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Oberhennersdorf

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Eine Sache war mir bis in jüngste Zeit nicht klar: Warum hatte meine Mutter einmal behauptet, daß mit mir der Krieg kam? Ob sie da was verwechselte? In der Schule habe ich gelernt, daß der Weltkrieg mit dem Überfall auf Polen am 1.September 1939 begann. Das war nicht mein Geburtstag, sondern Hansis, allerdings nicht 1939, sondern 1936. Ich jedenfalls hatte mit diesem Krieg überhaupt nichts zu tun, bin ja im November 1938 geboren. Muttis Behauptung hat mich damals heftig irritiert und verstimmt. - Heute weiß ich: Mutti meinte den deutschen Einmarsch in die Sudeten im September 1938. - Gesagt habe ich damals aber nichts. So war ich halt als Kind, zu klein gewachsen, schmächtig und auch etwas kränklich, und zudem war ich der Jüngste neben meinen Brüdern Ernst, genannt Arnstl, und Hans, genannt Hansi.

Meine allerfrühste Erinnerung hat mit Arnstl zu tun. Ich war vermutlich nicht älter als 3, höchstens 4 Jahre, Arnstl also 8, vielleicht 9. Es war Sommer, und wir badeten im Tümpel oben am Hang neben dem „Gemeendehaus“ (Nr. 348) in Oberhennersdorf, wo wir im Obergeschoß wohnten. Ich saß in einem Holzbottich, den Arnstl durch das Wasser schob. Plötzlich gab er dem Bottich einen Stoß, der schwamm nicht weit und kippte um. Ich habe heftig Wasser geschluckt, an den Schreck kann ich mich noch erinnern. Arnstl hat mich wohl auch gleich rausgezogen, mehr weiß ich nicht. Zu weiteren gemeinsamen Unternehmungen mit meinem großen Bruder ist es danach wohl lange nicht mehr gekommen.

Die nächste Erinnerung betrifft den standhaften Zinnsoldaten. – Das Gemeindehaus stand an einer leichten Wegkuppe. Wenn man aus der Haustür kam, führte der Weg links mit ganz leichter Neigung zu der Stelle, wo gegenüber der Hof des Eiselt-Bauern war, zuerst die Scheune, dann das Wohngebäude mit dem Stall dahinter und dem großen Misthaufen, in dem man herich ersaufen konnte, wenn man nicht aufpaßte. Von unserer Haustür nach rechts ging es mit stärkerem Gefälle zu der Senke mit dem bereits erwähnten Tümpel. An diesem Wegstück sehe ich mich am Rand hocken und Holzstückchen schwimmen lassen. Dieses Bild taucht in mir auf, wenn ich an das Märchen vom standhaften Zinnsoldaten erinnert werde, oder auch, wenn ich das Wort Rinnstein lese.


Mutti mit Herbertl, Hansi, Arnstl; dahinter Tanta Marie. 1939


Die drei Brüder zu Arnstls Einschulung. 1939

Mein erstes richtiges Märchen war das von den 7 Geißlein. Es gab da ein großes Mädel, vielleicht schon 10 oder 12 Jahre alt, das hat mir das Märchen einmal erzählt (vielleicht auch zweimal), dann konnte ich es selber auswendig erzählen, was allgemein bewundert wurde und mir mein erstes Erfolgserlebnis verschaffte.

Zuerst habe ich wohl meistens nur mit der Eiselt Christel gespielt, der Hof der Eiselts war ja gleich nebenan, und Christel war wohl auch in meinem Alter. Was wir gespielt haben, weiß ich nicht mehr; Puppe und Puppenwagen mit Holzrädern waren jedenfalls dabei. Eigenes Spielzeug kannte ich nicht; wir waren wohl recht arm, wohnten ja im Gemeindehaus, was man heute sicher Sozialwohnung nennen würde. Eiselts waren reicher, richtige Bauern mit Land und Vieh. Erinnern kann ich mich an Vesper auf dem Acker und an Heimfahrt hoch oben auf dem Heuwagen. Vor der Scheune stand im Sommer die riesige Dreschmaschine, die über einen langen Transmissionsriemen betrieben wurde und viel Staub machte. Und in der Scheune sind wir von oben runter in das weiche Heu gesprungen. Mutti hat immer Eiselts Christel als meine Freundin bezeichnet, was ich aber auch nicht gern zugeben wollte, schon gar nicht vor den anderen Buben.

