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Herbert Beyertz


Herbert Beyertz • Magaloun


Herbert Beyertz


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genfedern verliert, soll er dann ruhiger werden…

Singvogelrufe mischen sich besänftigend hinein, ver- nehmlicher stets mit der Dämmerung – Dämmerung wandernder Wolken, die nicht lange währen kann.

Merkwürdig die Schwalben! Wo auf dem Lavaweg die Gänse lagern, tummeln sie sich und sitzen auch ein- mal nieder, als wären sie hier wie die Graugefiederten zu haus. Von ihren Federn wird ihnen eine plötzlich zum Spielzeug. Dicht überm Boden, mit bewundernswerten Zirkelschlägen, setzen sie der Feder nach. Nicht dass sie sie ernsthaft erbeuten wollten, denn dann hätte man sie längst davongetragen! Als aber die Feder endlich zur Ruhe kommt, ist auch die mittägliche Helligkeit wie eine Ernüchterung wieder da und sind die Rauchschwal- ben verschwunden. Folgen sie den Wolken – nutzen sie die Wolken, um Erdenkindern ihre zärtliche Botschaft zu bringen, und werden wir diese Noten des Himmels nun auch zu spielen verstehen?


tentörchen: „Sind wir heute auf dem Damm? Oder –

perdu dans le forêt?“

Sie hatte schon den asphaltierten Weg in Richtung des südlichen Hochwaldes eingeschlagen, als ich sie ein- holte und wir uns einer Koppel mit zwei rappendunklen Pferden näherten.

„Das sind herrliche Tiere! Wem gehören die?“

Ich selbst kannte den Besitzer nicht, der etwas abseits vom Dorf wohnte, kinderlos seit vierzig Jahren mit einer Frau aus wallonischem Adel. Wie Philemon und Baucis – hörte ich Richard, Josts Vetter, erzählen, der mir zweimal im Jahr seine beiden kaukasischen Hunde bringt.

„Hast du schon von Philemon und Baucis gehört, Magaloun?“

„Nein. Oder nur ungefähr… Ein Bild von Rembrandt.“

„Genau! Das Paar einer dreissigjährigen unverletz- baren Zweisamkeit, dem schliesslich ein Besuch der Himmlischen zu Teil wird.“

„Ich habe das Bild in Amerika in einer Galerie gese- hen. Mein Gott, es war nicht mehr viel darauf zu erken- nen, es muss mit der Zeit furchtbar nachgedunkelt sein.“

„I wo, Magaloun! Und wenn schon: sollte der Meister es nicht vorausgesehen haben – Rembrandt, den die Amsterdamer die Eule nannten? Einige der von ihm Portätierten müssen sich geradezu gefürchtet haben, sich in seinen Bildern wiederzufinden.“

Am Zaun blieben wir eine Weile stehen, die Rösser kamen kauend auf uns zugeschritten. Magaloun tät- schelte dem ersten den glänzenden Hals. Darauf zückte sie ihr Handy und, nach einigem Drücken:


„Gott sei Dank, noch keine Mails.“

„Wenn mich nicht alles täuscht, habe ich auf einem dieser edlen Rösser letzthin die Tierärztin gesehen, als ich mit zwei Hunden, die ich hin und wieder einige Wochen zu betreuen habe, durch ein Waldtal zog.“

„Du meinst Leslie Kaper? Das kann nicht sein, sie ist doch… Du musst dich getäuscht haben.“

„Es war allerdings schon dämmrig. Sonst wüsstest du doch auch von den Besitzern…“

„Von Philemon und Baucis? Ich kenne nur das Bild der Eule.“ Sie lachte, einen Moment berührten sich un- sere Hände.

„Symons van Porst ist sicher ein grosser Liebhaber der niederländischen Kunst: denke ich nur an meinen Besuch in seinem Turm vor zwei Jahren. Was wird der erst in seiner Villa am Rhein für Schätze bergen.“

Sie nickte nur, ihre linke Hand näherte sich den Nüs- tern des Pferdes, das noch im Kauen schnupperte.

