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Bremen – Calais

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26.6. – 3.7.2011, 775 km, 1031 Höhenmeter.


26.6. – 3.7.11: Bremen – Calais (© OpenStreetMap-Mitwirkende (OpenStreetMap, 2014))

Mit dem Zug geht es nach Bremen. Nach einer Runde um den Roland auf dem Rathausplatz wage ich mich hinaus aufs platte Land: in den „Schweinegürtel“.


26.6.11: Der Roland in Bremen (Niedersachsen)

Der leichte Gegenwind treibt mir den Geruch von Gülle und Schweineställen entgegen. Es regnet leicht, das gibt den Bauern Gelegenheit, die ätzend riechende Flüssigkeit auf den Feldern zu verteilen. Riesige Hallen mit schornsteinartigen Aufbauten säumen meinen Weg. Sie gleichen Industrieanlagen, - als „Ställe“ kann man sie kaum noch bezeichnen. Ich bin an der Westküste Schleswig-Holsteins groß geworden, solche gigantischen Schweineställe gibt es dort nicht. Die Bauern hier leben von Schweinen, Geflügel und Biogas, darum gleicht Niedersachsen hier auch einem riesigen Mais-Labyrinth. Man scheint gut daran zu verdienen, denn die Bauernhäuser sind riesig und meist brandneu, - schöne Fachwerkbauten mit reetgedeckten Kapellen davor, in denen eine Marienstatue steht! Ein ungewohnter Anblick für mich, denn in meiner Heimat Dithmarschen gibt es ebenfalls große Bauernhäuser, aber katholisch ist man dort nicht, sondern - im Gegenteil - sogar ziemlich „unkirchlich“.

Der Campingplatz in Werlte ist zwar nicht schön, aber die Sanitäranlagen sind perfekt, - derartigen Luxus werde ich die nächsten Wochen nicht mehr zu sehen bekommen!


26.6.11: Schweinestall (Niedersachsen)

Auch am nächsten Tag nur plattes Land, meist sandig und moorig. Wenige Menschen sind unterwegs, auch Tiere sieht man kaum, obwohl dies die Gegend mit der höchsten Dichte an Großsäugern in Europa ist, wenn nicht sogar der Welt, - aber die Tiere stehen wohl alle im Stall! Die einzige Attraktion bilden die Hünengräber, die überall im Land verteilt sind, - alle 3 km eines. Sie sind schon vor langer Zeit aufgebrochen worden und die Steine wurden zerkleinert, wahrscheinlich für den Bau der Bauernhäuser. Nur Reste sind noch übrig. Die Innenstadt von Meppen präsentiert sich im gleichen Einheitslook wie Hunderte andere deutsche Städte. Ich schreibe meiner Tochter eine Karte, - natürlich mit einem Schwein darauf. Heute ist es mit 30°C ziemlich heiß, das macht den Schweinegeruch noch schöner!


27.6.11: Hünengrab (Niedersachsen)

Bei Nordhorn überquere ich die Grenze zu den Niederlanden und das Bild wandelt sich. Im Schatten großer Bäume führt mein Weg an einem schnurgeraden Kanal entlang nach Almelo, wo ich mich prompt verfahre und nicht wieder aus der Stadt herausfinde. Ich bin mit den niederländischen Fahrradwegen und den Fahrradwegweisern noch nicht vertraut und orientiere mich wie gewohnt in der Stadt nach der Himmelsrichtung und den Wegweisern für die Autos. Immer wieder treffe ich auf Straßen, die für Fahrradfahrer gesperrt sind. So hatte ich mir das „Fahrradparadies Niederlande“ nicht vorgestellt! In den nächsten Tagen lerne ich schnell, dass hier Autos und Fahrräder völlig getrennt geführt werden. Die Fahrradwege verlaufen oft anders als die Straßen und sind gesondert beschildert. Man kann alle Hinweisschilder für Autos getrost vergessen und muss sich nur auf die Fahrradwegweiser konzentrieren. Mit Autos kommt man kaum in Berührung. In den nächsten Tagen genieße ich diese einmalige Infrastruktur, - verglichen damit, sind die Fahrradwege in Deutschland dilettantisch angelegt. Gegen 19:30 Uhr erreiche ich nach 132 km erschöpft einen Campingplatz, - zu heiß heute und zu viele Kilometer! Vor dem Schlafen lese ich noch ein wenig in meinem Buch „Schöne Aussicht“ (Kempowski, 1981).


