Читать книгу Severins Traumreise - Hermann J. Schuhen - Страница 9

Kapitel 2

Оглавление

... und in diesem Traum wachte Severin an einem strahlenden Wochentag auf, stieß die Bettdecke mit beiden Beinen von sich und kniete sich auf die Fensterbank. Die Gardinen brauchte er gar nicht auseinanderzuziehen, irgendwie waren sie praktisch.

Weil sie schon so alt waren, konnte er schon durch die Risse und Löcher in den Vorhängen sehen, dass es ein sonniger Tag werden würde. Er fragte sich, warum nur ein Schultag so ein schöner Sonnentag sein konnte. Die Sonne verschwendet sich an einen hundsgewöhnlichen Schultag, nein, das konnte nicht sein. Was man da alles unternehmen könnte: Trockene Kuhfladen im Bach neben dem Stall ins Tal schwimmen lassen, in der bunt blühenden Wiese liegen, Sauerampfer essen und den frechen Bergdohlen bei ihrer Luftakrobatik zuschauen. Ein herrlicher Gedanke, aber nein, unsereins muss ja in die Schule! Wo wohl der Nebel des vergangenen Tages geblieben war? Severin schaute noch verschlafen in der Gegend umher. Der Nebel war weg. Hat ihn einer geholt oder fortgeschoben? Konnte man überhaupt Nebel schieben? Severin konnte sich nicht erinnern, jemals Nebel angefasst zu haben. Sein Blick fiel auf ein Blatt, das zu dem Ast gehörte, der an dem alten Apfelbaum neben seinem Schlafzimmer wuchs. Was war denn da auf dem Blatt? Es blinkte und blitzte wie eine Perle. Severin kniff die Augen zu einem kleinen Sehschlitz zusammen, um die Perle besser sehen zu können. Sie leuchtete mal grün, mal blau, jetzt gerade rot und dann wieder blau. Wie ein Zauber kam es ihm vor. Severin griff nach dem Blatt, aber es war ein paar Zentimeter zu weit von seinen Fingern entfernt.

„He, Severin, mach die Augen richtig auf! Ich bin keine Perle und auch kein Zauber, ich bin ein Wassertropfen.“

Severin blickte in die Richtung, aus der die Stimme kam. Komisch, denn niemand war zu sehen. Seine Augen richteten sich wieder auf das Blatt mit der funkelnden Perle. „Na, Severin, bist du nun richtig wach? Ich rede mit dir, ich, der Wassertropfen. Oder wie du sagst – Perle. Na gut, nenn mich einfach Perle.“

Ganz verdattert war Severin, so verdattert, dass er vor lauter zitternder Knien fast aus dem Fenster gefallen wäre. Nur gut, dass er sich am Fensterrahmen festhalten konnte.

„Wieso kannst du reden?“, fragte Severin. „Wassertropfen kenne ich viele, aber reden, reden konnte von denen nicht ein einziger!“

„Reden können alle Wassertropfen“, erwiderte die Perle. „Aber kaum ein Mensch hört uns zu.“

„Ich höre alles“, meinte Severin. „Schau, was ich für große Ohrwaschel habe!“ Er zog an seinen Ohren, damit sie noch ein wenig größer aussahen.

Die Wasserperle lachte: „Nicht die Größe der Ohrwaschel spielt hier eine Rolle, eher das Herz. Mit dem Herzen hören, das können immer weniger Menschen.“

„Das verstehe ich nicht“, brummelte Severin. „Ich hab zum Hören jedenfalls nur meine Ohren.“

Der Tropfen überlegte, wie er es Severin erklären könnte. „Pssst, sei ganz still Severin“, ermahnte er ihn, „hör mal richtig zu.“

„Ich höre nichts, halt ... doch ... doch ... das Klappern von Messern, Tassen und Tellern kann ich hören. Oh, Mama macht das Frühstück, gleich gibt’s ein Butterbrot“, jubelte Severin. „Vielleicht mit ganz dick Himbeermarmelade drauf.“

„Aha, das also hast du gehört. Es gibt was zu essen, du kleiner Vielfraß, sonst hast du nichts gehört?“ Der kleine Wassertropfen wirkte im Sonnenlicht noch funkelnder. War es ein wenig Zorn, der ihn so funkeln ließ? „Typisch, die Menschen, essen, essen, essen! Ich glaube, die Menschen haben nur noch sich selbst im Kopf. Das ist so egoistisch!“

„Was ist das denn, ergolistisch?“, warf Severin ein. „Das hab ich noch nie gehört.“

„Gib Ruhe“, der Tropfen waberte vor lauter Erregung.

„Was ist denn mit dir auf einmal los?“ Severin sah etwas erschrocken zu der Perle, die nur langsam wieder aufhörte zu wabern.

„Schau mal, Severin, ich wollte dir erklären, was es heißt, mit dem Herzen zu hören. Ich meinte damit auch, die Geräusche der Natur zu hören. Die Pflanzen, die Tiere und auch die Wassertropfen, alle können und wollen dir was erzählen, aber was ist das Einzige, das du hörst? Dein Butterbrot mit Himbeermarmelade.“

Severin kauerte sich an den Fensterrahmen und meinte kleinlaut: „Das Butterbrot hab ich ja gar nicht gehört, nur die Teller und so ...“

Der Tropfen machte einen neuen Anfang, um ihm das Hören mit dem Herzen zu erklären, und versuchte, mit ruhiger Stimme zu reden, obwohl er immer noch ein wenig sauer auf Severin war. „Ich werde mir Mühe geben, damit es der kleine Kerl endlich versteht“, dachte der Tropfen. „He, Severin, wenn du jetzt mal nicht an dein blödes Butter...“

„Mein Butterbrot ist nicht blöd“, fiel ihm Severin ins Wort. „Das schmeckt! Und wie das schmeckt.“

„Severin, willst du nun was lernen oder nicht? Wenn ja, dann hör mir doch endlich einmal zu.“

„Ja, ja“, brummelte Severin und der Tropfen versuchte einen neuen Anfang.

