Читать книгу Wir hatten einen Berg in den Pyrenäen - Herbert E Große - Страница 2

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2. Kapitel

Fast hätte Ilse vergessen, im Supermarkt anzuhalten und Baguette, Kaffee, Butter und Wurst für die erste Mahlzeit einzukaufen.

Sie wunderte sich noch immer über Karls Sinneswandel, der am Supermarkt nicht ausgestiegen war und geduldig wartete. Er hasste das Einkaufen, es sei denn, er musste im Baumarkt etwas besorgen.

Ilse hatte sich ganz schnell an die französischen Einkaufgewohnheiten erinnert und war zufrieden. Morgen muss ich gleich einen Großeinkauf starten, nahm sie sich vor und kehrte zum Mietwagen zurück.

Der Anblick der ferme war ernüchternd. Beide waren vor mehr als einem Jahr das letzte Mal hier. Das Unkraut vor dem Eingang war fast einen halben Meter hoch und alles sah trostlos aus. Ilse überlegte einen kurzen Moment, ob sie nicht vorschlagen solle, ein oder zwei Tage im Hotel zu übernachten und tagsüber hier Ordnung zu schaffen. Karl hingegen war zufrieden, ging zur Haustür und öffnete selbige. „Oh mein Gott, hier muss aber ordentlich gelüftet werden“, sagte er und begann alle Fenster zu öffnen. „Meine arme Ilse, da hast du aber ordentlich zu putzen“, waren seine nächsten Worte. „Bevor ich die Koffer hole, werde ich uns erst einmal einen Weg mit der Sense bahnen.“ Wie selbstverständlich öffnete er das Stallgebäude, holte eine Sense heraus und begann mit der Wegbahnung. Ilse staunte nur noch; so kannte sie ihren Ehemann nicht. Sie lüftete sofort die Betten und putzte das Bad. Entgegen ihrer sonstigen Art war sie dabei recht großzügig, um nicht aus ihrem „Karl-Traum“ zu erwachen. „Karl, die Küche schaffe ich nicht so schnell. Was hältst du davon, wenn du draußen die eben gekauften Würstchen grillst. Wein haben wir genügend. Ich mache in der Zeit schnell die Küche fertig und beim Abendessen, draußen im Unkraut, genießen wir den Sonnenuntergang.“ „Das ist eine wunderbare Idee. Ich wollte schon lange einmal wie ein Tramp leben; wenn auch nur für ein oder zwei Tage. Als ich frierend und durstig in der Raststätte auf dich wartete und all die Reisenden beobachtete, dachte ich, dass ein und derselbe Gegenstand für die einen notwendig, für den anderen Luxus, für wieder einen anderen gar völlig unbekannt ist. Und in meiner Situation stellte ich mir vor, wie wohl ein Tramp das alles sehen würde.“ „Aber duschen werden wir wohl vor dem Schlafengehen, oder?“, fragte Ilse mit einem verschmitzten Lächeln und erhielt zur Antwort: „Na, wenn es unbedingt sein muss.“

Bonjour madame, une bonne chose qu'ils sont encore une fois“, sagte lächelnd die Kassiererin des Supermarché. Ilse fühlte sich wohl, wieder einmal hier in Frankreich zu sein; es war einfach schön. Keine Hektik, geduldiges Warten an der Kasse, wenn einer vergessen hatte, sein Obst zu wiegen oder eine Kundin mit der Kassiererin ein kleines Schwätzchen hielt. Als Ilse mit ihrem Einkaufswagen den Supermarkt verließ, traf sie den Bürgermeister, der ganz dringend seinen Besuch ankündigte. „Madame, ist es ihnen recht, wenn ich noch heute bei ihnen vorbeikomme. Es gibt sehr wichtige und dringende Dinge wegen ihrer ferme zu besprechen.“ Ilse erinnerte sich wieder an das Telefonat mit dem Bürgermeister und war mit dessen Besuch einverstanden, ohne vorher Karl zu konsultieren. Beim boulanger und in der boucherie wurde Ilse ebenso freundlich, wenn auch unverbindlicher begrüßt, weil man ihren Namen nicht mehr kannte.

Bonjour monsieur Karl, bitte entschuldigen sie meinen Überfall“, sagte der Bürgermeister, der vorzüglich deutsch spricht. „Was verschafft mir die Ehre ihres Überfalls, monsieur le maire?“, fragte Karl und bot dem Bürgermeister einen Platz auf der Terrasse an. „Ich habe leider keinen Aperitif, aber ein deutsches Bier kann ich ihnen anbieten.“ Der Bürgermeister setzte sich etwas umständlich auf einen Stuhl der noch nicht gesäuberten Terrasse; man sah ihm an, dass er sehr aufgeregt war. „Hat man ihnen denn nicht ausgerichtet, dass wir dringend über den Verbleib ihrer ferme sprechen müssen?“, begann er das Gespräch; er drehte aufgeregt sein Bierglas in der Hand. „Nein, wer hat es denn versäumt, mich zu informieren?“, wollte Karl wissen und erfuhr, dass monsieur le maire im Büro seiner Firma angerufen, aber keinen Rückruf erhalten habe. „Ja, ja, auch ich habe ab und zu Probleme, mein Büro zu erreichen“, sagte Karl fast flüsternd und dachte dabei an die Autobahnraststätte. „Was gibt es denn Wichtiges?“, fragte Karl und lächelte, weil er keinerlei Ahnung hatte, was der Bürgermeister eigentlich wollte. „Als deutscher Unternehmer werden sie bestimmt Verständnis dafür haben, dass ich gleich zur Sache komme und vergesse, dass ich ein französischer Bürgermeister bin. Nächsten Mittwoch läuft die Frist für die Genehmigung der Zuschüsse aus Paris ab.“ „Na gut, aber was habe ich mit den Zuschüssen aus Paris zu tun, monsieur le marie?“ „Sie scheinen tatsächlich nicht zu wissen, in welcher Situation die Gemeinde und ich sind, lieber monsieur Karl.“ „Also wenn sie pleite sind, kann ich ihnen und der Gemeinde sicherlich nicht helfen, weil ich zwar ein erfolgreicher Unternehmer bin, aber so reich, um sie zu retten, bin ich bestimmt nicht“, antworte lachend Karl. Der Bürgermeister raufte sich die kaum noch vorhandenen Haare und sagte: „Lieber monsieur Karl, wir brauchen dringend ihre ferme, oder korrekter gesagt, ihr Grundstück.“ Karl schaute seinen Gesprächspartner unverständlich an und fragte, ob sein Grundstück nach Paris verkauft werden müsse. Der Bürgermeister verstand noch immer nicht, dass Karl nicht wusste, um was es ging. Aus seinem Jackett holte er einen großen Lageplan und breitete diesen auf dem noch nicht gesäuberten Terrassentisch aus. „Sehen sie, dies hier ist ihr Grundstück. Und dahinter will die Gemeinde ein neues lotissement mit über dreißig Wohngrundstücken errichten. Das geht aber nur, wenn wir über ihr Grundstück alle Versorgungsleitungen laufen lassen. Wir brauchen also dringend für die Infrastruktur des neuen lotissements ihr Grundstück, das wie ein Flaschenhals für das gesamte Wohngebiet ist. Das ganze Projekt ist nur mit Zuschüssen aus Paris realisierbar. Aber die Frist für die Beantragung der Zuschüsse läuft nächste Woche ab.“ Karl sagte, dass er nicht ganz folgen könne. „Ich kaufe mir ein Grundstück weit entfernt von der eigentlichen Gemeinde, um ohne Nachbarn in Ruhe leben zu können, und jetzt wollen sie es, um eine belebte und unruhige Gegend daraus zu machen“, stöhnte fast schon Karl und der Bürgermeister sagte: „Ja, aber wir zahlen ihnen einen ordentlichen Kaufpreis oder bieten ihnen fünf Baugrundstücke als Gegenleistung.“ Karl verschluckte sich an seinem Bier und fragte ganz direkt, ob monsieur le maire ihn auf den Arm nehmen wolle.