„Und mit dem Denkmal in den Eifel-Ardennen für Sam und Ronnie hat er sich ja auch selbst ein Denkmal gesetzt.“

Verwundert blickte sie hoch, wandte sich mir voll zu:

„Wie meinst du das?“

„Ein Zauberkünstler, Magaloun! Mit der einen Hand lässt er Ronnie und Sam verschwinden, mit der andern holt er sie, in Stein geformt, wieder hervor.“

Die beiden Pferde, drei Schritt vor uns am Zaun, die Ohren vorgestellt, und – wie in Fechterhaltung vor mir Magaloun. Ihre slawisch runden Wangen rundeten sich eine Spur mehr, ohne doch schon ein Lächeln zu bedeuten.


„Aha, so ist das. Leslie Kaper meinte übrigens, dich

bei der Denkmal-Enthüllung gesehen zu haben, aber hinter Leuten versteckt.“

Einen Fussbreit ihr näher rückend: „Das ist noch we- niger möglich, das kann höchstens der Andere gewesen sein.“

„Der Andere? Ja, der Jonah!“ Da küssten wir uns.


Botschaft. Seinen Namen mag ich nicht in den Mund

nehmen, nennen wir in Sphinx.

Sphinx – älter als Dodi – war reich vom Öl, das am Persischen Golf gefördert wird. Er lud mich auf seine Yacht am Mittelmeer ein, warum ich zusagte, das kann nur meine Mutter Anna verstehen. Darum nicht mehr als dies: Ich war Gefangene einen Sommer lang dieses kranken Scheichs. Adam verdanke ich meine Befreiung. Staune nur, es gibt eben auch diesen Adam, den du, aus welchen Gründen immer, so wenig zu schätzen weisst. Oder er muss sich doch sehr verändert haben, Leslie Kaper deutete es wenigstens an.

Als ich, noch unfähig meinen Beruf als Stewardess wieder aufzunehmen, ein halbes Jahr bei Mutter und ihrem liebenswerten Japaner verlebte, machte ich öfters Ausflüge durch Ardennen und Eifel, allein, im geleasten Wagen. Ich glaube, ich lernte auf diese Weise deine wei- tere Heimat kaum weniger gut kennen als du selbst. Es waren das Fahrten einer Rekonvaleszentin – stille Fahr- ten, jeden Kontakt vermeidend, der über einen small talk hinaus gehen könnte. Ich war wie ein Boot, das durch ein Wunder nicht zerbrochen war und sich nun von einem unsichtbaren Steuermann geführt wusste. Ich besuchte alle Maare, auch die Kapellen, von denen es so viele in der Eifel gibt. Am Dürren Maar, auf meiner ersten Fahrt, habe ich sogar einen Brief in ein Novenen- buch gelegt, einen Brief – dir kann ich so etwas sagen

– an die Muttergottes.“

Sie lächelte nun endlich wieder, wir standen auf, und so schloss sie:


„Der Brief müsste eigentlich noch in dem Buch zu

finden sein. Nun denn, am Ende meines langen Erho- lungsurlaubs fühlte ich mich besser, beinah geheilt, ich lernte Leslie kennen. Und im November schickte ich dir wieder ein Lebenszeichen…“

„Im Auftrag Zentas – war es so?“

Sie nickte. „Ein Lebenszeichen, nachdem ich in Frankfurt für meine Neueinstellung die nötigen Unter- lagen vorlegen konnte.“

Wir sprachen dann noch kurz am Gartentor miteinan- der, kaum länger als die Gänse bis zu uns brauchten, die so wachsamen wie geselligen.

„Sobald ich von Sri Lanka zurück und in Remagen bin, melde ich mich – in etwa zwei Wochen.“

„Von Symons van Porst aus.“

„Adam wird zwar noch in Amerika sein, am Yukon, vermute ich, aber Pieter ist auch ein Schatz. Der wiegt beinah eine Tonne, einer von denen, die sich vom Com- puter am liebsten nur noch zum Schlafen mal wegbewe- gen… Warum lächelst du nicht, kennst du ihn?“

„Nie gesehen. Sein jüngerer Bruder, Jan, soll, wie ich damals von Leslie hörte, ein bedauernswerter Junge sein. Drogen, und so…“

„Oh Pieter nicht, der ist der geborene Nachfolger von

Adams Imperium.“

„Braucht Mister Symons mit Achtundfünfzig einen Nachfolger?“ Ich fragte es mit einer gewissen Schärfe. Sie aber legte ihre Hand auf meinen Arm und schaute an mir vorbei auf die leise Schnatternden zu meinen Füssen. Da haben meine stummen Lippen noch einmal ihre Wange berührt.


