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DIE BERUFUNG NACH WEIMAR

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Inzwischen bahnten sich Ereignisse an, die meinem Leben und meiner Arbeit eine neue Wendung gaben.

Im Jahre 1901 hatte Wilhelm Ernst in Weimar als Nachfolger seines Großvaters, des Großherzogs Karl Alexander, den Thron bestiegen. Der junge Fürst war für die Bevölkerung von Sachsen-Weimar wie auch für ganz Deutschland ein unbeschriebenes Blatt. Als Leutnant der Potsdamer Garnison stand er völlig unter preußisch-militärischem Einfluß, dem die älteren regierenden Fürsten dreißig Jahre nach der Gründung des Deutschen Reiches immer noch mit gemischten Gefühlen gegenüberstanden. Zu Lebzeiten Karl Alexanders, der gerne daran erinnerte, daß er als Kind auf Goethes Knie gesessen hatte, kümmerte sich kein Mensch in Weimar oder gar in den intellektuellen Kreisen Deutschlands um den jungen Mann, der nun das schöne, aber schwere Erbe zweier außergewöhnlich ruhmvoller kultureller Epochen anzutreten hatte, der Regierungszeiten Karl Augusts und Karl Alexanders.

Der junge Großherzog Wilhelm Ernst (geboren 1876), der so plötzlich aus orthodoxem preußischem Militärmilieu nach Weimar, einem Zentrum universaler literarischer und künstlerischer Kultur, verpflanzt wurde, zeigte sich bei Hofe und vor der Bevölkerung nur in Uniform. Bei der Tafel führte er die deutsche Sprache ein an Stelle des traditionellen Französisch, auch die Menü-Karten wurden in Deutsch abgefaßt. Die eleganten, phantasievollen, kapriziösen Bezeichnungen für die Speisen, die ausgesuchte Genüsse versprachen, wurden durch pedantische, trockene Worte ersetzt. Ärgerliche Indizien, die einige Freunde Graf Kesslers, die dem Weimarer Hof angehörten, mit Unruhe erfüllten, so daß sie sich fragten, ob ein Bruch mit den großen Epochen der Tradition bevorstehe.

Auch in Berlin stellte man sich in den Kreisen der Gesellschaft wie auch in den Cafés, in denen Schriftsteller, Künstler, Journalisten verkehrten, die Frage, was in Weimar wohl geschehen würde. Alles wäre zweifellos ohne jede Konsequenz für mich geblieben, wenn sich nicht drei Menschen zusammengetan hätten mit der Absicht, die verantwortlichen Kreise in Weimar an die Bedeutung der Tradition zu erinnern und den jungen Fürsten auf die Möglichkeit hinzuweisen, die Tradition in würdiger Weise fortzusetzen.

Diese drei Menschen waren Elisabeth Förster-Nietzsche, Graf Werthern, der nach dem Tod seines Vaters das Haupt einer der angesehensten thüringischen Familien geworden war, und als jüngster Harry Graf Kessler. Ihr Gedanke war, eine neue, dritte Epoche weimarischer Kultur in die Wege zu leiten, in deren Mittelpunkt der »neue Stil« stehen sollte, dem ich mich verschrieben hatte. Elisabeth Förster-Nietzsche hatte dem Staatsminister Rothe, Harry Kessler dem Grafen Werthern, dem Schwager des Hofmarschalls General Palézieux, den Plan vorgetragen: die dritte Epoche sollte – in gehöriger Distanz zu den früheren – die Wiederbelebung des Kunsthandwerks wie der industriellen Kunst bringen und den Weg für einen architektonischen Stil und eine Ästhetik unserer Zeit frei machen. Sollte mich, dachte ich, das Schicksal nach Deutschland gerufen haben, um eine Aufgabe zu erfüllen, die für jene, die sie ins Auge gefaßt hatten, ebenso kühn war wie für mich vermessen?