Zum Glück kam in diesem Moment Ilse von ihrer Einkaufstour zurück. Als sie in die Zufahrt zur ferme einbog, sah sie das Auto des Bürgermeisters und staunte nicht schlecht, dass dieser bereits vor ihr da war. „Na, der muss es aber eilig haben“, dachte sie und erinnerte sich, dass sie Karl vor diesem Besuch noch gar nicht gewarnt hatte. Sie entschuldigte sich für den unsauberen Tisch und dass monsieur le maire lediglich eine Büchse Bier angeboten bekommen habe. „Madame, ich bitte sie. Ich habe sie, beziehungsweise ihren Ehemann, überfallen; offenbar kannten sie beide meine Probleme nicht. Sie wollen bestimmt meinen Vorschlag in Ruhe besprechen. Ich lasse ihnen meine private Telefonnummer hier. Rufen sie mich bitte an, wenn sie alles besprochen und eventuell eine Vorentscheidung getroffen haben“, sagte der Bürgermeister und verabschiedete sich, ohne sein Bier ausgetrunken zu haben.

Ilse schaute ihren Ehemann fragend an. Karl trank sein Bier aus und sagte: „Oh Mann, der hat ja ein riesiges Problem und wir sind sein Flaschenhals.“

Ilse verstand noch immer nicht, fragte aber nicht, weil sie wusste, dass Karl, der ständig mit seinem Kopf schüttelte, ihr auch so alles erklären würde; er musste nur seine Gedanken ordnen.

„Stell dir vor, ich habe mich ganz umsonst mit der Sense gequält. Das macht jetzt die Gemeinde für mich und du brauchst auch nicht das Haus gründlich zu säubern. Der Bürgermeister braucht dringend unsere ferme.“ Ilse schüttelte jetzt nur noch mit dem Kopf und wollte wissen, ob Karl betrunken sei, was dieser energisch bestritt. „Aber du hast recht, vielleicht versteht man das alles nur, wenn man besoffen ist. Lass uns einen guten Schluck Rotwein trinken; dabei kläre ich dich auf.“

Voller Erwartung holte sie eine Flasche Rotwein und zwei Gläser.

„Wenn der Preis stimmt, sollten wir unsere ferme aufgeben. Die Gemeinde braucht dringend unser Grundstück, um ein riesiges neues Wohngebiet zu erschließen und dabei drängt die Zeit.“

Ilse schaute erschrocken und bat um nähere Erläuterung.

„Hinter unserem Grundstück will die Gemeinde ein neues lotissement mit dreißig Bauplätzen erschließen und bekäme dafür Fördermittel aus Paris“, erklärte Karl.

„Ja und?“, fragte, Unverständnis zeigend, Ilse.

„Das Problem für die Gemeinde besteht darin, dass über unser Grundstück sämtliche Versorgungsleitungen laufen müssten.“

Ilse fragte, nichts Gutes ahnend: „Warum denn gerade über unser Grundstück?“

Karl wusste längst, dass Ilse es verstanden hatte.

„Ein anderes Grundstück für die Errichtung der Infrastruktur kommt nicht in Frage; ist nicht möglich. Und unser Grundstück ist quasi der Flaschenhals für das Neubaugebiet.“

Ilse war dennoch erschrocken und fragte: „Und wie ich dich kenne, bist du bereit, der Gemeinde unser Grundstück zu geben. Dabei habe ich mich so auf ein ruhiges Leben mit dir ohne Sorgen um den Betrieb gefreut und es so sehr gewünscht.“ Als sie das sagte, hatte sie Tränen in den Augen.

„Wer anders als wir, ein Unternehmerehepaar, sollten mehr Verständnis für die Nöte des monsieur le maire haben? Man muss doch nur ein Problem einen Augenblick mit den Augen des anderen sehen. Wären wir hier noch glücklich, wenn wir unser Grundstück nicht zur Verfügung stellten?“

Ilse konnte wieder lächeln, als Karl das sagte; war es doch achtenswert.

„Aber du weißt auch, dass falsche Güte später unglücklich macht.“

Jetzt nahm Karl seine Ilse in den Arm und sagte, dass alles vom Preis abhinge.