„In Vierzehn Tagen,“ wiederholte sie mit einem bezau-

bernden Lächeln, „im Cassiusgarten, einverstanden?“ Das war der Abschied.


ich im Schnee des hinteren Hofes, den Arm voll Birken-

scheite für den kalt gewordenen Kachelofen.

Eine Woche später erzählte Nachbar Jost mir dann, weshalb ich seiner hier gedenke.

Als er seine Stelle in dem Internat endlich antreten konnte, wartete man vergebens auf ihn, er landete viel- mehr völlig verwirrt in einer Anstalt am Rhein. Jost, der ihn einige Male besuchen ging (eine Schwiegertochter war dort bedienstet), meinte, einen vernünftigen Grund seines Fernbleibens könne der nicht angeben, „das kannst du von ihm nicht mehr erwarten.“ Wer ihn aber fragte – Besucher oder Josts Schwiegertochter –, dann hatte Jean Henle stets nur die eine Antwort:

„Man hat mir meine Lieder gestohlen.“-

Was heisst das nun. Heisst das: grundlos überge- schnappt? Oder bezeichnet es vielmehr das genaue Elend für so manchen und weshalb er es nicht mehr aus- hält in seiner Haut?

So wie ein jeder seinen Stern hat, mit dem er geboren, und so lange er ihm folgt auch seinen Weg weiss: wenn es in ihm zu klingen anfängt, nennt er es vielleicht Glück, Lebenssinn, Liebe… Und er meint damit auch nur, was ein Menschenherz erst richtig und gesund schlagen lässt: „Mein Lied.“


in Ankara oder Damaskus. Sie ginge jetzt wieder an

Bord, würde in Köln-Wahn zum Frühstück landen und sich riesig freuen auf ein opulentes Mahl Ein Uhr Drei-

ßig im Garten.

Sie meinte hoffentlich Bonner Zeit! Ich versorgte die Tiere und brach auf. Reichlich Zeit besass ich, darum bog ich von der Ahrstrasse in ein Seitental ein. Ich gelangte über Serpentinen bis nahe an die „Teufelsley“, dieser beachtliche Quarzitfelsen, der nach einer tausend- jährigen Urkunde noch einen anderen, älteren Namen gehabt haben muss.

„Mein Vater hat eine Abschrift von der Urkunde be- sessen,“ erzählte mir ein älterer Förster, den ich ein paar- mal hier traf. „Zu entziffern war’s nicht – ist sogar Fachleuten darum angegangen. Seine Idee nämlich war,“ dabei lächelte der Förster, „Götterley wär ursprünglicher. Na ja.“-

Ein Felsenkliff von härtestem weissen Quarzit lag vor mir im Hochwald wie ein alter Riese vom Devonmeer. Bisweilen üben an ihm Bergsteiger aus dem Kölner Raum. Tafeln mit dem strengen Verbot, Gestein mit- gehen zu lassen, warnen Besucher schon um den Park- platz herum.

Der Riese Atlas war der Inhaber eines Gartens, in dem seine sieben Töchter Apfelbäume hüteten, deren Früchte Unsterblichkeit verliehen. Jedem Sterblichen war der Zutritt vom Vater untersagt. Den Besitzer des alles ver- steinernden Medusenhauptes aber, Perseus, schreckte das wenig: Sechs von ihnen bannte er eine Idee höher in die Sterne, Arethusa die Siebte in einen Berg Sizi-


liens. Auf ältesten syrakusanischen Münzen entdeckte

man übrigens Arethusa, umrankt von vier Delphinen. Und so auch versteinerte, was einmal „Götterley“ war,

zu „Teufelsley“. Doch eines Novalis Märchen endet so:

„In dem Augenblick, da die Wiedervereinigung mit der Geisterwelt sich ankündigt, geht auch die Versteinerung zu Ende.“

Auf dem Weg zum Wagen fällt mir im Heidekraut ein wunderschönes Stück von reinem Quarzit ins Auge. Schneller als ein Gewissen schlagen kann, habe ich das Wörterbuch-grosse Stück im Mantel geborgen. Man wird sich freuen, wird auf der langen Konsole in Mont- morency sicher ein Plätzchen für es finden. Von den Schildern kein Wort!


