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1. Faszination Alter – „erst jetzt!“

Das Alter – eine faszinierende Lebensphase

Auch wenn jeder weiß, dass sich im Altsein Mühsal und Beschwerden einstellen können, lenken wir den Blick zunächst bewusst in eine andere Richtung: Das Alter ist eine spannende Lebensphase, ganz gleich ob ein Mensch die dritte, die vierte oder gar die Phase der Langlebigkeit/Hochaltrigkeit erreicht hat. Alter kann faszinierend sein – nicht erst seit dem fantastischen Roman von Jonas Jonasson: „Der Hundertjährige, der aus dem Fenster stieg und verschwand“3. Auch wenn nicht jeder alte Mensch die Abenteuerlust des hundertjährigen Allan Karlsson hat: Im älter werdenden Menschen steckt immer noch viel an Lebenslust, an Kreativität, an Lebensenergie und Lebenssattheit, die einfach Freude an jedem neu geschenkten Tag erleben lässt.

Nur bedingt gültig ist darum heute die Weisheit des Psalm 90, in dem es heißt: „Unser Leben währt siebzig Jahre, und wenn es hochkommt, sind es achtzig. Das Beste daran ist nur Mühsal und Beschwer“ (Ps 90,9–10).

Für manche mag dieses Psalmwort ja stimmen. Aber auch das stimmt: Alter kann zwar Last sein, aber auch Lust; Alter bedeutet nicht Kranksein, auch wenn der alte Mensch krank sein kann, sondern auch Gesundheit und Vitalität; Alter verbindet sich nicht in erster Linie mit Demenz und Alzheimer, sondern auch mit geistiger Frische, Interesse und Teilnahme am Leben der Umgebung und der Welt.

Samuel Ullmann, amerikanischer Dichter, vor allem bekannt durch sein Buch „Youth“ (Jugend), findet dafür treffende Worte, deren deutsche Übersetzung dem „Urwalddoktor“ Albert Schweitzer zugeschrieben wird (in Auszügen):4

Du bist so jung wie deine Zuversicht

„Jugend ist nicht ein Lebensabschnitt, sie ist ein Geisteszustand.

Sie ist Schwung des Willens, Regsamkeit und Fantasie, Stärke der Gefühle,

Sieg des Mutes über die Feigheit, Triumph der Abenteuerlust über die Trägheit.

Niemand wird alt, weil er eine Anzahl Jahre hinter sich gebracht hat.

Man wird nur alt, wenn man seinen Idealen Lebewohl sagt.

Mit den Jahren runzelt die Haut,

mit dem Verzicht auf Begeisterung aber runzelt die Seele.

Sorgen, Zweifel, Mangel an Selbstvertrauen, Angst und Hoffnungslosigkeit,

das sind die langen, langen Jahre, die das Haupt zur Erde ziehen

und den aufrechten Gang in den Staub beugen. …

Du bist so jung wie deine Zuversicht, so alt wie deine Zweifel,

so jung wie deine Hoffnung, so alt wie deine Verzagtheit. Solange die Botschaft der Schönheit, Freude und Kühnheit,

der Größe der Erde, des Menschen und des Unendlichen dein Herz erreicht, so lange bist du jung.

Erst wenn die Flügel nach unten hängen und das Innere deines Herzens

vom Schnee des Pessimismus und vom Eis des Zynismus bedeckt ist,

dann erst bist du wahrhaftig alt geworden.“

Gelingendes Alter ist eine Frage der Lebendigkeit und der Freude am Leben. Es ist die Kunst, auch da, wo sich Einschränkungen melden, dem Leben den Vorrang zu geben, Chancen und Möglichkeiten, die da sind, wahrzunehmen und ihrer Einladung zu folgen.

Was will ich erst jetzt?