Unsere Freundschaft war dann auch irgendwann zu Ende; eine Episode beim Spielen vor der Scheune spielte dabei wohl eine große Rolle. Christel sagte: „Zeigste mo mol dein Schnippel? Ich zeig do oo mei Bumpel“. Ich zog brav meine Hose ein Stück runter und zeigte. Christel guckte, kicherte und rannte davon. – Wenn ich meine Hose auch ruck-zuck wieder oben hatte, vergessen werde ich diese Blamage bestimmt nie. Womöglich rührte daher auch meine ständige Befangenheit beim Umgang mit Mädels in all den Jahren meiner Kindheit und Jugend. Oder ging es vielleicht anderen Jungs ebenso? Nicht nur wir allein sind schließlich ziemlich verklemmt erzogen worden.

Danach habe ich jedenfalls nur mit den Buben gespielt, immer waren sie älter oder größer als ich und haben mich kommandiert. Wenn wir in der Haselnußhecke hinter Eiselts Hof Buden gebaut und geraucht haben, mußte ich aus unserer Küche die Zündhölzer holen. Einmal hat Mutti es bemerkt und aus dem Küchenfenster gerufen: „Herbertl!! ( Mutti mit ihrer besonderen, eher etwas österreichischen Aussprache war die Einzige, die mich Herbertl nannte; für alle anderen war ich das Hawortl.)

– Sie rief also: „ Herbertl !! Komm soofort rauf!!“. Eine Watsche gab es von Mutti aber nie; sie sagte meist nur: „Geh schäm dich!“ - Die anderen Buben brachten in die Bude Blätter vom Abreißkalender mit, Tabak haben wir aus den trockenen Haselnußblättern gekrümelt. Zum Rauchen war ich selber noch zu klein, aber es war spannend. Natürlich wurden wir dabei auch immer mal erwischt und verjagt.

Gerne habe ich auch mit den anderen Buben „Kino“ gespielt. Das Kino war auf einem mächtigen Kastanienbaum, der vor dem anderen Bauernhof stand, in Richtung Friedhof. Im Mai 2005 haben wir von dem Bauernhof nichts mehr gefunden, aber von der Kastanie ist noch der Wurzelstumpf zu sehen, gut 1m im Durchmesser. Auf dieser Kastanie hat sich jeder eine bequeme Astgabel ausgesucht und dann war das unser Kino. Manchmal haben die anderen, die Größeren, auch dazu gesungen oder gebrüllt, na halt so, wie das im Kino ist.

Einige wenige Melodien aus dem Volksempfänger in der Stube haben sich mir in jener Zeit eingeprägt, die Texte habe ich nur teilweise verstanden. Vor allem war da: „Vor der Kaserne, vor dem großen Tor .... Wie einst Lilli Marleen“. Oder: „Auf der Heide blüht ein kleines Blümelein, und das heißt EERIKA .... Wenn die Sonne scheint, Annemarie, dann machen wir `ne Landpartie!“ Und: „Ich weiß, es wirrrd einmal ein Wunderrr geschehn ...“. Oft spielten sie auch: „Die Fahne hoch, die Reihen fest geschlossen ... marschiern im Geist in unsern Reihen mit.“ Die Fanfare zu den Frontmeldungen habe ich auch noch im Ohr: Taa-taa ta-ta-ta-ta-ta taa-taa! Und auch die Einleitung zur Wochenschau: „Die deutsche Wooochenschau“, obwohl ich bestimmt nicht oft in Rumburg im Kino war; nur „Quacks, der Bruchpilot“ und „Patt und Pattachon“ sind mir ganz schwach in Erinnerung. Und ein anderer Film, in dem jemand immer wieder mal „Lumpaazie -- Vagabundus !“ rief. Ein anderes Lied aus der Zeit ist „Aber Heitschi – Pumpeitschi, schlaf lange ...“, das Mutti sehr oft gesungen hat, und sie hat sehr schön gesungen.

