Читать книгу Todsünden - Hermann Heiberg - Страница 4

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Unterdessen näherte er sich umherschlendernd dem Stall, trat hinein und sah dem dort beschäftigten Kutscher Klaus zu.

Da schoß ihm der Gedanke durch den Kopf, ihn zunächst um einen Thaler anzusprechen, und sein Komödiantentum äußerst geschickt verwertend, stieß er heraus:

„Hebbt Se villich en beten Lüttgeld to Hand, Klaus? So wat en Dahler?“

„Ja, Herr von Brecken, dat hev ick,“ entgegnete Klaus mit gutmütiger Bereitwilligkeit und griff eilig in die Hosentasche und zog einen schmutzigen ledernen Beutel hervor.

Diesen breitete er fächerartig auf dem Futterkasten aus und holte allerlei Kleingeld hervor, das er, es einzeln betastend, vor Tankred hinzählte.

Aber während das geschah, erschien, als ob er etwas suche, Frege mit seinem verschlossenen Gesicht in der Thür, zog sich jedoch, als habe er sich vergewissert, daß hier das von ihm Gewünschte nicht zu finden sei, kurz nickend gleich wieder zurück.

Als Tankred den Parkausgang erreicht hatte und über die Wiese den Weg zum Kirchdorf nehmen wollte, sah er abermals Frege, und hinterher lief der Köter Max, der bei Tankreds Anblick ein wütendes Gebell ausstieß.

Da hob Tankred einen Stein auf und warf nach der Bestie, aber so unglücklich, daß nicht der Hund, sondern der Alte am Bein getroffen wurde.

In Freges Gesicht erschien ein Ausdruck von Schmerz und dann ein Zug von Rachsucht, vor dem man erschrecken konnte. Aber Tankred sah es nicht, er ging pfeifend und mit dem Feldstock des verstorbenen Onkels um sich fuchtelnd, auf abgekürztem Wege dem Kirchdorf zu. —

Inzwischen überlegte Theonie, durch den Brief und das Gespräch mit der Pastorin von neuem erregt und beunruhigt, ob es nicht richtig sei, sich noch heute mit Tankred endgültig auseinanderzusetzen. Sie vermochte seine Gegenwart nicht mehr zu ertragen. Schon in der letzten Nacht war sie wiederholt aus dem Schlafe aufgeschreckt, weil sie Schritte zu hören vermeint und angenommen hatte, es sei ihr Vetter, der komme, um ihr Gewalt anzuthun. Im höchsten Grade auffallend war es ihr gewesen, daß sie am Spätnachmittag, als sie den Schreibtisch ihrer Mutter öffnen wollte, das Schloß verdreht fand. Daß Tankred versucht habe, das Innere zu untersuchen, war ihr zweifellos. Gelang es nicht, ihn dazu zu bringen, schon am nächsten Tage Falsterhof zu verlassen, so wollte sie abreisen und sich zu ihren Verwandten begeben. Unter der nervösen Angst und Furcht, die sie beherrschten, erhöhte sich ihre Bereitwilligkeit zu Opfern. Sie wollte ihm alles vorhandene Kapital ausliefern, wenn er sich verpflichtete, nie wiederzukehren! Aber freilich, was waren Versprechungen und Zusagen bei diesem Menschen! Und wenn es ihm gelang, Grete von der Linden heimzuführen, würde er immer in ihrer Nähe bleiben. Der Aufenthalt auf Falsterhof würde für sie eine Qual werden; sie mußte am Ende das Erbteil ihrer Eltern verkaufen oder konnte nie dahin zurückkehren! So gingen ihre Gedanken hin und her.

Und die Einleitung und Form, ihm ihre Absicht kund zu geben, fand sie auch nicht, so sehr sie ihr Gehirn anstrengte. Freilich, wenn sie ihm gegenüber saß, Auge gegen Auge, war sie gefaßter, ja, dann empfand sie kaum einmal Furcht und war nie um Worte verlegen. Auch konnte der Zufall ihr vielleicht günstig sein.

So beruhigte Theonie sich denn endlich, ließ eins der Mädchen kommen und befahl denselben, in einem Raume neben ihrem Schlafzimmer ein Bett aufschlagen. Sie wünsche, da sie sich nicht wohl fühle, nachts Aufwartung zur Hand zu haben, erklärte sie, und dasselbe äußerte sie gegen Frege, als er den Abendtisch deckte.

„Aber was ist denn, Frege? Ich sehe, Sie hinken ja, mein guter Alter,“ schloß Theonie mitleidig als sie nun erst bemerkte, daß Frege sich mit dem einen Bein schwerfällig bewegte.

Der wortkarge Mann sah seine Gebieterin mit einem eigentümlichen Blick an.

„Von ihm! — Er war's!“ stieß er dann finster und ganz gegen seine

Gewohnheit heftig heraus.

„Er? Wer? Von wem sprechen Sie?“

Noch zögerte Frege, aber dann holte er tief Atem und sagte, die Teller, die er eben verteilen wollte, absetzend:

„O, liebe gnädige Frau, ich kann es nicht mehr bei mir behalten. Ich muß sprechen. — Es liegt etwas Schreckliches über Falsterhof — es kommt von dem jungen Herrn. Ich bitte, hüten Sie sich. — Ja, ja, ich weiß, Sie denken wie der alte Frege, der bisher nur nicht zu sprechen wagte, weil er kein Recht hatte zu reden über Sachen, die allein die Herrschaft angehen.“

„Um Gotteswillen Frege, also Sie auch?“ drang's in Todesschrecken aus

Theonies Munde. „Sprechen Sie! Sagen Sie mir alles, was Sie

wissen. — Aber nicht hier, er kann jeden Augenblick kommen! Gehen wir ins

Wohnzimmer! So, nun — nun —“ hauchte Theonie und sank übermannt von den

Eindrücken in einen Lehnstuhl.

Und da brachte Frege alles, alles, was ihm auf dem Herzen saß, über die Lippen: Er habe gesehen, daß Tankred am Sterbetage der gnädigen Frau ins Fenster gespäht und sich dann heimlich wie ein Dieb wieder entfernt habe. Er habe ihn abermals gesehen, jüngst am Abend, als auch Theonie seinen Kopf am Fenster bemerkt. Er erzählte von den Geldanleihen, die Tankred bei ihm gemacht; er wisse auch aus sichrer Quelle, daß er während der Krankheit der Gnädigen in Hamburg in einem Hotel gewohnt, sich dort amüsiert habe und gar nicht in der Ost-Priegnitz, wohin er zu gehen vorgegeben, gewesen sei. Sicher, er gehe mit bösen Absichten um, er habe etwas Furchtbares im Blick, das nicht täusche.

Sie könnten sich alle des Schrecklichsten von ihm versehen, und schon seit den letzten Wochen habe er, Frege, stets nachts ein Gewehr zur Hand gehabt, um für alle Fälle bereit zu sein.

Er habe ihn auch in der vorigen Nacht in das Zimmer der verstorbenen Gnädigen schlüpfen sehen, und wohl eine halbe Stunde sei er dringeblieben. Er, der Alte, aber habe sich hinausgeschlichen und von dem Beobachtungsposten aus, den er ihm selbst abgelauscht, wahrgenommen, wie Tankred sich am Schreibtisch zu schaffen gemacht. —

Nun ertönte die Glocke draußen, Max schlug an — Herrin und Diener flogen auseinander, und Theonie eilte wieder ins Speisezimmer.

Fünf Minuten später trat auch Tankred ein. Er hatte sichtlich sehr viel getrunken, war äußerst gesprächig, und statt der demütigen Zurückhaltung, mit der er sich sonst zu geben pflegte, legte er eine unheimliche Lebhaftigkeit an den Tag.

Theonie besorgte mit der gewohnten, ernsten Ruhe den Thee, rückte ihrem Vetter die Speisen näher und suchte seinen starken Redefluß zu dämpfen, indem sie erklärte, sie fühle sich sehr angegriffen.

„Trink einmal ein Glas Wein! Das giebt Kraft und andere Gedanken. Du genießest ja auch nichts Ordentliches,“ entgegnete Tankred und schenkte trotz Theonies Weigerung deren Glas voll.

„Wozu, da ich doch nicht trinke —?“ wehrte sie herb und in deutlicher

Auflehnung gegen seine zudringliche und laute Art ab.