27.6.11: Kanal (Niederlande)

Heute zeigt mein Thermometer 35°C im Schatten, in der Sonne 45°C! Natürlich muss ich zumeist in der Sonne fahren. Da macht es auch nichts, dass ich abends auf dem Campingplatz nur kalt duschen kann, da mir eine 50 Cent Münze fehlt. Wegen der Hitze habe ich schon um 16 Uhr mein Tagwerk beendet und mich im Zelt ausgeruht. Die Niederländer, die ich heute traf, sprachen weniger Deutsch als erwartet. Niederländisch hört sich an wie Plattdeutsch (Niederdeutsch). Mit der Sprache bin ich aufgewachsen und so spreche ich die Leute manchmal auf Plattdeutsch an, - das verstehen sie aber auch nicht. Auf die Frage, ob er Deutsch spreche, antwortete der alte Platzwart empört: „Ick bin Holländer!“ Meist werden die Unterhaltungen auf Englisch geführt.

Abends ballen sich riesige schwarze Wolken zusammen und es wird frühzeitig dunkel. Ich sitze in der netten Kneipe des Campingplatzes und führe mein Tagebuch. Alle warten nach dem übermäßig heißen Tag auf den Regen, - es donnert schon in der Ferne. Schon heute Mittag hat man mich vor dem drohenden Unwetter gewarnt. Um 21:30 Uhr herrschen immer noch 32°C. Als ich ein Glas Bier bestelle, fragt die Frau, ob ich eine Flache oder ein Glas mit „Fass an“ möchte und einen „eiskalt Genever“. Jetzt rauscht der Regen endlich, die Blitze zucken ziemlich nah und es donnert gewaltig. Die Zeltleinen habe ich noch nachgespannt und die Heringe tiefer geschlagen. Die Leute, mit denen ich an der Tür hinaus in den Regen schaue, sind ziemlich gesprächig und erklären mir die neue Fahrradweg-Beschreibung, die es in den Niederlanden seit vier Jahren gibt. An Knotenpunkten sind Übersichtskarten aufgestellt und jede Fahrradroute trägt eine Nummer. Schildern mit diesen Nummern folgt man von einem Knotenpunkt zum nächsten, wo man sich die nächste nummerierte Route aussucht. Es sind aber sehr gewundene, kurze Wege. Meistens folge ich anderen Wegweisern für Überlandrouten.

Nun wird am Eingang zum Campingplatz ein Willkommensplakat aufgehängt. Nach zehn Monaten soll die Tochter des Hauses aus England zurückkommen, sie hat dort im Hotel gearbeitet. Jemand stellt mir ein kleines Glas aus Plastik hin, gefüllt mit einer Art Pflaumenwein und einer Sahnehaube und bedeutet mir, es in einem Zug auszutrinken. Zwei große Koffer werden hereingetragen und das Licht gelöscht. Mit großem Jubel wird die Tochter empfangen. Alle trinken Sahne-Schnaps zur Begrüßung. Ich ziehe mich ins Zelt zurück.

Auf dem Weg nach Nijmegen (Nimwegen) überquere ich zuerst den Lek und dann den Waal, die Mündungsflüsse des Rheins, und wenig später die Maas, - genauso „deutsch“ wie die Memel, die ich letztes Jahr auf dem Weg nach St. Petersburg überquerte (Wiebers, 2014). Ein frischer Nordwest-Wind ist aufgekommen. Das gestrige Gewitter hat stark abgekühlt und es herrschen nur noch 17°C. Ein frischer Seitenwind weht aus Nordwest.


29.6.11: Der Waal (Niederlande)

Ich lerne etwas Niederländisch: Fietser = Fahrradfahrer, Bromfietser = Moped, fietsen = Fahrradfahren, Rennfietser, Fietspad = Fahrradweg, Fietsnetwerk, Fietsverhur = Fahrradverleih. Erstaunlicher Weise trägt kein „Fietser“ einen Helm, auch die Kinder nicht, selbst „Rennfietser“ nur selten! Fehlt ein abgetrennter „Fietspad“, so sind auf der Straße links und rechts breite Streifen für die „Fietser“ abgeteilt und farbig markiert. Sie nehmen den größten Teil der Straße ein, - toll!


29.6.11: „Fietspad“ (Niederlande)

Den Marktplatz in Nijmegen umstehen alte und neue Giebelhäuser. Auf dem Platz liegt ein umgekippter Lastwagen. Ich vermute schon einen Unfall, bis man mir erzählt, dass alles für einen Fototermin arrangiert wurde. Eine nette Stadt, aber ich hatte mehr erwartet, - wahrscheinlich ist viel im Krieg zerstört worden. Die Brücke von Arnheim kommt mir in den Sinn, - die war in der Nähe.

