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Die Marmorsäge
ОглавлениеEs war so ein Prachtsommer, in dem man das schöne Wetter nicht nach Tagen, sondern nach Wochen rechnete, und es war noch Juni und man hatte gerade das Heu eingebracht, so gesund und trocken wie schon lange nicht mehr.
Für manche Leute gibt es nichts Schöneres als einen solchen Sommer, wo noch im feuchtesten Ried das Schilf verbrennt und einem die Hitze bis in die Knochen geht. Diese Leute, soweit sie nicht etwa in Indien geboren sind, haben kein sehr zufriedenes und jedenfalls kein gleichmäßiges Leben, denn die echten Sommer gibt es nicht alle Jahre. Dafür saugen sie, sobald ihre Zeit gekommen ist, so viel Wärme und Behagen ein und werden ihres meist ohnehin nicht sehr betriebsamen Daseins so schlaraffisch froh, wie es andern Leuten nie zuteil wird. Zu dieser harmlosen Menschenklasse gehöre auch ich; darum war mir in jenem Sommersanfang auch so mächtig wohl, freilich mit starken Unterbrechungen, von denen ich nachher das Nötigste erzählen werde.
Es war vielleicht der üppigste Juni, den ich je erlebt habe, und es wäre bald Zeit, daß wieder so einer käme. Der kleine Blumengarten vor meines Vetters Haus an der Dorfstraße duftete und blühte ganz unbändig; die Georginen, die den schadhaften Zaun versteckten, standen dick und hoch und hatten feiste runde Knospen angesetzt, aus deren Ritzen gelb und rot und lila die jungen Blütenblätter strebten. Der Goldlack brannte so überschwenglich honigbraun und duftete so ausgelassen und sehnlich, als wüßte er wohl, daß seine Zeit schon nahe war, da er verblühen und den dicht wuchernden Reseden Platz machen mußte. Still und brütend standen die steifen Balsaminen auf dicken, gläsernen Stengeln, schlank und träumerisch die Schwertlilien, fröhlich hellrot die verwildernden Rosenbüsche. Man sah kaum eine Handbreit Erde mehr, als sei der ganze Garten nur ein großer, bunter und fröhlicher Strauß, der aus einer zu schmalen Vase hervorquoll, und an dessen Rändern die Kapuziner in den Rosen fast erstickten und in dessen Mitte der prahlerisch emporflammende Türkenbund mit seinen großen geilen Blüten sich frech und gewalttätig breit machte.
Mir gefiel das ungemein, aber mein Vetter und die Bauersleute sahen es kaum. Denen fängt der Garten erst an, ein wenig Freude zu machen, wenn es dann herbstelt und in den Beeten nur noch letzte Spätrosen, Strohblumen und Astern übrig sind. Jetzt waren sie alle tagtäglich von früh bis spät im Feld und fielen am Abend müde und schwer wie umgeworfene Bleisoldaten in die Betten. Und doch wird in jedem Herbst und in jedem Frühjahr der Garten wieder treulich besorgt und hergerichtet, der nichts einbringt und den sie in seiner schönsten Zeit kaum ansehen. Ich fragte einmal einen Hofbauern, warum und für wen er sich eigentlich immer wieder diese Mühe mache.
„Für dich,“ sagte er ernsthaft, „und für derlei Faulenzer und arme Schlucker, damit sie auch an etwas ihre Freude haben können. Weißt’s jetzt?“
Seit zwei Wochen stand ein heißer, blauer Himmel über dem Land, am Morgen rein und lachend, am Nachmittag stets von niederen, langsam wachsenden, gedrängten Wolkenballen umlagert. Nachts gingen nah und fern Gewitter nieder, aber jeden Morgen, wenn man — noch den Donner im Ohr — erwachte, glänzte die Höhe blau und sonnig herab und war schon wieder ganz von Licht und Hitze durchtränkt. Dann begann ich froh und ohne Hast meine Art von Sommerleben: kurze Gänge auf glühenden und durstig klaffenden Feldwegen durch warm atmende, hohe, gilbende Ährenfelder, aus denen Mohn und Kornblumen, Wicken, Kornraden und Winden lachten, sodann lange, stundenlange Rasten in hohem Gras an Waldsäumen, über mir Käfergoldgeflimmer, Bienengesang, windstill ruhendes Gezweige im tiefen Himmel; gegen Abend alsdann ein wohlig träger Heimweg durch Sonnenstaub und rötliches Ackergold, durch eine Luft voll Reife und Müdigkeit und sehnsüchtigem Kuhgebrüll, und am Ende lange, laue Stunden bis Mitternacht, versessen unter Ahorn und Linde allein oder mit irgend einem Bekannten bei gelbem Wein, ein zufriedenes, lässiges Plaudern in die warme Nacht hinein, bis fern irgendwo das Donnern begann und unter erschrocken aufrauschenden Windschauern erste, langsam und wollüstig aus den Lüften sinkende Tropfen schwer und weich und kaum hörbar in den dicken Staub fielen.