Das war er wohl – für viele, für Hunderte, die sich in

Düsseldorf seine Studenten rühmten: ein Hirt. Ein Hirt mit „Erdtelefon“ – das verstand damals jeder. Und so stehe ich vor dem genannten, kabelverbunden mit der Erde, einem Grasstück, natürlich längst verdorrt.

Einem dieser Schüler, dem ich meine Kindheitsgeige geschenkt hatte für ein Environment, das er plante, hatte ich ein Gedicht mit in den schwarzen Kasten gelegt:

„Town-ship“. In der Zweiten Rhapsodie, in memoriam Soledad Salinas, hat das Gedicht nun seinen Platz ge- funden... Ich habe nie mehr von diesem Wellmahrer Künstler gehört.

Im nächsten Raum bewundere ich einige prächtige Basaltklötze der Eifel. Quer liegend, trägt auf seiner Flanke einer den Abdruck eines Häschens, so benennt der Klotz sich denn auch „Hasenstein“. Zehn Schritt weiter die für einen „Hasentyp“ (das heisst für einen feingliedrigen Menschen à la Joseph) die berühmte Rückenstütze – aus Eisen, statt aus Leder, geformt.-

Das Zwanzigste Jahrhundert war (wer zweifelt, war nicht Zeuge) für etwas feingliedrigere Typen eine Fahrt zwischen Gog und Magog – oder zwischen Wüste und

Ölteppich, durch ein Bermuda-Dreieck sozusagen. Ein SOS senden, etwa als Briefe wie Jeremy Adamsky, bevor er in T eingeliefert wurde, das hiess, sie der Flaschenpost anvertrauen. Stets begleitete diesen „Golf- strom“ eine Endlos-Moräne von Schutt und Asche und frühzeitig aus dem Leben Gerissener. Aber kaum war die Moräne einmal ins Stocken geraten, reckten sich schon an allen Rändern in Glas, Beton und Plastik die


Herrlichkeiten mehrerer Babylons zum satelitengesät-

tigten Himmel.

„Und deswegen pflanze ich Bäume. Ich bin ja kein Gärtner, der Bäume pflanzt, weil Bäume schön sind. Nein, ich sage, die Bäume sind heute ja viel intelligenter als die Menschen. Wenn der Wind durch die Kronen geht, dann geht zugleich, was die leidenden Menschen an Substanz auf die Erde gebracht haben, durch sie hin. Das heisst, die Bäume nehmen das längst wahr. Und sie sind auch schon im Zustand des Leidens: Tiere, Bäume, alles ist entrechtet… Ich möchte diese Bäume und diese Tiere rechtsfähig machen.“


zur Universitätswiese. Da wäre unser alter Schamane

noch gern dabei gewesen! Dass wir aber überhaupt den Mut aufbringen, gegen die immer grossartigeren Mächte globalen Wahnsinns zu protestieren, hat er nicht mit den hundert Scherflein seines Lebens (eine von bei- den Enden abbrennende Kerze) dafür Beispiele genug gegeben?

Nach dem Essen im frugalen Garten: mit der Stewar- dess zur Uni-Wiese, eine beflügelnde Vorstellung! Nur mein Neufundländer schaut ziemlich verstört aus dem Fond seines Wagens. Würde ich ihm aber ein gutes Wort zurufen, würde er mich anbellen. So lasse ich meinen Mantel im Wagen, stecke Handy und Notizheft zu mir und nehme die U-Bahn zum Münsterplatz, gewisser- massen dem Gangseil eines eindrücklichen Museum- besuches folgend.


gekommen. Unter brauner Kappe äugelt ein kleines,

tiefliegendes, hochmütig blitzendes Augenpaar. Ich ge- selle mich also zu ihnen, suche zusätzlich auf seiner Tafel nach Information, und allmählich wird mir be- klommen.

Da lese ich etwas von Essenern und ihrem übelsten Ableger, von Einem, der sein bisschen Weisheit sich aus den Büchern wahrer Weisheit zusammengestohlen hat. Für jeden Judenmord seit Babylon sei der die geheime Adresse. Eine Wette will er mit dem Studenten mehrerer Semester in Griechisch und Hebräisch eingehen, dass er alles beweisen kann: „Hundert Dollar – abgemacht?“ Auf meine Zwischenfrage, woher er komme, wirft er mir etwas unverständlich Verächtliches hin.