Der Volksempfänger stand in der Stube oben auf dem Vertiko; vom Unterschrank konnte man gut auf das danebenstehende Sofa springen; Hansi hat´s vorgemacht und ich wurde erwischt. Vom Sofa konnte ich, wenn ich stand, sehen, was unten auf dem Weg passierte, wo die anderen spielten, während ich krank war. Was es so an Kinderkrankheiten gibt, habe ich alles mitgenommen, außer Masern, dafür aber eine Lungen- und Rippenfellentzündung. Mutti sagte, daß die Krankheiten alle von Hansi angeschleppt wurden, der „Bazillenträger“ war und nie krank wurde. Noch schwerer als ich erkrankte unser Editl, das 1941 geboren wurde und noch in seinem ersten Lebensjahr wieder von uns ging. An sie habe ich eigentlich auch keine Erinnerung. Eine neue Schwester, die Christa, genannt Christl, bekamen wir dann im Dezember 1943. Einmal hat Hansi sie beim Friedhof um die Ecke geschoben, und von oben kam die Lisbeth (oder vielleicht auch eine andere Frau) mit dem Fahrrad und hat den Kinderwagen und den Hansi umgefahren. Christa ist aber nichts passiert und Hansi hatte blutige Knie, sonst nichts. – Die Lisbeth war ein bißchen blöd, ihr konnte auch keiner böse sein. Sie kam manchmal zu uns rauf, hob ihre langen Röcke hoch und setzte sich auf den Flechtsitz des Stuhls. Einmal bin ich unter den Stuhl gekrochen, konnte aber nichts sehen. Sie saß immer lange da, sagte nichts und ging dann wieder. Später, als Papa aus dem Krieg wieder da war, sagte er zu der Lisbeth: „Red, oder scheiß Buchstohm !“ Geredet hat sie trotzdem nicht, ging einfach wieder los. Unten auf dem Weg ist sie manchmal eine Weile stehengeblieben, und wenn sie weiterging, war da eine nasse Stelle.

Von der Friedhofsecke führte der Weg runter zur Dorfstraße (im Mai 2005 waren nur noch ein Paar Reste von der Friedhofs-mauer da). Auf der anderen Seite, beim Eiselt-Bauern vorbei, ging auch ein Weg nach unten, da kam man direkt ans Mandau-Ufer, und nach links konnte man am Ufer entlang nach Rumburg laufen. Diesen Weg nahmen wir, wenn wir zu unserer Oma, genannt Grußmutto, gehen wollten. Einmal bin ich diesen Weg mit Mutti gegangen, ich vorneweg, Mutti hinterher. Kurz vor Rumburg merkte ich, daß Mutti nicht mehr da war. Heulend rannte ich den ganzen Weg zurück, Mutti stand an der Wegkreuzung oben und tratschte mit einer Frau. Gottseidank!

Unsere Grußmutto war nicht so arm wie wir, galt aber als geizig und war auch oft ziemlich streng zu uns. Sie wohnte allein in einem kleinen Holzhaus am Rande von Rumburg, gleich neben der Mandau; zur Haustür mußte man 2-3 Stufen runtersteigen. Weiter als bis in den Korridor bin ich wohl nie reingegangen, vor der Tür stand eine Holzbank. Als ich Grußmutto dann schon alleine oder zusammen mit Hansi besuchen konnte, gab es immer eine „Quorkschniete mit Buttoklecksln“, oder auch das „Ränftl“, an beiden Seiten 2-3 Mal „eigeschnitten“, und ein „Döppel“ dunkles Malzbier, auf der Holzbank. Geredet hat unsere Grußmutto nicht so viel, meistens hatte sie was zu schimpfen, am liebsten über die „Hanna“, unsere Mutti. Bei jeder möglichen Gelegenheit entschlüpfte ihr ein „Jessmantjosef !“ oder auch mal „Krutzitürken !“. Und - wovon wir erst später erfuhren - sie hat jeden kleinen Rest Brot und vor allem die hartgewordenen Ränftl getrocknet und für schlechte Zeiten aufgehoben.

