Читать книгу Demian: Die Geschichte von Emil Sinclairs Jugend - Hermann Hesse - Страница 3

Erstes Kapitel
Zwei Welten

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Inhaltsverzeichnis

Ich beginne meine Geschichte mit einem Erlebnisse der Zeit, wo ich etwa zehn bis elf Jahre alt war und in die Lateinschule unseres Städtchens ging.

Viel duftet mir da entgegen und rührt mich von innen mit Weh und mit wohligen Schauern an, dunkle Gassen und helle, Häuser und Türme, Uhrschläge und Menschengesichter, Stuben voll Wohnlichkeit und warmem Behagen, Stuben voll Geheimnis und tiefer Gespensterfurcht. Es riecht nach warmer Enge, nach Kaninchen und Dienstmägden, nach Hausmitteln und getrocknetem Obst. Zwei Welten liefen dort durcheinander, von zwei Polen her kamen Tag und Nacht.

Die eine Welt war das Vaterhaus, aber sie war sogar noch enger, sie umfaßte eigentlich nur meine Eltern. Diese Welt war mir großenteils wohlbekannt, sie hieß Mutter und Vater, sie hieß Liebe und Strenge, Vorbild und Schule. Zu dieser Welt gehörte milder Glanz, Klarheit und Sauberkeit, hier waren sanfte freundliche Reden, gewaschene Hände, reine Kleider, gute Sitten daheim. Hier wurde der Morgenchoral gesungen, hier wurde Weihnacht gefeiert. In dieser Welt gab es gerade Linien und Wege, die in die Zukunft führten, es gab Pflicht und Schuld, schlechtes Gewissen und Beichte, Verzeihung und gute Vorsätze, Liebe und Verehrung, Bibelwort und Weisheit. Zu dieser Welt mußte unsre Zukunft gehören, so mußte sie klar und reinlich, schön und geordnet sein.

Die andere Welt indessen begann schon mitten in unsrem eigenen Hause und war völlig anders, roch anders, sprach anders, versprach und forderte andres. In dieser zweiten Welt gab es Dienstmägde und Handwerksburschen, Geistergeschichten und Skandalgerüchte, es gab da eine bunte Flut von ungeheuren, lockenden, furchtbaren, rätselhaften Dingen, Sachen wie Schlachthaus und Gefängnis, Betrunkene und keifende Weiber, gebärende Kühe, gestürzte Pferde, Erzählungen von Einbrüchen, Totschlägen, Selbstmorden. Alle diese schönen und grauenhaften, wilden und grausamen Sachen gab es ringsum, in der nächsten Gasse, im nächsten Haus, Polizeidiener und Landstreicher liefen herum, Betrunkene schlugen ihre Weiber, Knäuel von jungen Mädchen quollen abends aus Fabriken, alte Frauen konnten einen bezaubern und krank machen, Räuber wohnten im Wald, Brandstifter wurden von Landjägern gefangen — überall quoll und duftete diese zweite, heftige Welt, überall, nur nicht in unsern Zimmern, wo Mutter und Vater waren. Und das war sehr gut. Es war wunderbar, daß es hier bei uns Frieden, Ordnung und Ruhe gab, Pflicht und gutes Gewissen, Verzeihung und Liebe — und wunderbar, daß es auch alles das andere gab, alles das Laute und Grelle, Düstere und Gewaltsame, dem man doch mit einem Sprung zur Mutter entfliehen konnte.

Und das Seltsamste war, wie die beiden Welten aneinander grenzten, wie nah sie beisammen waren! Zum Beispiel unsre Dienstmagd Lina, wenn sie am Abend bei der Andacht in der Wohnstube bei der Türe saß und mit ihrer hellen Stimme das Lied mitsang, die gewaschenen Hände auf die glattgestrichene Schürze gelegt, dann gehörte sie ganz zu Vater und Mutter, zu uns, ins Helle und Richtige. Gleich darauf in der Küche oder im Holzstall, wenn sie mir die Geschichte vom Männlein ohne Kopf erzählte, oder wenn sie beim Metzger im kleinen Laden mit den Nachbarweibern Streit hatte, dann war sie eine andre, gehörte zur andern Welt, war von Geheimnis umgeben. Und so war es mit allem, am meisten mit mir selber. Gewiß, ich gehörte zur hellen und richtigen Welt, ich war meiner Eltern Kind, aber wohin ich Auge und Ohr richtete, überall war das andere da, und ich lebte auch im andern, obwohl es mir oft fremd und unheimlich war, obwohl man dort regelmäßig ein schlechtes Gewissen und Angst bekam. Ich lebte sogar zuzeiten am allerliebsten in der verbotenen Welt, und oft war die Heimkehr ins Helle — so notwendig und gut sie sein mochte — fast wie eine Rückkehr ins weniger Schöne, ins Langweiligere und Ödere. Manchmal wußte ich: mein Ziel im Leben war, so wie mein Vater und meine Mutter zu werden, so hell und rein, so überlegen und geordnet; aber bis dahin war der Weg weit, bis dahin mußte man Schulen absitzen und studieren und Proben und Prüfungen ablegen, und der Weg führte immerzu an der anderen, dunkleren Welt vorbei, durch sie hindurch, und es war gar nicht unmöglich, daß man bei ihr blieb und in ihr versank. Es gab Geschichten von verlorenen Söhnen, denen es so gegangen war, ich hatte sie mit Leidenschaft gelesen. Da war stets die Heimkehr zum Vater und zum Guten so erlösend und großartig, ich empfand durchaus, daß dies allein das Richtige, Gute und Wünschenswerte sei, und dennoch war der Teil der Geschichte, der unter den Bösen und Verlorenen spielte, weitaus der lockendere, und wenn man es hätte sagen und gestehen dürfen, war es eigentlich manchmal geradezu schade, daß der Verlorene Buße tat und wieder gefunden wurde. Aber das sagte man nicht und dachte es auch nicht. Es war nur irgendwie vorhanden, als eine Ahnung oder Möglichkeit, ganz unten im Gefühl. Wenn ich mir den Teufel vorstellte, so konnte ich ihn mir ganz gut auf der Straße unten denken, verkleidet oder offen, oder auf dem Jahrmarkt, oder in einem Wirtshaus, aber niemals bei uns daheim.