„Wie bitte?“

„Von Nitschewo.“

Der Student lacht. Auch ich hätte vielleicht gelacht, wenn dieses bitterböse Gesicht nur eine Spur von Humor verraten hätte. Aber da war nichts – nitschewo. Mit einigen kräftigen Schlucken aus seiner Cola verschwand das letzte Pizzastück, und seine Äuglein funkeln noch genüsslich, als er weitere Tatsachen an-

führt.

Dieser Essener (er spuckt gegen seine eigene Tafel), der übrigens ein Enkel der Kleopatra, der alten Hure, war, sei selbst auch nur ein bezahltes, von Ägypten bezahltes Schwein gewesen. Gekreuzigt hat der sich schon gar nicht lassen, das wäre alles ägyptisches Lügentheater…

Was bedeutet ihm dieser Ischariot, das frage ich mich. Ist das sein Gott? Judas der Iskariote, Retter der Recht-


gläubigen und unser seltsamer Zeitgenosse sein Jünger:

Profet des Hasses gegen einen „Ungekreuzigten“ vor

Zweitausend Jahren?

Ein Uhr! Da verziehe ich mich unbelehrt. Doch auf dem Weg zum Cassius-Garten hätte ich beinah noch einmal kehrtgemacht. Warum hasst der so? Das hätte ich ihn jetzt gern gefragt. Im selben Moment kommt ein Radfahrer mir frontal entgegen – immerhin langsam genug, dass ich ausweichen kann. Blicke hat der nur für die Tische des Strassencafés linker Hand, die alle mit sonnebewussten Menschen besetzt sind. Plötzlich brüllt er los:

„Ich weiss, ich bin der wertloseste Mensch!!“

Ein Gesicht, so bleich wie schlafentzogen, verrät: etwas äusserst Bedeutsames hat er der Menge soeben offenbart. Und noch einmal, mit heftigem Deuten gegen die unfreiwilligen Zeugen: „Ich bin der wertloseste Mensch!“

Noch ein Profet! Profet eines Selbsthasses, nicht we- niger unerbittlich wie des Ostjuden vom Münsterplatz. Aber war es im Grunde nicht derselbe Hass?

Ich bin nicht noch einmal umgekehrt.


tens mir noch nicht passiert, drittens langweilig. Lang-

weilig? Jawohl: ohne Spannung klingt eine Gitarre nicht, ihre Saiten bleiben tonlos schlaff.

Ein Blick auf die Zeitansage im Handy ist natürlich erlaubt. Das Getränk mundet, vielleicht hole ich mir ein zweites Glas, inzwischen geht es auf Vierzehn Uhr zu.

„Tempus fugit – alle verwunden, die letzte tötet“, las man auf der grossen Standuhr im Haus meines Vaters. Das Läutwerk war dem Westminster-Schlag nachgebil- det, Jacques erzählte es jedem neuen Besucher aufs neue. Die Orange ist leider etwas unterkühlt, wir nähern uns Vierzehn Uhr Dreissig. Gewöhnlich in allen Kirch- dörfern der Eifel der Zeitpunkt einer Beerdigung. Plötz- lich erfasst mich brennende Sorge. Wenn ihr etwas zugestossen ist? Kaum eine Tagesschau, die nicht von einem Flugzeugabsturz zu berichten weiss. Rufe ich Re- magen an? Nicht im Handy, wohl im Notizbuch war die Nummer von Adams Villa anlässlich Magalouns Be- such vermerkt. Ich wähle die Nummer, eine männliche Stimme, ziemlich verschlafen, lässt sich vernehmen:

„Ja – was?“

„Entschuldigung – Frau Angelov, wir sind auf Mittag verabredet. Ist sie eventuell schon gestern gelandet? Ich dachte...“ Da schnarrt mir ins Ohr: „Und ich denke, Sie haben einen Namen.“

Ich schlucke ein paarmal, bemüht, keine Gereiztheit zu zeigen, zugleich besorgt wie ein Dessident: wem gebe ich da meinen Namen? Der Kerl kann günstigen- falls einer von Symons van Porsts Söhnen sein. Hatte nicht Magaloun sich stets ein wenig verlegen über ihre


Gastgeber geäussert? Ich setze wieder an und sage, als

hätte ich die Namensfrage überhört:

„Ich dachte nämlich…“ Aber sofort wieder unterbro- chen:

„Das Denken – wenn Sie schon kein Pferd sind –

sollte man seinem Computer überlassen.“

Und weg ist er. Und unmittelbar darauf fibriert das Handy in meiner Hand. Erschrocken lasse ich es auf den Tisch fallen. Es wieder ergreifend, höre ich ein kräftiges

„So doch!“, das mir nicht gelten kann. Aber jetzt, nach zweimaligem Drücken, lese ich eine Mail.