Der Augenblick war günstig. Eine mächtige Grundwelle hatte das Interesse des deutschen Publikums für die neuen Kunstströmungen erweckt, die seit der Dresdner Ausstellung von 1897 ans Licht getreten waren, und die Künstler aller Kunstzweige sammelten sich unter der neuen Fahne. Die Kunstkritik hielt die Öffentlichkeit in Atem. In Darmstadt hatte der junge hessische Großherzog Ernst Ludwig einer Ausstellung seine hohe Protektion und seine finanzielle Unterstützung geliehen, die auf der »Mathildenhöhe« stattfand. Dort zeigten die vom Großherzog nach Darmstadt berufenen Künstler und Architekten Häuser und Inneneinrichtungen, die nach neuen künstlerischen Prinzipien geschaffen waren. Diese Ausstellung bedeutete nichts weniger als »ein Dokument deutscher Kunst«.

Es war wichtig, dem Großherzog von Sachsen-Weimar unser Programm zu unterbreiten und ihn zu überzeugen, daß die Folgen unserer Pläne dem Land Thüringen größte Vorteile und seiner Regierung hellen Glanz verschaffen würden.

Die verschiedenen Heimindustrien des Großherzogtums lagen darnieder, und die wenigen kunstgewerblichen Betriebe, die in einigen Dörfern bestanden, kämpften um ihre Existenz; die in den größeren Orten Jena, Eisenach, Weimar und Apolda waren ohne Führung und ohne jede Aussicht, gegen die besser ausgerüsteten und günstiger gelegenen deutschen Firmen aufzukommen, die sich zur Verführung des kaufkräftigen Publikums der Mitarbeit schöpferischer Künstler versichern konnten.

Paechter, der von den Weimarer Projekten nichts ahnte, übte einen immer stärkeren Druck auf Hirschwald aus, um die Lösung meines verhängnisvollen Vertrages zu erreichen. Ich mußte unter allen Umständen frei werden, um im Augenblick, in dem die Sondierungen in Weimar zu einem bestimmten Punkt gekommen waren, unbelastet dazustehen. Es kam der Moment, Paechter über die Vorbesprechungen zu orientieren. Ich tat es in einem der von ihm entdeckten kleinen Restaurants, in denen man nach seinem, des Epikureers Urteil besser und gepflegter bedient wurde als in den aufgedonnerten, bekannten Berliner Lokalen. Von diesem Tag an rastete der gute Mann nicht, bis er mir den von Hirschwald unterschriebenen Brief bringen konnte, der die Aufhebung unseres Vertrages bestätigte.

Im übrigen blieb mir nichts als zu warten. Es gibt Augenblicke im Leben, in denen man sich dem Lauf der Entwicklung überlassen und darauf verzichten muß, ihn zu beschleunigen. Für mich lautete die Frage: Wird mich das Schicksal nach Uccle zurückführen oder wird es mich in Deutschland festhalten?

Ich mußte nicht lange warten. Harry Kessler ging mit solch zielbewußtem Eifer vor, daß er die Gleichgültigkeit und Vorsicht der Hofleute überwand, die vor jeder Verantwortung zurückschrecken und zu warten pflegen, bis der Souverän, dem sie mehr dienen, als daß sie ihn beraten, ihnen das Wort erteilt.

Hier jedoch handelte es sich um ein Projekt von größter Bedeutung, dem ein unerfahrener, nur militärisch vorbereiteter Fürst zustimmen sollte: ein neues Beispiel zu geben durch die Pflege einer kunstgewerblichen und architektonischen Kultur, der erfahrungsgemäß Malerei und Bildhauerei folgen, Kunstzweige, denen Großherzog Karl Alexander nur dilettantisches Interesse entgegengebracht hatte.

Nach verhältnismäßig kurzer Zeit wurde ich offiziell von Staatsminister Rothe und Hofmarschall General Palézieux zu einer Unterredung in einem der großen Hotels am Potsdamer Platz aufgefordert. Es sollte mein Programm besprochen und die Aufgabe umschrieben werden, die ich am Hof des Großherzogs und in Weimar zu erfüllen hatte.