„Wir können auch anderswo glücklich werden.“

Ils nickte nur und Karl rief den Bürgermeister an, der sofort sein erneutes Kommen zusagte.

Monsieur le maire, sie verlangen eigentlich Unmögliches von uns. Wir haben uns so sehr auf unsere Pensionszeit hier in aller Stille, ohne Nachbarn und sehr weit weg von dem Alltagstrubel gefreut. Und nun wollen sie all unsere schönen Träume zerstören. Das ist unzumutbar.“ Der Bürgermeister war von diesen Worten betroffen, hoffte aber doch noch auf eine gute Lösung; warum sonst der schnelle Anruf? „Ich kann sie sehr gut verstehen und würde bestimmt auch so, wie sie jetzt, reagieren. Aber was soll ich, beziehungsweise die Gemeinde, anderes machen? Vielleicht kann ich für sie einen höheren Preis bei der Gemeindevertretung durchsetzen.“ Karl, der alte Vertragsfuchs witterte seine Chance. „Wissen sie, der Kaufpreis ist für uns nur dann wichtig, wenn wir ein ebensolches abgelegenes Grundstück gefunden haben werden und dieses bezahlen müssen. Aber sie wissen genauso gut wie ich, dass es fast unmöglich ist, ein solches zu orten. Wir können also nur dann verkaufen, wenn wir gleichwertigen Ersatz entdeckt haben.“ Der Bürgermeister war erschrocken und verwies auf die Antragsfrist in Paris. „Ich kann sie gut verstehen, monsieur le maire. Aber bitte verstehen sie auch uns“, sagte Karl und schaute mit sich zufrieden Ilse an, die über ihn nur staunen konnte. Waren sie sich denn nicht einig, zu verkaufen? Plötzlich kam dem Bürgermeister eine Idee. „Kennen sie den tour de Sebastian oben auf dem Berg? Dort gibt es nicht nur den alten Turm, sondern auch eine Art refuge, die vom Ziegenhirt der Gemeinde bewohnt wurde. Der Ziegenhirt ist vor einem halben Jahr verstorben. Was halten sie davon, wenn ich dem Gemeinderat vorschlage, den Turm nebst der ausgebauten und bewohnbaren Schutzhütte gegen ihr Grundstück hier unten zu tauschen?“ Karl lachte laut und fragte, ob der Bürgermeister ihn auf den Arm nehmen wolle. „Nicht doch, monsieur Karl, ich meine es ernst. Kennen sie den tour de Sebastian?“ Karl schaute seine Ehefrau an und sagte, dass er noch nie da oben gewesen sei, es ihn aber ehren würde, die refuge des Ziegenhirten der Gemeinde bewohnen zu dürfen. Nach diesen Worten fühlte sich der Bürgermeister beleidigt und sagte: „Ich schlage vor, dass sie sich morgen den tour de Sebastian nebst Ziegenhirtbett einmal ansehen und danach sprechen wir weiter; notfalls über einen anderen Kaufpreis.“ Das hat gesessen, dachte Karl und sagte zur Rettung der Situation, dass er kein Fahrzeug hätte, um auf den Berg zu fahren. „Das ist kein Problem. Wenn sie mögen, können sie morgen früh den Geländewagen der Gemeinde benutzen und allein mit madame hoch zum Turm fahren. Ich werde eine Wegbeschreibung und die Schlüssel bereitlegen. Nach der Besichtigung werden sie meinen, sicherlich etwas unglücklich vorgetragenen, Vorschlag nicht mehr als Beleidigung betrachten.“ Danach war keiner mehr beleidigt. Karl und Ilse waren mit der Besichtigung einverstanden; alle drei tranken noch eine Flasche Rotwein und der Bürgermeister verließ zuversichtlich seine Gastgeber.

Was hätte man anderes erwarten können? Der Geländewagen der Gemeinde war ein Lada Niva. Karl nahm es gelassen. Die halbe Nacht hatte er seiner Ehefrau erklärt, wie er den Kaufpreis steigern wolle; eine Fahrt in die Berge bringt Zeit und steigert die Nervosität des Bürgermeisters, resümierte er.

Die Fahrt zum Turm führte zunächst durch den Ort. Am bureau de poste mussten sie links in ein Neubaugebiet abbiegen. Hier stehen wunderschöne Häuser mit großen Terrassen und Swimmingpools. Anders als in der Dorfmitte, wo es fast nur Häuser ohne zusätzliches Grundstück gibt, haben hier die Villen ein ansehnliches Grundstück ums Haus. Keine Reihenhäuser waren zu sehen. Vormittags, und das war es jetzt, sind entweder die Fensterläden geschlossen oder Putzfrauen arbeiten. In einigen Häusern konnte man aber auch junge Frauen sehen, die mit Sicherheit keine femme de ménage sind und ihren Haushalt selbst führen.

„Hier lebt es sich bestimmt noch angenehmer als zu Hause in Deutschland“, bemerkte Ilse und dachte daran, eventuell die refuge des Ziegenhirten zu bewohnen.

Karl hatte keinen Blick für diese eigentlich sterilen Wohnanlagen und dachte lediglich daran, dass man die besten Jahre seines Lebens dem Geldverdienen opfert, um es in den minder wertvollen Jahren für eine fragwürdige Freiheit auszugeben.

Er konzentrierte sich jedoch intensiver auf die Wegbeschreibung des Bürgermeisters.