In unseren Kursen zur Dritten und Vierten Lebensphase wurde die Fragestellung: „Was will ich erst jetzt?“ zum Schlüssel, über lebendiges Altsein nachzudenken. Die Antworten lesen sich eindrucksvoll. Sie sind Zeugnisse, dass das Alter reich sein kann an zunehmender Kompetenz und zunehmenden Möglichkeiten. Voraussetzung ist, den Blick vom Starren auf das „nicht mehr“ zum achtsamen Hinsehen auf das „erst jetzt“ zu wenden. Im Folgenden zitieren und bedenken wir Antworten von (wohlgemerkt alten) Kursteilnehmerinnen und Kursteilnehmern auf diese Frage nach dem „erst jetzt“:

„Ich bin dankbar, weil ich jetzt Zeit habe(n darf) für Erlebnisse, zu denen mir vorher die Zeit fehlte: die Natur erleben, Musik hören, Sport, Lesen …“

Da merkt jemand, dass das Alter nicht nur Türen zuschlägt, sondern Türen öffnet. Die im Beruf oft eingeengte und zwanghafte Welt wird weit. Bisher verdrängte Möglichkeiten bekommen die Chance sich zu entfalten:

Das fasziniert!

„Ich kann mein Leben entschleunigen. Dabei hilft mir auch, dass ich langsamer werde und nicht mehr alles kann, was ich früher konnte.“

Verlangsamung ist eine Begleiterscheinung des Alters. Aus dem zitierten Satz spricht ein alter Mensch, der das nicht als Eingrenzung sieht, sondern als Chance. Der Lebensrhythmus des modernen Menschen ist oft unruhig und gehetzt. Hier sieht ein Mensch sein Langsamer-Werden als Chance zur Entschleunigung – und damit auch zu einem bewussteren Leben, das den Augenblick genießen will. Weitere Aussagen gehen in eine ähnliche Richtung:

„Ich gönne mir Räume der Stille, um ganz bei mir sein zu können.“ Räume der Stille sind Geschenke, die der oft gestresste Alltag des Erwachsenen kaum noch oder viel zu selten kennt. Das entschleunigte Alter hat die Chance, zur Ruhe und zur Stille zu kommen, diese Geschenke zu genießen und auszukosten. Keiner sitzt im Nacken, höchstens der Sklaventreiber im eigenen Inneren, der sagt: „Eigentlich müsstest du!“ Befreiend!

„Ich will genießen, was das Leben mir schenkt – das muss gar nicht viel sein.“ „Ich spüre, dass ich sensibler werde für kleine Dinge, für Schönheit und Begegnung im Alltag.“

Das Leben ist gespickt mit „Blumen am Wegrand“, die ich nur zu leicht übersehe, weil ich durch das Leben jage, weil ich viel zu oft nur auf die großen Ziele starre und das Gespür für das Kleine und Nächstliegende verliere. Das Alter bietet die Chance, wacher und sensibler dafür zu werden – Einsichten und Erfahrungen, die die Jugend kaum kennt: Das fasziniert!

„Ich mache mich frei von Zwängen, etwa von dem Zwang, alles hundertprozentig machen zu müssen.“

Manche leben in Umständen, die sie zwingen, hundertprozentig zu funktionieren. Manche sind aber auch ihre eigenen Zwingherren. Sie überfordern sich. Alles muss stimmen. Und jetzt bist du alt und merkst, wie viel in deinem Leben bruchstückhaft geblieben ist trotz allen guten Willens. Der Druck hat manchen nicht selten die Luft zum Atmen genommen. Jetzt verrät die Weisheit des Alters: Es muss nicht alles vollkommen, perfekt, sein. Vieles darf Fragment sein und bleiben – und die Erde dreht sich trotzdem weiter. Das Vollenden, die Rundung des Lebens, überlasse ich getrost dem, zu dessen Wesen das Vollenden gehört: Gott. Darüber werden wir noch in einem eigenen Kapitel nachdenken.