Ich übertrage diese lange Mail, sie ist es wert, ins Log- buch, und in Schönschrift.


geben – eine Spritze davon hätte einen ins Land der Se-

ligen befördert! Die Verbindung mit dem Schwefel hat es teilweise wieder neutralisiert. Nur einige Passagiere klagen noch über Brechreiz und Benommenheit.

Unsere Maschine bleibt vorerst am Boden. Der Ge- stank war wirklich infernalisch. Die meisten Passagiere werden noch heute Abend nach Deutschland geflogen. Die Mannschaft darf vorerst Wien geniessen – wie lange, und wann wir wieder eingesetzt werden, weiss man in dieser Zeit ja nie. Unser Erster hat etwas von Australien gehört – eine Mutmassung, weiter nichts. Alles Liebe, Magaloun.


Mahnmale dieser Art gehören nicht von Dr. Labalue

mir zugedachten Aufträgen. Hein van Vlodrop, ein alter Herr, den Robert Schuman seinen Freund nannte, wurde dieses Europa der Gräberfelder von Atlantikküste bis Wolgastrand, von Nordsee bis Mittelmeer zur Lebens- aufgabe. So viel ich erinnere und hier auch bestätigt finde: die Zahl der Gefallenen beider Kriege steht im genauen Verhältnis von Eins zu Drei – es dürfte für Deutschland die Regel sein. Frauennamen darunter ab

1944, Bombenopfer eines nahezu „totalen Krieges“. Am Markt Tische und Stühle vor jedem Restaurant

oder Café. Nach einem Rundgang finde ich noch einen Tisch unbesetzt und bestelle bei der sehr jungen Kell- nerin im Dirndl-Kleid ein Kännchen Schokolade. Nun kann ich die Fortsetzung, den Schluss für Annie in Montmorency auf einer Bildpostkarte schreiben – auf Moby Dick, dem Ausflugsdampfer, nachgeformt dem Walfisch, auf den er getauft ist.

„Ohne Gangseil und einer fünfzigjährigen Geige hätte ich mich nicht so lange in Josephs Reich verlaufen – eher hätte ich August Macke einen Besuch abgestattet, der, wie Sie wissen, von sich selber sagte, dass er

„die Dinge durchfreuen“ wollte. Ohne Gangseil? Aber nein! Macke besass es vor vielen andern. Herzlichst, Ihr Holger.“


tion, nicht zuletzt in meiner Branche…“ Sein Betrieb

scheint ein Zulieferant von Ford in Köln zu sein, und mit „neuer Generation“ meint er natürlich die Computer und nicht die Menschen, die sie künftig handhaben sol- len. Aber wie früh schon gab es eine Menge Leute in Europa, die klar und ohne Abstrich wünschten, was, wie aus dem Auge des Zyklons über einer Wüste gespro- chen, stellvertretend ein New Yorker dann behaupten sollte: „Ich möchte eine Maschine sein.“

Im Schaufenster eines Bonner Buchladens: „Die krea- tive Kraft der Maschine“.

Der Wahn verspricht Methode. Da kommt einem nicht im Traum mehr (käme sie, dann mit den Bildern eines Hieronymus Boschchen Albtraums) die Frage: wo blieb meine Seele („wanderndes, blasses, frierendes Seel- chen“: animula vagula, blandula, pallidula, rigida, nu- dula)? Millionen hocken wie in Raumkapseln vor ihren Geräten mit ihren Hundert Windows, gleich fern von Himmel und Erde, gleich fern!