Elisabeth Förster-Nietzsche hatte den beiden Herren offenbar nur Lobenswertes über mich gesagt; sie war vom Wunsch beseelt, die Atmosphäre der Mittelmäßigkeit zu verscheuchen, die Weimar seit dem Verschwinden Liszts erstickte. Sie träumte von einem »dritten Weimar«, in dessen Zentrum das »Nietzsche-Archiv« stehen sollte, dem sie alle Dokumente aus Nietzsches Leben und die gesamten Einkünfte aus seinen Werken überließ.

Die beiden Exzellenzen und ich saßen an einem großen Tisch im Salon des von ihnen bestimmten Berliner Hotels in einem Erker. Sie hörten mit gelegentlichen kurzen Unterbrechungen, die nebensächlichen Fragen galten, meine Darlegungen aufmerksam an. Ich sprach vom Kunsthandwerk und den kunstindustriellen Betrieben des Großherzogtums und von den zu erwartenden Aufträgen meiner Privatkundschaft, von der Einrichtung eines »Kunstgewerblichen Seminars«, das heißt von Ateliers, wo die Kunstgewerbler und Fabrikanten neue Modelle sehen und verarbeiten und wo sie Ratschläge zur Verbesserung der eigenen Produkte erhalten konnten, von der Möglichkeit, Werkstattleiter, Modelleure und Zeichner unter meiner Leitung an neuen Modellen arbeiten zu lassen. Ich erklärte, wie unter meiner ständigen Mitarbeit das handwerkliche und ästhetische Niveau der in den zerstreuten armen Dörfern verbreiteten Heimindustrie gehoben werden könnte, was den Absatz der damals in Mißkredit geratenen Erzeugnisse auf den Märkten und Messen zweifellos rasch steigern würde. Im Zusammenhang mit solchen Versuchswerkstätten, die unter dem Protektorat des Großherzogs einzurichten seien, sah ich die erste Etappe der neuen Aufgabe, mit der mich der Fürst betrauen sollte.

Als zweite Etappe schlug ich die Einrichtung eines »Aufsichtsamtes« zur Kontrolle von Geschmacks- und Produktionsfragen für die Gebiete des Kunsthandwerks und der Kunstindustrie vor. Als Inhaber dieses Postens sollte ich den Großherzog und die Regierung auch in Fragen der bildenden Künste beraten. Für den Augenblick sollten indessen meine Vorschläge weder den Großherzog noch mich zu weiterem verpflichten. Im Geiste sah ich, daß meine Vorschläge erheblich darüber hinausführten: zur vollständigen Erfüllung meiner Mission, in voller Freiheit und Unabhängigkeit alle meine Kräfte auf die Verwirklichung eines »neuen Stils« zu richten.

Während meines Vortrages glaubte ich, auf der spiegelglatten Oberfläche des Tisches, an dem wir saßen, die Figuren einer imaginären Schachpartie zu sehen, die ich gewinnen wollte. Als ich endete, hoben die beiden Exzellenzen die Augen, die auf mich gerichtet waren, und tauschten einen Blick, der Zustimmung zu bedeuten schien. Minister Rothe brach das Schweigen und gab mir freundlich lächelnd zu verstehen, daß ich bald über die Meinung und eventuelle Verfügungen Seiner Königlichen Hoheit des Großherzogs unterrichtet werden würde. Sie selbst würden dem Fürsten Vortrag halten. Alles hatte sich in einer ungezwungenen Atmosphäre gegenseitiger Achtung und ohne jedes Zeremoniell abgespielt.


Maria van de Velde, die Frau Henry van de Veldes

Einige Tage nach diesem Gespräch erreichten mich am gleichen Morgen zwei Telegramme. Das eine kam aus Weimar mit der Einladung des Großherzogs zum Diner am kommenden Abend, das andere aus Antwerpen mit der Nachricht, daß mein Vater gestorben sei und daß das Begräbnis am übernächsten Tag stattfinde.