Nach der zweiten Weggabelung bog er auf einen recht gut ausgebauten Fahrweg ab, der hinauf auf die Berge führte. Jetzt kamen sich beide wie zwei Urlauber auf einer Abenteuerfahrt vor. Dieser Wirtschaftsweg war problemlos zu befahren und Karl konnte, so wie Ilse, die Aussicht und die Berghänge betrachten. Nur wenn ein gué, also ein flacher Wasserdurchlauf, zu durchfahren war, musste Karl besondere Aufmerksamkeit walten lassen. Beide überlegten, was wohl passieren würde, wenn ihnen ein anderes Fahrzeug entgegenkäme; aber es kam ja keines. Ilse fiel auf, dass einige große Steine oder auch Bäume mit farbigen Nummern versehen waren, maß diesen Markierungen aber keine besondere Bedeutung bei; wird schon einen tieferen Sinn haben, dachte sie. Nach ungefähr einer halben Stunde erreichten sie die auf der Karte eingezeichnete Weggabelung, an der sie abbiegen mussten. Der neue Weg war mit einer Schranke geschlossen. Es war nötig, selbige mit Hilfe des kleineren der drei Schlüssel, die der Bürgermeister dem Lageplan beigefügt hatte, zu öffnen. Der Weg zum Turm wurde jetzt schlechter und schwieriger zu befahren; er wurde ganz offensichtlich nicht regelmäßig gewartet. An einigen Stellen hatte das Regenwasser tiefe Furchen gegraben. Jetzt verstand Karl, warum ein 4X4 notwendig sei, um zum Turm zu kommen. Nach einer weiteren halben Stunde beschwerlicher Fahrt endete dieser Weg einhundert Meter unterhalb des Turmes. Es war erforderlich, diese Entfernung zu Fuß zu bewältigen, was Ilse etwas schwerfiel.

Wenn jemand auf dem schlecht markierten Weg, also nicht auf dem von Karl befahrenen Wirtschaftsweg, hier hoch gewandert wäre, so hätte er schon einen Fußmarsch von gut drei Stunden hinter sich. Leichterschöpft säße er bestimmt auf der Steinbank und verzehrte genüsslich seinen Proviant, schaute sich den Turm und die kleine refuge an und dächte daran, was er vor der Tour darüber gelesen hätte. Und er müsste feststellen, dass die Informationen sehr vage und nichtssagend gewesen wären; historisch nicht gefestigte Vermutungen.

Karl hingegen hatte mit dem alten Geschichtslehrer des Ortes gesprochen und erfahren, dass niemand genau wüsste, was es mit dem Turm auf sich habe. Die einen vermuten, dass er Bestandteil der Wach- und Signaltürme, die vom mallorquinischen König Jakob II. im ausgehenden 13. Jahrhundert zur Sicherung der Küste erbaut worden seien und mit dem Pyrenäenfrieden des Jahres 1659 jede strategische Bedeutung verloren hätten, gewesen sei. Diese Version könnte aber schon deshalb nicht stimmen, weil man festgestellt habe, dass der Turm erst im 18. Jahrhundert erbaut worden und viel zu niedrig sei, um als einer der untereinander in Sichtweite stehenden Signaltürme zu dienen. Auf einer sehr alten Karte, auf der alle Signaltürme eingezeichnet und mit deutlichen Linien markiert sind, war er auch nicht vermerkt. Eine militärische Aufgabe könne er auch nicht gehabt haben, weil die refuge viel zu klein sei, um Soldaten zu beherbergen. Allenfalls könnte man an einen Feuerwachturm denken. Wie dem auch sei, es gebe keinen Geschichtsverein, der sich für diesen Turm interessieren würde, um ihn zu betreuen und zu erhalten. Diese Einschätzung teile offenbar auch die Gemeindeverwaltung.

Gut, dass der Turm und die refuge im gleißenden Mittagslicht lagen, als Ilse und Karl das kleine Felsplateau betraten. Anderenfalls wären sie wohl sofort zum Auto zurückgekehrt und wieder weggefahren. Von diesem Licht geblendet zog Karl seine Ehefrau an der Hand die letzten Meter nach oben, holte tief Luft und sagte: „Schau nur einmal diese traumhafte Aussicht. Und diese Ruhe hier oben. Und dort rechter Hand kann man das Mittelmeer sehen.“ Ilse, die ebenfalls von der herrlichen Aussicht begeistert war, glaubte noch immer nicht daran, dass Karl, der große Firmenchef, von seinem Arbeitsstress lassen könnte; sie kannte ihn ja nur gestresst. „Und wohin schauen wir am Abend?“, fragte sie, um ihren Karl erneut zu testen. Er gab ihr keine Antwort und schaute weiterhin begeistert ins Tal; er war offenbar in einer anderen Welt.

Beide hatten sich auf die vor der refuge befindliche Steinbank gesetzt und betrachteten die aus unbearbeiteten Bruchsteinen gemauerte Unterkunft und den in gleicher Weise errichteten Turm. Die beiden Fenster waren mit alten aber sehr stabilen Fensterläden verschlossen. „Groß ist sie ja nicht gerade. Aber lass uns die Villa von innen betrachten“, sagte Karl, holte den Schlüssel für die Tür aus seiner Tasche und beide gingen hinüber. Er hatte Mühe die sehr stabile mit Eisen beschlagene Holztür zu öffnen. Ein leichter Modergeruch kam ihnen aus dem Dunkel entgegen und Ilse schaute entsetzt. Karl stolperte über ein Bett und einen Stuhl, schaffte es aber, die Fenster zu öffnen. Die schweren hölzernen Fensterläden knarrten furchterregend beim Öffnen, gingen aber zum Glück nach außen auf. Jetzt hatte Ilse auch noch Angst, hier leben und wohnen zu müssen und ging wieder zur Steinbank und setzte sich, wobei sie tief und verzweifelt Luft holte und versuchte, ihr Ekelgefühl loszuwerden. Kaum war ihr dies einigermaßen gelungen, hörte sie einen Freudenschrei aus der refuge. „Ilse hier steht ein wunderschöner alter Küchenofen. So einen hatte meine Oma in ihrer Küche. Wie es aussieht ist er noch funktionstüchtig; einfach herrlich.“ Als Karl aus der Tür trat, Ilse war von der Steinbank nicht aufgestanden, sagte er: „Es sieht alles schlimmer aus, als es ist. Das Dach ist völlig in Ordnung. Das hintere Zimmer kann man zum Badezimmer machen. Es gibt sogar eine Toilette. Es ist zwar ein katalanisches Klo, auf dem man in der Hocke sein Geschäft verrichten muss, aber umbaubar. Wenn ich jetzt noch die Wasserstelle, also die Quelle, finde, bin ich mehr als glücklich.“