Diese „späte“ Einsicht schenkt befreites Leben, lässt auf- und durchatmen. Das gibt Gelassenheit auch angesichts des Unvollendeten: Das fasziniert!

„Ich erinnere mich an vieles, was in meinem Leben gelungen ist. Ich kann in der Rückschau Gottes Weg mit mir entdecken und dankbar weitergehen.“

Das Alter ist Erntezeit. Momente der Erinnerung können ein „Erntedankfest“ sein. Erinnerungen müssen den Menschen nicht auf Vergangenes fixieren, auch wenn das gerade im Alter eine Versuchung ist. Manche ältere Menschen, unzufrieden mit der Gegenwart, flüchten sich gern in die guten Erfahrungen von gestern, verherrlichen sie, selbst wenn sie gar nicht so herrlich waren. Sie leben „vergangenheitsverliebt“. Mit dieser Haltung, vor allem mit dem dauernden Reden darüber, gehen sie schnell ihrer Umgebung auf die Nerven. Das tut nicht gut! Keiner hat Lust, immer nur die Geschichten und Heldentaten von gestern zu hören. Wer sich so verhält, wird sehr schnell sehr einsam!

Erinnerung will vielmehr eine Kraft für die Zukunft sein. Wenn alte Menschen auf Gelungenes und Erfreuliches zurückblicken, kann ihnen das zur Quelle des Lebensmutes und der Energie für morgen und übermorgen werden, weil sie „rückwärts blickend vorwärts schauen“5.

Solche Erinnerung ist nicht zuletzt dem glaubenden alten Menschen eine Quelle des Gottvertrauens und der Hoffnung. Denn gute Erfahrungen sind für viele die Handschrift Gottes in ihrem Leben. Dieses Geheimnis enthüllt sich erst in der Rückschau. „Das Leben kann nur in der Schau nach rückwärts verstanden und nur in der Schau nach vorwärts gelebt werden“ (nach Kierkegaard). Sich in der Gegenwart an Vergangenes erinnern, um dem Leben und der Zukunft zu trauen, das lässt Leben auch im Alter gelingen: Das fasziniert!

„Die Lebenserfahrung hilft mir, auf vieles anders zu reagieren: nüchterner, gelassener, humorvoller.“ „Ich spüre, dass eine Reifung stattgefunden hat, die mich mehr Verständnis für andere haben lässt.“

Wer solche Sätze sprechen kann, gehört zu den liebenswürdigen Seniorinnen und Senioren. Gern werden sie auch „positive Oma“, „positiver Opa“ genannt. Sie sind offen für die Menschen um sie herum, vor allem für die nachrückenden Jüngeren. Sie leben nicht ein krampfhaftes „ich auch!“. Sie schauen mit Gelassenheit in ihre Umgebung und kennen das wohlwollende, humorgetränkte Schmunzeln: „Ich will und kann öfter über mich lachen.“ Solches Lächeln befreit mich zu mir selbst. Wer über sich selbst lachen kann, gestattet es sich, der Mensch zu sein, der sie oder er ist.

Das Alter ist eine Lebensphase, in der sich kein Mensch mehr etwas beweisen muss. Ich lebe einfach mit dem, was ich kann, aber auch mit dem, was ich nicht kann. Das bin ich – und so darf ich sein: „Ich lebe mein Leben mit den Möglichkeiten, die mir jetzt gegeben sind.“ Das lockt und fasziniert!