Aber ein wie Kaspar Gefangener, Sigismund in Hof- mannsthals Turm (und er wird nicht der letzte Kaspar Hauser gewesen sein): „meine Seele ist heilig...“

Was Magaloun nach ihrem Besuch in Symons van Porsts, des bekannten Reeders Rheinvilla, von seinem Sohn Pieter berichtete: Pieter liebt Blumen. In seiner mit Apparaten auf drei Tischen bestückten Kammer sah Magaloun kleine und grössere Kakteen jeder Art. Zum Verwundern war’s ihr, auch einige heimische Topfblu- men auf der schmalen Fensterbank zu sehen. Diese Blümchen standen dem Licht am nächsten und waren alle im Zustand des halb oder ganz Verwelktseins. Ge-


wiss, sie brauchten etwas mehr Pflege als seine Wüs-

tenpflanzen. Als Magaloun bemerkte: „Denen fehlt

Wasser,“ erwiederte der gute Junge ziemlich unwirsch:

„Ach die! Die schmeiss ich raus.“-

Und Jan – später würde Magaloun mir auch von ihm, dem um drei Jahre jüngeren, erzählen. Da hatte seine Mutter ihn gerade aus Pieters Händen in Empfang ge- nommen als Urne. Hier nur sofern auf ihn als den Täter des Datums 7.12.1941 vor der Villa beim Turm schlies- sen lässt.

Der Hass auf seinen Vater ging soweit, dass er im Jahr nach seiner Volljährigkeit sich seinen Pass erneuern liess ohne „Symons“ in seinem Namen. In dem Sommer vorm Crash lebte er mit einer Freundin an der Mosel bei Cochem. Hin und wieder tauchte er, allein oder mit Lydia, bei seiner Grossmutter am Turm auf. Sie spielten mit ihrer Katze, rauchten ganz offen ihre Joints, wenn man sicher sein konnte, dass Adam weit. Huberdina, glücklich ihren Liebling bei sich zu haben, verwöhnte ihn entsprechend. Um Geld brauchte Jan sie niemals zu bitten, es scheint sogar, sie sparte geradezu auf sein Kommen hin. Vielleicht dass Katja, die haupt- angestellte Krankenschwester, Magalouns Verwandte, etwas zu Adam gemunkelt hat, denn das Hausverbot folgte kurz vor meinem Besuch und vielleicht nur einen Tag, unterm Namensschild der Pforte, dieses Datum ers- ter amerikanischer Demütigung – fünf Wochen vor der zweiten.


kise stimmt. Ich schlendre noch etwas herum, vor dem

Fachwerkhaus im anderen Eck fällt mir ein gemaltes Firmenschild ins Auge – Schreinerei und Sarglager von Peter Palm. Und daneben, in grauen Stein trefflich ge- meisselt, ein bekannter Kopf. Überrascht lese ich die In- schrift dazu:

„In diesem Haus hat der junge Beethoven 1781 mu- siziert.“

Ludwig, ein kleiner Junge von zehn Jahren, den sein Vater, ein alkoholgefährdeter Tenor, leicht als sieben- jähriges Wunderkind vorstellen konnte, weil er, obschon kräftig, so klein geraten war.

Der Gitarrist hat sein Spiel begonnen, ohne Gesang, er zeigt ein Können, das auf Strassen nicht oft zu hören ist. Nun lasse ich mir Zeit, vielleicht wird eine Bank frei

– denke, noch einmal überrascht: dem vom Sarglager drüben macht der keine Schande. Wie mag seine Stimme klingen?

Er spielt offenbar Eigenes, Improvisationen von dich- tester Bewegtheit, Kadenzen, die sich zu Wellen verlau- fen, aber (rastlos wanderndes, frierendes Seelchen) wieder und wieder zum Anfang kehren. Nach einer Pause, mit einem Lächeln sich für die Münzen, die reichlich in seine Kappe fliegen, bedankend, beginnt er noch einmal, nun mit teils bekannten, uns vertrauten Songs. Aber warum schont er seine Stimme? Andere Zuhörer fragen sich das sicher auch, eine Erwartung wächst mit jedem Applaus der vielleicht fünfzig Hän- depaare. Dass er kein Mitteleuropäer, nehme ich zu- nächst nur an, dass er Brite oder Ire, das eröffnet er uns erst mit seinem letzten, seinem Abschiedslied. Denn


dieser Song, das war unsre dritte Überraschung! Den

singt er, wie er vom Original eines berühmten weissen Albums vielleicht nur mit Hilfe eines Joints gehört würde. Und mit dieser seiner Meer-rauhen Stimme ver- zaubert er den Ort an der Ahr ein paar kostbare Minuten lang.

MAGALOUN

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