Die recht ergiebige Quelle befand sich links hinter der refuge direkt unter der aufsteigenden Felswand. Das Wasser floss in eine Art Becken und aus diesem dann quer über den hinteren Platz talwärts. Karl war auch damit sehr zufrieden und sagte, dass man nun den Turm besichtigen müsse. Dazu war Ilse wieder in der Lage und bereit. Die massive Holztür befand sich auf der Hinterseite und war ebenfalls eisenbeschlagen. Im Inneren war es so dunkel, dass beide einige Zeit warten mussten, um etwas zu erkennen. Karl schätzte den Durchmesser auf sieben Meter und die Höhe auf gut drei Meter. An einer Seite befand sich eine Treppe nach oben. Das Dach schien, zumindest aus diesem Sichtwinkel, dicht; Nässe auf dem Boden war nicht zu erkennen. Als sich ihre Augen an die Dunkelheit ausreichend gewöhnt hatten, erkannten sie, dass die Treppe in eine Art Obergeschoß führte. Karl stieg hoch und stellte fest, dass es tatsächlich eine weitere Etage gab. Auch jetzt sah er keine Undichtigkeiten des wirklichen Daches und rief seine Feststellungen Ilse, die an der Tür stehen geblieben war, zu.

Wieder auf der Steinbank sitzend sagte Karl, dass dies eine wunderbare Gelegenheit sei, um der Hektik zu entfliehen.

Ilse war noch immer sprachlos und sehr blass.

„Bist du sicher, dass man hier auch einigermaßen zivilisiert leben kann?“, fragte sie und versuchte ihren Sohn in Deutschland mit dem Handy anzurufen, um sich auf den Boden der Realität zurückholen zu lassen.

Kein Empfang! „Auch das noch“, stöhnte sie und schaute verzweifelt ihren Ehemann an.

Karl hingegen hatte leuchtende Augen.

„Wie brauchen lediglich einen Stromgenerator von mindestens 5000 Watt, der mit Benzin zu betreiben ist. Außerdem ein Sandstrahlgerät und eine Gastherme, die wir mit Campinggas betreiben. Mit dieser Grundausstattung verwandele ich dir das alles hier zu einem Paradies nach deinen Wünschen.“

So euphorisch hatte sie ihren Karl das letzte Mal erlebt, als sie ihren Betrieb gründeten.

Auf der Fahrt mit dem Geländewagen zurück zum Ort schwärmte Karl noch immer. „Zunächst brauchen wir einen ordentlichen Geländewagen mit Ladefläche. Den Generator brauche ich, um alles mit schwerem Gerät zu reinigen und zu reparieren. Im Bad bekommst du eine richtige Toilette und Dusche mit kaltem und warmen Wasser. Und in der Küche betreiben wir den alten Küchenofen. Das wird sehr gemütlich. Den Turm bauen wir zu einem Wohn- und Schlafzimmer um. Ich habe schon alles ganz genau vor Augen.“

Ilse hatte sich auf der Fahrt erholt und staunte über ihren Ehemann, dem sie eine solche Wandlung nicht mehr zugetraut hatte.

„Und? Wie finden sie den Turm und die refuge?“, fragte der Bürgermeister voller Erwartung, als beide den russischen Geländewagen zurückgaben. „Ihr Auto ist recht gewöhnungsbedürftig, monsieur le maire. Aber es erfüllt immerhin seinen Zweck, obwohl die Wirtschaftswege recht gut befahrbar waren“, antwortete Karl, der sofort erkannt hatte, dass der Bürgermeister aufgeregt war und eine Entscheidung erwartete. „Ich meinte die refuge und den Turm, monsieur Karl.“ Ilse schaute ihren Ehemann ganz irritiert an. Hatte er doch bis vor fünf Minuten noch voller Begeisterung von beiden Immobilien gesprochen; sagte aber keinen Ton. „Monsieur le maire, waren sie selbst schon einmal oben auf dem Berg“, fragte Karl, der sofort die Rolle des knallharten Verhandlers einnahm. „Natürlich, monsieur Karl. Ich hatte sie so verstanden, dass sie so etwas suchen würden.“ Man konnte dem Bürgermeister ansehen, dass all seine Hoffnungen schwanden. Karl hingegen war der harte Unternehmer, der alle Tricks kannte. „Und können sie mir mit wenigen Worten erklären, wie man dort oben wohnen und leben kann. Ohne elektrischen Strom, ohne Internet und mit einer nur bescheiden sprudelnden Quelle. Ein einigermaßen zivilisierter Mensch braucht wenigstens ein Minimum davon. Und dann dieses fast unbegehbare Terrain; groß scheint es auch nicht zu sein.“ Als Karl das sagte, brach beim Bürgermeister eine Welt zusammen. Ilse verstand nicht, wie Karl verhandelte, schaute aber den Bürgermeister ebenfalls mit einer uninteressierten Miene an. „Schade, ich hätte es mir denken können. Aber mehr kann die Gemeinde ihnen für ihre ferme nicht bieten. Nicht das wir nicht mehr bieten wollen; wir haben nicht mehr anzubieten.“ Was bist du denn für ein Idiot und Greenhorn, dachte Karl. Und dann wundert ihr euch, wenn es der Gemeinde finanziell nicht gut geht. Wenn mein Betrieb mal pleite ist, werde ich auch Kommunalpolitiker, dachte Karl. Dabei tat ihm der Bürgermeister noch nicht einmal leid. Als er sah, dass Ilse ihn bewunderte, sagte er zum Bürgermeister: „Na gut, einen Versuch war es wert. Lassen sie uns morgen in aller Ruhe noch einmal über alles sprechen. Nur sie müssen uns schon etwas mehr als die refuge, den Turm und das kleine Plateau bieten. Irgendwo und -wie müssen wir ja auch ordentlich wohnen können.“

Als beide allein waren, fragte Ilse: „Verhandelst du immer so hart und grenzwertig?“

Karl lächelte und tröstete seine Ehefrau. „Ich bin eigentlich viel härtere Verhandlungen gewöhnt. Irgendwie tut er mir ja leid. Aber warte einmal ab, morgen bietet er neben der refuge und dem Turm noch einiges mehr.“