Ich tue mir selbst etwas Gutes, gönne mir etwas.“

Das ist ein wunderbares Wort. Es spricht von einer Lebenskunst, die erlernt sein will! Dazu hat Edith Hess für ihr eigenes Leben wertvolle Leitsätze wie die drei folgenden entwickelt:

„Ich tue meinem Leib Gutes

Ich freue mich meiner Leiblichkeit trotz abnehmender Schönheit und Frische. Ich kümmere mich liebevoll um meinen Leib, trainiere, pflege und salbe ihn. Es tut mir gut, mit Tieren und Pflanzen in zärtlichem Körperkontakt zu sein …

Ich lege die Hände in den Schoß

Ich freue mich an der Befreiung von vielen Aufgaben und nehme mir mit gutem Gewissen Zeit zum Sinnieren, Träumen und Nichtstun. Ich betrachte mein Lebenswerk und freue mich über alles, was gelungen ist. In einer lauten Welt achte ich auf leise Stimmen und Töne …

Ich setze mich an die echten Lebensquellen

Ich schaufle mir den Zugang zu meinen inneren Kraftquellen immer wieder frei. Ich stärke mich mit der Erfahrung von Freundschaft; ich liebe und lasse mich lieben. Ich lasse mich immer wieder verzaubern von der Schönheit der Natur und des Sternenhimmels, der Musik und anderen Werken schöpferischer Menschen.“6

Das sind Chancen des an Lebensjahren alten Menschen, sich selbst Gutes zu tun, sich selbst etwas zu gönnen, das Wort des hl. Bernhard mit Leben zu füllen, das er an seinen Schüler Papst Eugen III. geschrieben hat: „Gönne dich dir selbst!“ Da macht es Freude, alt zu sein: Das fasziniert!

„Ich will am Leben teilnehmen – bis zum Schluss.“

Das sagt ein alter Mensch, der nicht an einer Blickverengung leidet. Mancher kennt, wenn die Jahre kommen, nur noch Themen wie Arztbesuche, Pillen, Krankheiten, Essen und Trinken … Mancher kennt die Wartezimmer der Ärzte besser als die eigene Küche. Da wird die Welt ganz klein, das Interessante im Leben reduziert sich auf das, was in meiner kleinen Welt geschieht. Schade, denn die Welt ist so groß!

„Ich will am Leben teilnehmen …“ – es ist beeindruckend, was der alte Mensch mit diesem Satz ausdrückt: „Ich interessiere mich für das, was über meinen Tellerrand hinausgeht.“ Es berührt mich, was in der Welt geschieht. Ich nehme an den Erfolgen meiner Kinder, Enkel und Urenkelinnen teil. Ich will mich aufregen, wenn Politiker und Politikerinnen uns betrügen, um Stimmen zu fangen. Ich will mich freuen, wenn im Frühling die Natur wieder aufblüht! Ich will nicht mehr das Tanzbein schwingen, aber ich genieße den Anblick junger Paare auf der Tanzfläche. Ich will betroffen sein, wenn ich vom Hunger in der Dritten Welt höre und sehe. Ich will neugierig bleiben, die Umwelt nicht mit meinen „alt-klugen“ Antworten überschütten, stattdessen fragen, schauen, einfach dabei sein: mitlachen, mitweinen, Anteil nehmen. Bei alledem mache ich mir bewusst, „dass ich nicht allein bin. Andere erleben Ähnliches, sitzen mit mir im gleichen Boot.“ Das fasziniert!

Was kann ich erst jetzt?

Das ist die Schlüsselfrage zu gelingendem und zufriedenem Altsein. Sie lenkt den Blick auf die Kompetenz des Alters, auf Fähigkeiten, die erst mit den Jahren richtig aufblühen, auf Chancen, die ich in mir trage, auf Möglichkeiten, die mir gerade das Alter ermöglicht.

In diesem Zusammenhang hat Alt-Bischof Joachim Wanke aus Erfurt fünf Antworten formuliert auf die Frage „Was mir im Alter wertvoll ist?“, von denen wir einige gekürzt wiedergeben.7

„Unterbrechen können

Ich merke, dass ich Freude daran gewinne, Zeit zu haben, mich von aufdringlicher Kommunikation zu ‚entkabeln‘. Es ist für mich ein Geschenk, Zeit für mich und Zeit für Menschen an meiner Seite zu gewinnen. Hören, Zuhören und Nachdenken können werden mir wichtiger als früher.