Meine Schwestern gehörten ebenfalls zur hellen Welt. Sie waren, wie mir oft schien, im Wesen näher bei Vater und Mutter, sie waren besser, gesitteter, fehlerloser als ich. Sie hatten Mängel, sie hatten Unarten, aber mir schien, das ging nicht sehr tief, das war nicht wie bei mir, wo die Berührung mit dem Bösen oft so schwer und peinigend wurde, wo die dunkle Welt viel näher stand. Die Schwestern waren, gleich den Eltern, zu schonen und zu achten, und wenn man mit ihnen Streit gehabt hatte, war man nachher vor dem eigenen Gewissen immer der Schlechte, der Anstifter, der, der um Verzeihung bitten mußte. Denn in den Schwestern beleidigte man die Eltern, das Gute und Gebietende. Es gab Geheimnisse, die ich mit den verworfensten Gassenbuben weit eher teilen konnte als mit meinen Schwestern. An guten Tagen, wenn es licht war und das Gewissen in Ordnung, da war es oft köstlich, mit den Schwestern zu spielen, gut und artig mit ihnen zu sein und sich selbst in einem braven, edlen Schein zu sehen. So mußte es sein, wenn man ein Engel war! Das war das Höchste, was wir wußten, und wir dachten es uns süß und wunderbar, Engel zu sein, umgeben von einem lichten Klang und Duft wie Weihnacht und Glück. O wie selten gelangen solche Stunden und Tage! Oft war ich beim Spiel, bei guten, harmlosen, erlaubten Spielen, von einer Leidenschaft und Heftigkeit, die den Schwestern zu viel wurde, die zu Streit und Unglück führte, und wenn dann der Zorn über mich kam, war ich schrecklich und tat und sagte Dinge, deren Verworfenheit ich, noch während ich sie tat und sagte, tief und brennend empfand. Dann kamen arge, finstere Stunden der Reue und Zerknirschung, und dann der wehe Augenblick, wo ich um Verzeihung bat, und dann wieder ein Strahl der Helle, ein stilles, dankbares Glück ohne Zwiespalt, für Stunden oder Augenblicke.

Ich ging in die Lateinschule, der Sohn des Bürgermeisters und des Oberförsters waren in meiner Klasse und kamen zuweilen zu mir, wilde Buben und dennoch Angehörige der guten, erlaubten Welt. Trotzdem hatte ich nahe Beziehungen zu Nachbarsknaben, Schülern der Volksschule, die wir sonst verachteten. Mit einem von ihnen muß ich meine Erzählung beginnen.

An einem freien Nachmittag — ich war wenig mehr als zehn Jahre alt — trieb ich mich mit zwei Knaben aus der Nachbarschaft herum. Da kam ein größerer dazu, ein kräftiger und roher Junge von etwa dreizehn Jahren, ein Volksschüler, der Sohn eines Schneiders. Sein Vater war ein Trinker und die ganze Familie stand in schlechtem Ruf. Franz Kromer war mir wohl bekannt, ich hatte Furcht vor ihm, und es gefiel mir nicht, als er jetzt zu uns stieß. Er hatte schon männliche Manieren und ahmte den Gang und die Redensarten der jungen Fabrikburschen nach. Unter seiner Anführung stiegen wir neben der Brücke ans Ufer hinab und verbargen uns vor der Welt unterm ersten Brückenbogen. Das schmale Ufer zwischen der gewölbten Brückenwand und dem träg fließenden Wasser bestand aus lauter Abfällen, aus Scherben und Gerümpel, wirren Bündeln von verrostetem Eisendraht und anderem Kehricht. Man fand dort zuweilen brauchbare Sachen; wir mußten unter Franz Kromers Führung die Strecke absuchen und ihm zeigen, was wir fanden. Dann steckte er es entweder zu sich oder warf es ins Wasser hinaus. Er hieß uns darauf achten, ob Sachen aus Blei, Messing oder Zinn darunter wären, die steckte er alle zu sich, auch einen alten Kamm aus Horn. Ich fühlte mich in seiner Gesellschaft sehr beklommen, nicht weil ich wußte, daß mein Vater mir diesen Umgang verbieten würde, wenn er davon wüßte, sondern aus Angst vor Franz selber. Ich war froh, daß er mich nahm und behandelte wie die andern. Er befahl, und wir gehorchten, es war, als sei das ein alter Brauch, obwohl ich das erstemal mit ihm zusammen war.

