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Sebastians Traum I

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Kyra ist mittlerweile achtzehneinhalb Jahre alt, besitzt den Abschluss der Mittleren Reife und überlegt, ob sie das Abi nachholen will. Hannah und ich haben ihr zugeraten, jedoch Kyra ist noch nicht wild entschlossen, obgleich sie in den Polizeidienst möchte. Erst einmal hat sie sich um einen Platz auf dem Gymnasium bemüht und ist dann mit Freunden in den Urlaub gefahren. Ursprünglich war eine Motorradtour durch Frankreich geplant. Jedoch nach ihrem Unfall hat sie davon klugerweise Abstand genommen. Zu frisch sind die Erinnerungen an dieses Unglück. Und so wurde aus dem Motorradurlaub ein sogenannter Lastminute-Gähnurlaub (ihre Worte!) auf Gran Canaria. Ach! Ihr geliebter Roller ist nur noch Schrott und deshalb ist ein neuer bereits geordert, der ihr voraussichtlich nach dem Urlaub zur Verfügung stehen wird.

Noch einmal zurück zum Unfall. Fast alle Freunde haben mich gefragt, wie es angehen könne, dass ich diese Vorahnung gehabt habe, worauf ich mit den Schultern gezuckt und geantwortet habe: „Keine Ahnung! Es war eben so!“

Heute Nachmittag kommt Roland über das Wochenende zu uns. Irgendetwas hat er hier dienstlich in Hamburg zu erledigen. Was genau, hat er noch nicht von sich gegeben: Datenschutz! Aber ganz ehrlich: So wild bin ich auch nicht auf die Info. Mittlerweile befinde ich mich seit fünf Jahren außer Dienst und habe mich mental deutlich davon entfernt. Und zum zweiten: Wenn er von seinen aktuellen Fällen erzählt, höre ich nur noch mit einem halben Ohr zu, sehr zu seinem Bedauern! Doch daran ist im Wesentlichen die Thematik seines Jobs Schuld: Forensik! Es mag sicherlich für viele spannend klingen, doch sich mit irgendwelchen Würmern zu beschäftigen, ist wirklich nicht mein Ding. Zu meiner Dienstzeit mochte ich mehr die Aktion, anstatt „gelästert“ gesprochen, Würmer zu zählen. Aber das ist für mich mittlerweile belanglos geworden. Zu viele andere Gedanken schwirren ständig in meinem Kopf herum, schließlich bin ich zweifacher „Vater“ von anstrengenden Töchtern. Jetzt erst einmal kommt mein Freund, Roland. Und da ich Freunde mit einem gepflegten Äußeren empfange, laufe ich noch schnell um die Ecke zum Friseur.

Sebastian ist ein guter Bekannter von mir. Sein Laden befindet sich nur zwei Straßen weiter von meiner Wohnung entfernt. Seit Jahren lasse ich mir von ihm die Haare schneiden. Anfangs noch im alten Laden, den er mit ein paar Kollegen betrieben hat, und der, wie er stets betont, sehr gut gelaufen ist. Nach etwa drei Jahren hat er dann die Lust verloren, teilen zu müssen, und es ist eine Entscheidung erfolgt, bei der ich kräftig mitgewirkt habe. Sebastian ist einen Tag bei mir erschienen und hat mich gefragt, ob ich Zeit hätte, mir etwas mit ihm gemeinsam anzusehen. Warum so zurückhaltend, habe ich ihn gefragt, worauf er mir geantwortet hat: „Ich will Deine Meinung hören!“ Dann hat er mich an die Hand genommen, wir sind die eben bereits erwähnten zwei Straßen weitergelaufen und haben vor einem Geschäft gestanden. Einem kleinen Handwerkskunstladen. Dass ich ihn fragend angeschaut habe, ist vermutlich leicht nachvollziehbar. Das Geschäft lief offensichtlich schlecht und die Betreiberin suchte einen Nachfolger. Insgesamt nur etwa 25 Quadratmeter groß, zusätzlich mit einer Toilette und einem Sozialraum ausgestattet und ebenerdig in einem Gründerzeithaus gelegen. Dazu mit Holzdielen und etwas verbliebenen Stuck ausgestattet, machte das Geschäft einen netten Eindruck. Klar, dass ich verstanden hatte: „Du willst Dich selbstständig machen?“, habe ich ihn gefragt. „Jo, Finn“, war seine knappe Antwort. Und weiter und gar nicht zurückhaltend: „Und wenn Du mir 20 Mille Startkapital leihst, bekomm ich das hin!“ Bums! Das hat erst einmal gesessen, schließlich bin ich auch nicht vorbereitet gewesen. Schnell habe ich mich gefasst:

„Mein Lieber, ich bin doch keine Bank und will auch kein Eigentümer eines Friseurgeschäftes werden!“, sagte ich zu ihm. „Ach komm, Finn, lass uns das mal bei einem Bierchen kalkulieren!“, war als Antwort seinerseits erfolgt. „Aber das spendierst Du, Basti!“ „Jo, geht klar!“.

Wer jetzt fragt, was dabei herausgekommen ist? Wir sind dann zu seiner Bank, er mit einem kleinem Businessplan unter dem Arm und mich als andere Stütze. Die Haspa (Hamburger Sparkasse) fand die Idee nicht schlecht, jedoch wollte diese den Laden nicht allein finanzieren. So habe ich eine Bürgschaft in Höhe der 20 Mille (seine Ausdrucksweise) hinterlegt und Sebastian ist daraufhin eigener Friseurchef geworden. Und ich muss feststellen, sein Laden läuft wirklich gut. Ich schaue mir seine monatlichen Auswertungen an und bin sehr zufrieden. Genauso hat es sich in etwa vor einem Jahr zugetragen. Augenblicklich laufe ich gerade zu ihm, wie gesagt, um mich empfangsbereit und präsentabel gestalten zu lassen.

»Hallo Basti!«, begrüße ich ihn.

»Na, Finn, musst ein Augenblickchen warten. Mach Dir einen Kaffee und setz Dich!«, fordert er mich auf.

»Roland kommt nachher zu mir!«, rufe ich ihm zu.

»Kannst ihn gleich bei mir vorbeischicken. Er mit seiner Bullenfrisur. Das ist doch peinlich!«

»Erzähl es ihm selbst. Er will bestimmt alles runter haben. Er trainiert für Berlin!«

»Will er ein Läufchen machen oder windschnittige Kriminelle jagen? Nicht, dass Du auch noch auf die Idee kommst! Ich brauch die Kohle für den Kredit! Hab leider keine Spalte für „Kopf polieren!“ auf der Preisliste.«

»Haha, der war gut!«, und mein Daumen zeigt nach oben.

»Ich hab gleich Pause, dann gehen wir ins Gnosa auf ein Käffchen. Ich muss Dir unbedingt noch etwas erzählen!

»Gern, wenn es mich nicht wieder 20 Mille kostet«, scherze ich.

»Grrrrrrr! Schneiden geht bei Dir schnell. Deine Haare sind bereits ausgedünnt!«

Einige Minuten später im Gnosa.

»Bitte lach mich nicht aus«, so fängt er an. »In der letzten Zeit habe ich nachts ständig Träume.«

»Das soll vorkommen, Seb!«

»Jo, aber ist bei mir irgendwie anders«, behauptet er.

»Du machst es heute wieder spannend.«

»Weißt Du, eigentlich ist es nur ein einziger Traum, der immer wiederkehrt und sich entwickelt.«

»Hä? Versteh ich nicht!«

»Mein Traum geht so wie in einem amerikanischen Studentenfilm, wo die in einem Wald herumrennen und man als Zuschauer ahnt, gleich wird einer von denen ermordet!«

»Konkreter, Seb«, und ich schaue ihn irritiert an.

»Sofort. Also! Beim ersten Mal lief ich durch einen Wald und vor mir bewegte sich eine verschwommene Figur. Keine Ahnung, wer das sein sollte? Ich konnte nicht mal erkennen, ob es ein Weibchen oder ein strammer Bursche ist. Jedenfalls, so ging der Traum weiter, versuchte ich diese Figur einzuholen…«

»Und? «

»Ist mir nicht gelungen. Wurde ich schneller, wurde es auch dieses Etwas. Es sprang um mich herum, versteckte sich ab und zu hinter einem Baumstamm, kam dann wieder zum Vorschein, hüpfte weiter und weiter…«

»Und weiter?«

»Nichts weiter. Damit endete der Traum, weil ich durch ein Geräusch aufgewacht bin. Autohupe oder sowas!«

»Seb, das sagt mir gar nichts! Und Dir?«, worauf er mit den Schultern zuckt und wieder zu erzählen anfängt.