Das Land ist kreuz und quer von Kanälen, Flüssen und Grachten durchzogen. Überall malerische alte Brücken oder moderne Klappbrücken, vor denen ich des Öfteren pausieren darf, bis die Schiffe durchgefahren sind. Im hübschen Hertogenbosch werden riesige Flussschiffe auf engen Kanälen manövriert, sie passen kaum aneinander vorbei. Auch hier läuten die Glockenspiele der Turmuhren ihre Melodien. Das Land ist sehr dicht besiedelt, kaum habe ich eine Ortschaft verlassen, beginnt schon die nächste. Ohne die „Fietspads“ wäre es schwierig voranzukommen. Als ich mittags einen Imbiss besuche, stelle ich zu meinem Erstaunen fest, dass die Currywurst hier unbekannt ist, - trotz der Ostindischen Kolonien, die Holland einmal hatte! Später lerne ich aus dem Buch „Die Erfindung der Currywurst“ (Timm, 1993), dass es sich dabei um ein urdeutsches Gericht handelt. So muss ich mich mit Pommes Frites und Bratwurst bescheiden. Der Campingplatz in Cromvoirt gewährt mir mit 5€ einen Sonderpreis, aber auch sonst habe ich bisher höchstens 10€ pro Nacht gezahlt,


29.6.11: In Hertogenbosch (Niederlande)

Zersplitterte Chausseebäume erinnern an das starke Gewitter vorgestern. Neben den perfekten Fahrradwegen gibt es natürlich überall „Fietsenstallinge“, Parkhäuser für Fahrräder. Massen von Radfahrern sind unterwegs. Auch Großeinkäufe werden mit dem Fahrrad erledigt. Jedes Rad trägt riesige Radtaschen links und rechts, einige Räder haben auch ein Gestell für eine Bierkiste vor dem Lenker. Mich erstaunt, dass auch neue Fahrräder oft altmodische Trommelbremsen am Vorderrad haben. Über Tilburg geht es nach Breda, einem gemütlicher Ort mit alter Festungsanlage und historischen Schiffen. Auf dem „Groten Markt“ vor der „Groten Kerk“ zieht mich die Werbung eines Lokals an: „Bijons geen Bediening, Dat scheelt in de Prijzen!“ Ich spreche Plattdeutsch und verstehe daher sofort: „Bei uns keine Bedienung, das macht sich in den Preisen bemerkbar!“ Das Gebimmel der Turmuhren nimmt kein Ende. In Roosendaal spielt eine Turmuhr sogar den „Entertainer“ (Joplin, 2008) zur vollen Stunde! Heute ist es mit 22°C wieder wärmer, aber ein auffrischender Wind weist auf die nahe Nordsee hin.


30.6.11: Breda (Niederlande)

In Bergen op Zoom erreiche ich die Osterschelde. Warum ich hier 14,50€ für den Campingplatz zahlen muss, bleibt unklar. Vielleicht zur Strafe, weil ich mein Zelt schon aufgebaut hatte, bevor die Herrin des Platzes kam. Forsch weist sie mich an, mit dem Zelt umzuziehen. Zur Entschädigung gibt es eine gedruckte, klare Anweisung zum Verschließen der Dusche: „Doer opslot, Klink omhook, Draiknop naa rechts draiien!“

Nachts kommt Wind mit Regen auf und gegen 6 Uhr geht ein starkes Gewitter nieder. Aber als ich um 8 Uhr aufstehe, scheint die Sonne und im steifen Nordwestwind trocknet das Zelt im Nu. Hinter dem breiten Kanal der „Schelde-Rijnverbinding“ beginnt die weite Osterschelde. Landschaft und Gegenwind erinnern mich an Nordfriesland: baumlose, gerade Straßen und Deiche. In Krabbendijke zeigt sich die erste Windmühle. Auf einer Fahrradfähre überquere ich die Westerschelde von Vlissingen nach Breskens. Die Fähre bietet sogar einen „Oplaadpunkt“ für Pedelecs, mit denen viele ältere Niederländer unterwegs sind. Die Westerschelde wurde - im Gegensatz zu den anderen Mündungen - im Rahmen des Rhein-Maas-Schelde-Delta-Projektes nicht gegen die Nordsee abgedämmt. Anlass des Deltaprojektes war die Flutkatastrophe von 1953, bei der im Flussdelta im Süden der Niederlande 1835 Menschen und über 200.000 Tiere ums Leben kamen. Es war die größte niederländische Sturmflutkatastrophe seit der Elisabethenflut 1421“ (Wikipedia, 2014).