„Na, es ist ja kein Unglück, wenn ein Glas eingeschenkt und doch nicht getrunken wird,“ entgegnete Tankred in absprechendem Ton. „Niemals habe ich leiden können, wenn Damen sich so heftig dagegen wehren, daß man ihnen Wem einschenkt! Ist's nicht vollkommen gleich, ob er genossen wird oder nicht? Es liegt etwas Kleinliches und Ungeselliges darin, sich das Glas nicht füllen lassen zu wollen. Ich möchte sogar sagen, es ist ein Stück guter Erziehung, daß eine Dame ihren Herrn darin gewähren läßt und keine Einwendungen erhebt.“

„So bin ich denn nicht gut erzogen,“ entgegnete Theonie schroff. „Ich finde es unrecht, etwas unnütz zu verthun, so lange es Darbende in der Welt giebt.“

Tankred wollte eine hämische Bemerkung über Theonies ewig moralisierendes Wesen machen, ja, es brannte ihm auf der Zunge, zu sagen: Ihr Breckens seid ein kleinliches, filziges, philisterhaftes Geschlecht! Aber er glaubte schon ihre Erwiderung zu hören: Lieber dafür gescholten werden, als aus den Taschen anderer leben. Er sagte deshalb einlenkend und das Wort Darbende im humoristischen Sinne aufgreifend:

„Na, streiten wir uns nicht, Theonie, während der wenigen Tage, die wir noch beisammen sind. Und da Du von Darbenden sprichst, ich bin einer. Schon seit acht Tagen habe ich keinen Pfennig mehr in der Tasche und mußte sogar schon den alten Klaus anpumpen —“

Wie? Auch Klaus bist Du um Geld angegangen? wollte Theonie herausstoßen. Aber auch sie beherrschte sich und sagte, hoffnungsvoll und versöhnlicher gestimmt durch den von Tankred absichtlich eingeschobenen und von ihr im Augenblick ernsthaft genommenen Hinweis auf seine baldige Entfernung:

„Warum hast Du nicht eher gesprochen? Ich bin natürlich bereit, Dir auszuhelfen. Übrigens können wir vielleicht unsere ganze Geldaffaire bei dieser Gelegenheit erledigen. Wann gedenkst Du abzureisen? ich meine — es soll keine Aufforderung darin liegen — ich möcht's nur wissen.“

Tankred wollte mit einem raschen: Morgen, spätestens übermorgen, erwidern. Er fürchtete, sie könne ihm abermals in dem ausweichen, was zu erfahren er nicht erwarten konnte. Aber er änderte doch seinen Plan und sagte, seine Absicht unter einem plumpen Scherz versteckend:

„Von Deiner generösen Hand, beste Theonie, hängt alles ab. Wenn Du mir kräftig unter die Arme greifst, kann ich ja von anderer Stelle aus meine Versuche fortsetzen. Freilich,“ schloß er, verliebt sprechend, und verschlang, durch das hastige Weintrinken plötzlich in eine leidenschaftliche Erregung geratend, mit seinen Blicken ihre Gestalt, „Dich nicht mehr zu sehen, Dich lassen zu sollen, Theonie, ist ein schwerer, fast meine Kraft übersteigender Entschluß.“

Entsetzt sah Theonie empor. Es war das erstemal, daß seine sinnliche Natur ihr gegenüber zum Ausbruch kam. Diesen Augenblick hatte sie vor allem gefürchtet, und ihm zu entgehen, darauf waren ihre Gedanken insbesondere gerichtet gewesen.

Zunächst suchte sie seiner Rede Einhalt zu thun, indem sie seine

Gedanken abzulenken trachtete. Sie reichte ihm, mit kurzer Abwehr den

Kopf bewegend, eine Schale mit Obst.

Aber er setzte sie rasch beiseite, und alles wagend, da der Wein ihm half, jegliche Scheu abzustreifen, sagte er, sich vornüberbiegend und sie mit seinen glühenden Augen bannend:

„Höre, Theonie, was ich Dir zu sagen habe. Ich erfuhr von Dir, daß Du mir nicht geneigt bist. Ich weiß, woher es kommt. Du denkst an mein Vorleben. Meine Mutter, die mich nicht nur nicht liebte, vielmehr haßte, obgleich ich doch ihr Sohn war, hat Dich beeinflußt. Aber ich bin ein anderer geworden, ich möchte es sein, und Du könntest läuternd auf mich einwirken. Ich bin wohl oft leichtsinnig gewesen und ließ mich von meinen Leidenschaften fortreißen, aber ich bin nicht schlecht, wie meine Mutter mich schilderte. Ist es nicht unnatürlich, daß wir uns von einander abschließen? Wäre es nicht vielmehr den Verhältnissen entsprechend, wenn wir zusammen hielten? Ich liebe Dich, Theonie. Beim ersten Sehen hatte ich schon mein Herz an Dich verloren. Aber Deine Strenge und Zurückhaltung schreckten mich ab, mir ahnte zu meinem Schmerz, daß Du gegen mich voreingenommen seiest. Sage ehrlich: Was that ich Dir? Bin ich Dir nicht ehrerbietig begegnet? Geschah während meines Aufenthaltes hier etwas, was Dir mißfallen mußte? Gewiß, da ich kein Geld besitze, mir bisher kein Eigentum erwarb, bin ich im Nachteil selbst bei denen, die sonst den Wert eines Menschen nicht nach seinem Vermögen bemessen, selbst bei meiner Verwandten, der einzigen, die ich habe. Ich fände hier auf Falsterhof einen Wirkungskreis, da ich Landmann bin. Ich könnte es verwalten, den Besitz erhalten und vermehren, mit Dir gemeinsam arbeiten und genießen, von Dir lernen und empfangen, wenn Du Dir auch von dem Mißratenen nichts aneignen könntest. Und doch vielleicht etwas, da er mit so gutem Willen sein neues Leben beginnen würde. Er wird Dich auf Händen tragen, denn er liebt Dich leidenschaftlich, Theonie. — Nun, Theonie? Was sagst Du? Hast Du mir gar nichts zu erwidern?“

Aber sie antwortete nicht. Sie schüttelte sich in Grauen, und er sah es, und weil ihre Mienen und Bewegungen nicht mißzuverstehen waren, weil es ihm klar wurde, daß sein Spiel verloren war, daß er trotz der meisterhaften Maske sie nicht getäuscht hatte, daß sie ihn doch für das hielt, was er wirklich war, ergriff ihn eine wilde Rachsucht, ein brennender Haß, eine solche Leidenschaft, daß er sie am liebsten ergriffen und geschüttelt und ihr zugerufen hätte: Warte, Du hochmütige Kreatur, die Du es wagst, Dich mit Deinem souveränen Besserhalten über mich zu stellen, und mir begegnest, als sei ich ein aussätziger Vagabund! Ich will Dich lehren! Hinab auf die Kniee und bitte, daß ich Dich zu meinem Weibe mache, oder ich erdrossele Dich mit meinen Fäusten!

Und weil sie solche Gedanken aufblitzen sah in seinen Augen, und weil ihr ahnte, was er dachte, griff sie in ihrer Angst und Verzweiflung, wie er, zu List und Verstellung und machte in ihrer Not einen Anlauf auf seine gemeinen Triebe.

„Es geht nicht, ich kann Dich nicht heiraten, Tankred,“ entgegnete sie, ihn zum erstenmal bei seinem Vornamen nennend. „Nicht aus Motiven, wie Du sie hinstellst, sondern weil ich nie wieder einen Mann zu lieben vermag. Aber gehen wir in Frieden auseinander. Ich bitte Dich, fünfzigtausend Mark von mir anzunehmen, damit Du Dir etwas kaufen oder pachten kannst. Sie stehen Dir beim Justizrat Brix zur Verfügung. — Nicht wahr, Du zürnst mir nicht? Ich bitte Dich.“

Sie sah ihn an. Aber ihr Blick war ihr Verderben. In dem Wechsel der Leidenschaft packte denselben Mann, der eben noch das Weib hätte töten mögen, wieder eine wahnsinnige Begierde. Er sah ihr stilles Antlitz, umrahmt von dem schwarzen Haar, ihren reizenden, in sanfter Fülle sprossenden Leib und die jetzt so süß und demütig blickenden Augen.

Und das sollte er fortwerfen, weil er's nicht gleich beim ersten Anlauf

errungen hatte? Blieben ihm nicht noch tausend Mittelchen in seinem

Zauberschrank? Hatte überhaupt jemals ein Mensch seinen Künsten auf die

Länge widerstanden? Hatte er nicht alle, wenn er wollte, bezwungen?

„O, Süße!“ rief er aufspringend, sie mit kräftigen Armen umschlingend und leidenschaftlich küssend, „sei hart und abweisend oder gütig gegen mich — immer liebe ich Dich gleich heftig. Wehre Dich nicht, fühle an meinen Küssen, was ich Dir entgegen bringe. Theonie, Theonie, erhöre mich!“

Theonie wollte in Ohnmacht sinken, sie schwankte, und weiße Farben traten auf ihre Wangen, dann aber riß sie sich mit schier übermenschlicher Kraft von ihm los, stieß ihn vor die Brust und floh, wie von Furien gepackt, hinauf in ihr Zimmer.

* * * * *

Als sich Tankred von Brecken am kommenden Morgen erhob, war ihm der Kopf

wüst, und er fühlte eine grenzenlose Unbefriedigung in sich. Die

Vorgänge des vergangenen Abends traten in sein Gedächtnis, und Ärger.

Unmut und Reue erfüllten sein Inneres.

Von dem ruhigen Wege, den er sich vorgezeichnet, war er abgewichen, weil ihn seine Sinne bemeistert hatten. Schon so oft, wenn er dem Wein zu sehr zugesprochen, hatte er Unbesonnenes gethan und die üblen Folgen tragen müssen.

Er wußte, durch diesen Vorgang büßte er vieles ein, was schon gewonnen war. Theonie hatte nun eine Handhabe gegen ihn. Bisher war nichts geschehen, was sie ihm hätte vorwerfen können, denn daß er sie liebte, konnte kein Verbrechen sein; aber durch die Form seiner Werbung, durch seine Leidenschaft hatte er seinen Charakter offenbart, hatte er das Gastrecht in unerhörter Weise verletzt.