In die Erinnerungen an diesen für mich schicksalsmäßig so wichtigen Abend des 21. Dezember 1901 sind die Gedanken an meinen toten Vater eingewoben. Noch heute empfinde ich tiefen Schmerz, daß er nicht mehr die Entwicklung meiner Laufbahn und die offizielle Bestätigung meiner Mission erfahren durfte. Es hätte gewiß seinen Kummer über den tragischen Tod von drei seiner fünf Söhne gemildert. Seit dem Tod meiner Mutter fühlte er sich einsam, wenn auch meine Schwester Jeanne und ihr Mann, der meinem Vater herzlich verbunden war, mit liebevoller Aufmerksamkeit sich um ihn kümmerten. Wie gerne hätten Maria, die meinen Vater sehr liebte, und ich zu seiner Freude beigetragen!

Mein Bericht über diese Periode wird eines Tages mit Hilfe von Harrys Aufzeichnungen wesentlich ergänzt werden können. Wir hatten uns eine hoffnungslose Aufgabe gestellt, als wir versuchten, den Großherzog, einen von Natur aus mittelmäßigen Menschen, der einen nahezu rohen Charakter besaß, trotz allem zu einer historischen Gestalt zu machen. Heute bin ich überzeugt, daß es bei vielen historischen Gestalten nicht anders steht; sie gehen gegen besseres Wissen und Gewissen ins Buch der Geschichte ein. In Weimar begann ein Drama, über das sich wenige Zeugen dieser Epoche bewußt wurden und dessen Unvermeidlichkeit erst dann in klarem Licht erschien, als alle Illusionen geschwunden waren.

Harry Kesslers fragmentarische Aufzeichnungen, die mir seine Schwester, Wilma de Brion, zugänglich gemacht hat, sind so anschaulich, daß ich es mir nicht versagen kann, sie meinen Lesern mitzuteilen:

»21. Dezember 1901:

Früh nach Weimar gefahren. Dort van de Velde. Mit ihm Besuch bei Frau Förster-Nietzsche, bei Exzellenz Rothe, von Palézieux etc. Rothe schlug vor, der Großherzog sollte van de Velde mit dem ganz allgemein gehaltenen Auftrag berufen, das Gewerbe und Kunstgewerbe im Lande zu heben und zu beraten. Gehalt 6000 Mark. Von einem Darlehen des Großherzogs zum Bau eines Institutes will er nichts wissen, um die Sache nicht zu komplizieren! Van de Velde schlug vor, er wolle das Geld selber aufbringen, wenn ihm in Weimar wenigstens ein Terrain unentgeltlich zugesichert werde. Im übrigen machte Rothe noch alles abhängig von der noch nicht erfolgten Entschließung des Großherzogs. Um sieben Uhr Diner beim Großherzog. Diesmal in den Prunkräumen der ersten Etage.

Dort die Erbgroßherzogin, die beiden Gräfinnen Bodmer, von Palézieux, Rothe, von Egloffstein, von Schlieffen, Graf Otto Werthern, ein Oberleutnant Müller aus Südafrika, ein Hauptmann Fliesbert aus China und einige andere. Ich saß zwischen Müller und Egloffstein; rechts neben Müller der Großherzog, van de Velde neben der Erbgroßherzogin. Nach Tisch, beim ›Cercle‹ kam die Erbgroßherzogin gleich auf mich zu und sagte mir, ihr Tischnachbar wäre ihr sehr angenehm gewesen, ›il cause‹ und wäre sehr amüsant. Die Erbgroßherzogin ging bald zurück, und wir gingen hinauf in die Zimmer des Großherzogs. Dieser sprach zuerst fast eine Stunde mit van de Velde allein in einer Ecke. Dann kam er bald zu mir und fragte mich, wie die Sache mit Krefeld (Direktor Deneken) sei. Ich sagte ihm, was ich wußte. Darauf er ganz betroffen: ›Ja, was wird dann aus uns in Weimar?‹ Ich erwiderte: ›Das haben Königliche Hoheit ja ganz in der Hand. Van de Velde hält sich an Weimar vorläufig noch gebunden. Königliche Hoheit brauchen ihm nur den bestimmten Vorschlag unter den heute bei Minister Rothe besprochenen Bedingungen zu machen und van de Velde wird sofort ja sagen.‹


