Читать книгу Es wird einmal gewesen sein … - Heribert Riesenhuber - Страница 5
ОглавлениеDas Talent des Malers
Der Maler Johann Baptist Zimmerli lebte in einer blassen, undeutlichen Landschaft, einer Landschaft, in der man auch bei schönem Wetter immer das Gefühl hat, ein feiner Nebel läge vor den Dingen. Schon als Kind, in einem kleinen Dorf unweit der österreichischen Grenze, war Johann durch seine außerordentliche Begabung zum Zeichnen aufgefallen – was seine Eltern mit Stolz und heimlicher Furcht erfüllte. Mit dem Bleistift war er bereits in jungen Jahren so geschickt, dass er Gegenstände jeglicher Art und sogar Fotos mit größter Präzision abzeichnen konnte. Da Johann Baptist bei seinem Eintritt in die Schule fehlerfrei schrieb, hielt ihn die Lehrerin für intelligent. Allerdings nur so lange, bis sie bemerkte, dass er zwar die Worte schreiben konnte, von ihrer Bedeutung aber keine Ahnung hatte. Buchstaben malte er wie kleine Bilder. Das Lesen lernte er leidlich und mit dem Rechnen hatte er bis ins Alter hinein große Schwierigkeiten.
Als im Hause der Eltern eines Tages anstand, ein altes, hölzernes Buffet zu entfernen, dessen Oberfläche stumpf und unansehnlich geworden war, machte die Mutter eine seltsame Entdeckung: Auf der Wand, hinter dem Buffet, die – so sollte man jedenfalls annehmen – über Jahre hindurch von dem Möbel verdeckt gewesen war, befand sich eine exakte Zeichnung von eben diesem Buffet. Mit allen Einzelheiten, dem Porzellan und den Gläsern; ja, sogar ein Spinnennetz, das schon längst wieder verschwunden war, konnte man erkennen. Niemand gelang es, herauszufinden, wie es der schmächtige Johann, um dessen Werk es sich zweifellos handelte, geschafft hatte, das schwere Buffet von der Stelle zu rücken. Kurz darauf merkten die Eltern, dass sich Zeichnungen des Jungen hinter jedem Schrank in der Wohnung, hinter jedem Bild an der Wand, auch hinter den Betten befanden. Und sie wunderten sich.
Zu seinem achten Geburtstag schenkte ein Onkel Johann Baptist die ersten Buntstifte und einen Kasten mit wasservermalbaren Farben. Mit einem Bild – so wünschte es die Mutter – sollte der Junge sich beim Onkel für das Geschenk bedanken. Also setzte sich der Onkel eines Vormittags in aller Bequemlichkeit auf die kleine Bank vor dem Hause in die Sonne und der Junge fing an zu malen. Er hielt sich gar nicht erst mit irgendwelchen Vorzeichnungen auf, sondern trug gleich mit sicherem, leichtem Strich die Farbe aufs Papier. Doch bereits nach wenigen Minuten, als das Gesicht des Onkels gerade in seinen charakteristischen Zügen hervorzutreten begann, wurde der Onkel von heftigen Kopfschmerzen heimgesucht, sodass die Sitzung abgebrochen wurde und das Bild, zum Bedauern Johanns, unvollendet blieb.
Es dauerte nur ein paar Monate, bis der Junge sämtliche Gegenstände der ihm bekannten Welt und auch einige Tiere zu Papier gebracht hatte. Im ganzen Haus gab es kein Ding mehr, zu dem nicht auch die entsprechende Zeichnung existierte. Und manchmal machte Johann Baptist Zeichnungen von Zeichnungen.
Schnell hatte sich das Talent des Jungen herumgesprochen und nicht selten kamen Fremde an die Tür, um für ein paar Groschen Blätter zu erwerben oder das Wunderkind beim Malen zu beobachten. Johann nahm es gelassen und beinahe teilnahmslos hin.