Er stellte sich die Folgen vor. Zunächst hatte er sicher jede Geneigtheit Theonies zu einer milderen Beurteilung seiner Person verscherzt; von einer freiwilligen Annäherung ihrerseits konnte jetzt nicht mehr die Rede sein, und wahrscheinlich würde sie sogar Rache üben und ihm die Auszahlung eines Kapitals verweigern. Der letztere Gedanke kam dem Manne, weil er selbst so gehandelt haben würde; er blieb jedoch nicht in ihm haften; wohl aber war er sicher, daß sie nach diesem Vorfall sich zu keinen größeren Opfern bereit finden würde, im guten wenigstens nicht. Er überlegte nun, was weise und vorteilhaft für ihn sein werde.

Zunächst mußte er durch die Künste seiner Verstellung wieder ein äußerlich gutes Verhältnis zwischen sich und Theonie herstellen, schon um seines vorläufigen Bleibens willen; dann aber hieß es, sondieren, was nach dem Geschehenen zu erreichen war.

Wenn er vor sie hintrat und demütig seine Unbesonnenheit eingestand, ihre Verzeihung erflehte und zugleich erklärte, er wolle Falsterhof verlassen, dann würde er — das hielt er für ausgemacht — sie zu Opfern am bereitwilligsten finden. Aber damit gab er alle Vorteile auf, die ihm noch werden konnten, und schnitt sich die Möglichkeit ab, in Grete von der Lindens Nähe zu bleiben.

Bei diesem Ende seiner Gedankenreihe angelangt, schlug er sich voll Zorn und Unmut vor den Kopf, verwünschte seine Leidenschaft und war schon, da er deren Folgen nicht ausweichen konnte, im Begriff, seine Sache verloren zu geben, als Frege ins Zimmer trat, das Frühstück servierte und ihm einen Brief übergab.

Das Schreiben komme vom Baron von Treffen, der Bote warte.

Nachdem Frege sich entfernt hatte, riß Tankred voll Ungeduld den Brief auf und las:

‚Hochgeehrter Herr von Brecken!

Sie haben unserer Tochter die liebenswürdige Zusage gemacht, uns besuchen zu wollen. Darauf hin bin ich so frei, Sie zu fragen, ob Sie ohne das Zeremoniell einer Antrittsvisite, auf die wir gern verzichten, im engen Familienkreise bei uns eine Suppe essen möchten. Wir würden darüber außerordentlich erfreut sein und bitten, gütigst dem Überbringer zu sagen, ob wir Sie um drei Uhr erwarten dürfen.

Ihr sehr ergebener

Konrad von Treffen.‘

Der artige Inhalt dieser Zeilen gab Tankreds Gedanken mit einem Schlage eine andere Richtung.

Tressens kamen ihm in ungewöhnlicher Weise entgegen. Sicher hatte er auf Grete einen guten Eindruck gemacht, auch wirkte der Umstand wohl mit, daß man ihn als Miterben von Falsterhof ansah. — Und er war es nicht!

Empörend, daß der filzige Philister, sein Onkel, ihn hatte leer ausgehen lassen! Und nicht minder unverzeihlich war's von der verstorbenen Tante, daß sie nicht einen Augenblick gefunden hatte, um eine Klausel zu seinen Gunsten in das Testament einzufügen. Gewiß hatte er das Theonie zu verdanken! Ja, sie war ihm in der Seele zuwider, obschon ihn gestern, als sein Blut heiß gewesen, ihr Körper gereizt, obschon er sich eingebildet hatte, er könne sie lieben. Diese sentimentale Tugend, diese langweilige Resignation und diese ihren geistigen Hochmut nur in noch schärferes Licht stellende äußerliche Bescheidenheit waren ihm in der Seele zuwider. Er nahm auch einen ganz verkehrten Standpunkt ihr gegenüber ein. Von rechtswegen gehörte ihm die Hälfte von Falsterhof! — Und plötzlich schoß es Tankred von Brecken durch den Sinn, diese Hälfte im Fall mit Gewalt von ihr zu erzwingen und dadurch sicher der Mann Grete von der Lindens zu werden. Das sollte fortan sein Ziel sein!

So trat er denn Frege bei seinem Wiedereintritt gehobenen Hauptes entgegen, befahl, den Boten hereinkommen zu lassen, und schrieb, während dieser wartend an der Thür stand, eine Zusage:

‚Hochgeehrter Herr Baron!

Ihre gütigen Zeilen haben mich ebenso überrascht wie erfreut. Sie beschämen mich in der That durch die ungewöhnlich artige Form Ihrer Einladung, die ich dankend annehme. Indem ich die Versicherung hinzufüge, daß ich bestrebt sein werde, mich der mir gewordenen Auszeichnung stets würdig zu erweisen, bin ich mit dem Ausdruck größter Verehrung und unter gehorsamen Empfehlungen an Ihre Damen

Ihr ganz ergebener

Tankred von Brecken.‘

Nach eingenommenem Frühstück setzte sich dann Tankred abermals an den

Schreibtisch und richtete die nachstehenden Zeilen an Theonie:

‚Liebe Theonie!

Ich bedaure und bereue den gestrigen Vorfall aufs tiefste. Laß mich es Dir auf diesem Wege sagen und Deine Verzeihung einholen, bevor wir uns wieder gegenübertreten. Niemals — dessen sei gewiß — wirst Du Dich ferner über einen Mangel an Ehrerbietung meinerseits zu beklagen haben, vielmehr aus meiner Begegnung erkennen, wie hoch ich Dich schätze, achte und verehre. — Genehmige, liebe Theonie, daß ich noch acht Tage auf Falsterhof bleibe. Dann reise ich ab, und inzwischen finden wir Gelegenheit, uns auszusprechen und die von Dir in so gütiger Weise angeregten geschäftlichen Angelegenheiten zum Austrag zu bringen. Heute mittag und den Rest des Tages bin ich nicht in Falsterhof und bitte, mich bei der Mahlzeit zu entschuldigen.

Tankred.‘

„Tragen Sie dies der gnädigen Frau hinauf, die ich nicht stören will, da sie sich gestern abend schon unwohl fühlte. Ich werde heute nicht bei Tisch sein,“ erklärte Tankred dem durch Klingeln herbeigerufenen Frege.

„Die gnädige Frau ist bereits in der Frühe nach Elsterhausen gefahren.

Sie ist nicht anwesend,“ ging's kurz aus des Dieners Munde.

Tankred zog ein enttäuschtes Gesicht. Aber sich schnell wieder beherrschend, warf er hin:

„So — so? Und wann kehrt sie zurück?“

„Die gnädige Frau will morgen ihre Reise antreten. Sie meinte, gegen abend wiederzukommen.“

„Hm, schön!“ Damit war Frege entlassen.

* * * * *

Herr von Tressen warf eben noch einen prüfenden Blick auf die heute reicher als sonst im kleinen Speisezimmer hergerichtete Tafel, als der Diener bereits Herrn von Brecken von Falsterhof anmeldete.

„Bitte, sehr angenehm! Führe Herrn von Brecken ins Empfangzimmer und benachrichtige die gnädige Frau.“

Tankred schaute sich mit prüfendem Auge in dem Raume um, in den ihn der Diener geführt hatte. Eine große Eleganz trat ihm entgegen. An den Wänden hingen wertvolle Gemälde, die Polstermöbel waren mit Seide bezogen, und die Fensterpaneele und Teile der Wände in Weiß und Gold gemalt.

Und nun öffnete sich die Thür, und Frau von Tressen, eine ungewöhnlich stattliche Erscheinung mit lebhaften Augen, einer energisch geschnittenen Nase und vollen Formen, trat ihm mit ausnehmender Liebenswürdigkeit entgegen. Sie verwickelte Tankred sogleich in ein anregendes Gespräch, an dem kurz darauf auch die übrigen Hausbewohner teilnahmen.

Herr von Tressen war ein starker Fünfziger, dem man die Spuren einer flotten Lebensweise ansah. Sein Gang war ein wenig unsicher, und die Augen hatten etwas Mattes, aber sein Gesammtäußeres war, durch eine gewählte Kleidung gehoben, doch ungemein sympathisch. Er glich einem Major außer Dienst und trug in dem scharf markierten Gesicht einen starken Schnurrbart.

Besonders anziehend aber sah Grete aus. Sie hatte ein mausgraues Kleid an, das vollendet saß, und ihren schlank geformten Hals umschloß ein kleiner, aufrechtstehender Kragen. Ihre Züge waren auch heute kalt, solange sie nicht sprach, wenn sie aber den etwas sinnlichen Mund öffnete, und ein Lächeln ihn umspielte, wenn Ausdruck in ihre Augen trat, war sie von einem unwiderstehlichen Reiz.

Diesem unterlag auch Tankred, der bei Tisch und in der Folge alles aufbot, um sie und ihre Umgebung zu gewinnen.

Halb freimütig, halb zurückhaltend, stets von ausgesucht zarter

Artigkeit, niemals mit Beifall zurückhaltend, immer seine Worte wägend,

verstand er es, durch sein Komödienspiel alle, bis auf die

Gesellschaftsdame, Fräulein Helge, zu täuschen.