Grußmutto sprach von uns allen die ausgeprägteste Oberhennersdorfer Mundart und sie hat diese später auch am besten bewahrt. Für manche Dinge hatten wir ganz andere Bezeichnungen als später in Mitteldeutschland, zum Beispiel: Ardeppel (Erdäpfel, Kartoffeln), Apornmauke (Kartoffelbrei), Pommeranzen (Apfelsinen), Paradeiser (Tomaten), Green (Meerrettich), Gapsen (Hosentaschen), Grießgasch (Grießbrei), Kukuruz (Mais), Karfjol (Blumenkohl), Klothosen (Turnhosen), Lawor (Waschschüssel), Drottuar (Fußweg). Statt „eben“ sagten wir „halt“, so wie es sich heutzutage von Westen her eingeschlichen hat; das ist jetzt halt so. Und das Wort „eh“ haben wir eh schon immer benutzt. Statt „angeblich“ sagten wir „herich“ und statt „vielleicht“ - „amende“. „Nee“ sagten wir statt „nein“, aber auch statt „nicht“. Das Wort „nur“ kannte ich auch nicht, wir sagten „bloß“ (ich will bloß zuschaun) oder „ok“ (gieh ok heem!), ein Wort, das mir aus keiner anderen Mundart bekannt ist. Eine häufig benutzte Wendung war „Lossok!“ (Lass nur!) als Ersatz für „Macht nichts!“, „Nicht so schlimm“. Das Wort „Achtung“ war mir auch nicht bekannt, wir sagten „Obacht“. Am Wortanfang wurden harte Konsonanten meistens weich ausgesprochen, und das ü klang bei uns wie ie (biste miede?); das hat mir später in der Schule noch lange Schwierigkeiten bereitet und kommt auch heute noch gelegentlich vor. Dafür haben wir aber den Dativ und den Akkusativ, im Unterschied zu vielen anderen Gegenden, korrekt benutzt, was mir in der Schule wieder Vorteile verschaffte. Wir kannten weder Gramm noch Pfund, sondern nur Deka und Kilo. Ich hatte mir sogar einen Witz über den Edeka-Laden an der Dorfstraße ausgedacht (vielleicht stammt er aber auch vom Arnstl): Beim Edeka gibt’s bloß ee Deka un keene zwee Deka. Meine schönsten Kindheitserinnerungen sind die an Mutti, ich war wohl auch lange Zeit ihr Lieblingskind. Meist durfte ich in ihrem Bett schlafen, an ihrer linken Seite, umfaßt von ihrem linken Arm, mein Kopf auf ihrer Schulter, mein linker Arm unter ihrem Hals und mein linkes Bein auf ihrem Bauch, so fühlte ich mich am allerwohlsten. Nur wenn Papa Fronturlaub hatte, mußte ich zu Hansi ins Kinderbett, wo wir Kopf zu Fuß schliefen und uns gegenseitig in den Bauch traten. Eigentlich habe ich Papa auch gar nicht vermißt, wenn er im Krieg war, das war ja für mich der Normalzustand. Auf dem einzigen Foto aus jener Zeit ist er auch nicht drauf, nur Mutti und Grußmutto, wir drei Buben und Christl als Baby. Arnstl hat die HJ-Kluft an; später hat Mutti aus dem Foto Ernsts linken Arm mit den Nazi-Zeichen rausgeschnitten, damits keinen Ärger gab. Das Foto war sicher für Papa extra beim Fotografen gemacht worden, damit er uns mit an der Front hat.