„Nein, so was Faules wie du!“ meinte mein lieber Vetter mit ratlosem Kopfschütteln, „daß dir nur keine Glieder abfallen!“
„Sie hängen noch gut,“ beruhigte ich. Und ich freute mich daran, wie müde und schweißig und steifgeschafft er war. Ich wußte mich in meinem guten Recht; ein Examen und eine lange Reihe von sauren Monaten lagen hinter mir, in denen ich meine Bequemlichkeit täglich schwer genug gekreuzigt und geopfert hatte. Jetzt war ich obenan — was kost’t die Welt?
Vetter Kilian war auch gar nicht so, daß er mir meine Lust nicht gegönnt hätte. Vor meiner Gelehrtheit hatte er tiefen Respekt, sie umgab mich für sein Auge mit einem geheiligten Faltenwurf, und ich warf natürlich die Falten so, daß die mancherlei Löcher nicht gerade obenhin kamen. Vielmehr fand ich seine Ehrfurcht anfangs zwar komisch, dann aber rührend, und in Bälde schien sie mir sogar natürlich, wohlverdient und ganz am Platze zu sein.
Es war mir so wohl wie noch nie. Still und langsam schlenderte ich in Feld und Wiesenland, durch Korn und Heu und hohen Schierling, lag regungslos und atmend wie eine Schlange in der schönen Wärme und genoß die brütend stillen Stunden, in denen ich meine Haut langsam braun werden sah und jeden in der Nähe tätigen Feldarbeiter mit herzlicher Schadenfreude betrachtete.
Und dann diese Sommertöne! Diese Töne, bei denen einem närrisch wohl und traurig wird und die ich so lieb habe: das unendliche, bis über Mitternacht anhaltende Zikadenläuten, an das man sich völlig verlieren kann wie an den Anblick des Meeres — das satte Rauschen der wogenden Ähren — das beständig auf der Lauer liegende entfernte leise Donnern — abends das Mückengeschwärme und das fernhin rufende, ergreifende Sensendengeln — nachts der schwellende, warme Wind und das leidenschaftliche Stürzen plötzlicher Regengüsse.
Und wie in diesen kurzen, stolzen Wochen alles inbrünstiger blüht und atmet, tiefer lebt und duftet, sehnlicher und inniger lodert! Wie der überreiche Lindenduft in weichen Schwaden ganze Tale füllt, und wie neben den müden, reifenden Kornähren die farbigen Ackerblumen gierig leben und sich brüsten, wie sie verdoppelt glühen und fiebern in der Hast der Augenblicke, bis ihnen viel zu früh die Sichel rauscht!
Diese Fülle und Schönheit hätte wohl genügt, um mich froh und übermütig zu machen, und doch hatte ich das gar nimmer nötig. Ich war vierundzwanzig Jahre alt, fand die Welt und mich selber sehr wohlbeschaffen und betrieb das Leben noch als eine ergötzliche Liebhaberkunst, vorwiegend nach ästhetischen Gesichtspunkten. Nur das Verliebtsein kam und verlief ganz ohne meine Wahl nach den althergebrachten Regeln. Doch hätte mir das niemand sagen dürfen! Ich hatte mich nach den nötigen Zweifeln und Schwankungen einer das Leben bejahenden Philosophie ergeben und mir nach mehrfachen schweren Erfahrungen, wie mir schien, eine ruhige und sachliche Betrachtung der Dinge erworben. Außerdem hatte ich mein Examen bestanden, auf den Herbst eine ungewöhnlich und unverdient gute Anstellung in der Stadt in Aussicht, ein nettes Taschengeld im Sack und zwei Monate Ferien vor mir liegen.