Die letztere blieb nicht nur zurückhaltend gegen ihn, sondern legte sogar einen gewissen Widerstand an den Tag, indem sie einigemale seinen Worten entgegentrat. Freilich geschah das nicht in Formen, die es auch für die übrigen erkennbar machten, daß sie ihn zu brüskieren trachte, aber Tankred mit seinem scharfen Spürsinn wußte, daß sie sich gegen ihn auflehnte, und er in ihr eine Gegnerin zu besiegen habe.

Indessen schien sie auf Grete keinen Einfluß auszuüben. Tankred bemerkte sogar einmal, daß etwas von widerspenstigem Trotz in Gretes Augen aufblitzte. Das freute ihn, obgleich ihn die Unendlichkeit ihrer Blicke fast erschreckte. In der Seele dieses Mädchens war nichts Nachgiebiges, sie ging ihren eigenen Weg, und sicher gehörte sie nicht zu den vielen sanftmütig sich unterordnenden, auf eine eigene Meinung verzichtenden jungen Geschöpfen, die mit blindem Idealismus in die Ehe gingen und sich den später eintretenden Enttäuschungen geduldig fügten.

Nach eingenommenem Kaffee mußte Tankred die Malereien der Frau des Hauses, die nicht ohne Talent ausgeführt waren, in Augenschein nehmen; man sprach mit Interesse und Verständnis über Politik, Litteratur und Kunst, und Grete ward aufgefordert, etwas zu spielen und zu singen, was sie ohne Einwendungen that.

Ihre Stimme war schön, und ihr Spiel technisch vollendet, aber allem fehlte doch die rechte Wärme.

„Sie müssen einmal von einer starken Leidenschaft ergriffen werden, dann wird Ihr Gesang alles in den Schatten stellen, gnädiges Fräulein,“ wagte Tankred zu sagen, und Grete von der Linden sah ihm so scharf und beinahe herausfordernd in die Augen, daß es ihn fast verwirrte.

Sie besaß nichts von schüchterner Verlegenheit; vielmehr schien sie sagen zu wollen: Prüfe mich, ob ich kalt bin, und mich nicht schon eine Leidenschaft ergriffen hat. Aber Tankred kannte die Frauen. Es gab viele, die in solcher Weise zum Tändeln aufforderten, sich aber mit sittlicher Entrüstung zurückzogen, sobald ein Mann ihnen besondere Aufmerksamkeiten erwies.

Solche Weiber reizt es, Herz und Gemüt der Männer zu beunruhigen, auch haben sie Interesse für sie, und es steigert sich, solange jene unempfindlich bleiben. Sobald die Männer aber an den Tag legen, daß ihre Sinne in Aufruhr geraten, ziehen sie sich gleichgültig von ihnen zurück.

Tankred wendete die Taktik an, Grete von der Linden mit äußerster Aufmerksamkeit zu begegnen, aber ihre Eifersucht und ihr Nachdenken wach zu rufen, indem er mit ungemessenem Lob und gleich großer Begeisterung von anderen Frauen und Mädchen sprach.

„Es ist das schönste, geistreichste und klügste Geschöpf, das mir im

Leben vorgekommen ist,“ warf er, eine Äußerung einer gerade erwähnten

Dame geschickt in das Gespräch einflechtend, hin. „Ich hatte auch das

Glück, von ihr ausgezeichnet zu werden, aber ein einziger Zug genügte,

um mich verzichten zu lassen.“

„Und der war?“ fiel Grete, ihre Neugierde nicht verbergend, ein.

Tankred machte eine ausweichende Bewegung und lächelte in überlegener

Weise.

„Nun?“ drängte Grete, während sie, wie zufällig, einige Schritte ins

Nebengemach that, durch die sie sich und ihren Begleiter dem

Gesichtskreis der übrigen entzog.

„Sie mißhandelte,“ entgegnete Tankred, indem er eine kleine Rokoko-Nippesfigur, die auf dem Schreibtisch stand, ergriff und sie in seiner Hand drehte, „ihre Zofe wegen eines geringen Versehens in unerhörter Weise und verdoppelte noch die Züchtigung, als diese ihr nachwies, daß nicht sie, sondern die Dame selbst an der ihr vorgeworfenen Unterlassung schuld sei.“

„Ja, eines Fehlers geziehen zu werden, gefällt niemandem,“ entgegnete Grete, Partei nehmend. „Jedenfalls war die Zofe wenig klug, gerade in dem Augenblick in solcher Weise den Vorwurf von sich abzuwälzen.“

„Sie legen durch Ihre Bemerkung eine sehr nüchterne Auffassung der Dinge an den Tag, gnädiges Fräulein. Das ist beneidenswert —“

„Finden Sie es beneidenswert, wenn das Gemüt bei einem nicht mitspricht?“ Diesmal klang etwas Weicheres durch den Ton ihrer Stimme.

„Allerdings. Man will lieber Herr als Sklave sein, und ersteres ist man nur, wenn man den Verstand als Kommandeur vor seine Truppe stellt. Ah — tausendmal um Verzeihung —“ unterbrach sich Tankred, dem bei den letzten Worten die Nippesfigur aus den Händen fiel, und der beim Herabbeugen zu seinem Schrecken gewahrte, daß ihr ein Arm abgeschlagen war.

Er dachte, daß Grete die Sache leicht nehmen und ihn beruhigen werde, aber statt dessen zeigte sie einen deutlichen Verdruß und sagte: „Die Figuren stammen noch von den Eltern meines Großvaters, sie sind sehr wertvoll, fast unersetzlich, da man heutzutage solche Übergangsfarben nicht mehr zu komponieren weiß.“

Als hierauf Tankred abermals Worte des Bedauerns sprach, schloß sie, kaum hinhörend, die Kunstfigur in ein Schränkchen ein und sagte: „Sie gehören zu den Menschen, die alles anfassen müssen. Man sagt, solchen hafte ein Diebssinn an.“ Die letzten Worte begleitete sie zwar mit einer lächelnden Miene, sie sprach sie, als ob sie nur einen Scherz habe machen wollen, aber Tankred erschrak doch heftig, und für Sekunden war ihm Grete fast unheimlich.

„Ich werde mich zu bessern suchen,“ stieß er mit einschmeichelnder Artigkeit heraus. „Und Sie haben mir vergeben, gnädiges Fräulein? Nicht wahr, ich darf ein wenig Hoffnung hegen?“

Gleichzeitig sah er sie mit seinen bezwingenden Augen an, flüsterte die letzten Worte in doppelsinniger Betonung und preßte einen den Eindruck derselben verstärkenden, weichen Kuß auf ihre Hand.

Und Grete wehrte ihm nicht, sie gab seinen Blick zurück, aber in ihren

Augen erschien nicht der Strahl reiner, aus der Seele quellender

Hingebung, sondern etwas Leidenschaftliches, das er in ihr anzufachen

verstanden hatte. —

Bei einem vor dem Abendessen unternommenen Spaziergang fand Tankred noch einigemal Gelegenheit, sich Grete auf kurze Zeit ohne Zeugen zu nähern.

Sie sprach davon, daß sie sich darauf freue, wieder einen Teil des Winters in Hamburg zuzubringen, und fragte mit einem von Tankred nicht unbemerkten, interessierten Blick, ob er künftig auf Falsterhof wohnen oder das Gut verlassen werde.

„Ein herrliches Erbe ist Ihnen und Ihrer Frau Kousine in Falsterhof geworden,“ warf sie sondierend hin.

Tankred nickte, als rede sie von etwas Unbestreitbarem; er machte durchaus keine Einwendung.

Grete schien sehr befriedigt; unmittelbar darauf gestattete sie ihm eine Blume, die sie gepflückt, an sich zu nehmen. Auch lächelte sie mit einem die Sinne anfachenden, reizenden Lächeln vor sich hin, als Tankred trivial, aber überzeugend klingend, sagte: „Von allen Andenken, die ich der Güte schöner und kluger Frauen verdanke, ist dies Blümchen das wertvollste.“

Beim Souper plauderte er absichtlich fast nur mit der Frau des Hauses, — es war eine alte Weisheit: Wer die Tochter gewinnen will, muß die Mutter erobern! — und nach aufgehobener Tafel unterhielt er sich bei der Zigarre so ausschließlich mit Herrn von Tressen, daß die Damen eine Handarbeit ergriffen und sich in die Rolle der Zuhörer fügten. Nur eine nahm einmal das Wort, Carin Helge. Sie sprach von einem Schauspiel, das sie gesehen. In ihm habe ein gefährlicher Mensch in die gute Gesellschaft einzudringen gewußt und alle getäuscht, bis auf die Gouvernante. Sie habe ihre Umgebung gewarnt und dadurch ein Verbrechen verhütet.

„Und das Ende?“ fragte Grete, als sie eine Pause machte.

„Das Ende war ein Totschlag —“

„Was verhandelt ihr da Schreckliches?“ fragte Herr von Tressen lachend.

„Es klingt ja entsetzlich —“

Tankred aber bestätigte Carins Erzählung mit gleißnerischer Unbefangenheit und sagte — und sie verstand ihn —: „Sie vergessen, gnädiges Fräulein: es kommt zweimaliger Totschlag in dem Stücke vor. Erst beseitigt der Verbrecher seine Angeberin, dann unterliegt er selbst dem Schicksal.“

Und als sie hierauf nichts erwiderte, sondern nur mit den Lippen zuckte, gab Grete dem Gespräch eine andere Wendung und bat Tankred, einige Handfertigkeiten zum besten zu geben, von denen er ihr gesprochen. Da er darin Meister war, erntete er großen Beifall, auch ahmte er Tierstimmen nach und erregte dadurch namentlich Gretes Bewunderung.