Anknüpfen können

Ich mache die Erfahrung, dass mir die Wiederholung hilft und Sicherheit gibt. Damit meine ich die Alltagsrituale (des geregelten Tages) bis hin zu den liturgischen Ritualen, in denen die Seele sich festmachen kann. Dort kann ich immer neu anknüpfen und innerlich dankbar bleiben.

Loslassen können

Es gehört zur Gnade des Alters, nichts unbedingt und um jeden Preis festhalten zu müssen. Es ist sicher eine Gnadengabe, innerlich die Sehnsucht nach dem ‚Mehr‘ zu behalten. Ich kenne ältere Menschen, in deren Nähe man aufatmen kann, denen man nichts bringen muss, sondern von denen man beschenkt weggeht. Vielleicht fällt es im Alter auch leichter, nicht auf Begeisterung angewiesen zu sein. Es befreit, vieles einfach loslassen zu dürfen.

Bejahen können

Im Alter entdecke ich mehr als früher: Die größte Tat des Menschen ist es, sich selbst zu bejahen, sein Leben – so wie es ist, so wie es war. … Das Alter schenkt mir Luft, mir Zeit zu lassen und anderen Zeit zu geben, diese Kraft zur ‚Zustimmung‘ aufzubringen.“

Eine anschauliche Zusammenfassung der bisherigen Überlegungen ist der Titel, den Edith Hess und Karl Guido Rey ihrem Buch über eine Spiritualität des Alters gegeben haben: „Die Reise ist noch nicht zu Ende8. Das Leben ist eine große Reise, mit Faszination und Erlebnissen auf jeder Teilstrecke. Diese Reise ist nicht abgeschlossen, wenn der Mensch „aufs Altenteil“ geht. Sie geht bis zum „Grenzbahnhof“ mit der „Zollstation“ zur Ewigkeit, bis zum letzten Atemzug. Auch im Alter kann das Leben eine attraktive Reise sein, sicher mit mancher Klage, aber auch mit Tanzen (vgl. Ps 30).

Biblische Vertiefung

Vom Alter als Lebensphase der Lebendigkeit, nicht des langsamen Dahinwelkens, weiß auch die Bibel. Im Psalm 92 heißt es über den (auch alten) Menschen, der seine Kraft aus dem Leben mit Gott schöpft: „Gepflanzt im Haus des Herrn, gedeihen sie in den Vorhöfen unseres Gottes. Sie tragen Frucht noch im Alter und bleiben voll Saft und Frische.“

Die Bibel kennt Beispiele für die Wahrheit dieser Worte:

Sara, die Neunzigjährige, ist noch in ihrem Alter fruchtbar und empfängt Isaak. Ähnliches erlebt im Neuen Testament Elisabeth, die Frau des Zacharias. Sie bringt im hohen Alter noch einen Sohn zur Welt, Johannes den Täufer: „… sie tragen Frucht noch im Alter! “ Auch die beiden Alten im Tempel, Simeon und Hanna, tragen glücklich die Frucht ihres lebenslangen Hoffens auf den Armen: kein eigenes Kind, aber ein Kind, das Gott schenkt, eine Frucht ihres lebenslangen Vertrauens: Ihre alten Augen sehen das Heil – und strahlen!

Das Alter ist eine Phase der Lebensfülle, für die auch das Wort aus der Mitte des Johannesevangeliums gilt: „Ich bin gekommen, damit sie das Leben haben und es in Fülle haben“ (Joh 10,10). Wer ins Leiden verliebt seine alten Tage lebt, wird die Fülle nicht entdecken. Wer aber in der erwartungsvollen Hoffnung lebt: „Ich will am Leben teilnehmen – bis zum Schluss“, wird die Quelle der Lebendigkeit auch im Alter entdecken. Diese Quelle wird dem alten Menschen von Gott geschenkt, trinken allerdings muss er selbst.