Schloß Belvedere, Weimar

Der Großherzog meinte, das würde er gern tun. Darauf ich: ›Soll ich van de Velde vielleicht dazu herholen?‹ ›Ja, bitte!‹ Ich ging darauf auf van de Velde zu, der im Gespräch war mit jemandem, den Rücken gekehrt, faßte ihn an und drehte ihn um, dem Großherzog zu. Der Großherzog streckte ihm unter verlegenen Worten die Hand entgegen, und die Sache war gemacht. Nachher, bis halb ein Uhr mit Werthern und van de Velde im Hotel ›Erbprinz‹ gesessen.«

Harry Kessler notiert in seinem Journal unter dem Datum des folgenden Tages einen Abschiedsbesuch bei Frau Förster-Nietzsche, die wir als erste von dem Ereignis in Kenntnis setzten, und unsere Aufwartung bei der Großherzoginmutter in Schloß Belvedere.

Eine Allee von mächtigen, mehr als hundertjährigen Kastanienbäumen verbindet Weimar mit dem Schloß. Auf halbem Weg öffnet sich der Blick auf die weite hügelige Ebene; hier beginnt der Anstieg zum Plateau, auf dem das Schloß steht. Oberstallmeister Graf von Finckenstein kutschierte persönlich. Schon bald sah man wie durch einen dichten Schleier, der vom Geäst der mit ein wenig Schnee bedeckten Bäume gebildet wurde, die kadmiumgelbe Fassade des in italienischem Barock erbauten Schlosses. Im weiten Park befindet sich das Gartentheater, für das Goethe einige Stücke geschrieben hat, die er selbst dort zur Aufführung brachte. Hier fühlt man sich dem ruhmreichen historischen Weimar näher als im Stadtpalais. Die Großherzoginmutter empfing uns mit betonter Herzlichkeit. Beim Tee erzählte sie uns ungezwungen von ihrem Leben in den Frühlings- und Sommermonaten. Dieses Jahr hatte sich ihre Übersiedlung nach ihrem Winterquartier Rom verzögert, von wo aus sie verhältnismäßig bald zurückzukehren gedachte. Sie erklärte sich mit Vergnügen bereit, vom Frühling an zu meiner Verfügung zu sein, um möglichst rasch die Verbindungen zu den Kunsthandwerkern und den Vertretern der Kunstindustrie herzustellen.

Sie hätte uns noch lange bei sich behalten, wenn ich nicht dem Grafen von Finckenstein und Harry Kessler zugeflüstert hätte, daß ich unbedingt in einer halben Stunde am Bahnhof sein müsse. Dieser plötzliche Aufbruch war ein Verstoß gegen die Etikette, die vorschreibt, daß die Fürstin das Zeichen zur Beendigung eines Gespräches oder Besuches gibt. Ich hatte niemand erzählt, welches tragische Zusammentreffen mich zwang, den Abendschnellzug Berlin-Frankfurt zu nehmen, um rechtzeitig in Antwerpen anzukommen. Kessler instruierte den Oberstallmeister, und ich verabschiedete mich von meiner Gastgeberin, die über mein vorschriftswidriges Verhalten verstimmt war. Mir war die grundlose und grobe Kränkung der Großherzoginmutter, die sich mir gegenüber so entgegenkommend und liebenswürdig gezeigt hatte, unendlich peinlich.