Es war für ländliche Verhältnisse schon spät, als der Stallknecht

Tankreds Fuchs vorführte. Unter einem „Auf Wiedersehen am Schluß der

Woche“ und einem „Vergessen Sie es nicht!“ von Grete, dem Frau von

Tressen lebhaft beistimmte, nahm der Gast Abschied.

Nach Falsterhof zurückgekehrt, zog Tankred das Pferd selbst in den Stall und zäumte es ab. Von Klaus war nichts zu sehen. Aber er ereiferte sich darüber nicht, sein Kopf war so voll von Gedanken und Anschlägen, daß nur sie sein Innerstes beherrschten.

Auf dem Flur brannte die Lampe, Max knurrte wie immer und beruhigte sich erst allmählich. Nun hallten Tankreds Schritte über die Steinfliesen, und er öffnete die Thür seines Gemachs. Das erste, was sein Auge traf, war ein weißes Kuwert, das auf dem Tisch lag. „Ah —! Sicher eine Antwort von Theonie!“ Er griff, ohne den Hut abzunehmen und sich des Reitmantels zu entledigen, ungestüm danach und las:

‚Da ich morgen Falsterhof verlasse, mußt Du Dich bei Deinem Entschluß, noch hier zu bleiben, schon allein einrichten und mich entschuldigen. Wenn Du mir noch etwas zu sagen hast, — ich möchte sonst bitten, Dich mit Justizrat Brix, der über alles orientiert ist, in Verbindung zu setzen, — muß es morgen vormittag um halb elf beim zweiten Frühstück geschehen. Um elf Uhr habe ich den Wagen bestellt.

Theonie.‘

„Also doch!“ murmelte Tankred. Auf der einen Seite befriedigte ihn der Inhalt dieser Zeilen außerordentlich. Sie räumte das Feld, und er konnte nach seinem Belieben bleiben; auf der anderen Seite aber entzog sie ihm die Gelegenheit, auf sie einzuwirken. Daß er sie trotz der Entschiedenheit ihres Charakters allmählich würde einschüchtern können, schien ihm zweifellos; er wußte, daß sie Furcht vor ihm empfand, und ihr würde sie unterliegen. Durch eine einzige Unterredung aber konnte er nichts erreichen, besonders wenn sie am hellen Tage stattfand. Die Nacht, das Grauen mußte helfend einwirken. — Der Mann warf den Kopf zurück. Sie sollte nicht reisen, wenigstens eine Woche mußte sie noch bleiben. Alle seine Künste wollte er aufwenden. — Künste? Theonie gegenüber? Doch wohl ein vergebliches Beginnen! Sie durchschaute ihn so gänzlich, daß nichts verfing. Nein, nur ein Appell an ihren Gerechtigkeitssinn, unterstützt durch indirekte und gegebenenfalls direkte Drohungen, konnte zum Ziel führen. — Daß er sich auch von seiner Leidenschaft hatte hinreißen lassen, da er doch wußte, ein Werben, in welcher Form es immer geschehe, sei zwecklos! Es war, um sich selbst zu ohrfeigen! Wäre das nicht geschehen, so würde er jetzt eine Neigung zu Grete von der Linden als Vorwand benutzen. Er könnte erklären, es sei möglich, deren Hand zu erwerben, wenn er über ein Erbteil zu verfügen habe. —

Plötzlich schoß Tankred ein Gedanke durch den Kopf. Es hatte ihm einmal jemand erzählt, daß der Beamte eines großen Hauses in Amsterdam bei der Werbung um die Hand der Tochter des Chefs die abweisende Antwort erhalten habe: „Ja, wenn Sie einmal Compagnon von Watkin in London sind, dann kommen Sie wieder, dann läßt sich über die Sache sprechen!“ Der junge Mann war alsdann nach London gereist und hatte den Chef des Hauses Watkin gefragt, ob er ihn als Teilhaber aufnehmen wolle. Er sei der Schwiegersohn von van der Huyssen, dem sechzigfachen Millionär in Amsterdam. Auf diese Weise war er in den Besitz des Mädchens gelangt, das er liebte, und war zugleich Mitbesitzer vieler Millionen geworden.

Unter solchen Gedanken legte sich Tankred zu Bett. Noch einmal hörte er draußen ein Geräusch, als ob jemand langsam an seine Thür schleiche; auch Max knurrte mit rasch wieder ersterbendem Laut auf. — Dann aber war's still, und von Träumen umgaukelt, schlief Tankred von Brecken bis zum Morgen.

* * * * *

In ihrem Zimmer befand sich Theonie und ordnete an ihren Koffern. Eben hatte sich die Zofe entfernt, und Frege trat ins Gemach.

„Wann ist er nach Hause gekommen?“ fragte sie ohne Einleitung.

„Es war zwischen zwölf und ein Uhr. Er hat selbst den Fuchs abgesattelt. Dann hatte er noch Licht im Vorderzimmer und las wohl den Brief der gnädigen Frau. Als ich nach ein Uhr noch einmal über den Flur schlich und durch das Schlüsselloch sah, verlöschte gerade das Licht.“

Theonie nickte. „Also Du weißt: wenn wir beim Frühstück sitzen, bleib in der Nähe. Ich bin nicht sicher, daß er nicht abermals unverschämt gegen mich wird. Da will ich Dich erreichen können. — Und berichte mir also jeden Tag, Frege. Sobald er fort ist, telegraphierst Du mir, ich komme dann zurück — Ah,“ unterbrach sie sich, „er wird nicht freiwillig gehen! — Und es durch Zwang erreichen? Dann wird er sich auf jede Weise zu rächen suchen, und ich werde keinen ruhigen Augenblick mehr haben. Vor solchen Menschen schützt keinerlei Schloß und Gesetz, sie sind zu allem fähig.“

Frege widersprach seiner Herrin nicht. Er bewegte den alten, großen Kopf mit den scharfen Linien und starrte mit dem eigentümlichen Ausdruck vor sich hin, der den Schwerhörigen eigen ist.

„Ich wüßte eins, gnädige Frau,“ schob er dann, das Wort nehmend, ein. „Wenn er das Fräulein auf Holzwerder heiratet, dann werden Sie von ihm befreit für alle Zeiten. Das sollten Sie zu fördern suchen.“

„Wie kann ich das fördern, Frege? Und ob Du recht hast, ist noch sehr zweifelhaft. Dann bleibt er doch in unserer Nachbarschaft. Schon seine Nähe beunruhigt mich, flößt mir Furcht ein.“

Frege bewegte die Achseln. ‚Es mag zutreffen, aber in der Not nimmt man das, was man finden kann‘ stand in seinem Gesicht geschrieben.

Nun schlug die Uhr vom Gutsthor herüber, und Theonie entließ Frege und stieg die Treppe hinab. Ihr graute vor diesem Gang so sehr, daß ihr die Kniee zitterten.

Während dessen befand sich Tankred noch im Freien. Ein unruhiger Drang hatte ihn, gleich nachdem er sich aus dem Bett erhoben, hinausgetrieben. Die Natur lag da im strahlenden Glanz der Herbstsonne. Als sich Tankred dem großen Tannenhügel näherte, der zur Linken einen Teil des Parkes begrenzte, eröffnete sich ihm ein zauberhaft schönes Bild! Unzählige Lichter irrten zwischen den Stämmen, versteckte kleine Sonnen blitzten und durchleuchteten die dunkelgrünen Zweige der Fichten; breite Ströme ergossen sich den Hügel hinab, wo eine Lichtung geblieben war, und an anderer Stelle stieg ein einsamer Weg im schattigen Dunkel die Höhe hinan und weckte das Verlangen, sich dort niederzulassen und den würzigen Duft der Kiefernadeln einzuatmen.

Die Schönheit der Natur wirkte auf die Seele des Mannes ein, aber mehr noch ward das Verlangen nach Besitz in ihm geweckt.

Als er aus dem Park heraustrat, und sein Blick weithin die Koppeln, Wiesen, Felder und Waldungen umfaßte, die alle zu Falsterhof gehörten, die dalagen von der Sonne umflossen wie ein herrliches Eden, als sein Blick nach dem Pachthof hinüberschweifte, und die Kuh- und Schafherden vor ihm auftauchten, das Geräusch thätiger Menschenarbeit zu ihm herüberdrang, die Wirtschaftsgebäude unter dem farbigen Laub emporstiegen, und er im Geiste an sich vorüberziehen ließ, was alles sie bargen an Getier, Getreide und sonstigem Vorrat, welch ein Leben in der Meierei war, wie weit sich die Gemüsegärten ausstreckten, und wie endlos auch noch östlich von Falsterhof das Gutsland sich dehnte, da krallte sich der Teufel der Habsucht so tief in seine Seele ein, daß sein Herz klopfte, und seine Handflächen sich feuchteten.

Es war auch alles klar in ihm. Einen Vorschlag wollte er Theonie machen, ohne Umschweife. Da er doch einmal die Maske abgeworfen hatte, war's schon weise, nun ohne Schwanken und Zaudern zu sagen, was er wünschte. Sie konnte es sich ja überlegen, seinen Vorschlag auf der Reise wägen und ihm schreiben. — Ja, so sollte es sein.

