Читать книгу Tom Jones - Henry Fielding - Страница 108

Welches, wenn es der Leser mit dem vorigen vergleicht, vielleicht einige Irrtümlichkeiten heben kann, deren er sich bis dahin bei Anwendung des Wortes Liebe vielleicht hat zu Schulden kommen lassen.

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Mollys Untreue, welche Jones jetzt entdeckte, möchte vielleicht einen weit größeren Grad von Empfindlichkeit entschuldigt haben, als er bei der Gelegenheit zeigte; und hätte er sie von diesem Augenblick an völlig verlassen, so würden ihn, glaube ich, nur wenig Menschen getadelt haben.

Er jedoch betrachtete sie als eine Person, die Mitleiden verdiene; und obgleich seine Liebe zu ihr nicht von einer solchen Art war, daß er sich über ihren Verlust so gar heftig beunruhigen konnte, so quälte es ihn doch nicht wenig, wenn er bedachte, daß er es doch ursprünglich selbst gewesen, der ihre Unschuld verführt hatte; denn dieser ersten Verführung rechnete er alle die Laster zu, in welche sie sich nun stürzen zu wollen schien.

Diese Betrachtung machte ihm nicht wenigen Kummer, bis Betty, die ältere Schwester, einige Zeit nachher so liebreich war, ihn durch einen Wink völlig zu heilen. Sie erzählte ihm nämlich, daß ein gewisser Wilhelm Barnes und nicht er der erste Verführer ihrer Schwester Molly gewesen sei, und daß das kleine Kind, das er bisher so gewiß für sein eigenes gehalten hätte, nach aller Wahrscheinlichkeit wenigstens ebensogut berechtigt sein möchte, diesen Barnes Vater zu nennen.

Sobald Jones auf diese Spur gebracht war, verfolgte er sie begierig und war in sehr kurzer Zeit hinlänglich überzeugt, daß das Mädchen ihm die Wahrheit gesagt hatte, nicht bloß aus dem Geständnisse des Kerls, sondern aus Mollys selbsteigenem Geständnis.

Dieser Wilhelm Barnes war ein Weiberheld fürs Kirchspiel und hatte in seiner Art ebensoviele Siegeszeichen aufzuweisen als irgend ein Fähndrich oder sonstiges Kraftgenie in den Städten und Garnisonen. Er hatte wirklich verschiedene Frauenspersonen bereits bis zur äußersten Liederlichkeit heruntergebracht; einige gingen seinetwegen in welker Verschmachtung umher, und auch die Ehre hatte er gehabt, daß er den gewaltsamen Tod eines armen Mädchens auf dem Gewissen hatte, die sich ersäuft, oder, was weit wahrscheinlicher war, die er selbst ins Wasser gestürzt hatte.

Unter andern Eroberungen solcher Art hatte dieser Kerl auch über das Herz der Betty Seegrim gesiegt. Seinen Liebeshandel hatte er lange vorher schon mit ihr getrieben, bevor Molly noch ein tüchtiger Gegenstand zu solchem Zeitvertreibe geworden war. Nachher aber hatte er sie aufgegeben und sich an ihre Schwester gemacht, bei der es ihm auch fast augenblicklich geglückt war. Nun hatte Wilhelm wirklich allein den Besitz ihrer Neigung, währenddessen Jones und Quadrat, beide fast gleich gut, nur ihrem Eigennutze und ihrem Hochmut zu Opfern dienten.

Hieraus war der unversöhnliche Haß entstanden, welchen wir vorhin in Bettys Gemüt wüten sahen, ob wir es gleich nicht eher für nötig hielten, die Ursache davon anzugeben, weil der Neid allein schon alle Wirkungen hervorbringen konnte, deren wir erwähnten.

Jones war durch den Besitz dieses Geheimnisses, in dem was Molly betraf, völlig beruhigt; in Ansehung Sophiens aber war er von diesem Gemütszustande weit entfernt. Vielmehr ward er von dem heftigsten Kummer gequält. Sein Herz war jetzt, wenn ich die Metapher brauchen mag, völlig geräumt, und Sophie nahm davon unbestrittenen Besitz. Er liebte sie mit unbegrenzter Leidenschaft und sah ganz deutlich die zärtlichen Empfindungen, welche sie für ihn hegte. Dennoch konnte diese Vergewisserung weder seine Verzweiflung über den Punkt der unfehlbaren Weigerung ihres Vaters, noch das Grausen mindern, welches ihn überfiel, wenn er an irgend ein niederträchtiges oder verräterisches Mittel sie sich anzueignen dachte.