Wir waren zwar alle katholisch getauft, danach hat uns aber die Kirche in Rumburg niemehr gesehn. Der Grußmutto war das nicht recht, Mutti und Papa haben aber beide nichts vom Kirchgang und von Tisch- respektive Nachtgebeten gehalten und uns in dieser Hinsicht kaum beeinflußt. Klar, zur Weihnachtszeit spielte Jesus in den Liedern und Geschichten eine Rolle, am interessantesten war aber das Krippenspiel in Rumburg, ganz in der Nähe von Grußmuttos Haus. Da war ein ganzes Zimmer voller Miniaturlandschaft mit Häuschen und Kirchlein, und Bergwerk mit Förderturm und Bergleuten und Kohlenhunten, und Schafe mit Hirten und Hunden, und viele Leute auf den Wegen, und Wildtiere mit Holzfällern und Jägern, und manches bewegte sich, und viele Lämpchen brannten oder gingen an und aus, naja, und natürlich auch die Heilige Familie mit dem Jesulein in der Krippe. - Die Geschichte vom Leidensweg Jesu ist mir erstmals begegnet, als wir mal einen Familienausflug zum Hutberg bei Warnsdorf gemacht haben. Dort waren die 12 Stationen am Weg den Berg hinauf in Form lebensgroßer Holzschnitzereien dargestellt. Von da an war das für mich ein Märchen wie andere auch.

In Oberhennersdorf waren die Sommer immer schön warm und die Winter mit reichlich Schnee. In der warmen Jahreszeit sind wir so lange es ging nur „borps“ gelaufen, auch bei Regen und im Matsch, dazu eine Klothose an, weiter nichts, höchstens mal ein Turnhemd. Einmal bin ich mit Arnstl bis hinter Seifhennersdorf zum Silbersee gelaufen; er hat dort mit Mädchen im Wasser rumgetobt, ich habe die ganze Zeit im Gras auf der Decke gelegen und dann gefroren, als es schattig wurde. „Doheeme“ waren wir dann auch zu spät, den Ärger mußte Arnstl aber „alleene“ abfangen. - Unsere Spiele hatten meist mit Rennen zu tun, ich konnte bald sehr gut rennen, Hansi war aber immer schneller als ich. Wie oft ich mir den großen Zeh aufgestoßen habe! Auch die Knie waren häufig blutig. Arnstl kam einmal mit einem großen Schnitt im Fußballen heim, er war in der Mandau in einen Flaschenboden getreten. Zwei Spielgeräte gab es: Eine alte Fahrradfelge ohne Speichen, die mit einem kurzen Stock vorwärtsgetreidelt und bei Bedarf auch geleitet wurde, und ein kleines Kinderwagenrad mit durch die Achse gestecktem Stöckchen, das mit einem längeren Stock an dem kurzen Stöckchen getreidelt wurde. An Ballspiele kann ich mich nicht erinnern, nur die Mädchen haben einen kleinen Ball an die Wand geworfen und wieder aufgefangen. Ein Jungenspiel hieß „Landgewinnen“, bei dem Taschenmesser oder auch einfache Küchenmesser mit gekonntem Schwung „Land“ innerhalb eines vorgezeichneten Rechtecks abschneiden mußten. Wir spielten auch mit Stöcken und Holzschwertern oder mit kriegstypischen Gegenständen wie leeren Granathülsen und Gewehrpatronen, die wir im Gelände gefunden hatten. Es muß wohl im Sommer 1943 oder 1944 gewesen sein, da habe ich mal eine Taschenlampe gefunden, flach, mit Schiebeknöpfen an der Seite, mit denen man farbige Scheiben einstellen konnte, rot, grün oder gelb. Die wollte Werner, ein 10-jähriger ausgebombter Junge aus Berlin, gerne von mir haben. Ich glaube, er hat mir versprochen, daß er mir dafür die Schnecke seiner Schwester zeigt. Da gab ich ihm die Taschenlampe, konnte sie ja sowieso ohne Batterie nicht gebrauchen. Tage später, ich hatte schon gedacht, der Werner hat mich doch beschissen, nahm er mich dann mit hinter Eiselts Scheune. Seine jüngere Schwester war auch dabei, die hieß Bärbel, glaube ich. Der Werner sagte: „Willste ma sehn, was unsere Alten immer machen?“ Die Bärbel legte sich ins Gras und sagte: „Aber nich rinpinkeln!“ Der Werner legte sich auf die Bärbel drauf und hat da ein bissel rumgewirtschaftet. Nach einer Weile stand er wieder auf und fragte: „Willste ooch ma?“ Ich hab mich tüchtig geniert und den Kopf geschüttelt. Dann gingen sie beide weg. Ich hab mich wohl erst mal hingesetzt und gegrübelt. Daß seine Alten sowas immer machen, habe ich dem Werner aber nicht geglaubt. Und die Schnecke von der Bärbel hat er mir auch nicht gezeigt, vielleicht hätte ich ja besser hinsehen sollen. Danach habe ich aber niemals jemand von dieser Sache erzählt, bestimmt durfte man sowas nicht machen.