Und dann standen sie sich gegenüber. Theonie goß eben Wasser auf den Thee, als Tankred ins Gemach trat. Sie wandte das Haupt, bewegte es unbefangen, obschon es in ihrem Innern pulsierte, und sagte:

„Bitte, nimm Platz. — Willst Du vielleicht etwas von dem Graubrot abschneiden? Ich sehe, Kathrine hat es vergessen. Und Eier, die Du so liebst, fehlen ja auch. Soll ich rasch welche bestellen?“

Tankred ward aufs angenehmste berührt. Theonie ließ ihn die Vorfälle des verflossenen Tages nicht entgelten, sie legte freundlich versöhnliche Gesinnungen an den Tag.

Auch er begegnete ihr mit ausgesuchter Aufmerksamkeit.

Als sie sich gegenüber saßen, sagte er:

„Ich danke Dir für Deine Zeilen, Theonie. Darf ich fragen, wo Du Dich hinbegiebst, und wie lange Du fortzubleiben gedenkst?“

„Ich reise zunächst nach Hamburg, wo ich einige Zeit verweilen will.

Über die Länge meiner Abwesenheit habe ich noch nichts festgesetzt.“

„Jedenfalls sehen wir uns aber dann wohl nicht wieder?“

„Nein, schwerlich.“

Es trat eine Pause ein. Neben dem Tische dampfte der Theekessel und sang heimliche Lieder. Die Sonne warf durch die großen, tiefen Fenster ihre Strahlen, blieb zwar hockend auf den Fensterbrettern, aber erhellte doch das Gemach, als seien die Wände plötzlich in lichtdurchflutetes Glas verwandelt. Die alten, kostbaren Möbel glänzten, das weiße Leinen der Servietten und eine von Frege in die Mitte des Tisches gestellte rote Herbstrose hoben ihre Farben reizvoll von einander ab, und das Krystall und das Silber auf dem Frühstückstisch flimmerte und blitzte. Eine Platte mit süß duftenden, dampfenden Rindfleischschnitten und eine einen zarten Champignongeruch verbreitende Schale mit Sauce standen neben mehlig-hellen Kartoffeln.

Vor allem bediente Tankred sich, und nun schenkte Theonie ihm auch ein

Glas goldfunkelnden Rheinweins ein.

Sie verstand es, die Dinge gemütlich zu machen; wenn sie etwas bereitete oder die Hand darüber hielt, war's stets tadellos, und auch heute schmeckte es dem Manne vortrefflich, und die Vorzüge sorglosen Wohllebens drangen wiederholt auf ihn ein. Es gab eigentlich nichts Herrlicheres, als auf Falsterhof zu leben. Alles stand wie durch Zauber auf dem Tisch, die Gemächer waren mit allen nur denkbaren Bequemlichkeiten versehen, die Dienerschaft war noch vom alten Schlage, voll Ehrerbietung und Aufmerksamkeit, und wenn sich Tankred in der Umgegend oder in Elsterhausen zeigte, begegnete man ihm mit jener Unterordnung, die Stand und Reichtum stets in der Welt hervorrufen.

„Höre mich, bitte, an, Theonie, bevor wir auseinandergehen,“ begann Tankred unter solchen Eindrücken in gehobener Stimmung. „Wirf Deinen hohen Gerechtigkeits- und Deinen Verwandtschaftssinn mit in die Wagschale, wenn Du mir antwortest. Ich sagte Dir gestern, ich wisse, daß ich in meinen Entschlüssen, ein arbeitsames, geregeltes Leben zu beginnen, gefördert werden würde, wenn ich heiraten könnte — Nein, nein, fürchte nicht, daß ich Dir wieder zu nahe trete. Du hast mir gestern an den Tag gelegt, daß Du meine Empfindungen nicht teilst, und nie werde ich Dich wieder belästigen. Ich wollte etwas anderes sagen: Wenn ich in guten, geordneten Verhältnissen wäre, könnte ich sicher auch eine brave Frau finden. Nun bin ich, und besitze ich aber nichts, und das, was Du mir gütigst zuwenden willst, giebt unter heutigen Verhältnissen einem Landmann keine Möglichkeit, sich eine Selbständigkeit zu verschaffen. Wir sind die letzten beiden Breckens auf der Welt, Theonie. War es nicht ein bischen ungerecht von Deinen Eltern, mich ganz leer ausgehen zu lassen? Wäre es den natürlichen Verhältnissen nicht entsprechender gewesen, wenn Dir ein Teil, und mir der andere geworden wäre, zumal Du Deinen Gatten verloren hast und nicht wieder heiraten willst? Ich weiß, daß Du mich nicht liebst. Ich fühle sogar, daß Du mich nicht achtest, obgleich ich Dir nie etwas zu leide that und mich nur des Vergehens schuldig machte, Dir meine Liebe in einer Form zu gestehen, die Du leicht nachgesehen haben würdest, wenn Du meine Neigung erwidertest. Aber wenn Du mich auch nicht liebst und meinem Charakter mißtraust, so hast Du doch als eine Brecken und vermöge Deiner ganzen Veranlagung gewiß den Wunsch, daß ich fortan einen soliden und rechtschaffenen Lebenswandel führe, daß ich dem Namen der Familie Ehre mache. Wenn dem aber so ist, so hilf mir, gieb mir eine Stellung in der Welt durch freiwillige Teilung des Besitzes und lasse mich in Zukunft Falsterhof verwalten. Hast Du kein Vertrauen zu meinen wirtschaftlichen Fähigkeiten, so kann ja auch alles bleiben, wie es jetzt ist, aber dann mache die Mittel zu einer Teilung zwischen uns flüssig, indem Du eine größere Summe auf Falsterhof aufnimmst oder mir die Hälfte der Rente überweisest. Ich sehe, Du zuckst zusammen, Du findest es über die maßen unbescheiden von mir, eine solche Forderung zu stellen, und ich gebe auch zu, daß mein Verlangen sehr ungewöhnlicher Art ist. Aber ich bin nüchtern veranlagt und setze anderseits ein großes Vertrauen in Deinen Gerechtigkeitssinn, auch weiß ich, daß Du geringen Wert auf Hab und Gut legst, und so fand ich denn den Mut, Dich mit meinem Wunsche bekannt zu machen. — Nun, Theonie?“ schloß er und griff wieder nach Messer und Gabel, die während seiner Rede geruht hatten. „Was meinst Du? Willst Du so freundlich sein, zu überlegen, was ich Dir vorzutragen mir erlaubte?“

Theonie hatte bei den letzten Sätzen sinnend vor sich hingeschaut. Ihre Gedanken beherrschten sie so, daß sie nur halb vernommen, was er am Schluß gesagt hatte. Aus diesem Gesichtspunkte hatte sie ihres Vetters Stellung zur Familie Brecken allerdings noch niemals ins Auge gefaßt. Die Berechtigung eines Anspruchs von seiten Tankreds war ihr auch nicht einmal in den Sinn gekommen; bei dem Gedanken, ihm eine Summe zuzuwenden, hatte lediglich ihr Gefühl, nicht aber ein Pflichtzwang sie geleitet.

Dennoch war jetzt alles klar in ihr, und ihm fest und ehrlich ins Auge schauend, erwiderte sie:

„Ich weise Deine Vorschläge durchaus nicht zurück. Aber vor der Hand kannst du in keiner anderen als der Dir bereits mitgeteilten Weise auf mich rechnen. Ich will einen Entschluß von solcher Tragweite — ich spreche, wie ich gleich betonen will, nur von einer Erbteilüberweisung; die Verwaltung des Gutes möchte ich dem Manne nicht entziehen, der meines Vaters ganzes Vertrauen besaß und es stets rechtfertigte — also, ich will einen Entschluß von solcher Tragweite nicht fassen, ohne Justizrat Brix zu rate zu ziehen, und ihn auch abhängig machen von gewissen Umständen, die erst nach einer Reihe von Jahren meiner Beurteilung unterliegen können.“

Theonie machte eine Pause, und Tankred setzte voraus, daß seine Kousine

noch etwas für ihn Günstiges hinzufügen werde. Aber sie neigte nur in

Bestätigung ihrer Worte den Kopf und machte dann eine Bewegung zum

Aufstehen.

„Es ist wohl so weit, der Wagen wird vorgefahren sein,“ sagte sie, nach einer im Zimmer stehenden Uhr schauend. „Entschuldige mich, ich habe oben noch etwas zu thun.“

Aber Tankred hielt Theonie durch seine blicke zurück.

„Schon einmal machte ich Dir Andeutungen, daß ich ohne Mittel sei, Theonie. Wir wurden damals unterbrochen. Würdest Du wohl die Güte haben, mir einiges Geld zurückzulassen?“

Sie nickte bereitwillig und sagte, die Börse ziehend, mit einem Anflug von Verlegenheit: „Wie viel, bitte?“

„Ein paar hundert Thaler würden mir zunächst sehr gelegen kommen, da ich einige Verpflichtungen habe.“

„Ein paar hundert Thaler? Die habe ich nicht hier. Da müßte ich erst an

Brix schreiben.“

„Gieb mir ein paar Zeilen an den Verwalter,“ wandte Tankred ein. „Er ist stets bei Kasse und wird mir auf Deine Anweisung gleich zahlen.“

„An den Verwalter?“ wiederholte Theonie zögernd und pedantisch überlegend. „Das würde ihm sehr auffallend erscheinen. Das ist nie geschehen, alles geht durch Brix.“

„Mache diesmal eine Ausnahme, Theonie. Ich werde es ihm schon erklären —“

Aber sie gab noch immer nicht nach. Ein starker Ordnungssinn, den sie von ihrem Vater geerbt, war ihr eigen.