»Ein paar Tage später. Wieder die gleiche Szene. Wieder die Figur vor mir und wir beide laufen hintereinander durch den Wald. Diesmal winkt sie mir, zu folgen. Also hechel ich hinter diesem unbekannten Etwas her.«

»Du meinst, dieser Typ will Dir etwas sagen?«

»Ja, aber dazu ist es nicht gekommen. Wieder bin ich aufgewacht.«

»Und das hast Du jetzt einige Male geträumt und die Geschichte entwickelt sich nicht?«, frage ich nach.

»So geht das seit etwa drei Wochen. Doch letzte Nacht kehrte der Traum plötzlich zurück. Wieder laufen wir hintereinander her. Wieder winkt mir diese Figur zu, jetzt ist sie aber ein bisschen deutlicher geworden. Ich kann erkennen, dass es sich um einen Mann handelt. Wenn Du mich jetzt fragst, wer das ist? Ich weiß es nicht. Der Kerl besitzt kein Gesicht!«

»Kein Gesicht? Was bedeutet das?«

»Sportschuhe, Jeans, T-Shirt, alles ganz klar und deutlich. Nur wenn er sich umdreht und mir zuwinkt, ist sein Gesicht undeutlich verschwommen. In etwa, wie im Internet die Leute verpixelt werden.«

»Komisch!«

»Ja, ein bisschen gruselig ist das schon! Und ich habe versucht, diesen Mann mit Namen anzurufen, aber meine Stimme versagte augenblicklich. Aber der Traum ging dann weiter. Er winkt mir wieder zu und irgendwann kommen wir aus dem Wald raus auf eine Wiese. Eine riesige Grasfläche, die nicht enden will. Das wars!«

»Und das war letzte Nacht, richtig?«

»Genau! Das war heute Nacht!«

»Klingt für mich komisch und unheimlich. Irgendwie sehr bedrückend«, schüttele ich mit dem Kopf. »Na ja, ich bin kein Psychologe. Vielleicht solltest Du zu einem hingehen!«

»Hab ich mir zuerst auch gedacht. Aber dann habe ich mir gesagt, erst einmal warte ich ab, was weiter passiert. Vielleicht will der mich verführen? Ist bestimmt nett, so ein Abenteuer im Traum! Haha!«

»Das habe ich lieber im Wachem, mein Lieber. Du scheinst ja unter sexueller Flaute zu leiden, Basti.«

»Stimmt. Läuft bei mir nicht viel in der letzten Zeit. Ich bekomme zwar immer wieder eindeutige Angebote im Laden, aber ganz ehrlich: Hab ich keinen Bock drauf!«, erzählt er, während er noch an seinem Kaffee schlürft.

»Stimmt! Dein Freund Kevin ist auch weg, Hast Du mir beim letzten Mal erzählt!«

»Auf Bali und dann will er noch nach Vietnam. Er will sich dort mit Mai treffen.«

»Mit wem?«

»Mai! Kennst Du doch. Die kleine Vietnamesin aus dem alten Laden.«

»Ach die! Die süße Kleine von euch! Ist die nicht mehr da?«, frage ich nach.

»Nö, die ist nach Düsseldorf und hat ein Topangebot von Schwarzkopf angenommen. Da hat sie sofort zugegriffen. Kann man ihr auch nicht verdenken. Wir haben alle im Laden nicht so viel verdient! Aber Kevin…… Oh, guck mal, wer da kommt!«, und er deutet mit dem Finger auf die Straße.

»Überraschung!«, ruft Roland und umarmt uns im nächsten Augenblick. »Wo kann man euch sonst finden als im Cafe Gnosa. Finn, ich komme gerade von Dir. Ist niemand zu Hause. Darauf habe ich meine Tasche unten im Lokal gelassen und bin hierhin.«

»Du siehst richtig windschnittig aus, Roland«, scherzt Sebastian.