Es gibt wahrscheinlich in jedem Leben solche Zeiten: weit vor sich sieht man glatte Bahn, kein Hindernis, keine Wolke am Himmel, keine Pfütze im Weg. Da wiegt man sich gar stattlich im Wipfel und glaubt mehr und mehr zu erkennen, daß es eben doch kein Glück und keinen Zufall gibt, sondern daß man das alles und noch eine halbe Zukunft ehrlich verdient und erworben habe, einfach weil man der Kerl dazu war. Und man tut wohl daran, sich dieser Erkenntnis zu freuen, denn auf ihr beruht das Glück der Märchenprinzen ebenso wie das Glück der Spatzen auf dem Mist, und es dauert ja nie zu lange.
Von den zwei schönen Ferienmonaten waren mir erst ein paar Tage durch die Finger geglitten. Bequem und elastisch wie ein heiterer Weiser wandelte ich in den Tälern hin und her, eine Zigarre im Mund, eine Ackerschnalle am Hut, ein Pfund Kirschen und ein gutes Büchlein in der Tasche. Ich tauschte kluge, ernste Worte mit den Gutsbesitzern, sprach da und dort den Leuten im Felde freundlich aufmunternd zu, ließ mich zu allen großen und kleinen Festlichkeiten, Zusammenkünften und Schmäusen, Zweckessen und Backtagen, Taufen und Bockbierabenden einladen, tat gelegentlich am Spätnachmittag einen Trunk mit dem Pfarrer, ging mit den Fabrikherren und Wasserpächtern zum Forellenangeln, bewegte mich maßvoll fröhlich und schnalzte innerlich mit der Zunge, wenn irgend so ein feister, erfahrener Mann mich ganz wie seinesgleichen behandelte und keine Anspielungen auf meine große Jugend machte. Denn wirklich, ich war nur äußerlich so lächerlich jung. Seit einiger Zeit hatte ich entdeckt, daß ich nun über die Spielereien hinausgekommen und ein Mann geworden sei; mit stiller Wonne ward ich stündlich meiner Reife froh und brauchte gern den Ausdruck, das Leben sei ein Roß, ein flottes, kräftiges Roß, und wie ein Reiter müsse man es behandeln, kühn und auch vorsichtig. Manche Wahrheiten, die mir vor einem Jahr noch altmodisch, pedantisch und greisenhaft geklungen hatten, fand ich neuerdings erstaunlich wahr und tief. Ich fing sogar schon an, Studenten und solches Volk als ‚junge Leute‘ zu empfinden und mit warmem Interesse und Wohlwollen zu betrachten. Alles in allem war ich mein Lebtag noch nie so glücklich gewesen. Das Leben war ein Roß, und tüchtige Rosse reiten war ganz mein Fall.
Und da lag die Erde in ihrer Sommerschönheit um mich her, die Kornfelder fingen an gelb zu werden, die Luft war noch voll Heugeruch, und das Laub hatte noch lichte, heftige Farben. Die Kinder trugen Brot und Most ins Feld, die Bauern waren eilig und fröhlich, und abends liefen die jungen Mädchen in Reihen über die Gasse, ohne Grund plötzlich hinauslachend und ohne Vereinbarung plötzlich ihre weichmütigen Volkslieder anstimmend. Vom Gipfel meiner jungen Mannesreife herab sah ich freundlich zu, gönnte den Kindern und den Bauern und den Mädchen ihre Lust von Herzen und glaubte das alles wohl zu verstehen. Ich glaubte sogar die Volkslieder zu verstehen. Gar nicht von oben herunter — ein ‚Herr‘ war ich nicht und wollte ich nicht sein. Aber das ganze Dasein so klar und klug zu überschauen, schien mir ein Hauptvergnügen. Es war schön, über mein Leben hinwegzublicken, das bisher so ziellos ausgesehen hatte und so reichlich mit Dummheiten durchsetzt war, und das doch nun so simpel dalag — jetzt, wo ich auf der Höhe stand und den krummen Herweg wie den geraden Weiterweg so deutlich übersehen konnte.