Eines Tages, er war inzwischen dreizehn Jahre alt, machte Johann Baptist eine Entdeckung, die für ihn wie die Bestätigung einer lang gehegten Ahnung war. Aus Mangel an neuen Motiven hatte er damit begonnen, eine einzelne Tasse aus dem Küchenschrank wieder und immer wieder zu malen. Es war eine schlichte, schlanke Kaffeetasse aus weißem Porzellan, deren Rand etwas angeschlagen war und auf deren Grund ein brauner Kaffeerand sich nicht mehr entfernen ließ. Johann malte und zeichnete diese Tasse aus jeder nur denkbaren Perspektive. Er probierte den Lichteinfall von allen Seiten und zu jeder Stunde des Tages – so wie es einst der Maler Monet mit der Kathedrale von Rouen gemacht hatte. Nachdem er etwa fünfzig Zeichnungen fertiggestellt hatte, bemerkte Johann, dass sich etwas verändert hatte. Nach hundert Bildern konnte jeder sehen, dass die Tasse an Substanz verloren hatte. Es war, als ob der Maler mit seinem Blick dem Objekte etwas weggenommen hatte. Aber erst nachdem er sie rund fünfhundertfach gemalt hatte, war die Tasse verschwunden. Sie war gänzlich auf das Papier übergegangen. Johann Baptist Zimmerli war nicht erstaunt darüber. Seine Entdeckung behielt er für sich, denn es war nicht Zweck der Malerei, die Dinge verschwinden zu lassen. Trotzdem machte er, im Verborgenen, weitere Versuche mit dieser Technik. Schon bald brauchte er nicht mehr als hundert Zeichnungen von einem Gegenstand anzufertigen, um ihn derart mit den Augen abzunutzen, dass er verschwand. Manchmal ließ er Dinge verschwinden, die er nicht mochte, wie den grauen Hut, den die Mutter eine Zeit lang getragen hatte.
Sobald die Dinge verschwunden waren, gewannen seine Bilder eine besondere Bedeutung, denn sie konservierten die Erinnerung. Und manchmal wurde Johann Baptist natürlich verdächtigt, etwas, das er gemalt hatte, verloren zu haben. Der Vater vermutete zum Beispiel, der Sohn habe die Teekanne, die er so oft gezeichnet hatte, fallen gelassen und aus Angst vor der Entdeckung die Scherben beseitigt.
Als junger Mann wurde Johann Baptist Zimmerli ein beliebter Maler in der Schweiz. Vermögende Leute drängten sich darum, von ihm portraitiert zu werden. Und weil das fertige Werk immer etwas glanzvoller, strahlender und lebendiger aussah als die Portraitierten, deren Gesichter nach der Sitzung immer etwas blass und matt wirkten, war man mit seiner Arbeit äußerst zufrieden. Junge, ihm vollkommen unbekannte Frauen suchten ihn in seinem Atelier in der Stadt auf, um ihm nackt Modell zu stehen. Auf diese Weise entstanden sinnliche Bilder, die so vollkommen waren, dass sie, trotz ihrer ans Obszöne grenzenden Inhalte, stets respektvoll bewundert wurden. Seltsam bewegten sie ihre Betrachter. Die Kunstkritik allerdings schenkte seinen Werken wenig Beachtung.
Johann Baptist Zimmerli fuhr fort, Dinge so lange zu malen, bis sie verschwanden. Über drei Jahre hinweg beschäftigte er sich mit dem Matterhorn. Doch ein Gegenstand von solcher Größe und Komplexität nutzte sich durch Betrachtung nur sehr wenig ab. Sicher hatte sich der Berg in dieser Zeit verändert. Doch es war dem Maler lediglich gelungen, eine dünne äußere Schicht abzutragen, so wie den Staub von einer Vase.
Es folgte eine Zeit, in der sich der Maler Zimmerli für den Frieden engagierte. Er nahm teil an Demonstrationen und machte Zeichnungen von militärischen Einrichtungen, von Panzern und Raketenstützpunkten. Diese Bilder, wie auch die späteren Serien »Zivilisationsmüll« und »Ten most wanted«, brachten ihm endlich auch die Anerkennung der Kunstszene. In seinem eigentlichen Sinne, so wie er es sich gewünscht hatte, waren sie aber keine Erfolge.
Einmal machte er sogar den Versuch, seine Entdeckung über den Zusammenhang von Anblick und Stofflichkeit, über das Verschwinden der Dinge durch Betrachtung und Wiedergabe, an junge Maler weiterzugeben. Er hielt eine Vorlesung an der Akademie, aber die, die ihn hörten, hielten ihn für verrückt und man fing an, Witze über ihn zu machen.
Schließlich zog sich Johann Baptist Zimmerli in dieses abgelegene Gebirgstal zurück, wo er – unbeachtet von der Welt – weitermalte. Sein letztes und möglicherweise auch sein bedeutendstes Werk ist ein lebensgroßes Selbstbildnis. Übrigens das einzige, das er je gemalt hat.