Die Beleidigung, die er dadurch dem guten Junker Western zufügen würde, und der Kummer, der daraus dem würdigsten Herrn Alwerth erwachsen müßte, waren die Vorstellungen, welche ihn den Tag hindurch quälten und ihn des Nachts auf seinem Kopfkissen ängstigten. Sein Leben war ein beständiges Ringen zwischen Ehre und Liebe, welche wechselsweise über einander in seiner Seele siegten. Er entschloß sich oft, in Sophiens Abwesenheit ihres Vaters Haus zu verlassen und sie nicht wieder zu sehen, und eben so oft vergaß er in ihrer Gegenwart alle solche Entschließungen und nahm sich dann dagegen vor, sein Leben und alles was ihm noch teurer als dies war daran zu wagen, um zum Besitz seiner Sophie zu gelangen.

Dieser Kampf begann bald sehr starke und sichtbare Wirkungen hervorzubringen, denn er verlor alle seine natürliche Munterkeit und Lebhaftigkeit, und ward nicht nur melancholisch, wenn er allein, sondern auch niedergeschlagen und zerstreut, wenn er in Gesellschaft war; ja, wenn er auch, um mit Junker Westerns Laune zu stimmen, sich Gewalt anthat munter zu scheinen, so war der Zwang so fühlbar, daß er gerade dadurch den stärksten Beweis von demjenigen gegeben zu haben scheint, was er durch diesen Zwang eben zu verbergen suchte.

Es mag vielleicht eine Frage sein, ob die Kunst, die er anwendete, seine Leidenschaft zu verbergen, oder die Mittel, deren die ehrliche Natur sich bediente, sie zu offenbaren, ihn am meisten verrieten: denn während die Kunst ihn mehr als jemals gegen Sophie zurückhaltend machte und ihn abhielt, irgend eines seiner Gespräche an sie zu richten, ihn sogar die äußerste Sorgfalt lehrte, ihre Blicke zu vermeiden, war die Natur nicht weniger beschäftigt, seine Pläne zu vereiteln. Daher kam es denn, daß er bei ihrer Annäherung erblaßte, und wenn sich solche unerwartet fügte, zusammenfuhr. Wenn zufälligerweise seine Augen den ihrigen begegneten, schoß ihm das Blut in die Wangen, und sein Gesicht ward über und über scharlachrot. Wenn ihn die gewöhnlichste Höflichkeit einmal nötigte sie anzureden, zum Beispiel wenn er bei Tische auf ihre Gesundheit trinken mußte, so lief's gewiß nicht ohne Stammeln ab. Wenn er ihre Hand berührte, so zitterte die seinige, ja sogar sein ganzer Körper. Und wenn irgend das Gespräch auch nur noch so leise die Idee von Liebe anregte, so fehlte es selten, daß sich nicht ein unfreiwilliger Seufzer seiner Brust entstahl; und die Natur war wunderbar sinnreich, ihm dergleichen Zufälle tagtäglich in den Weg zu werfen.

Alle diese Symptome entgingen der Aufmerksamkeit des Junkers, aber nicht der von Sophie. Sie ward dieser Gemütsunruhe an Jones sehr bald gewahr und war über ihre Ursache gar nicht zweifelhaft, denn sie durfte solche nur mit demjenigen vergleichen, was in ihrem eigenen Busen vorging. Und dieses Vergleichen ist, wie ich dafür halte, jene Sympathie, die man so oft an Liebenden wahrgenommen hat und woraus es sich zur Genüge erklären lassen wird, warum sie so unendlich viel scharfsichtiger war als ihr Vater.

Jedoch, um die Wahrheit zu sagen, gibt es eine einfachere und näher liegende Methode, diese erstaunenswürdige Ueberlegenheit an Scharfsichtigkeit zu erklären, welche wir oft an einzelnen Menschen über das ganze übrige Menschengeschlecht wahrnehmen, und zwar eine Erklärung, die nicht nur in Liebesfällen, sondern in allen übrigen Stich hält. Denn woher kommt es, daß der Schelm fast durchgängig so schnell und scharfsichtig bei den Merkzeichen und Schlichen der Schelmerei ist, wodurch oft ein redlicher Mann von weit hellerem Verstande betrogen wird? Es herrscht doch gewiß keine allgemeine Sympathie unter den Schelmen, und sie haben doch auch nicht wie die Freimaurer ein allgemeines Erkennungszeichen? Die Sache steckt wirklich nur darin, daß sie einerlei Absicht im Kopfe haben und ihre Gedanken einerlei Richtung nehmen. Daher kann es uns nicht wundern, daß Sophie die deutlichen Merkmale der Liebe an Jones sah und Western nicht, wenn wir bedenken, daß die Idee von Liebe dem Vater niemals in den Kopf kam, seine Tochter hingegen zu dieser Zeit an gar nichts andres dachte.