»Jo, ich trainiere auch für Berlin! Den schlappen Finn konnte ich nicht überzeugen, mitzumachen. Sitzt lieber beim Labern im Gnosa, ganz offensichtlich!«

»Na, na! Ist auch eine anstrengende Tätigkeit, mein Bester. Aber lass Dich erst einmal anschauen. Du hast ja wirklich einige Kilo verloren. Sportlich, sportlich, mein Freund. Ich hatte Dich erst für später auf dem Zettel.«

»Tschüs, ihr Süßen! Ich muss jetzt wieder schuften gehen!«, verabschiedet sich Seb von uns.

»Wir können gleich einmal auf die Runde, Finn. Wenn Du nichts vorhast?«, meldet sich Roland zurück.

»Da bin ich bei Dir. Erst einmal den letzten Schluck Kaffee und dann runter an die Alster.«

Gesagt, getan. Zuerst nach oben zu mir, rein in die Sportsachen und ab an die Alster. Und tatsächlich, habe ich sonst Roland immer im Sack gehabt, legt er bereits nach einigen hundert Metern ein paar Steigerungsläufe ein, worauf ich nur noch seine Hacken wahrnehmen kann. Respekt und gleichzeitig oh, denn er erinnert mich auch wieder mehr zu tun. In der nächsten Zeit! Na klar, er scheint meine Gedanken gehört zu haben, denn sofort dreht er sich mir auffordernd zu und lacht. Bekomme ich gerade ein Déjà-vu aus Sebs Traum von vorhin?

Später zu Hause.

»Sag mal, Finn! Gibt es etwas Neues zu Kyras Unfall?«

»Nicht so wirklich außer, dass es sich um einen hellen Golf aus Dänemark handeln soll. Der Halter heißt Erik Rasmussen. Er hat sein Auto hier in HH als gestohlen gemeldet. Ansonsten Fehlanzeige! Nichts.«

»Wollen wir zu dem Kollegen später hingehen, oder jetzt gleich?«

»Können wir erledigen. Es sind ja nur ein paar Schritte.«

Der Kollege taut ein bisschen auf, als ich mit Kriminalhauptkommissar Roland, um korrekt zu sprechen, auftauche. Leider kann er uns auch nichts Wesentliches sagen. Jedenfalls kommt aus seinem Mund der mittlerweile legendäre Satz: „Wird schon werden!“ Na toll, denke ich mir. Sprechen hier in Hamburg alle mittlerweile so bescheuert wie: Das wird schon oder schon werden? Wenn ich das heute noch einmal höre, dann…..

»Sag mal, führst Du in der letzten Zeit immer Selbstgespräche?«, fragt mich Roland besorgt.

»Wie kommst Du darauf?«

»Hast eben etwas wie „wird schon..“ gemurmelt! Ist alles bei Dir in Ordnung?«

»Nun fang Du auch noch so an«, knatter ich zurück. »Seit Kyras Unfall höre ich ständig: „Wird schon werden oder das wird schon!“ Und dann erzählt mir Sebastian auch noch einen beknackten Traum. Ich glaub, ich muss irgendwo zu einem Betriebsyoga gehen. Das soll ja angeblich sooo entspannend sein!«

»Also, wenn ich diese Verrenkungen sehe, empfinde ich eher Verspannungen und alle Knochen tun mir weh!«, entgegnet mir Roland. »Aber von welchem Traum sprichst Du?«, fährt er fort.

»Später, später! Heute Abend. Oder besser, nachdem Du Dir die Platte von ihm hast rasieren lassen. Dann wird er Dir es selbst erzählen wollen. Sag mal, wie lange bleibst Du?«

»Zwei Tage und das Wochenende. Am Montag muss ich zurück in Frankfurt sein.«

Erst einmal gibt es eine Menge zu erzählen: von Diesem und Jenem und Jedem und Allem! Währenddessen kochen wir etwas Leckeres für uns drei, denn schon bald wird auch seine schmerzvolle Liebe, Hannah eintreffen. Sofort liegen sie sich wie gehabt in den Armen und herzen sich richtig, was mich zu einem herzzerreißenden: „Ach, wie süß!“ veranlasst, und ich mir einige grimmige Blicke von den beiden zuziehe. Abends rufen wir das gar nicht mehr so kranke Huhn, Kyra an. Und wen entdecke ich unter den Freunden? Na klar, den coolen Arzt Alex und meine ständig grinsende Tochter neben ihm. Mehr möchte ich erst einmal nicht dazu bemerken!

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