Schließlich setzten wir uns an den Boden. Franz spuckte ins Wasser und sah aus wie ein Mann; er spuckte durch eine Zahnlücke und traf, wohin er wollte. Es begann ein Gespräch, und die Knaben kamen ins Rühmen und Großtun mit allerlei Schülerheldentaten und bösen Streichen. Ich schwieg und fürchtete doch, gerade durch mein Schweigen aufzufallen und den Zorn des Kromer auf mich zu lenken. Meine beiden Kameraden waren von Anfang an von mir abgerückt und hatten sich zu ihm bekannt, ich war ein Fremdling unter ihnen und fühlte, daß meine Kleidung und Art für sie herausfordernd sei. Als Lateinschüler und Herrensöhnchen konnte Franz mich unmöglich lieben, und die beiden andern, das fühlte ich wohl, würden mich, sobald es darauf ankäme, verleugnen und im Stich lassen.

Endlich begann ich, aus lauter Angst, auch zu erzählen. Ich erfand eine große Räubergeschichte, zu deren Helden ich mich machte. In einem Garten bei der Eckmühle, erzählte ich, hätte ich mit einem Kameraden bei Nacht einen ganzen Sack voll Äpfel gestohlen, und nicht etwa gewöhnliche, sondern lauter feinste Reinetten und Goldparmänen, die besten Sorten. Aus den Gefahren des Augenblicks flüchtete ich mich in diese Geschichte, das Erfinden und Erzählen war mir geläufig. Um nur nicht gleich wieder aufzuhören und vielleicht in Schlimmeres verwickelt zu werden, ließ ich meine ganze Kunst glänzen. Einer von uns, erzählte ich, hatte immer Schildwache stehen müssen, während der andre im Baum war und die Äpfel herunterwarf, und der Sack sei so schwer gewesen, daß wir ihn zuletzt wieder öffnen und die Hälfte zurücklassen mußten, aber wir kamen nach einer halben Stunde wieder und holten auch sie noch.

Als ich fertig war, hoffte ich auf einigen Beifall, ich war zuletzt warm geworden und hatte mich am Fabulieren berauscht. Die beiden Kleinern schwiegen abwartend, Franz Kromer aber sah mich aus halb zugekniffenen Augen durchdringend an und fragte mit drohender Stimme: „Ist das wahr?“

„Jawohl,“ sagte ich.

„Also wirklich und wahrhaftig?“

„Ja, wirklich und wahrhaftig,“ beteuerte ich trotzig, während ich innerlich vor Angst erstickte.

„Kannst du schwören?“

Ich erschrak sehr, aber ich sagte sofort Ja.

„Also sag: Bei Gott und Seligkeit!“

Ich sagte: „Bei Gott und Seligkeit.“

„Na ja,“ meinte er dann und wandte sich ab.

Ich dachte, damit sei es gut, und war froh, als er sich bald erhob und den Rückweg einschlug. Als wir auf der Brücke waren, sagte ich schüchtern, ich müsse jetzt nach Hause.

„Das wird nicht so pressieren,“ lachte Franz, „wir haben ja den gleichen Weg.“

Langsam schlenderte er weiter, und ich wagte nicht auszureißen, aber er ging wirklich den Weg gegen unser Haus. Als wir dort waren, als ich unsre Haustür sah und den dicken messingenen Drücker, die Sonne in den Fenstern und die Vorhänge im Zimmer meiner Mutter, da atmete ich tief auf. O Heimkehr! O gute, gesegnete Rückkunft nach Hause, ins Helle, in den Frieden!

Als ich schnell die Tür geöffnet hatte und hineinschlüpfte, bereit, sie hinter mir zuzuschlagen, da drängte Franz Kromer sich mit hinein. Im kühlen, düsteren Fliesengang, der nur vom Hof her Licht bekam, stand er bei mir, hielt mich am Arm und sagte leise: „Nicht so pressieren, du!“

Erschrocken sah ich ihn an. Sein Griff um meinen Arm war fest wie Eisen. Ich überlegte, was er im Sinn haben könnte, und ob er mich etwa mißhandeln wolle. Wenn ich jetzt schreien würde, dachte ich, laut und heftig schreien, ob dann wohl schnell genug jemand von droben dasein würde, um mich zu retten? Aber ich gab es auf.

„Was ist?“ fragte ich, „was willst du?“

„Nicht viel. Ich muß dich bloß noch etwas fragen. Die andern brauchen das nicht zu hören.“

„So? Ja, was soll ich dir noch sagen? Ich muß hinauf, weißt du.“

„Du weißt doch,“ sagte Franz leise, „wem der Obstgarten bei der Eckmühle gehört?“

„Nein, ich weiß nicht. Ich glaube, dem Müller.“

Franz hatte den Arm um mich geschlungen und zog mich nun ganz dicht zu sich heran, daß ich ihm aus nächster Nähe ins Gesicht sehen mußte. Seine Augen waren böse, er lächelte schlimm, und sein Gesicht war voll Grausamkeit und Macht.