Seitdem Sophie fest von der Leidenschaft überzeugt war, welche den armen Jones quälte und nicht minder gewiß war, daß sie selbst der Gegenstand dieser Leidenschaft sei, ward es ihr außerordentlich leicht, die wahre Ursache seines jetzigen Betragens zu entdecken. Dies vermehrte ihre Neigung zu ihm um ein großes, und erweckte in ihrem Herzen zwei der vorteilhaftesten Bewegungen, die nur ein Liebender in seiner Geliebten zu erwecken wünschen mag. Diese waren Hochachtung und Bedauern. Nun sollte ich doch glauben, die entsetzlichste Rigoristin müßte sie entschuldigen, daß sie einen Mann bedauerte, den sie ihretwegen so viel leiden sah, ebensowenig könnte diese Rigoristin sie darüber tadeln, daß sie einen Mann hochschätzte, der so sichtbarlich aus den redlichsten Ursachen strebte, eine Flamme in seinem Busen zu ersticken, welche, gleich dem berühmten spartanischen Diebstahl, an seinen eigenen Eingeweiden nagte. Daher seine Blödigkeit, seine Entfernung, seine Kälte und sein Stillschweigen seine eifrigsten, fleißigsten, wärmsten und beredtesten Sachwalter wurden und so heftig auf ihr zärtliches und sanftes Herz wirkten, daß sie bald alle die milden Empfindungen für ihn fühlte, welche in einer tugendhaften und erhabenen weiblichen Seele stattfinden können. – Kurz alles, was Hochachtung, Dankbarkeit und Mitleiden einer solchen Person gegen einen angenehmen Mann einflößen – in der That alles, was die reinste Delikatesse erlaubt – mit einem Wort – sie war in ihn verliebt bis über die Ohren.

Eines Tages begegnete sich dies junge Paar von ungefähr im Garten am Ende von zwei Gängen, welche beide auf den Kanal stießen, in welchem Jones ehemals fast ertrunken wäre, als er den Vogel wieder fangen wollte, den Sophie da verloren hatte.

Die letzte Zeit her hatte Sophie diese Gegend sehr fleißig besucht. Hier pflegte sie mit einer Mischung von Schmerz und Vergnügen über einen Zufall nachzudenken, der, so geringfügig er an und für sich selbst sein mochte, doch vermutlich den ersten Samen der Liebe ausgestreut hatte, die jetzt in ihrem Herzen zu solcher Reife gediehen war.