Graf Finckenstein übernahm es, mich noch am gleichen Abend bei der Großherzoginmutter zu entschuldigen. Für mich war es eine harte Prüfung, den Schmerz über den Tod meines Vaters während der zwei Tage zu unterdrücken, die mich an Weimar und an einen Fürsten binden sollten, über dessen Charakter niemand etwas ahnte. Wenn ich damals schon die Prinzessin Reuß, die Schwester des Vaters Wilhelm Ernsts gekannt hätte, so hätte sie mich vor dieser raschen Entscheidung gewarnt, die einen so tiefen Einfluß auf mein Schicksal und das der Meinen haben sollte.

Der Leser mag sich vorstellen, in welchem Zustand ich in Antwerpen ankam. Ich fühlte mich wie ein plötzlich erwachender Nachtwandler vor dem Sarg meines Vaters, den die Nachricht über die Entscheidung in Weimar tief befriedigt hätte. Und wie wünschte ich selbst, ihm meine Dankbarkeit für seine Güte zu bezeigen, mit der er materielle Opfer auf sich genommen hatte, damit ich in aller Unabhängigkeit bis zum Augenblick meiner Hochzeit meinen Weg gehen konnte.

Maria gegenüber empfand ich Skrupel, daß ich die für sie und unsere Kinder so wichtige Entscheidung allein getroffen hatte. Harry hatte am Morgen seiner Rückkehr nach Berlin – zur gleichen Stunde, zu der ich dem Begräbnis meines Vaters beiwohnte – Maria über alles unterrichtet. Mit der gleichen Entschlossenheit, die sie seit unserer Verlobung stets bewiesen hatte, stimmte sie dem Opfer zu, welches das Schicksal von mir forderte: dem endgültigen Verzicht auf das Haus »Bloemenwerf« und auf unsere Freunde in Belgien.

Es stand uns die Lösung einer Reihe von großen Schwierigkeiten bevor. Ich sage »uns«, weil Maria an all diesen Problemen lebhaften Anteil nahm und weil sie viel dazu beitrug, die Lage zu entwirren: einen Aufenthalt abzubrechen, der von der Berliner Gesellschaft mit so viel Interesse und Wohlwollen begrüßt worden war, und vor allem den Vertrag mit Hirschwald aufzulösen, bevor die sensationelle Neuigkeit meiner Berufung nach Weimar bekanntgegeben werden konnte. Aus diesem Grund hatte ich vom Großherzog von Sachsen-Weimar einen Aufschub von wenigen Monaten erbeten.

Paechter gelang es rasch, von Hirschwald die Einwilligung zu einer gütlichen Trennung zu erhalten. Viele, scheinbar widersprechende Gründe veranlaßten Hirschwald zu dieser Entscheidung: der fanatische Antisemitismus Karl Ernst Osthaus’; die Gefahr, die Kundschaft aus den Kreisen der Aristokratie und der hohen Beamtenschaft des Reiches zu verlieren, die auf meiner Seite standen, und die Furcht, sich zu sehr in einer künstlerischen Richtung vorgewagt zu haben, welcher der Kaiser ablehnend gegenüberstand. Paechter hoffte, daß Weimar für uns ein sichererer Hafen würde als Berlin, wo – wie er in seinem saftigen Berliner Dialekt sagte – der Künstler wie ein Fisch behandelt werde, dessen gutes Fleisch man genießt und ebenso rasch vergißt; am nächsten Tag verzehrt man den nächsten Fisch.