„Ja, mein Junge, ich kann dir schon sagen, wem der Garten gehört. Ich weiß schon lang, daß die Äpfel gestohlen sind, und ich weiß auch, daß der Mann gesagt hat, er gebe jedem zwei Mark, der ihm sagen kann, wer das Obst gestohlen hat.“

„Lieber Gott!“ rief ich. „Aber du wirst ihm doch nichts sagen?“

Ich fühlte, daß es unnütz sein würde, mich an sein Ehrgefühl zu wenden. Er war aus der andern Welt, für ihn war Verrat kein Verbrechen. Ich fühlte das genau. In diesen Sachen waren die Leute aus der „anderen“ Welt nicht wie wir.

„Nichts sagen?“ lachte Kromer. „Lieber Freund, meinst du denn, ich sei ein Falschmünzer, daß ich mir selber Zweimarkstücke machen kann? Ich bin ein armer Kerl, ich habe keinen reichen Vater wie du, und wenn ich zwei Mark verdienen kann, muß ich sie verdienen. Vielleicht gibt er sogar mehr.“

Er ließ mich plötzlich wieder los. Unsre Hausflur roch nicht mehr nach Frieden und Sicherheit, die Welt brach um mich zusammen. Er würde mich anzeigen, ich war ein Verbrecher, man würde es dem Vater sagen, vielleicht würde sogar die Polizei kommen. Alle Schrecken des Chaos drohten mir, alles Häßliche und Gefährliche war gegen mich aufgeboten. Daß ich gar nicht gestohlen hatte, war ganz ohne Belang. Ich hatte außerdem geschworen. Mein Gott, mein Gott!

Tränen stiegen mir auf. Ich fühlte, daß ich mich loskaufen müsse, und griff verzweifelt in alle meine Taschen. Kein Apfel, kein Taschenmesser, gar nichts war da. Da fiel meine Uhr mir ein. Es war eine alte Silberuhr, und sie ging nicht, ich trug sie „nur so“. Sie stammte von unsrer Großmutter. Schnell zog ich sie heraus.

„Kromer,“ sagte ich, „hör, du mußt mich nicht angeben, das wäre nicht schön von dir. Ich will dir meine Uhr schenken, sieh da; ich habe leider sonst gar nichts. Du kannst sie haben, sie ist aus Silber, und das Werk ist gut, sie hat nur einen kleinen Fehler, man muß sie reparieren.“

Er lächelte und nahm die Uhr in seine große Hand. Ich sah auf diese Hand und fühlte, wie roh und tief feindlich sie mir war, wie sie nach meinem Leben und Frieden griff.

„Sie ist aus Silber —“ sagte ich schüchtern.

„Ich pfeife auf dein Silber und auf deine alte Uhr da!“ sagte er mit tiefer Verachtung. „Laß du sie nur selber reparieren!“

„Aber Franz,“ rief ich zitternd vor Angst, er möchte weglaufen. „Warte doch ein wenig! Nimm doch die Uhr! Sie ist wirklich aus Silber, wirklich und wahr. Und ich habe ja nichts anderes.“

Er sah mich kühl und verächtlich an.

„Also du weißt, zu wem ich gehe. Oder ich kann es auch der Polizei sagen, den Wachtmeister kenne ich gut.“

Er wandte sich zum Gehen. Ich hielt ihn am Ärmel zurück. Es durfte nicht sein. Ich wäre viel lieber gestorben als alles das zu ertragen, was kommen würde, wenn er so fortginge.

„Franz,“ flehte ich heiser vor Erregung, „mach doch keine dummen Sachen! Gelt, es ist bloß ein Spaß?“

„Jawohl, ein Spaß, aber für dich kann er teuer werden.“

„Sag mir doch, Franz, was ich tun soll! Ich will ja alles tun!“

Er musterte mich mit seinen eingekniffenen Augen und lachte wieder.

„Sei doch nicht dumm!“ sagte er mit falscher Gutmütigkeit. „Du weißt ja so gut Bescheid wie ich. Ich kann zwei Mark verdienen, und ich bin kein reicher Mann, daß ich die wegwerfen kann, das weißt du. Du bist aber reich, du hast sogar eine Uhr. Du brauchst mir bloß die zwei Mark zu geben, dann ist alles gut.“

Ich begriff die Logik. Aber zwei Mark! Das war für mich so viel und unerreichbar wie zehn, wie hundert, wie tausend Mark. Ich hatte kein Geld. Es gab ein Sparkästlein, das bei meiner Mutter stand, da waren von Onkelbesuchen und solchen Anlässen her ein paar Zehn- und Fünfpfennigstücke drin. Sonst hatte ich nichts. Taschengeld bekam ich in jenem Alter noch keines.

„Ich habe nichts,“ sagte ich traurig. „Ich habe gar kein Geld. Aber sonst will ich dir alles geben. Ich habe ein Indianerbuch, und Soldaten, und einen Kompaß. Ich will ihn dir holen.“

Kromer zuckte nur mit dem kühnen, bösen Mund und spuckte auf den Boden.

„Mach kein Geschwätz!“ sagte er befehlend. „Deinen Lumpenkram kannst du behalten. Einen Kompaß! Mach mich jetzt nicht noch bös, hörst du, und gib das Geld her!“

„Aber ich habe keins, ich kriege nie Geld. Ich kann doch nichts dafür!“

„Also dann bringst du mir morgen die zwei Mark. Ich warte nach der Schule unten am Markt. Damit fertig. Wenn du kein Geld bringst, wirst du ja sehen!“

„Ja, aber woher soll ich’s denn nehmen? Herrgott, wenn ich doch keins habe —“

„Es ist Geld genug bei euch im Haus. Das ist deine Sache. Also morgen nach der Schule. Und ich sage dir: wenn du es nicht bringst —“ Er schoß mir einen furchtbaren Blick ins Auge, spuckte nochmals aus und war wie ein Schatten verschwunden.