Hier also begegnete sich das junge Paar. Sie waren einander fast ganz nahe gekommen, ehe eines vom andern das geringste wahrgenommen hatte. Ein Zuschauer würde in beiden Gesichtern Zeichen genug von Verwirrung entdeckt haben. Sie fühlten aber selbst zu viel, um die geringste Beobachtung zu machen. Sobald als Jones sich ein wenig von seiner ersten Bestürzung erholt hatte, näherte er sich dem Fräulein mit den gewöhnlichen Begrüßungsformeln, welche sie auf eben die Art erwiderte, und ihre Unterredung begann ganz alltäglich über die Lieblichkeit und Schönheit des Morgens. Von da gingen sie über zu der Schönheit des Platzes, über welchen Jones in treffliche Lobsprüche ausbrach. Als sie an den Baum kamen, von dem er ehemals in den Kanal gepurzelt war, konnte Sophie nicht umhin, ihn an jenen Zufall zu erinnern, und sagte: »Ich sollte denken, Herr Jones, Sie müßten einen kleinen Schauder fühlen, wenn Sie das Wasser da sehen.« – »Ich versichre Ihnen, gnädiges Fräulein, die Betrübnis, die Sie über den Verlust Ihres kleinen Vogels fühlten, wird mir beständig der wichtigste Umstand in jener Begebenheit bleiben. Das arme kleine Tömchen! das ist der Ast, auf dem er saß. Wie konnte der kleine Narr so thöricht sein, aus dem Zustande der Seligkeit hinwegzufliegen, zu welchem ich die Ehre hatte ihm zu verhelfen? Sein Schicksal war eine gerechte Strafe für seine Undankbarkeit.« – »Auf mein Wort, Herr Jones,« sagte sie, »Ihre herzhafte Gefälligkeit hätte Ihnen um ein Haar ein ebenso hartes Schicksal zugezogen. Wirklich, das Andenken daran muß Ihnen rührend sein.« – »Wirklich, gnädiges Fräulein,« antwortete er, »wenn ich irgend Ursache habe, mich nicht mit Freuden daran zu erinnern, so ist's vielleicht deswegen, daß das Wasser nicht ein wenig tiefer war, wodurch ich manchem bittern Leiden entgangen wäre, welches mir das Schicksal noch scheint aufgehoben zu haben.« – »Pfui! Herr Jones,« erwiderte Sophie, »gewiß, das kann nicht Ihr Ernst sein! Diese affektierte Verachtung des Lebens ist bloß eine Aeußerung der Höflichkeit gegen mich. Sie möchten gerne die Verbindlichkeit verringern, die ich gegen Sie habe, daß Sie es zweimal für mich aufs Spiel setzten. Aber nehmen Sie sich fürs drittemal in acht!« Diese letzten Worte sagte sie mit einem unaussprechlich sanften Lächeln. Jones antwortete mit einem Seufzer: Er fürchte, die Warnung komme bereits zu spät. Und drauf, indem er sie zärtlich aber scharf ansah, sprach er: »O, gnädiges Fräulein Western, können Sie befehlen, daß ich leben soll? Können Sie, Sie mir so etwas Böses wünschen?« Sophie schlug hierbei die Augen zur Erde und antwortete mit einigem Stottern: »Gewiß, lieber Herr Jones, ich wünsche Ihnen nichts Böses!« – »O,« sagte Jones, »ich kenne Ihr himmlisches Gemüt zu gut. – Diese unendliche Güte, welche über alle Ihre übrigen Reize so weit erhaben ist.« – »Nein, lieber Jones,« antwortete sie, »da versteh' ich Sie nun nicht. – Ich kann nicht länger bleiben.« – »Ich – ich – ich will nicht verstanden sein,« rief er, »freilich unverständlich, man muß mich nicht verstehn, ich weiß selbst nicht, was ich sage. Da ich Sie hier so unerwartet antreffe – es hat mich aus aller Fassung gebracht. – Ums Himmels willen, verzeihen Sie mir es, wenn ich was gesagt habe, das Sie beleidigt – ich wollte das nicht – wahr haftig, ich wollte lieber sterben – ja der bloße Gedanke könnte mich töten!« – »Sie setzen mich in Erstaunen,« antwortete sie, »wie können Sie sich's nur einbilden, etwas gesagt zu haben, das mich beleidige?« – »Furcht, gnädiges Fräulein,« sagte er, »kann leicht unsinnig machen! und keine Furcht in der Welt ist so groß als die, welche ich fühle, Ihnen etwas Unangenehmes zu sagen. Wie kann ich also reden? O, sehen Sie mich nicht so ernsthaft an! Ein zorniger Blick von Ihnen wird mich töten. – Ich habe nichts sagen wollen. – Zürnen Sie mit meinen Augen oder zürnen Sie mit dieser Schönheit? – O was hab' ich gesagt? Verzeihen Sie mir, wenn ich zu viel sagte. Mein Herz floß über. Ich habe gegen meine Liebe aufs äußerste angekämpft und habe gestrebt, ein Fieber zu verbergen, das mein Inwendiges verzehrt und nächstens, wie ich hoffe, es mir unmöglich machen wird, Sie jemals wieder zu beleidigen.«

Hier fing unser Jones an zu zittern und zu beben, als ob ihn ein Anfall von kaltem Fieber zusammengeschüttelt hätte. Sophie, die sich in nicht viel bessern Umständen, als er selbst, befand, antwortete mit folgenden Worten: »Herr Jones, ich will mich nicht stellen, als ob ich Sie mißverstände; ich habe Sie wirklich nur zu gut verstanden, aber, ums Himmels willen! wenn Sie mir nur ein wenig gut sind, so lassen Sie mich so bald als möglich nach Hause eilen. Ich wünsche nur, daß meine Füße im stande sein mögen, mich dahin zu tragen.«

Jones, der kaum im stande war selbst aufrecht zu stehen, bot ihr seinen Arm an, den sie so gefällig war anzunehmen, ihn aber dabei bat, er möchte ihr jetzt von der Sache kein Wort weiter erwähnen. Er versprach Gehorsam und bestand bloß darauf, sie möchte ihm ein Geständnis verzeihn, welches ihm die Liebe wider seinen Willen entrissen hätte. Diese Verzeihung, sagte sie, würde er durch sein künftiges Betragen zu erhalten wissen. Solchergestalt ging dies junge Paar zitternd und strauchelnd fort und der Liebhaber wagte es nicht einmal, die Hand seiner Geliebten zu drücken, ob sie gleich in der seinigen eingeschlossen lag.

Sophie begab sich unmittelbar in ihr Zimmer, woselbst sie Jungfer Honoria und Hirschhornwasser zu ihrem Beistand kommen ließ. Das einzige, was der zerrütteten Seele des armen Jones zur Hilfe kam, war eine unangenehme Neuigkeit, welche, da sie einen Auftritt von verschiedener Natur von demjenigen eröffnet, womit der Leser sich einige Zeit her unterhalten hat, wir ihm im nächsten Kapitel mitteilen wollen.

Tom Jones

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