„Nein, ich möchte es doch nicht. Aber hier, bitte — vorläufig,“ — entschied sie und reichte ihm ein paar Geldscheine, die sich in ihrer Börse befanden, „für weiteres werde ich sorgen.“

Tankred nahm mit gezwungener Miene das Geld; er mußte an sich halten, um ihr nicht schroff zu begegnen. Dieses in seinen Augen kleinliche Markten und Überlegen um ein paar hundert Thaler von einer Person, die, wenn sie ihr Eigentum flüssig machte, Millionärin war, brachte ihn schon an sich auf, verletzte aber auch seine Eitelkeit im höchsten Grade. Es mußte alles nach seinem Kopfe gehen. Wenn die Dinge sich nicht gestalteten, wie er sie sich in seinem Sinn zurechtgelegt hatte, wußte er, wenigstens für den ersten Augenblick, seinen Unmut niemals zu unterdrücken.

„Nun — lebe wohl,“ — sagte Theonie, vom Reisefieber erfaßt, mit deutlicher Unruhe. — „Möge es Dir gut gehen! Und bitte, besuche Justizrat Brix, er wird Dir das Nötige mitteilen.“

Plötzlich kam Tankred der Gedanke, daß dieser fortwährende Hinweis auf den Rechtsbeistand und Vermögensverwalter der Familie noch einen besonderen Grund habe. Theonie würde ihm am Ende noch Bedingungen durch Brix stellen. Das reizte und beunruhigte ihn so sehr, daß er sie abermals zurückhielt und die Worte hervorstieß:

„Du kannst es nicht erwarten, eine doch an sich gar nicht eilige Reise anzutreten, und wendest dabei große Umständlichkeiten an, während Du meine Angelegenheit behandelst wie eine lästige Nebensache. Weshalb soll ich denn durchaus den Umweg zu Brix machen? Gieb mir doch einfach eine Anweisung auf ihn, die ich verwerten kann. Ich habe nicht gern mit ihm zu thun. Er ist mir sehr unsympathisch.“

Diese Worte reizten nun auch Theonie, und sehr rauh und mit einem starken Anhauch von Bevormundung gab sie, zugleich durch ihre Mienen zeigend, daß sie sich durch seinen Einwand durchaus nicht beirren lasse, zurück:

„Es muß aber doch so bleiben! Einige kleine Unbequemlichkeiten mußt Du schon mit in den Kauf nehmen, wenn Du Geld empfangen willst.“

Aber sie bereute sogleich, was sie gesprochen. In dem Antlitz des

Menschen, der ihr gegenüber stand, erschien ein furchtbarer Ausdruck.

Wut, Rachsucht, Totschlag standen in seinem Gesicht geschrieben, und ein

zähneknirschendes, von funkelnden Blicken begleitetes:

„Nein, ich muß nicht und will nicht!“ drang wie ein Gewitter aus seinem Munde. „Ich habe Dir alles freundlich und sachlich vorgestellt, ich habe an Deinen Gerechtigkeitssinn und Dein Verwandtschaftsgefühl, aber auch an Deine Klugheit appelliert, mich nicht wie einen lästigen Habenichts zu behandeln, sondern wie einen halbwegs Gleichberechtigten. Als Du dann die ablehnende Antwort auf meine Rede mit allerlei mystisch klingenden, aber sich wohl auf meinen zukünftigen Lebenswandel beziehenden Worten begleitetest, schwieg ich und fügte mich. Dann bat ich um etwas Geld, das Du mir nicht aus eigener Initiative gabst, obschon Du wußtest, daß ich schon seit der Krankheit Deiner Mutter nichts besaß, und machte, weil ich es gleich gebrauchte und —“ hier schob Tankred einen berechnenden Satz ein — „auch für meine Abreise desselben bedürftig war, den Vorschlag, es sofort herbeizuschaffen. Auch den wiesest Du zurück und stelltest Dich auf den pedantisch engherzigen und kleinlichen Standpunkt Deines filzigen Vaters, dem Gold und Silber alles war.“

Aber nun unterbrach Theonie, die anfänglich mit Angst und Herzklopfen zugehört hatte, und weil etwas Wahres in Tankreds Worten lag, sich getroffen fühlte, ihren Vetter mit einigen, alle Klugheit und Besonnenheit beiseite werfenden Worten. Dieser verkommene Mensch wagte es, das Andenken ihres Vaters zu beschimpfen in dem Augenblick, wo er bettelte, bettelte um Geld, das jener durch Ordnung und Sparsamkeit sich erworben?! Dasselbe ungestüm tobende Blut, das in Tankreds Adern rollte, pulsierte in den ihren, und besinnungslos vor Erregung rief sie ihm entgegen:

„Halt! Mit dieser Verunglimpfung meines verstorbenen teuren Vaters hast Du jeglichen Anspruch auf das kleinste Entgegenkommen von meiner Seite verwirkt. Das merke Dir! Und nun verlasse Falsterhof sogleich! Nicht ich gehe, Du gehst —! Das ist mein letztes Wort.“

In diesem Augenblick erschien die dürre Gestalt Freges in der Thür, und hinter ihm Klaus, der Kutscher, mit neugierig fragender, halb ängstlicher, halb entschlossener Miene.

„Ah!“ drang's aus dem Munde Tankreds, und er richtete seine Gestalt zur

Abwehr auf. „So stehen die Dinge? Sind nicht auch noch Gensdarmen zur

Hand? Ich aber sage euch, ich bleibe auf Falsterhof und weiche keiner

Gewalt! Muß ich ihr aber dennoch weichen, so hütet Euch!“

Nach diesen mit furchtbarer Stimme und unter drohenden Gebärden ausgestoßenen Worten trat er durch das anstoßende Gemach auf den Flur, und die Zurückbleibenden hörten, wie er die Zimmer des Onkels aufschloß.

„O mein Gott! Weshalb willst Du mich denn so grausam strafen, indem Du mir diesen Menschen ins Haus sandtest! Was that ich, um so Schreckliches zu verdienen?!“ hauchte Theonie und sank wie vernichtet in ihren Stuhl. —

Tankred wanderte in seinem Zimmer mit Mienen auf und ab, als wäre er eingesperrt und sänne darüber nach, wie er sich befreien könne. Aber sein Ingrimm richtete sich diesmal nicht auf eine andere Person, sondern auf sich selbst. Er hatte sich wieder nicht in seiner Macht gehabt, abermals war er seinem Jähzorn unterlegen, und statt seine Sache zu verbessern, hatte er sie gänzlich verfahren.

Da seine Handlungsweise mit der eben erst wieder gegebenen schriftlichen Zusicherung im krassesten Widerspruch stand, hatte er Theonie schlagend bewiesen, daß sie recht hatte, wenn sie ihm aufs äußerste mißtraute. Nicht nur hatte er jede Ehrerbietung außer acht gelassen, sondern sich auch zum Richter ihrer Handlungsweise aufgeworfen und am Ende sogar Drohungen ausgestoßen, die nur zu gut verrieten, was sich in den tieferen Winkeln seiner Seele versteckte. Sie konnte sich nach diesem Vorgang ihm nicht wieder nähern, das Tuch zwischen ihnen war zerschnitten.

Unglaublich hatte er gehandelt!

War sie nicht auf seinen Antrag eingegangen, und war das nicht ein über alle Erwartungen günstiges Ergebnis gewesen?

Nach einer einzigen Unterredung, und trotz ihrer ausgesprochenen Abneigung gegen ihn, hatte er erreicht, was einem andern kaum zu denken in den Sinn gekommen wäre. Es würde ihn nicht überrascht haben, wenn Theonie ihm erwidert hätte: Ich weiß nicht, ob ich mehr über Deine unverschämte Forderung mein Erstaunen ausdrücken soll, oder über deinen Mut, sie mir vorzutragen.

Statt dessen hatte sie seine Gründe angehört und unbefangen gewürdigt und dem Sinne nach nur erwidert: Ich will das Erbteil meiner Vorfahren nicht gefährden, bewährst Du Dich aber, dann soll die Hälfte Dein Eigentum sein. Sie hatte gehandelt wie ein selbstloser, gerechter, aber auch wie ein weiser und besonnener Mensch, er aber wie ein zügelloser, von gemeinen Trieben geleiteter Rabulist.

Nun hatte er am Ende auch das Geld verscherzt, das sie ihm willig hatte auszahlen wollen. Sicher würde Theonie jetzt wieder zu ihrem Rechtsanwalt gehen, alles annullieren, was sie früher festgesetzt hatte, und zugleich die Mittel mit Brix beraten, ihn, Tankred, mit Gewalt von Falsterhof zu entfernen. Und die Geschehnisse würden an die Öffentlichkeit dringen, und er würde der Familie Treffen als das erscheinen, was er wirklich war.