Es kam, wie Karl es erwartet hatte. Gegen 10 Uhr erschien der Bürgermeister und sagte, dass der Gemeinderat die halbe Nacht beraten hätte. „Wenn ihnen das Grundstück auf dem Berg zu klein ist, so bieten wir ihnen den ganzen Berg an. Es sind 102 Hektar. Außerdem können sie noch ein kleines Haus in der Dorfmitte, allerdings ohne zusätzliches Grundstück, haben. Es ist aber ein typisches katalanisches Haus, in dem es auf jeder Etage nur ein Zimmer gibt. Um es gleich zu sagen, gibt es dort einen Eingangsbereich und zwei Etagen. Monsieur Karl, mehr können wir ihnen beim besten Willen nicht bieten. Bitte denken sie daran, dass die Gemeinde unbedingt ihre ferme für das neue Baugebiet braucht. Außerdem müssten sie sich bis zum Mittag entschieden haben, weil uns sonst alle Fristen weglaufen.“ Nachdem er das gesagt hatte, verließ der Bürgermeister die beiden. Man konnte deutlich erkennen, dass er kalten Schweiß auf der Stirn hatte. „Halt monsieur le maire, wie lautet die Adresse des Dorfhauses?“ Er nannte die Adresse, war aber von seinem Auftreten nicht überzeugt, was man ihm ansah.

„Sag einmal, was läuft denn hier gerade ab“, fragte Ilse und erhielt zur Antwort, dass Karl das alles genau so erwartet hätte.

„Als der Bürgermeister mit seinem Dreitagebart erstmals erschien, war für mich klar, dass alles nicht so schlimm werden kann. Solche Typen wollen gern als starke Männer wahrgenommen werden, sind aber in Wirklichkeit Warmduscher, also „Dreitagebartfräuleins“. Von harten Geschäftsverhandlungen verstehen sie meist gar nichts, sie wollen lediglich mehr scheinen als sein. Dass er unsere ferme braucht, war mir sofort klar. Ebenso wusste ich gleich, dass er kein ausgepuffter Verhandler sein kann. Ich wollte dich, liebe Ilse, nicht bevormunden und habe auf deine Reaktion bei der Besichtigung der refuge und des Turms gewartet. Jetzt, wo wir uns einig sind - so hoffe ich -, muss er ordentlich bezahlen.“ Ilse lächelte und sagte, dass solche jungen Männer mit ihren Dreitagebärten doch angenehm anzuschauen seien. Karl solle doch nur einmal in den Spiegel schauen und sich mit solchen hübschen jungen Männern vergleichen. „Willst du mich umtauschen?“, frotzelte Karl und sagte dann, dass man bei Geschäftsverhandlungen den Partner gleich nach dem Aussehen typisieren würde. Ihm sei bei seinen bisherigen Geschäftsverhandlungen zwar noch kein Dreitagebart begegnet, aber schlecht rasierte Männer müsse man sehr ernst nehmen, denen ist nämlich das Aussehen egal, sie wollten den Geschäftserfolg. „Aber gutaussehende und gesteylte Frauen magst du doch auch lieber als Drachen, oder?“, fragte Ilse süffisant und erhielt zur Antwort: „Mein Vater hat immer gesagt, dass es in den Notzeiten nach dem Krieg die tollsten Weiber gegeben habe. Keine von ihnen hatte Zeit und Mittel, sich hübscher zu machen, als sie war. Kaum eine besaß einen BH oder Unterwäsche, die die Unebenheiten kaschierte. Lediglich ihre ganz natürlichen Reize konnten sie zeigen und das war toll.“ „Gut, dass ich deinen Vater nicht mehr gekannt habe. Der muss ja noch schlimmer als du gewesen sein“, sagte Ilse und fragte, was man denn mit dem Haus in der Dorfmitte wolle. „Stell dir doch nur einmal vor, dass es dort oben so kalt wird, dass wir eine warme Unterkunft benötigen. Außerdem brauchen wir doch einen Internetanschluss für alle Notfälle, damit wir für den Sohnemann, der ab sofort ohne uns zurechtkommen muss, erreichbar sind“, antwortete Karl. „Aber wohnen müssen wir in diesem Haus nicht, oder?“, fragte Ilse. „Nun lass uns die Prachtvilla wenigstens von außen ansehen und danach zur marie gehen und den Bürgermeister vor dem nahenden Herzinfarkt bewahren. Nur ein Problem muss der arme Mensch noch lösen, nämlich das der Landsteuer“, sagte Karl und Ilse wollte wissen, was es mit der Landsteuer auf sich habe. „Die taxe foncière müssen wir als Grundstückseigentümer zahlen. Bei 102 Hektar könnte das ein Problem werden. Aber soviel ich weiß, setzt die Höhe dieser Steuer der Gemeinderat fest.“ Ilse staunte wieder über ihren Ehemann und sagte erneut, dass der Bürgermeister ihr schon jetzt leidtäte.

Das Haus in der Dorfmitte sah von außen recht manierlich aus. Durch das Fenster konnten beide eine Art Küche mit dahinterliegendem Wirtschaftsraum erkennen. Eine Treppe führte in das Obergeschoß. Offenbar war das Haus renoviert.

„Das sieht ja gar nicht so schlecht aus. Allerdings scheint es recht bescheiden zu sein. Na, unsere ferme ist ja auch keine Luxusvilla. Und wenn wir es nicht mehr aushalten, gibt es ja noch unser Haus in Deutschland“, stellte Ilse recht fachmännisch tuend fest und drängte zur mairie.

Im Amtszimmer des Bürgermeisters war der gesamte Gemeinderat versammelt und alle warteten.

Karl hatte ein Einsehen und sagte: „Gut meine Damen und Herren, der Deal steht. Aber unter folgenden drei Bedingungen.“

Als er das sagte, schauten ihn alle entsetzt an und befürchteten Schlimmes.

