereignisse beinahe als prophetisch.
Wir arbeiteten wieder in der Halle. Nach meinem Besuch, der eine gewisse Ratlosigkeit in mir zurückgelassen hatte, war Kachelbad am nächsten Morgen wieder zur Arbeit erschienen. Der Transporter stand in der Halle und wir warteten den Motor. Wir hatten den Wagen hochgebockt, die Motorhaube stand offen und Kachelbad trug einen grauen Overall, welcher der Farbe des Lieferwagens glich. Auf einem alten Skateboard war er unter das Fahrzeug gerutscht und machte einen Ölwechsel. Ich kontrollierte ein paar Ventile, zog hier und da eine Schraube fest.
Kachelbad wirkte noch immer merkwürdig nervös auf mich, dauernd rutschte er unter dem Auto hervor, ging auf die Toilette, suchte fahrig nach einem Werkzeug, fluchte, sprach mit sich selbst. Ich kannte ihn so gar nicht. Er lief gebückt. Seine Hand zitterte. Irgendwann ging er für alle Kaffee kochen, daran erinnere ich mich noch. Dann, eine viertel Stunde später vielleicht, kam Lee Won-Hong aus dem Büroverschlag. Kachelbad lag bereits wieder unter dem Auto. Der Chinese schien uns etwas sagen zu wollen, doch dazu kam es nicht mehr. Gut fünf Meter vor uns blieb er plötzlich stehen und schaute irgendetwas an, das ich nicht sehen konnte. Sein Kaffeebecher fiel zu Boden und zersplitterte in winzige Scherben. Die heiße Flüssigkeit dampfte auf dem Boden und schien binnen einiger Augenblicke zu erkalten. Sie hinterließ einen schwarzen Fleck. Lee Won-Hong schaute auf den Boden, ließ den Blick nach oben wandern, bis er an der Decke der hohen Halle verweilte. So, als ob er etwas anschauen würde, das direkt vor ihm stand. Dann schaute er erst Kachelbad und dann mich an, stotterte ein paar Worte, die ich nicht verstand, schaute wieder Kachelbad an, der unter dem Wagen hervorgerutscht war und sich seitlich aufgerichtet hatte. Der Chinese griff sich an die Brust. Dann ging er in die Knie und fiel vornüber. Ich schrie auf, genau wie Kachelbad, wir sprangen zu ihm. Ich packte sein Kinn, drückte seinen Kiefer auf, sodass ich in seinen Mund schauen konnte. Da war nichts, auch die Zunge war vorn. Also presste ich Luft in seinen Mund und begann mit einer Herzmassage.
»Schnell, Kachelbad, hol die Maschinen«, rief ich, »und ruf einen Arzt. Ruf einen verdammten Arzt. Wo ist Gruber? Wir brauchen einen Krankenwagen.«
Kachelbad, der einen Moment wie erstarrt dagestanden hatte, rannte davon und brachte die Maschinen. Wir schlossen Lee Won-Hong an die Beatmungsmaske an und schnallten ihm die Herzrhythmus-Maschine um. Aber da wusste ich schon, dass er tot war. Ich spürte das. In meinem kurzen Leben hatte ich schon so viele Leichen gesehen, dass ich wusste, wann ein Mensch wirklich tot war. Ich blickte Kachelbad an und sah das Entsetzen in seinen Augen.
»Er hat einen Herzinfarkt. Was machen wir jetzt?«
»Ich weiß es nicht.«
»Kachelbad, bitte. Was sollen wir tun?«
»Wir brauchen einen Arzt. Wir brauchen den Arzt, er muss den Totenschein unterschreiben. Und dann frieren wir ihn ein.«
Ich brach in Tränen aus. Auch Kachelbad liefen sie schon herunter. Ich hatte ihn nie weinen gesehen. Er schaute immer wieder auf Lee Won-Hong, dann auf die Tanks, auf den Wagen, schaute mich an. Er schien in diesem Bewegungsablauf gefangen, wie eine Maschine, bei der es hakt.
