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Vorwort

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Mein vorliegendes Buch „Christentum und Moderne“ entstand in einem gesellschaftlichen Klima, das dem Glauben im Allgemeinen und dem Christentum im Besonderen eher distanziert gegenüberstand. Heute bin ich stärker denn je davon überzeugt, dass das Christentum die Antwort auf eine Sehnsucht der Menschen und der Gesellschaft ist. Es sind nicht nur mehr allein die Christen, die den weit verbreiteten Individualismus und den damit einhergehenden Materialismus mit Sorge betrachten, sondern alle, die sich für die Gesellschaft verantwortlich fühlen, machen sich Sorgen über die zunehmende Vereinsamung und die Verzweiflung, die sich aus ihr entwickeln können. Es sind daher nicht nur die Gläubigen, die diese geistige Leere wahrnehmen.

Die Folgen für den Bereich des Politischen offenbaren sich u. a. im Populismus: Er macht sich das eigennützige Denken der Wähler zu Nutze und bedient ihre Feindbilder. Äußere Feinde werden herangezogen, um den Wähler darin zu bestärken, dass er im Recht ist.

Auch ein ethisches Defizit ist zu beobachten. Sichtbar wurde es in der letzten Finanzkrise, als das Profitstreben einiger weniger beinahe zum Untergang aller wurde. Glücklicherweise hat der Klimawandel zu einem Nachdenken geführt. So wurde deutlich, dass wir wählen müssen – zwischen Jetzt und Bald, zwischen Mein und Dein.

Mit seiner Tradition der Verbundenheit mit dem und der Hinwendung zum Anderen kann das Christentum ein Gegengewicht zu diesen Tendenzen unserer Zeit sein. Der Bedarf an sozialem und familiärem Kapital ist groß. Vereinsleben, Familien und beständige Beziehungen fungieren dabei als Antidot (Gegengewicht) gegen Vereinsamung und Verbitterung. Das Christentum hat natürlich kein Monopol auf diese Rolle des Gegengewichts, weder ideologisch noch faktisch. Dennoch gehört es zum Kern seiner Botschaft, sie wahrzunehmen. Auch Nicht-Gläubige bezeichnen die Liebe als transzendent: Sie übersteigt Menschen und verbindet sie dadurch.

Die größte Aufgabe dieses Jahrhunderts ist es, die Verbundenheit der Menschen untereinander im Kleinen zu stärken. Solidarität darf nicht auf die organisierten sozialen Sicherungssysteme begrenzt sein. Sie sind durch Gesetze erzwungen und durch Abgaben finanziert. Was wir brauchen, sind Freiwilligkeit und der spontane Einsatz für den Anderen um seiner selbst willen. Ohne diese menschliche Infrastruktur hat die strukturelle Solidarität auf Dauer keine Basis.

Wenn unsere Gesellschaft diesen Namen zu Recht tragen will, muss sie Bindungskräfte entwickeln. Sie muss ein Gefühl der Zusammengehörigkeit entwickeln, das sich nicht gegen andere richtet, sondern dem Wunsch entspringt, Gemeinschaft zu leben und Dinge gemeinsam zu tun. Unsere Zeit ist von Polarisierung und Aggression geprägt. Unter der Maske der Klarheit und Ehrlichkeit herrschen oft sinnlose Verhärtung und eine Verrohung der menschlichen Umgangsformen. Respekt vor dem Anderen ist eine Grundlage des Gemeinwesens. „Gesellschaft“ muss „Gemeinschaft“ werden.

Freilich – das Christentum ist mehr als nur ein ethisches System. Es darf nicht allein zum Aufbau der Gesellschaft beitragen. Die christliche Spiritualität, die sich auf den Anderen und auf „den ganz Anderen“ hin orientiert, bleibt einzigartig, wenn sie authentisch gelebt wird. Es gibt aber auch eine Spiritualität der Laien, die das Sakrale im Menschen erlebbar macht. Spiritualität steht konträr zum Materiellen. Weil für das Christentum die Orientierung auf den Anderen und auf Gott als „den ganz Anderen“ eine so zentrale Bedeutung hat, wird eine altruistische Ethik möglich.

Das Christentum kann und wird eine wichtige Rolle im spirituellen und ethischen Wiederaufbau spielen, dessen unser Jahrhundert bedarf. Vorausgesetzt, es gibt wirkliche Christen.

Brüssel, im August 2010

Herman van Rompuy

Christentum und Moderne

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