„Keine Angst, unsere Bedingungen können sie sicherlich erfüllen. Erstens wollen wir ihre Zusage, dass die taxe foncière auf Dauer gering und für uns zahlbar ist. Das Haus im Dorf müssen sie auf ihre Kosten renovieren und die Notarkosten gehen zu ihren Lasten.“ Man konnte fühlen, dass allen Ratsmitgliedern ein Stein von den Herzen fiel. Der Bürgermeister ergriff das Wort: „Die Steuerfrage wird zu ihrer Zufriedenheit geregelt, kein Problem für uns. Das Haus im Dorf ist vor einem viertel Jahr erst renoviert worden und die Notarkosten werden selbstverständlich von der Gemeinde getragen. Nur eine Frage muss noch geklärt werden. Paris reicht ein notarieller Vorvertrag. Der endgültige Vertrag kann erst geschlossen werden, wenn die Freigabe des Hypothekenbüros vorliegt.“ Karl hatte mit mehr Problemen gerechnet und sagte, dass die ferme mit keiner Hypothek belastet sei. „Wenn sie uns ihr Ehrenwort geben, dass ihre Immobilie nicht belastet ist, können wir den Notar bitten, gleich den Endvertrag zu formulieren“, sagte ein Ratsmitglied. Das war nun wirklich für Karl zu viel. „Monsieurs et mesdames, für uns sind hiermit die Verhandlungen beendet. Ich bin es nicht gewohnt, dass man meinen Angaben nicht traut und von mir ein Ehrenwort verlangt. Ein Unternehmer, und dazu ein deutscher Unternehmer, steht zu seinem Wort, egal was passiert. Ilse, lass uns bitte gehen und weiter unsere ferme bewohnen.“ Alle im Raum waren vor Entsetzen sprachlos; auch Ilse. Monsieur le maire fand als erster wieder Worte und sagte zu Karl, der bereits an der Tür war: „Monsieur Karl, sehen sie bitte diesem Ratsmitglied seine Manieren nach. Wir sind eine relativ kleine Gemeinde und nicht alle Ratsmitglieder haben die höhere Schule besucht. Er wollte sich nur etwas wichtigmachen.“ Auch Ilse versuchte, Karl zu beruhigen. „Na, Schwamm drüber. Auch in meinem Betrieb gibt es Mitarbeiter, die ab und zu etwas falsch machen. Zur Strafe muss die Gemeinde auch unseren Umzug in das neue Haus bewerkstelligen.“ Der Bürgermeister hätte vor Freude bald laut geschrien und zog Ilse und Karl wieder in sein Büro. Die Einzelheiten der Verträge waren schnell schriftlich niedergelegt und die Besitzübergabe auf den 15. des nächsten Monats festgesetzt. „Der notarielle Vertrag muss am Montag unterzeichnet werden“, sagte der Bürgermeister zum Abschluss; Karl hatte wegen der am Mittwoch ablaufenden Frist in Paris für die Eile Verständnis. Ilse war ebenfalls einverstanden.

Zu Hause in ihrer ferme überlegten beide, ob sie alles richtiggemacht hätten. „Was sollten wir falsch gemacht haben? Unsere jetzige Bleibe ist ja nun nicht gerade eine Nobelherberge“, sagte Karl und Ilse tröstete sich mit dem Dorfhaus, weil sie es dann nicht mehr soweit zum Einkaufen hat. Bevor sie noch weitere rechtfertigende Überlegungen anstellen konnten, rief der Sohn an und teilte mit, dass die neuen Geschäftspartner dringend um eine Vertragsergänzung nachgesucht hätten, aber nur mit dem Seniorchef verhandeln wollten. Näheres konnte der Sohn nicht mitteilen. Nur so viel, dass es um eine Änderung der Stückzahl der zu liefernden Teile und eine Teillieferung nach Rumänien ginge. „Na, dann muss ich wohl noch einmal ran“, stöhne Karl und bat darum, dass die Sekretärin einen Flug für kommenden Dienstag buchen solle. Das Treffen mit den neuen jungen Geschäftspartnern könne frühestens am Mittwoch stattfinden, weil man am Montag noch einen dringenden und wichtigen Notartermin hier in Frankreich habe. Dieser Notartermin könne auf gar keinen Fall verschoben werden, erklärte Karl zur Begründung. „Was habt ihr denn beim Notar zu erledigen?“, wollte der Sohn wissen und Karl erklärte ihm, dass man gerade einen 102 Hektar großen Pyrenäenberg gekauft habe. Der Sohn, der an einen der üblichen Witze des Vaters glaubte, erklärte nur kurz, dass er sich um Flug, Geschäftstermin und die Abholung vom Flughafen kümmern wolle. „Also dann bis Dienstag am Flughafen.“ Der Sohn hatte das Treffen mit den neuen Geschäftspartnern in einem nahegelegenen Nobelrestaurant organisiert. Karl war mit dem Treffpunkt zwar nicht einverstanden, nahm es jedoch hin. Für ihn waren die Verhandlungen als solche und nicht das Lokal wichtig. Seinen Sohn, den Juniorchef des Familienbetriebes, bat er zusammen mit dem Betriebsleiter jederzeit erreichbar zu sein, um Einzelheiten besprechen zu können.

Gleich nach dem Betreten des Restaurants wurde er von seinen jungen Geschäftspartnern freundlich begrüßt.

„Keine Angst, wir wollen unseren ausgehandelten Vertrag nicht canceln, allenfalls erweitern.“

Nach dieser Begrüßung war Karl der alte Verhandler und fragte, warum man ihn deshalb aus seinem französischen Urlaubsort geholt habe.

„Wir wussten nicht, dass sie sich im Urlaub befinden, wollten aber unsere neuen Probleme nur mit ihnen besprechen und verhandeln; wir vertrauen ihnen. Das ist der Grund für unser Begehr.“

Karl wusste, dass die jungen Leute in geschäftlichen Dingen noch ziemlich unerfahren sind, es aber ehrlich meinten. Deshalb hielt er sich auch mit den üblichen Bemerkungen zurück und fragte ziemlich direkt nach den aufgetretenen Problemen.