Ich konnte nicht hinaufgehen. Mein Leben war zerstört. Ich dachte daran, fortzulaufen und nie mehr wiederzukommen, oder mich zu ertränken. Doch waren das keine deutlichen Bilder. Ich setzte mich im Dunkel auf die unterste Stufe unsrer Haustreppe, kroch eng in mich zusammen und gab mich dem Unglück hin. Dort fand Lina mich weinend, als sie mit einem Korb herunterkam, um Holz zu holen.

Ich bat sie, droben nichts zu sagen, und ging hinauf. Am Rechen neben der Glastüre hing der Hut meines Vaters und der Sonnenschirm meiner Mutter, Heimat und Zärtlichkeit strömte mir von allen diesen Dingen entgegen, mein Herz begrüßte sie flehend und dankbar wie der verlorene Sohn den Anblick und Geruch der alten heimatlichen Stuben. Aber das alles gehörte mir jetzt nicht mehr, das alles war lichte Vater- und Mutterwelt, und ich war tief und schuldvoll in die fremde Flut versunken, in Abenteuer und Sünde verstrickt, vom Feind bedroht und von Gefahren, Angst und Schande erwartet. Der Hut und Sonnenschirm, der gute alte Sandsteinboden, das große Bild überm Flurschrank, und drinnen aus dem Wohnzimmer her die Stimme meiner älteren Schwester, das alles war lieber, zarter und köstlicher als je, aber es war nicht Trost mehr und sicheres Gut, es war lauter Vorwurf. Dies alles war nicht mehr mein, ich konnte an seiner Heiterkeit und Stille nicht teilhaben. Ich trug Schmutz an meinen Füßen, den ich nicht an der Matte abstreifen konnte, ich brachte Schatten mit mir, von denen die Heimatwelt nicht wußte. Wieviel Geheimnisse hatte ich schon gehabt, wieviel Bangigkeit, aber es war alles Spiel und Spaß gewesen gegen das, was ich heut mit mir in diese Räume brachte. Schicksal lief mir nach, Hände waren nach mir ausgestreckt, vor denen auch die Mutter mich nicht schützen konnte, von denen sie nicht wissen durfte. Ob nun mein Verbrechen ein Diebstahl war oder eine Lüge (hatte ich nicht einen falschen Eid bei Gott und Seligkeit geschworen?) — das war einerlei. Meine Sünde war nicht dies oder das, meine Sünde war, daß ich dem Teufel die Hand gegeben hatte. Warum war ich mitgegangen? Warum hatte ich dem Kromer gehorcht, besser als je meinem Vater? Warum hatte ich die Geschichte von jenem Diebstahl erlogen? Mich mit Verbrechen gebrüstet, als wären es Heldentaten? Nun hielt der Teufel meine Hand, nun war der Feind hinter mir her.

Für einen Augenblick empfand ich nicht mehr Furcht vor morgen, sondern vor allem die schreckliche Gewißheit, daß mein Weg jetzt immer weiter bergab und ins Finstere führe. Ich spürte deutlich, daß aus meinem Vergehen neue Vergehen folgen mußten, daß mein Erscheinen bei den Geschwistern, mein Gruß und Kuß an die Eltern Lüge war, daß ich ein Schicksal und Geheimnis mit mir trug, das ich ihnen verbarg.

Einen Augenblick blitzte Vertrauen und Hoffnung in mir auf, da ich den Hut meines Vaters betrachtete. Ich würde ihm alles sagen, würde sein Urteil und seine Strafe auf mich nehmen und ihn zu meinem Mitwisser und Retter machen. Es würde nur eine Buße sein, wie ich sie oft bestanden hatte, eine schwere bittere Stunde, eine schwere und reuevolle Bitte um Verzeihung.

Wie süß das klang! Wie schön das lockte! Aber es war nichts damit. Ich wußte, daß ich es nicht tun würde. Ich wußte, daß ich jetzt ein Geheimnis hatte, eine Schuld, die ich allein und selber ausfressen mußte. Vielleicht war ich gerade jetzt auf dem Scheidewege, vielleicht würde ich von dieser Stunde an für immer und immer dem Schlechten angehören, Geheimnisse mit Bösen teilen, von ihnen abhängen, ihnen gehorchen, ihresgleichen werden müssen. Ich hatte den Mann und Helden gespielt, jetzt mußte ich tragen, was daraus folgte.

Es war mir lieb, daß mein Vater sich, als ich eintrat, über meine nassen Schuhe aufhielt. Es lenkte ab, er bemerkte das Schlimmere nicht, und ich durfte einen Vorwurf ertragen, den ich heimlich mit auf das andere bezog. Dabei funkelte ein sonderbar neues Gefühl in mir auf, ein böses und schneidendes Gefühl voll Widerhaken: ich fühlte mich meinem Vater überlegen! Ich fühlte, einen Augenblick lang, eine gewisse Verachtung für seine Unwissenheit, sein Schelten über die nassen Stiefel schien mir kleinlich. „Wenn du wüßtest!“ dachte ich, und kam mir vor wie ein Verbrecher, den man wegen einer gestohlenen Semmel verhört, während er Morde zu gestehen hätte. Es war ein häßliches und widriges Gefühl, aber es war stark und hatte einen tiefen Reiz, und es kettete mich fester als jeder andere Gedanke an mein Geheimnis und meine Schuld. Vielleicht, dachte ich, ist der Kromer jetzt schon zur Polizei gegangen und hat mich angegeben, und Gewitter ziehen sich über mir zusammen, während man mich hier wie ein kleines Kind betrachtet!