Wenn es dann kälter wurde, haben wir hohe Schuhe angezogen, und über die Klothose kam eine kurze Hose mit Hosenträgern und darunter ein Leibchen mit Strumpfhaltern für die langen Strümpfe. Obenrum gabs ein gestricktes Unterhemd, Oberhemd, Strickweste und Jacke, dazu bei Frost die „Schiemütze“ mit Ohrenklappen, Schal und Fäustlinge am langen Band oder auch einen Muff. Lange Hosen hatte ich nicht, auch keinen Mantel, ich kannte auch keine Halbschuhe und auch keine Turnschuhe. Oft waren im Winter Hände und Füße eiskalt geworden und wurden „doheeme“ im warmen Wasser aufgetaut, das tat immer weh. Froh war ich, wenn es wieder wärmer wurde und ich das blöde Leibchen samt langen Strümpfen gegen Kniestrümpfe tauschen konnte. Da war es dann nicht mehr weit bis zur Barfußzeit.

Im Sommer 1944 wurde ich eingeschult. In der Zuckertüte, nicht so groß wie heutzutage, waren Möhren und obendrauf 2 Äpfel. Ganz unten war auch noch etwas Knüllpapier. Einen gebrauchten Schultornister hatte ich auch; der war leicht, es war nur die Schiefertafel mit Griffel und Schwamm drin. Der Schwamm mußte angefeuchtet werden und baumelte dann an einem Faden außen am Tornister. Zur Schule mußte ich am Friedhof vorbei den Hangweg runter und noch ein kleines Stück nach rechts die Straße entlang laufen. Einmal waren Gänse auf dem Hangweg. Die wollte ich umgehen, über die Wiese. Die Gänse kamen aber hinterher, ich bin gerannt und voll lang in den Graben geknallt, mit dem Tornister auf dem Rücken. Von der Schiefertafel war nur eine Ecke abgebrochen, ich konnte sie weiter benutzen.

Mein Klassenzimmer war gleich rechts neben der Eingangstür des Schulhauses, ich saß in der Fensterreihe, aber weiter hinten. Der Herr Lehrer war schwarz angezogen und saß auf einem ziemlich hohen Pult, das auch noch auf einem Podest stand, er konnte also jeden und alles sehen. Rechts neben dem Pult stand auf dem Podest sein Spucknapf, den er oft und sehr geschickt benutzte. Mindestens einmal war ich auch dran mit dem Rausbringen, den ekligen Geruch kenne ich heute noch; er ist mir später im Krankenhaus wieder begegnet.