Um mein Glück und meine Weisheit zu krönen, beschloß ich, künftighin meine Erfahrungen und Künste gebotenen Falles auch auf Liebessachen anzuwenden, um mir ein überlegtes, solides Glück zu erbauen. Lieber Gott, wie hatte ich bisher drauf los geliebt, ohne Direktion und meistens unglücklich! Auch unter dieses Jugendkapitel gehörte nun ein fester, sauber gezogener Strich.
In der kühlen Waldschlucht des Sattelbachs, der alle paar hundert Schritt eine Mühle treiben muß, lag stattlich und sauber ein Marmorsägewerk: Schuppen, Sägeraum, Stellfalle, Hof, Wohnhaus und Gärtchen, alles einfach, solid und erfreulich aussehend, weder verwittert noch allzu neu. Da wurden Marmorblöcke langsam und tadellos in Platten und Scheiben zersägt, gewaschen und geschliffen, ein stiller und reinlicher Betrieb, an dem jeder Zuschauer seine Lust haben mußte. Fremdartig, aber hübsch und anziehend war es, mitten in dem engen und gewundenen Tale zwischen Tannen und Buchen und schmalen Wiesenbändern den Sägehof daliegen zu sehen, angefüllt mit großen Marmorblöcken, weißen, bläulichgrauen und buntgeäderten, mit fertigen Platten von jeder Größe, mit Marmorabfällen und feinem glänzendem Marmorstaub. Als ich das erste Mal diesen Hof nach einem Neugierbesuch verließ, nahm ich ein kleines, einseitig poliertes Stückchen weißen Marmors in der Tasche mit; das besaß ich jahrelang und hatte es als Briefbeschwerer auf meinem Schreibtisch liegen. Ich hätte es heute noch, aber im vorigen Frühling kam eine Nacht, in der das Katzengejammer auf dem Nachbarsdache mich nicht schlafen ließ, und da flog nebst andern entbehrlichen Stücken auch jenes kleine Andenken an eine vergangene Zeit den Katzen nach in die Dächer.
Der Besitzer dieser Marmorschleiferei hieß Herr Lampart und schien mir von den tüchtigen Originalen jener ergiebigen Gegend eins der eigentümlichsten zu sein. Er war früh verwitwet und hatte teils durch sein ungeselliges Leben, teils durch sein eigenartiges Gewerbe, das mit der Umgebung und mit dem Leben der Leute ringsum ohne Berührung blieb, einen besonderen Anstrich bekommen. Er galt für sehr wohlhabend, doch wußte das keiner gewiß, denn es gab weit herum niemand, der irgend ein ähnliches Geschäft und einen Einblick in dessen Gang und Ertrag gehabt hätte. Worin seine Besonderheit bestand, hatte ich noch nicht ergründet. Sie war aber da und nötigte einen, mit Herrn Lampart anders als mit andern Leuten umzugehen. Wer zu ihm kam, war willkommen und fand einen freundlichen Empfang, aber daß der Marmorsäger jemand wiederbesuchte, ist nie vorgekommen; schon das gab seiner ohnehin nicht gewöhnlichen Person etwas Abgeschlossenes und fast Feudales. Erschien er einmal — es geschah selten — bei einer öffentlichen Feier im Dorf oder zu einer Jagd oder in irgend einer Kommission, so behandelte man ihn sehr höflich, tastete aber verlegen nach der rechten Begrüßung, denn er kam so ruhig daher und blickte jedem so gleichmütig ernst ins Gesicht wie ein Einsiedler, der aus dem Wald hervorgekommen ist und bald wieder hineingehen wird.
Man fragte ihn, wie die Geschäfte gingen. „Danke, es tut sich,“ sagte er, aber er tat keine Gegenfrage. Man erkundigte sich, ob die letzte Überschwemmung oder der letzte Wassermangel ihn geschädigt habe. „Danke, nicht besonders,“ sagte er, aber er fuhr nicht fort: „Und bei Ihnen?“
Nach dem Äußeren zu urteilen, war er ein Mann, der viele Sorgen gehabt hat und vielleicht noch hat, der aber gewohnt ist, sie mit niemand zu teilen.