Bevor wir Berlin verließen, hatten wir noch viele gesellschaftliche Verpflichtungen zu erfüllen und vor allem von vielen Freunden Abschied zu nehmen. Das Abschiedsessen, das wir Maximilian Harden, Walther Rathenau und Samuel Sänger gaben, dem eifrigen Mitarbeiter der unabhängigen Zeitschrift »Die Neue Rundschau«, der später Marias jüngere Schwester, die Schülerin des Geigers Eugène Ysaÿe, heiratete, erhielt eine besondere Bedeutung. Harden wollte ich den Dank für die Unterstützung abstatten, die er meiner Sache in seiner Zeitschrift »Die Zukunft« geliehen hatte, und zu Rathenau hatte sich seit meinen Vorträgen im Hause Cornelia Richters eine freundschaftliche Beziehung entwickelt. Gegen Ende der Mahlzeit waren unsere Geister vom lebhaften Gedankenaustausch, von den ausgezeichneten Speisen und dem guten Wein erhitzt. Als Maria die Tafel aufgehoben hatte und wir uns in den Salon begaben, sagte ich zu Harden: »Könnte ich nur einmal wie Sie, mein lieber Freund, in einer Festung oder einem Gefängnis in Ruhe leben und mich sammeln, um die Entdeckung zu überdenken, zu der mich gerade eben unser Gespräch geführt hat.«

Wir saßen um den Tisch, Maria füllte unsere Kaffeetassen und Likörgläser. Harden nahm das Gespräch wieder auf und wendete sich an Rathenau und Sänger: »Van de Velde hat ein so großes Bedürfnis nach Ruhe, daß er bereit zu sein scheint, sich mit radikalen Mitteln den Verpflichtungen zu entziehen, die ihn hindern, über eine eben gemachte Entdeckung nachzudenken. Er beneidet mich um die Methode, die ich anzuwenden pflege: das Verbrechen der Majestätsbeleidigung.«

Es verstand sich von selbst, daß ich nähere Erklärungen schuldig war. Maria wollte gehen, um uns »unter Männern« allein zu lassen; sie blieb stehen, um die neue Wahrheit zu erfahren, die mir aufgegangen war. Im Laufe unseres Gesprächs über die Fragen vernunftgemäßer Gestaltung war ich mir darüber klargeworden, daß die Entwicklung der von den Architekten und Kunsthandwerkern verwendeten Materialien seit der Antike in einer einzigen Richtung erfolgt: in der Richtung einer fortschreitenden Entmaterialisierung und Verringerung ihrer Schwere. Ich erinnerte an einige Beispiele. An die Entwicklung des Steines, die in der Gotik zu einer völligen Entmaterialisierung führt, an mittelalterliche Schmiedearbeiten, an das Filigran orientalischen Schmuckes, an venezianisches Glas, persische Teppiche und an Brüsseler Spitzen. Harden riß ein Blatt von seinem unvermeidlichen Notizblock, notierte den wesentlichen Inhalt meiner Worte und ließ sie von den Anwesenden unterschreiben. Dieses Blatt ist das erste Zeugnis einer Beobachtung, der alle Anwesenden in einer Atmosphäre von Begeisterung und guter Laune kapitale Bedeutung beimaßen. Ich selbst wünschte sechs Monate Ferien, um über die Entdeckung zu meditieren und ein Manuskript auszuarbeiten, das Harden zur Verfügung gestellt werden sollte.

In Berlin vollendete ich noch die letzten Zeichnungen und Modelle für die Einrichtung von Osthaus’ Folkwang-Museum. Ich versuchte, Profile zu entwerfen, die zu den Balken und zum Metallgerüst des Gebäudes paßten. Mir schwebte dabei eine enge Zusammenarbeit von Architekt und Ingenieur vor. Es waren für die kleinen isolierten oder in Bündeln zusammengefaßten Stützbalken neuartige Profile zu schaffen, die mit der Konstruktion aufs engste zusammengingen. Die entstehenden Kurven und Profile waren ebenso frei von jedem dekorativen Hintergedanken wie die organisch entstandenen Kapitelle des dorischen oder ionischen Stils. Ich hatte ein Problem zu lösen, das in der Natur durch das Verhältnis von Skelett und Fleisch vorgebildet ist. Von hier aus gesehen, beantwortet sich die Frage nach der Verkleidung eines Metallgerüstes in gesunder und normaler Weise.

Meine Jahre in Weimar

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