„Es gibt im Prinzip zwei Probleme, die hoffentlich keine sein werden. Wir haben die Möglichkeit in Rumänien eine Dependance zu eröffnen. Aber dafür müssten wir den mit ihnen ausgehandelten Lieferumfang erheblich erweitern.“

Karl hatte mit größeren Problemen gerechnet und sagte: „Meine Herren, über die Erweiterung der Lieferungen müssen sie mit meinem Sohn, dem Juniorchef und seinem Betriebsleiter verhandeln; nur diese beiden können das entscheiden. Wenn sie allerdings meinen kollegialen und väterlichen Rat bezüglich der Dependance wollen, müssen sie mir Genaueres erzählen und dabei vieles von ihren Geschäftsinterna preisgeben.“

Die jungen Geschäftspartner schauten sich kurz an und einer von ihnen sagte: „Wir haben es uns sehr gut überlegt und sind zu dem Ergebnis gekommen, dass sie keinen Missbrauch mit unseren Geschäftsgeheimnissen treiben. Ihr Rat ist uns dabei sehr viel wichtiger. Bitte hören sie uns an und raten sie uns danach.“

Nach dem gemeinsamen Dinner riet Karl zur Eröffnung des Zweigbetriebes in Rumänien und sagte nochmals, dass über den erweiterten Lieferumfang allein der Juniorchef und sein Betriebsleiter entscheiden könnten; eventuell sei aber ein anderer Stückpreis erforderlich, weil der Betrieb erweitert werden müsste. Als er das sagte, dachte er daran, dass sein Sohn bestimmt genauso geschäftstüchtig wie er selbst sei. Die jungen Geschäftspartner waren sichtlich zufrieden und bedankten sich vielwortig bei Karl.

Am späten Abend kamen Karls Sohn und dessen Betriebsleiter mehr als zufrieden nach Hause und berichteten über den erweiterten Lieferumfang und von einer Preiserhöhung.

„Gut so mein Sohn. Jetzt kommst du völlig ohne mich aus. Ich werde nur noch mit guten Ratschlägen und meinen Erfahrungen zur Verfügung stehen. Morgen fahren deine Mutter und ich wieder in den Süden des schönen Frankreichs. Dazu wollen wir aber deinen Audi und nicht meinen beschissenen Mercedes benutzen; einverstanden?“

Der Sohn war natürlich einverstanden, vergaß bei all der positiven Geschäftsentwicklungen aber die Eltern zu fragen, was es mit dem Grundstückskauf auf sich hätte.

Die Autofahrt zurück nach Frankreich verlief völlig problemlos. Beide übernachteten lediglich einmal in einem Hotel, in dem nur Businessreisende mit ihrem kleinen Koffer, weißem Hemd, einer dunklen Anzugshose aber ohne das dazugehörende Jackett abstiegen, keine Unterhaltung mit anderen Hotelbewohnern führten, sondern nur auf ihren Laptops herumhämmerten oder ständig telefonierten. Ilse fragte, ob Karl bei seinen Geschäftsreisen ebenso campieren würde, was dieser heftig verneinte; er würde ordentlich übernachten und nicht Gefahr laufen, wie diese Vertreter zu vereinsamen.

Beide waren rechtzeitig, drei Tage vor der Besitzübergabe, wieder in der ferme. Während der eintönigen Autobahnfahrt hatte Ilse ihren Karl zufrieden angeschaut. Was war dieser früher so gestresste Mann zufrieden; anders als sonst lachte er ab und zu laut. Hoffentlich wird ihm das neue Leben im Dorfhaus und auf dem Berg nicht zu schnell langweilig. Na, wenn es nicht geht, verbringen wir eben die meiste Zeit des Jahres in Deutschland.

Als beide ihren Pkw vor der ferme abgestellt hatten, erschien der örtliche Möbelschreiner und wollte wissen, was aus den massiven katalanischen Möbeln, die er speziell für das katalanische Bauernhaus angefertigt hatte, werden würde. „Was soll damit werden? Wir nehmen sie natürlich mit in das neue Dorfhaus und gehen davon aus, dass sie alles notfalls passend machen werden“, erklärte Karl und wunderte sich über diesen Besuch. „Das ist überhaupt kein Problem, weil allenfalls Kleinigkeiten zu ändern sind. Ich habe nur nicht verstanden, warum sie ihre wunderschöne ferme gegen das Dorfhaus getauscht haben.“ „Na, wir haben aber auch den alten Turm auf dem Berg bekommen.“ „Monsieur Karl, sind sie sicher, dass der Bürgermeister sie nicht über das berühmte Ohr gehauen hat? Der Turm und das Dorfhaus sind doch…“, sagte der Schreiner und hielt sich den Mund zu, weil er offenbar zu viel gesagt hatte. „Wann soll ich ihre Möbel anpassen?“ Karl bat den Schreiner darum, am 15. des Monats, dem Tag der Besitzübergabe, vorbeizuschauen, was der Möbelschreiner sofort zusagte.

Am Abend lachte Ilse so laut, dass Karl erschrocken war. Sie hatte die bereits online erschienenen Gemeindenachrichten gelesen. Der Bürgermeister und der Gemeindevorstand berichteten, dass die Verhandlungen mit den deutschen Besitzern der ferme erfolgreich und zum Nutzen der Gemeinde abgeschlossen seien. Jetzt stünde dem neuen lotissement nichts mehr im Wege. Die Gemeinde habe für die ferme nur ein Dorfhaus und den alten Turm auf dem Berg eintauschen müssen. Von der refuge, den 102 Hektar Bergwald und den Steuervergünstigungen war keine Rede in der Mitteilung. „Der Bürgermeister ist doch ein richtiger Lump“, sagte Ilse und Karl erwiderte, dass er und der Gemeindevorstand doch clever wäre. Hätten sie auch die refuge und den bewaldeten Berg erwähnt, würden die Bürger bestimmt sagen, dass die Gemeinde unsere ferme viel zu teuer erworben hat. Und denk daran, dass die Gemeindewahlen im übernächsten Monat stattfinden. Diese Wahlen waren offenbar auch der Grund dafür, dass der Umzug von der ferme in das Dorfhaus mit Hilfe der Gemeindearbeiter völlig problemlos erfolgte. Der Möbelschreiner brauchte nur zwei Stunden, um seine handgefertigten Möbel im Dorfhaus einzupassen. Am frühen Abend war der Umzug erledigt und alle Beteiligten tranken den in dieser Gegend üblichen Muskat.

Wir hatten einen Berg in den Pyrenäen

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