Anschaulich wird das bei dem Gelähmten am Teich Bethesda (Joh 5,1–16). Seit 36 Jahren liegt er dort und kommt nicht in das heilend flutende Wasser. Dann kommt Jesus, sieht ihn, hört sich seine Geschichte an und fragt ihn: „Willst du gesund werden?“ Die Theologin und Psychotherapeutin Hanna Wolf akzentuiert diese Frage auf das erste Wort. Willst? Willst du wirklich? Willst du überhaupt? Wenn einer so lange daliegt und gesund werden will, dann finden sich auch Wege! Darum fragt ihn Jesus: „Willst du überhaupt gesund werden?“ Manchen Menschen ist die quälende Seite ihres Lebens so zur zweiten Natur geworden, dass ihnen etwas fehlt, wenn sie plötzlich gesund sind. Die gleiche Frage geht an den alten Menschen: Willst du lebendig sein bis zum letzten Atemzug? Willst du teilhaben am Leben? Willst du überhaupt …? Wenn ja, dann finden sich Wege. Du selbst bist der Schlüssel zum Glück deines Alters.9

Anregungen aus franziskanischer Spiritualität

Franz von Assisi wurde nicht alt. Er lebte nur 44 Jahre. Das ist in der damaligen Zeit mehr als heute. Seine letzten Lebensjahre waren, wie Psalm 90 sagt, „Mühsal und Beschwer“. Genau darum ist es faszinierend, dass er in diesen von Schmerzen geprägten Lebensjahren den Sonnengesang schrieb, ein Lied, das vor Lebensfreude nur so sprüht. Er hätte ein Klagelied anstimmen können, jeder hätte es ihm geglaubt – es war ja augenscheinlich. Doch er schreibt ein Loblied auf Gott und seine wunderbare Schöpfung. Er besingt die Sonne, deren Licht ihm bei seiner Augenerkrankung Schmerzen bereitete. Er staunt über den Mond und die Sterne und die fruchtbare Erde. Er besingt alle Geschöpfe als seine Schwestern und Brüder. Selbst den Tod besingt er in diesem Lied als Bruder (im italienischen Urtext als Schwester), der ihn nicht von Gott trennt, sondern zu Gott führt.

In diesem Glauben ist ihm die heilige Klara nah, die nach langem Krankenlager mit einem Loblied auf Gott stirbt (LebKl 46, KQ 334): „Du, Herr, sei gepriesen, der du mich erschaffen hast.“ Beide, Franziskus und Klara, verkörpern eine Lebenshaltung, die bis zum letzten Atemzug Lebendigkeit atmet.

Davon spricht auch die 27. Ermahnung des Heiligen; sie redet von Haltungen, die auch im Alter lebendig halten:

„Liebe und Weisheit,

Geduld und Demut,

Armut mit Fröhlichkeit,

Ruhe und Betrachtung,

Furcht des Herrn,

Erbarmen und Besonnenheit“ (Erm 27, FQ 54).

Meditation

Kann

kann „schon alleine“

kann „noch alleine“

kann „nicht mehr alleine“

kann „erst jetzt“

kann

In diesem Spannungsfeld

lebe ich mein Leben

langsam aufsteigend –

hin zum Scheitelpunkt …

und dann

langsam absteigend –

in die Tiefe – mit Tiefgang –

das Leben leben

begleitet vom

allmählichen Nachlassen der Kräfte

bis hin zum

ich kann „nicht mehr alleine“

aber auch

begleitet von der Frage:

was kann ich „erst“ jetzt

„erst“ jetzt

kann ich Erstaunliches:

Zeit haben

Langsamkeit zulassen

mein Tempo gehen

meine Träume träumen

Interesse zeigen

Humor ausstrahlen

dankbar sein

Das alles kann ich

trotz der Begrenzungen

die das Alt-Sein mit sich bringt –

auch in Offenheit für Gott,

der mich

in seine Hand geschrieben hat

und mich beim Namen ruft

Lebendig alt sein

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