Gelernt haben wir als Erstes das Lied: „ Der Führer ist ein liiieber Herr, er wohnet i-in Be-erlin. Und wär es nicht so weit von hi-ier, so-o ging ich heut noch hin.“ Und den zackigen deutschen Gruß „Heil Hitler“ mit ausgestrecktem rechtem Arm. Von den allgemeinen politischen Verhältnissen in der Zeit habe ich als kleiner Kerl noch kaum etwas mitgekriegt. Das Wort Nazi durften wir nicht sagen, obwohl wir es kannten; das waren die in den braunen Uniformen, zum Beispiel der Ortsbauernführer. Manchmal hörte man auch, daß jemand ins KZ gekommen war. Ich habe das mit „Gummizelle“ gleichgesetzt, wo die schlimmen Verbrecher reinkamen. An vielen Stellen im Ort hingen Plakate: Auf einem stand "„Psssttt ! Feind hört mit !“, auf dem anderen war ein schwarzer Mann dargestellt, der einen großen schwarzen Sack auf dem Rücken schleppte; das war der Kohlenklau, mit dem zum Energiesparen aufgefordert wurde.

Von den anderen Buben in der Schule habe ich ein Gedicht gelernt, das geht so: „Ich weeß´n Witz, vun Onkl Fritz, de Waibo hom en Schlitz, de Männo hom en Knotn, mehr dorf ich nee voroten“. Ich dachte dabei, was soll da noch zu verraten sein; die letzte Zeile ist wohl nur da, damit es sich reimt.

Auf meinem ersten Halbjahreszeugnis steht: Führung-sehr gut; Leistung-gut; Fehltage: 6 entschuldigt. Für das zweite Halbjahr in der ersten Klasse habe ich schon kein Zeugnis mehr erhalten, da kam das Kriegsende dazwischen. Wir hatten in Oberhennersdorf Glück und haben eigentlich keinerlei Kriegshandlungen mitgemacht. Mein großer Bruder Arnstl war zwar noch Hitlerjunge geworden und hatte an Flak-Übungen teilgenommen, wurde aber von echten Kämpfen verschont. Kurz vor dem Kriegsende ging das Gerücht um, vielleicht war es auch eine offizielle Information, daß in Rumburg die Katakomben gesprengt werden sollen, und daß die ganze Stadt in die Luft fliegen wird, und daß die Trümmer bis nach Oberhennersdorf fliegen werden. Zusammen mit vielen anderen sind wir an dem Tag aus dem Ort gezogen und haben Schutz in einem Steinbruch gesucht. Für uns Kinder war das natürlich spannend. Wir sind im Steinbruch umhergeklettert und haben Krebse gefangen, in kochendes Wasser geworfen und dann gegessen. In der Nacht wurden Feuer angemacht, spät haben wir uns in unsere Decken gewickelt und aneinandergekuschelt auf den großen Knall gewartet. Bis zum Morgen war nichts passiert, und die Leute kehrten nacheinander alle wieder heim. Ich hatte noch große Angst und wollte nicht zurück, mußte aber mit. Rumburg steht natürlich heute noch.

Unser Papa kam im Frühjahr 1945 quer über den Hang raufmarschiert, seine Pioniereinheit hatte sich aufgelöst, damit war für ihn der Krieg zu Ende. Noch in den letzten Kriegsjahren hatten wir hinter dem Haus im Garten, in der Nähe der „Hitte“, also des Plumpsklos, eine Grube gebuddelt und mit Bohlen abgedeckt, als Unterstand für mögliche Bombardierungen. Wenn ich mich recht erinnere, hat Papa sich darin noch ein paar Tage versteckt, bis der Krieg richtig vorbei war. Tagelang hörten wir dann im Norden auf der Chaussee die Panzer langrasseln. Dann hieß es, daß die Russen in die Häuser kommen und schlimme Sachen machen. Ich mußte mich "sehr krank“ mit angemalten Masern in mein Gitterbett legen, unter dem sich Mutti versteckt hatte. Ob wirklich Russen da waren, weiß ich aber nicht mehr; mich haben die Vorbereitungen am stärksten beeindruckt.


Vom Sudetenland nach Sachsen-Anhalt

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