Wie gut hatte er alles eingefädelt, und mit welcher Pfuscherarbeit geendigt! Wäre er fügsam gewesen, so hätte er Tressens erklären können, er habe, wenn auch erst nach einigen Jahren, Anspruch auf die Hälfte von Falsterhof. Theonie würde, unter geschickter Behandlung der Angelegenheit von seiner Seite, diese Begünstigung bestätigt, es würde sich alles ohne Schwierigkeiten und Künste geregelt haben, während nun schon eine Unsumme von Verstellung, Intrigue und Lüge aufgewendet werden mußte, um nur die üblen Eindrücke wieder zu verwischen.

Und dann war das Resultat auch noch zweifelhaft, die Wahrscheinlichkeit lag vor, daß alle Mühe umsonst gewesen.

Nein! er war doch noch ein großer Stümper! Er mußte sich's zugestehen. So sehr ergriff den Mann die Einsicht in seine Fehler, daß er sogar auf den Gedanken kam, ob es nicht doch am Ende vorteilhafter sei, tugendhaft zu werden, umzukehren und sich zu bemühen, ein ordentliches Leben zu führen. Ihm kamen plötzlich Zweifel, ob ihm nicht doch die Eigenschaften zur erfolgreichen Schurkerei fehlten, da er sie nicht durch Selbstbeherrschung zu unterstützen vermochte. Er hatte noch nicht warten gelernt. Warten können! Was lag nicht alles in den Worten! Und er besaß auch nicht hinreichenden Mut; seine Genußsucht und sein Bequemlichkeitsdrang schoben sich in seine Entschlüsse und machten ihn feige.

In seinem charakterlosen Hin und Her, aber auch zufolge seiner schrankenlosen Selbstsucht überlegte er, ob er nicht lieber Theonie nachreisen, abermals ihre Verzeihung erflehen und schwören solle, daß das Geschehene nichts mit seinem Herzen gemein habe. Nur der Zorn hätte aus ihm geredet. Er vertraute dabei seiner eminenten Verstellungskunst.

Der Gedanke, durch eine einzige Unterredung alles noch wieder ins richtige Geleis bringen zu können, beschäftigte ihn plötzlich solchergestalt, der Gegensatz zwischen dem, was augenblicklich war, und dem, was er vielleicht wieder erreichen konnte, drängte sich ihm so stürmisch auf, daß er das Haupt zurückwarf, die Klingel zog und dem stumm und finster hereintretenden Frege zurief, er möge sofort den Fuchs satteln.

„Wohin ist meine Kousine gereist?“ fügte er erregt hinzu. „Es ist wichtig, daß Sie mir die Wahrheit sagen, da ich mich entschlossen habe, alles daran zu setzen, um unser Zerwürfnis zu beseitigen. Also, wohin hat Klaus die gnädige Frau kutschiert?“

Frege befand sich in größter Verlegenheit. Er wußte nicht, wie er am besten zu Gunsten seiner Herrin handeln würde.

„Ich weiß es nicht, Herr von Brecken. Zunächst wollte Frau Cromwell bei

Pastors vorsprechen und später Nachricht geben.“

So wand sich Frege heraus.

Bei der Erwähnung der Pastorfamilie schoß Tankred ein Gedanke durch den Kopf. Wenn sie von den letzten Vorfällen durch Theonie unterrichtet wurden, würden Tressens auch bald wissen, was geschehen war. Jüngst hatte die Familie bereits geäußert, daß sie Pastors, die sie sehr schätzten, allernächstens mit Tankred zusammen einladen wollten.

Das verstärkte des Mannes Entschluß, unter allen Umständen Theonie nachzueilen. Er konnte sie noch erreichen, wenn er nicht säumte; sicher würde sie sich bei Höppners einige Stunden, vielleicht sogar den Tag über aufhalten. Sehr unbequem war ihm freilich die Pastorin, sie guckte durch die Wand, sie nahm kein Blatt vor den Mund. Wie der Teufel vor dem Zeichen des Kreuzes zurückwich, so fühlte er seine Gewalt und Kraft gehemmt durch die grade Ehrlichkeit ihres Wesens.

Kaum zehn Minuten später war Tankred unterwegs, er jagte dahin, daß der

Staub der Landstraße hoch aufwirbelte, und der schnaubende und wild

stürmende Fuchs die Aufmerksamkeit der die einsame Landstraße belebenden

Fußgänger erregte. —

Inzwischen saß Theonie bei Höppners im Gartenzimmer und berichtete mit eben wieder zurückgewonnener Fassung von allem, was geschehen war.

Der Pastor richtete unter der silbernen Brille seine Augen mit dem Ausdruck größter Teilnahme auf Theonie, aber sein sich auf- und abschiebender Mund und seine leisen Kopfbewegungen verrieten, daß er zugleich nach einer Entlastung für Tankred suchte, daß er die Hoffnung nicht ausgab, die Herzen zu versöhnen.

Anders die Pastorin, die allem Gerechten eine warme Freundin, aber dem

Schlechten eine eifrige und unerschrockene Gegnerin war.

„Ich sollte nur Ihrem Vetter gegenüberstehen, ich wollte ihm schon die

Seele mürbe machen, liebste Theonie. Sie thun auch ganz unrecht, Furcht

zu empfinden. Menschen, wie Ihr Vetter, sind nur mutig, wenn sie keinen

Widerstand treffen; sehen sie, daß man ihnen die Zähne zeigt, ziehen sie

wie die Hunde den Schwanz ein. Was soll Ihnen denn geschehen? — Er könnte

Sie totschlagen, meinen Sie? Welcher Gedanke! Er will nur Vorteile aus

Ihnen ziehen. Was gewinnt er, wenn er sich mit der Staatsgewalt in

Konflikt bringt? Ihre Phantasie ist erregt; der alte Frege, dessen

Mißtrauen sich erhöht, weil er schlecht hört, hat Sie ängstlich gemacht.

Ich wette darauf, daß Ihr Vetter von selbst wieder ankommt und um gut

Wetter bittet.“

So sprach die Frau, freilich mehr, um Theonie zu beruhigen, als ganz ihrer Überzeugung folgend. Auch sie stand unter dem Eindruck, daß Tankred zu dem Schlimmsten fähig sei.

Nachdem es ihr zu ihrer Freude gelungen war, Theonie etwas zu beruhigen, und nachdem auch noch der Pastor, seiner Veranlagung entsprechend, milde zum guten geredet, ja, den Vorschlag gemacht hatte, als Vermittler aufzutreten und Tankred zu bewegen, Falsterhof zu verlassen, wandten sie sich anderen naheliegenden Dingen zu, und die Pastorin rief:

„So, liebste Frau Theonie! Nun müssen Sie doch auch unsere Lene sehen, unser Herzenskind. Ich sandte sie mit Christine fort, weil ich wollte, daß wir uns erst ungestört aussprächen. Gleich will ich mal umschauen, wo sie ist. Sie werden wohl von der Pastorenwiese zurück sein.“

Nach diesen Worten machte sie eine Bewegung, um fortzueilen, unterbrach sich aber, da eben die Thür sich öffnete, und ein freundlich aussehendes, sauber gekleidetes Dienstmädchen mit bloßen Armen, in einem sogenannten Brabanterrock, mit einem kleinen, blonden Mädchen von fünf Jahren an der Hand, in die Thür trat.

„Bist Du da, mein Lenchen, mein kleines, süßes Lenchen?“ rief die Frau glückselig und hob das Kind mit den verlegenen, unschuldigen Augen empor, herzte es und zeigte es triumphierend dem Besuch.

Die folgende Stunde war dann allerlei Besichtigungen gewidmet. Frau Höppner besaß viele Vögel, die sie Theonie zeigte; sie führte sie auch in den trotz der Herbstzeit noch sorgfältig geharkten und sauber gehaltenen Garten.

Den Hühnerhof mit den gackernden Kratzhennen und dem gespreizt einherschreitenden Hahn mußte Theonie ebenfalls in Augenschein nehmen und eine neue Tapete im Kabinet neben dem Wohnzimmer bewundern. Als sie wieder über den Flur schritten, sah Theonie daß sich eben ein Bauer mit dem Pastor unterhielt. So menschenfreundlich schimmerte es in des Geistlichen Auge, so geduldig hörte er auch noch zu, als der Mann am Schluß wiederum anhub, und mit so sanft ermunternden Worten entließ er ihn!

Und überall, wohin das Auge schaute, war gleichsam Sonnenschein! Ordnung und Schönheitssinn in der kleinsten Kammer, und das Gesinde, durch Beispiel geleitet, bescheiden und rührig, selbst der Hund anschmiegend und gehorsam.

Im Gartenzimmer zeigte die Pastorin Theonie allerlei Handarbeiten, mit

denen sie für Lenchen beschäftigt war. Auch des Kindes erstes

Schreibbuch legte sie ihr vor und sagte glücklich, und ihr sonst jeder

Überschätzung abgewandtes Wesen ein wenig verleugnend:

„Wirklich erstaunlich, was das kleine Geschöpf für eine sichere Hand hat, wie talentvoll sie überhaupt ist. Nicht wahr? Es ist doch sehr viel für ein Mädchen in den Jahren?“ Und Theonie pflichtete lächelnd bei, obschon sie das unbehülfliche Gekritzel noch nicht sehr kunstgerecht fand.

Todsünden

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