In Cadzand Bad, vor Knocke-Heist, begrüßt mich ein Campingplatz direkt am Meer mit: „Welcom aan Zee!“ Der kleine, etwas lieblos gestaltete Küstenort liegt hinter hohen Dünen, vor denen sich ein weiter Sandstrand erstreckt. 13,50€ für eine Nacht weisen auf einen florierenden Tourismus hin. Viele große Containerschiffe laufen in die Westerschelde ein, wie mir ein Hinweisschild bestätigt: „Ob de Nordzee is veel Fraachtverkeer via de Schelde naa Antwerpen und Gent!“. Als ich abends „Reis Chop Suey“ koche, wünschen mir meine Zeltnachbarn: „Geschmackelen!“


1.7.11: An der Nordsee (Niederlande)

Mit Rückenwindunterstützung rolle ich an mit Pappeln gesäumten Grachten entlang nach Brügge. Eine prächtige alte Stadt, fast schon ein Museum! Natürlich besuchen viele Touristen die Stadt und vor dem Rathaus stauen sich die Porsches und „Stretchcars“, - es wird im Minutentakt geheiratet. Von einer aufgebauten Tribüne aus beobachte ich das Treiben, während die Turmuhren ununterbrochen bimmeln.

Leider ist hier in Belgien die perfekte Fahrradinfrastruktur zu ende. Die Fahrradwege entsprechen eher deutschem Standard. Kurz vor der französischen Grenze, bei De Panne, komme ich wieder an die Küste. Es ist wohl der schrecklichste Badeort, den ich in meinem Leben gesehen habe. Kilometerweit erstrecken sich zehnstöckige Hochhäuser am Meer entlang, mit der Front zum Wasser. Im Ort wähnt man sich in Manhattan. Der Sandstrand ist allerdings sehr breit, - „Millionen“ Menschen machen hier offensichtlich Urlaub. Auf dem riesigen, gut belegten Campingplatz in den Dünen verlangt man 20€ von mir. Nach meinem Protest spricht die junge Bedienung sogar Deutsch und geht 5€ herunter, - erstaunlich! Zur Sicherheit bekommt mein Fahrrad einen Platz im „Fietsverhur“ zugewiesen. Die Heringe finden schwer Halt im lockeren Sand, doch dann ist das Zelt aufgebaut und ich strebe den überfüllten Duschräumen zu. Bevor ich mich ans Kochen mache, muss ich noch den Schlauch im Hinterrad wechseln, denn eben vor der Ankunft ereilte mich der erste „Platten“. Es dämmert und von den Nachbarzelten klingt Gitarrenmusik herüber: „Mrs. Robinson“ (Simon, 1968), - gar nicht schlecht gespielt! Eine Gruppe junger Männer singt von den „Bonnie Banks of Loch Lomond!“ (MadrigalSingers, 1841) Es ist Wochenende.


2.7.11: De Panne (Belgien)

Dünen und kilometerbreite Sandwatten erstrecken sich an der Küste bis Dunkerque (Dünkirchen). Nord Frankreich ist nicht gerade der schönste Teil Frankreichs und Dunkerque bestätigt das. Der Strand von Calais ist dicht bevölkert; die Schiffe im Hafen liegen tief unten an der Kaimauer, - ziemlicher Tidenhub! Um 14 Uhr erreiche ich den Fährterminal. Die nächste Fähre legt erst um 15 Uhr, aber sie ist auch schon geschlossen. Mein Bitten hilft nicht. Man macht keine Ausnahme für Fahrradfahrer, - dann also um 16 Uhr! Ich muss zusammen mit den Motorradfahrern in der Schlange warten. 39€ kostet die Überfahrt, - wahrscheinlich genauso viel wie für ein Motorrad! Das „Embarquement“ dauert eine Stunde, - so etwas habe ich schon schneller gesehen! Anscheinend bin ich der einzige Fahrradfahrer auf dem gut gefüllten Schiff; ansonsten Schülergruppen auf dem Weg zur „Summer School“ nach Eastbourne, Familien und ältere Motorradfahrer. Die weißen Klippen von Dover kann man schon von der französischen Küste - aus 37 km Entfernung - erahnen.

Bis hierher waren es 775 km. 7,5 Tage habe ich benötigt. 8 Tage und 800 km hatte ich geschätzt mittels meiner Formel „Luftlinie*1,5“ (Wiebers, 2013); nur 3% Abweichung, - nicht schlecht! Wie nicht anders zu erwarten, war die Strecke mit 0,13% durchschnittlicher Steigung sehr flach. Jeden Abend einen Campingplatz zu finden, war kein Problem. Ich habe nicht ein einziges Mal „wild zelten“ müssen.


En Pédale, en Pédale - Mit dem Fahrrad nach Schottland

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