In jenem Sommer war es mir zu einer Gewohnheit geworden, sehr oft beim Marmormüller einzukehren. Diesen Mann zu studieren und dabei womöglich einen Triumph meiner Menschenkenntnis zu erleben, schien mir ein edles Ziel. Ich war noch ein Anfänger in solchen Künsten und wußte nicht, daß man so etwas nicht ungestraft treiben kann, sondern auf solchen Entdeckungsfahrten meistens in die Strömungen eines fremden Lebens hineingezogen wird und ihnen selten ohne Beulen und Wunden wieder entrinnt. Überhaupt war ich noch des frohen jugendlichen Glaubens, ein Mensch könne einem andern ins Innere sehen, wie denn jeder junge Weltweise sich für einen durchtriebenen Beobachter hält, während er sich selber gern undurchschaulich glaubt. So betrat ich also die Mühle mit Zuversicht und heiterem Eifer, ohne zu ahnen, daß vielleicht gerade hier mein Schicksal verborgen liege und nur auf die rechte Stunde warte, um mir ein wildes Stück Leben vorzuspielen und einen ersten bitteren Denkzettel mitzugeben.
Oft trat ich nur im Vorüberbummeln für eine Viertelstunde in den Hof und in die kühle dämmerige Schleiferei, wo blanke Stahlbänder taktmäßig auf und nieder stiegen, Sandkörner knirschten und rieselten, schweigsame Männer am Werk standen und unter dem Boden das Wasser plätscherte. Ich schaute den paar Rädern und Riemen zu, setzte mich auf einen Steinblock, drehte mit den Sohlen eine Holzrolle hin und her oder ließ die Marmorkörner und Splitter unter ihnen knirschen, horchte auf das Wasser, steckte eine Zigarre an, genoß eine kleine Weile die Stille und Kühle und lief wieder weg. Den Herrn traf ich dann fast nie. Wenn ich zu ihm wollte, und das wollte ich sehr oft, dann trat ich in das kleine, immer schlummerstille Wohnhaus, kratzte im Gang die Stiefel ab und hustete dazu, bis entweder Herr Lampart oder seine Tochter herunterkam, die Tür einer lichten Wohnstube öffnete und mir einen Stuhl und ein Glas Wein hinstellte. Der Wein war ein vorzüglicher Markgräfler, aber mehr als ein Glas trank ich nie davon.
Da saß ich am schweren Tisch, nippte am Glas, drehte meine Finger umeinander und brauchte immer eine Weile, bis ein Gespräch im Lauf war; denn weder der Hausherr noch die Tochter, die aber sehr selten beide zugleich da waren, machten je den Anfang, und mir schien diesen Leuten gegenüber und in diesem Hause niemals irgend ein Thema, das man sonst etwa vornimmt, am Platze zu sein. Nach einer guten halben Stunde, wenn dann längst eine Unterhaltung beieinander war, hatte ich meistens, trotz aller Behutsamteit, mein Weinglas leer. Ein zweites wurde nicht angeboten, darum bitten mochte ich nicht, vor dem leeren Glase da zu sitzen war mir ein wenig peinlich, also stand ich auf, gab die Hand und setzte den Hut auf.
Was die Tochter betrifft, so war mir im Anfang nichts aufgefallen, als daß sie dem Vater so merkwürdig ähnlich war. Sie war so groß gewachsen, aufrecht und dunkelhaarig wie er, sie hatte seine matten schwarzen Augen, seine gerade, klar und scharf geformte Nase, seinen stillen, schönen Mund. Sie hatte auch seinen Gang, soweit ein Weib eines Mannes Gang haben kann, und dieselbe gute und ernste Stimme, die an Altgesang erinnerte. Sie streckte einem die Hand mit derselben ruhigen Geste entgegen wie ihr Vater, wartete ebenso wie er ab, was man zu sagen habe, und sie gab auf gleichgültige Höflichkeitsfragen ebenso sachlich, kurz und ein wenig wie verwundert Antwort. Im Anfang interessierte der Vater mich mehr; sie kam mir wie ein Pleonasmus vor.