Von diesem ganzen Erlebnis, soweit es bis hier erzählt ist, war dieser Augenblick das Wichtige und Bleibende. Es war ein erster Riß in die Heiligkeit des Vaters, es war ein erster Schnitt in die Pfeiler, auf denen mein Kinderleben geruht hatte, und die jeder Mensch, ehe er er selbst werden kann, zerstört haben muß. Aus diesen Erlebnissen, die niemand sieht, besteht die innere, wesentliche Linie unsres Schicksals. Solch ein Schnitt und Riß wächst wieder zu, er wird verheilt und vergessen, in der geheimsten Kammer aber lebt und blutet er weiter.

Mir selbst graute sofort vor dem neuen Gefühl, ich hätte meinem Vater gleich darauf die Füße küssen mögen, um es ihm abzubitten. Man kann aber nichts Wesentliches abbitten, und das fühlt und weiß ein Kind so gut und tief wie jeder Weise.

Ich fühlte die Notwendigkeit, über meine Sache nachzudenken, auf Wege für morgen zu sinnen; aber ich kam nicht dazu. Ich hatte den ganzen Abend einzig damit zu tun, mich an die veränderte Luft in unsrem Wohnzimmer zu gewöhnen. Wanduhr und Tisch, Bibel und Spiegel, Bücherbord und Bilder an der Wand nahmen gleichsam Abschied von mir, ich mußte mit erfrierendem Herzen zusehen, wie meine Welt, wie mein gutes, glückliches Leben Vergangenheit wurde und sich von mir ablöste, und mußte spüren, wie ich mit neuen, saugenden Wurzeln draußen im Finstern und Fremden verankert und festgehalten war. Zum erstenmal kostete ich den Tod, und der Tod schmeckt bitter, denn er ist Geburt, ist Angst und Bangnis vor furchtbarer Neuerung.

Ich war froh, als ich endlich in meinem Bette lag! Zuvor als letztes Fegefeuer war die Abendandacht über mich ergangen, und wir hatten dazu ein Lied gesungen, das zu meinen liebsten gehörte. Ach, ich sang nicht mit, und jeder Ton war Galle und Gift für mich. Ich betete nicht mit, als mein Vater den Segen sprach, und als er endete: „— sei mit uns allen!“, da riß eine Zuckung mich aus diesem Kreise fort. Die Gnade Gottes war mit ihnen allen, aber nicht mehr mit mir. Kalt und tief ermüdet ging ich weg.

Im Bett, als ich eine Weile gelegen war, als Wärme und Geborgenheit mich liebevoll umgab, irrte mein Herz in der Angst noch einmal zurück, flatterte bang um das Vergangene. Meine Mutter hatte mir wie immer gute Nacht gesagt, ihr Schritt klang noch im Zimmer nach, der Schein ihrer Kerze glühte noch im Türspalt. Jetzt, dachte ich, jetzt kommt sie noch einmal zurück — sie hat es gefühlt, sie gibt mir einen Kuß und fragt, fragt gütig und verheißungsvoll, und dann kann ich weinen, dann schmilzt mir der Stein im Halse, dann umschlinge ich sie und sage es ihr, und dann ist es gut, dann ist Rettung da! Und als der Türspalt schon dunkel geworden war, horchte ich noch eine Weile und meinte, es müsse und müsse geschehen.

Dann kehrte ich zu den Dingen zurück und sah meinem Feind ins Auge. Ich sah ihn deutlich, das eine Auge hatte er eingekniffen, sein Mund lachte roh, und indem ich ihn ansah und das Unentrinnbare in mich fraß, wurde er größer und häßlicher, und sein böses Auge blitzte teufelhaft. Er war dicht bei mir, bis ich einschlief, dann aber träumte ich nicht von ihm und nicht von heute, sondern mir träumte, wir führen in einem Boot, die Eltern und Schwestern und ich, und es umgab uns lauter Friede und Glanz eines Ferientages. Mitten in der Nacht erwachte ich, fühlte noch den Nachgeschmack der Seligkeit, sah noch die weißen Sommerkleider meiner Schwestern in der Sonne schimmern und fiel aus allem Paradies zurück in das, was war, und stand dem Feind mit dem bösen Auge wieder gegenüber.

Am Morgen, als meine Mutter eilig kam und rief, es sei schon spät und warum ich noch im Bett liege, sah ich schlecht aus, und als sie fragte, ob mir etwas fehle, erbrach ich mich.

Damit schien etwas gewonnen. Ich liebte es sehr, ein wenig krank zu sein und einen Morgen lang bei Kamillentee liegenbleiben zu dürfen, zuzuhören, wie die Mutter im Nebenzimmer aufräumte, und wie Lina draußen in der Flur den Metzger empfing. Der Vormittag ohne Schule war etwas Verzaubertes und Märchenhaftes, die Sonne spielte dann ins Zimmer, und war nicht dieselbe Sonne, gegen die man in der Schule die grünen Vorhänge herabließ. Aber auch das schmeckte heute nicht und hatte einen falschen Klang bekommen.