»Bitte, Kachelbad, ruf Gruber an, wir dürfen keine Sekunde verlieren. Wir haben keine Zeit.«
Endlich setzte er sich in Bewegung. Wir hätten Won-Hong ja auch einfach direkt einfrieren können, doch das wäre zu unsicher gewesen. Wenn die Behörden später herausfanden, dass es keinen Totenschein gab, konnte das zu einer Katastrophe führen. Sie würden die Leiche auftauen, für eine Obduktion, und dann wäre Lee Won-Hongs Testament gebrochen. Er hatte uns die oberste Regel der Kryonik immer wieder eingeschärft. Jeder kalte Mieter braucht einen Totenschein.
Ich wusste, dass Lee Won-Hong die Kryonik mit dem Plan verfolgte, eines fernen Tages ebenfalls eingefroren zu werden. Er war davon überzeugt, dafür sprachen seine Reden und seine Schriften. Sicher, es war auch ein Geschäft, doch betrieb er dieses aus Überzeugung und auch aus dem Wunsch heraus, eines Tages selbst auferstehen zu können, in einer fernen Zeit. Ich wusste so wenig über ihn und bereute das in diesem Augenblick unermesslich. Aber von etwas wusste ich ganz sicher, und das war sein Glaube an eine Zukunft, seine Sehnsucht nach einer anderen Zeit, in der er leben wollte, die er erfahren wollte. Er hatte keine Angst vor dem Tod, er sorgte ja vor. Das hatte er sogar einmal genau so gesagt. Am Ende geht es weiter. Dass es jedoch schon so bald kommen würde, dieses Ende, das hatte er bestimmt nicht geahnt. Und wir hatten damit auch nicht gerechnet. Der Tod lag noch so fern für ihn. Sicher war sein Nachdenken darüber konkreter als meins, er war bestimmt 30 Jahre älter als ich. Aber der Gedanke bleibt abstrakt, selbst in der Kryonik. Oder?
Lee Won-Hong hatte einen Tank anfertigen lassen, in dem er alleine tiefgekühlt werden wollte. Dieser Tank war viel schmaler als die großen Tanks, in denen jeweils sechs Personen eingefroren hingen. Er stand versteckt in einem tiefen Winkel der dunklen Halle. Weil er ja nicht wusste, wer ihn dann eines Tages einfrieren würde, hatte er ausführliche Instruktionen verfasst, was im Falle seines Todes zu tun sei. Doch wir mussten sie nicht lesen. Ich kannte sie, und Kachelbad kannte sie auch. Warum kannten wir sie? Weil Lee Won-Hong uns etwas bedeutet hatte und weil wir ihn respektierten.
Da war niemand, den wir anrufen, niemand, den wir kontaktieren sollten. Nur der Totenschein war wichtig. Und der Einzeltank. Keine Nachbarn. Der kalte Vermieter wollte sich allein begraben wissen, wollte ein Haus nur für sich. Lee Won-Hong war allein, genau wie Kachelbad und ich. Das einte uns. Und nun knieten wir neben dem toten Körper, umringt von seinen kalten Mietern. Ich fasste Lee Won-Hongs Arm an, nahm seine Hand, die wegen der Maschinen noch immer ganz warm war. Kachelbad legte seine Hand darauf. Meine schwarze Haut, der blasse, fleckige Ton Kachelbads und die bronzene Farbe Lee Won-Hongs sahen schön aus zusammen. Es war das erste und letzte Mal, dass wir uns alle drei berührten.
»Es ist vorbei«, sagte Kachelbad.
Ich schaute ihn an und verschwand.
Ich lasse mir ein Bad ein. Draußen ist es schon stockfinster. Das heiße Wasser rauscht in die Wanne, ein überraschender Luxus. Ich hatte noch nie eine Badewanne. Kein Nebel mehr. Ich ziehe mich vor dem bodentiefen Spiegel aus und schaue meinen Körper an. Dann steige ich in das heiße Wasser und muss unwillkürlich lächeln. Ich lege meinen Kopf auf den Wannenrand und schließe die Augen. Kachelbad hatte recht. Während ich alles noch einmal lese, beruhigt sich mein Herzschlag. Morgen fängt ein neues Kapitel an. Jetzt muss ich nur noch diese verdammten Briefumschläge finden.
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