Aber schließlich ist ein dreiundzwanzigjähriges schönes Mädchen doch ein ander Ding als ein noch so rüstiger Geschäftsmann, und auch bei der auffallendsten Verwandtschaftsähnlichkeit kann man ein Weib nicht lange mit denselben Augen und Interessen ansehen wie einen Mann. Als ich meine Menschenkenntnis am Alten soweit erschöpft hatte, um mir darüber klar zu werden, er sei ein merkwürdiger Mann und schwer zu verstehen, und als die plötzlichen Schlaglichter und Verständnisse gänzlich ausblieben, die zu einem weiteren Eindringen in sein verhülltes Wesen nötig gewesen wären, da schien es mir kein Pleonasmus, nun auch die Tochter zu studieren.
Sie war von einer Art Schönheit, die man in alemannischen Grenzlanden öfters antrifft und die wesentlich auf einer ebenmäßigen Kraft und Wucht der Erscheinung beruht, auch unzertrennlich ist von großem, hohem Wuchs und bräunlicher Gesichtsfarbe. Ich hatte sie anfänglich wie ein hübsches Bild betrachtet, dann aber fesselte die Sicherheit und Reife des schönen Mädchens mich mehr und mehr. So etwa fing meine Verliebtheit an, und sie wuchs bald zu einer Leidenschaft, die ich bisher noch nicht gekannt hatte. Sie wäre wohl bald eklatant geworden, wenn nicht die gemessene Art des Mädchens und die ruhig kühle Luft des ganzen Hauses mich, sobald ich dort war, wie eine leichte Lähmung umfangen und zahm gemacht hätte.
Wenn ich ihr oder ihrem Vater gegenübersaß, kroch mein ganzes Feuer sogleich zu einem scheuen Flämmlein zusammen, das ich vorsichtig verbarg, und statt wie in früheren Fällen eine Szene zu riskieren und herauszuplatzen, hockte ich zierlich und mutlos im Sessel. Die Stube sah auch durchaus nicht einer Bühne ähnlich, auf der junge Liebesritter mit Erfolg sich ins Knie niederlassen, sondern glich mehr einer Stätte der Mäßigung und Ergebung, wo ruhige Kräfte walten und ein ernstes Stück Leben ernst erlebt und ertragen wird. Trotz alledem spürte ich hinter dem stillen Hinleben des Mädchens eine gebändigte Lebensfülle und Erregbarkeit, die nur selten hervorbrach und auch dann nur in einer raschen Geste oder einem plötzlich aufglühenden Blick, wenn ein Gespräch sie lebhaft mitriß.
Ich hatte, wie schon angedeutet, vor kurzem den Stein der Weisen gefunden und mich als Meister der Lebensklugheit entdeckt. Kaum ging mir also das erste Licht über die Lage der Dinge auf, so hatte meine überlegene Weisheit auch schon alles stilvoll umgedichtet und mich zu einem klugen Manne gemacht, der zwar eingestandenermaßen sehr verliebt ist, der aber keine Frucht vorzeitig vom Ast brechen will, sondern die sichere Methode des Maßhaltens, Wartens und Reifwerdenlassens befolgt.
Oft genug besann ich mich darüber, wie wohl das eigentliche Wesen des schönen und strengen Mädchens aussehen möge. Sie konnte im Grunde leidenschaftlich sein, oder auch melancholisch, oder auch wirklich gleichmütig. Jedenfalls war das, was man an ihr zu sehen bekam, nicht ganz ihre wahre Natur. Über sie, die so frei zu urteilen und so selbständig zu leben schien, hatte ihr Vater eine unbeschränkte Macht, und ich fühlte, daß ihre wahre innere Natur nicht ungestraft durch den väterlichen Einfluß, wenn auch in Liebe, von früh auf unterdrückt und in andere Formen gezwungen worden war. Wenn ich sie beide beisammen sah, was freilich sehr selten vorkam, glaubte ich diesen vielleicht ungewollt tyrannischen Einfluß mitzufühlen und hatte die unklare Empfindung, es müsse zwischen ihnen einmal einen zähen und tödlichen Kampf geben. Wenn ich aber dachte, daß dies vielleicht einmal um mich geschehen könne, schlug mir das Herz, und ich konnte ein leises Grauen nicht unterdrücken.