Ja wenn ich gestorben wäre! Aber ich war nur so ein wenig unwohl, wie schon oft, und damit war nichts getan. Das schützte mich vor der Schule, aber es schützte mich keineswegs vor Kromer, der um elf Uhr am Markt auf mich wartete. Und die Freundlichkeit der Mutter war diesmal ohne Trost; sie war lästig und tat weh. Ich stellte mich bald wieder schlafend und dachte nach. Es half alles nichts, ich mußte um elf Uhr am Markt sein. Darum stand ich um zehn Uhr leise auf und sagte, daß mir wieder wohl geworden sei. Es hieß, wie gewöhnlich in solchen Fällen, daß ich entweder wieder zu Bette gehen oder am Nachmittag in die Schule gehen müsse. Ich sagte, daß ich gern zur Schule gehe. Ich hatte mir einen Plan gemacht.

Ohne Geld durfte ich nicht zu Kromer kommen. Ich mußte die kleine Sparbüchse an mich bekommen, die mir gehörte. Es war nicht genug Geld darin, das wußte ich, lange nicht genug; aber etwas war es doch, und eine Witterung sagte mir, daß etwas besser sei als nichts und Kromer wenigstens begütigt werden müsse.

Es war mir schlimm zumute, als ich auf Socken in das Zimmer meiner Mutter schlich und aus ihrem Schreibtisch meine Büchse nahm; aber so schlimm wie das Gestrige war es nicht. Das Herzklopfen würgte mich, und es wurde nicht besser, als ich drunten im Treppenhaus beim ersten Untersuchen fand, daß die Büchse verschlossen war. Es ging sehr leicht, sie aufzubrechen, es war nur ein dünnes Blechgitter zu durchreißen; aber der Riß tat weh, erst damit hatte ich Diebstahl begangen. Bis dahin hatte ich nur genascht, Zuckerstücke und Obst. Dies nun war gestohlen, obwohl es mein eigenes Geld war. Ich spürte, wie ich wieder einen Schritt näher bei Kromer und seiner Welt war, wie es so hübsch Zug um Zug abwärts ging, und setzte Trotz dagegen. Mochte mich der Teufel holen, jetzt ging kein Weg mehr zurück. Ich zählte das Geld mit Angst, es hatte in der Büchse so voll geklungen, nun in der Hand war es elend wenig. Es waren fünfundsechzig Pfennige. Ich versteckte die Büchse in der untern Flur, hielt das Geld in der geschlossenen Hand und trat aus dem Hause, anders als ich je durch dieses Tor gegangen war. Oben rief jemand nach mir, wie mir schien; ich ging schnell davon.

Es war noch viel Zeit, ich drückte mich auf Umwegen durch die Gassen einer veränderten Stadt, unter niegesehenen Wolken hin, an Häusern vorbei, die mich ansahen, und an Menschen, die Verdacht auf mich hatten. Unterwegs fiel mir ein, daß ein Schulkamerad von mir einmal auf dem Viehmarkt einen Taler gefunden hatte. Gern hätte ich gebetet, daß Gott ein Wunder tun und mich auch einen solchen Fund machen lassen möge. Aber ich hatte kein Recht mehr zu beten. Und auch dann wäre die Büchse nicht wieder ganz geworden.

Franz Kromer sah mich von weitem, doch kam er ganz langsam auf mich zu und schien nicht auf mich zu achten. Als er in meiner Nähe war, gab er mir einen befehlenden Wink, daß ich ihm folgen solle, und ging, ohne sich ein einzigesmal umzusehen, ruhig weiter, die Strohgasse hinab und über den Steg, bis er bei den letzten Häusern vor einem Neubau hielt. Es wurde dort nicht gearbeitet, die Mauern standen kahl ohne Türen und Fenster. Kromer sah sich um und ging durch die Tür hinein, ich ihm nach. Er trat hinter die Mauer, winkte mich zu sich und streckte die Hand aus.

„Hast du’s?“ fragte er kühl.

Ich zog die geballte Hand aus der Tasche und schüttete mein Geld in seine flache Hand. Er hatte es gezählt, noch eh der letzte Fünfer ausgeklungen hatte.

„Das sind fünfundsechzig Pfennig,“ sagte er und sah mich an.

„Ja,“ sagte ich schüchtern. „Das ist alles, was ich habe, es ist zu wenig, ich weiß wohl. Aber es ist alles. Ich habe nicht mehr.“

„Ich hätte dich für gescheiter gehalten,“ schalt er mit einem beinah milden Tadel. „Unter Ehrenmännern soll Ordnung sein. Ich will dir nichts abnehmen, was nicht recht ist, das weißt du. Nimm deine Nickel wieder, da! Der andere — du weißt, wer — versucht nicht, mich herunter zu handeln. Der zahlt.“

„Aber ich habe und habe nicht mehr! Es war meine Sparkasse.“

„Das ist deine Sache. Aber ich will dich nicht unglücklich machen. Du bist mir noch eine Mark und fünfunddreißig Pfennig schuldig. Wann krieg’ ich die?“

„O, du kriegst sie gewiß, Kromer! Ich weiß jetzt nicht — vielleicht habe ich bald mehr, morgen, oder übermorgen. Du begreifst doch, daß ich es meinem Vater nicht sagen kann.“

„Das geht mich nichts an. Ich bin nicht so, daß ich dir schaden will. Ich könnte ja mein Geld noch vor Mittag haben, siehst du, und ich bin arm. Du hast schöne Kleider an, und du kriegst was Besseres zu Mittag zu essen als ich. Aber ich will nichts sagen. Ich will meinetwegen ein wenig warten. Übermorgen pfeife ich dir, am Nachmittag, dann bringst du es in Ordnung. Du kennst meinen Pfiff?“

Er pfiff ihn mir vor, ich hatte ihn oft gehört.

„Ja,“ sagte ich, „ich weiß.“

Er ging weg, als gehörte ich nicht zu ihm. Es war ein Geschäft zwischen uns gewesen, weiter nichts.

Noch heute, glaube ich, würde Kromers Pfiff mich erschrecken machen, wenn ich ihn plötzlich wieder hörte. Ich hörte ihn von nun an oft, mir schien, ich höre ihn immer und immerzu. Kein Ort, kein Spiel, keine Arbeit, kein Gedanke, wohin dieser Pfiff nicht drang, der mich abhängig machte, der jetzt mein Schicksal war. Oft war ich in unsrem kleinen Blumengarten, den ich sehr liebte, an den sanften farbigen Herbstnachmittagen, und ein sonderbarer Trieb hieß mich, Knabenspiele früherer Epochen wieder aufzunehmen; ich spielte gewissermaßen einen Knaben, der jünger war als ich, der noch gut und frei, unschuldig und geborgen war. Aber mitten hinein, immer erwartet und immer doch entsetzlich aufstörend und überraschend, klang der Kromersche Pfiff von irgendwoher, schnitt den Faden ab, zerstörte die Einbildungen. Dann mußte ich gehen, mußte meinem Peiniger an schlechte und häßliche Orte folgen, mußte ihm Rechenschaft ablegen und mich um Geld mahnen lassen. Das Ganze hat vielleicht einige Wochen gedauert, mir schien es aber, es seien Jahre, es sei eine Ewigkeit. Selten hatte ich Geld, einen Fünfer oder einen Groschen, der vom Küchentisch gestohlen war, wenn Lina den Marktkorb dort stehen ließ. Jedesmal wurde ich von Kromer gescholten und mit Verachtung überhäuft; ich war es, der ihn betrügen und ihm sein gutes Recht vorenthalten wollte, ich war es, der ihn bestahl, ich war es, der ihn unglücklich machte! Nicht oft im Leben ist mir die Not so nah ans Herz gestiegen, selten habe ich größere Hoffnungslosigkeit, größere Abhängigkeit gefühlt.

Die Sparbüchse hatte ich mit Spielmarken gefüllt und wieder an ihren Ort gestellt, niemand fragte danach. Aber auch das konnte jeden Tag über mich hereinbrechen. Noch mehr als vor Kromers rohem Pfiff fürchtete ich mich oft vor der Mutter, wenn sie leise zu mir trat — kam sie nicht, um mich nach der Büchse zu fragen?

Da ich viele Male ohne Geld bei meinem Teufel erschienen war, fing er an, mich auf andere Art zu quälen und zu benutzen. Ich mußte für ihn arbeiten. Er hatte für seinen Vater Ausgänge zu besorgen, ich mußte sie für ihn besorgen. Oder er trug mir auf, etwas Schwieriges zu vollführen, zehn Minuten lang auf einem Bein zu hüpfen, einem Vorübergehenden einen Papierwisch an den Rock zu heften. In Träumen vieler Nächte setzte ich diese Plagen fort und lag im Schweiß des Alpdruckes.

Eine Zeitlang wurde ich krank. Ich erbrach oft und hatte leicht kalt, nachts aber lag ich in Schweiß und Hitze. Meine Mutter fühlte, daß etwas nicht richtig sei, und zeigte mir viel Teilnahme, die mich quälte, weil ich sie nicht mit Vertrauen erwidern konnte.

Einmal brachte sie mir am Abend, als ich schon im Bett war, ein Stückchen Schokolade. Es war ein Anklang an frühere Jahre, wo ich abends, wenn ich brav gewesen war, oft zum Einschlafen solche Trostbissen bekommen hatte. Nun stand sie da und hielt mir das Stückchen Schokolade hin. Mir war so weh, daß ich nur den Kopf schütteln konnte. Sie fragte, was mir fehle, sie streichelte mir das Haar. Ich konnte nur herausstoßen: „Nicht! Nicht! Ich will nichts haben.“ Sie legte die Schokolade auf den Nachttisch und ging. Als sie mich andern Tages darüber ausfragen wollte, tat ich, als wüßte ich nichts mehr davon. Einmal brachte sie mir den Doktor, der mich untersuchte und mir kalte Waschungen am Morgen verschrieb.

Mein Zustand zu jener Zeit war eine Art von Irrsinn. Mitten im geordneten Frieden unseres Hauses lebte ich scheu und gepeinigt wie ein Gespenst, hatte nicht teil am Leben der andern, vergaß mich selten für eine Stunde. Gegen meinen Vater, der mich oft gereizt zur Rede stellte, war ich verschlossen und kalt.

Demian: Die Geschichte von Emil Sinclairs Jugend

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