„Was, was hörst du, Severin, wenn du nun mal die Augen schließt?“

Der Bub schloss die Augen und drückte sich noch fester an den Fensterrahmen. Zwei Meter und fünfzig Zentimeter war nämlich das Fenster hoch.

„Auweh“, dachte Severin, „wenn ich der Perle jetzt sage, was ich sehe, dann ist der Ärger wieder da.“ Er hatte nämlich schon ganz doll Hunger und ...

„Nein“, sagte er leise zu sich, „ich will das Himbeermarmeladebrot nicht mehr hören.“ Er versuchte, es zu vergessen.

Nach einer Weile der Stille öffnete Severin ganz vorsichtig das linke Auge ein wenig, um nachzusehen, ob der Tropfen noch da war.

Er war noch da, und wie! Er funkelte so schön bunt in der Sonne, einfach herrlich. Schnell schloss Severin sein Auge, um neue Geräusche zu hören. Und tatsächlich, aus der Stille heraus hörte er direkt vor sich ein Zipp, zipp, zipp. Severin wusste, dass es das Piepsen einer Tannenmeise war. Das hatte er schon lange nicht mehr gehört, aber warum eigentlich nicht? In das Zipp, zipp, zipp des kleinen Vogels mischte sich ganz vorsichtig ein Wuuuuuhh und ein Schschschhhhh. Das war der Wind, der die Blätter im Kastanienbaum säuseln ließ. Severin erkannte die Geräusche sofort. Ach, das war ein schönes, wohliges Gefühl.

Ein Murmeln und Plätschern drängte sich an seine Ohren. Severin strahlte: „Das ist der kleine Bach, der am Haus vorbeifließt, in den saftigen Wiesen verschwindet und unten im Dorf in den Hausbach mündet.“

Auweh, der Hausbach.

Severin dachte an den Lehrer und den Haselnussstecken, mit dem er schon oft bestraft worden war. Und was passierte im gleichen Moment? Severin hörte die Vögel nicht mehr, das Säuseln des Windes und das Murmeln vom Bach waren einfach weg. Nur noch den Haselnussstecken konnte er hören. Severin erschrak und riss die Augen auf. Konnte man überhaupt einen Haselnussstecken hören? Nee, nur spüren! Severin grinste frech in die Morgensonne und glaubte auf einmal zu wissen, was es hieß, mit dem Herzen zu hören.

„Was grinst du so?“ Die funkelnde Wasserperle sonnte sich noch immer vor Severins Fenster.

„He, Wassertropfen, ich hab’s kapiert, ich weiß es jetzt.“

„Was weißt du?“, fragte der Tropfen.

„Mit dem Herzen hören, ich weiß, wie es geht. Man darf nur nicht an den Herrn Lehrer und seinen Haselnussstecken denken. Dann kann man mit dem Herzen hören.“

Die Perle lachte laut auf und begann dadurch so zu wabern, dass sie fast vom Blatt gekullert wäre. „Irgendwie hast du es kapiert, Severin.“

Sie wurde nach dem Lachanfall wieder ernster. „Du hast also gemerkt, dass das Hören und Sehen mit dem Herzen nur dann gelingt, wenn man die schlechten Gedanken aus dem Herzen und aus dem Kopf verdrängt. Probleme versperren die Augen und die Ohren vor all dem Schönen auf der Erde.“

„Ja“, erwiderte Severin, „und das Sehen mit dem Herzen geht so einfach und macht riesigen Spaß.“

Die Perle und Severin schauten sich um, überall war Leben zu sehen und zu hören. Vögel sangen, jeder sein eigenes Lied. Die Grillen zirpten laut um die Wette, die Ziege meckerte fröhlich in der Morgensonne und die Kühe, die vorhin noch im Stall standen, erfreuten sich am saftigen Gras. Ihr Schnauben beim Fressen hörte sich ganz zufrieden an.

Aber was war auf einmal mit Severin los?

Der Wassertropfen schaute rüber zu ihm und bemerkte, dass die Fröhlichkeit aus seinem Gesicht verschwunden war. „Was ist los mit dir, was hast du nur?“, erkundigte sich der Tropfen.

„Ach, weißt du, Perle, ich kenn mich bei meinen Eltern nicht mehr so genau aus. Ich habe zugehört, als sie gestern ganz traurig darüber sprachen, dass sie arm wären, zu wenig Geld hätten. Das sind doch auch Probleme oder?“ Der Tropfen konnte nicht widersprechen und nickte nur.

„Aber ... aber dann können meine Eltern gar nicht mit dem Herzen sehen und hören oder?“

„Das wird momentan so sein bei deinen Eltern.“ Der Tropfen überlegte, wie er Severin aus seiner Traurigkeit herausholen könnte. Er grübelte eine Weile und er merkte, dass es schwierig werden würde.

Dann aber ...!

„Severin, eigentlich bräuchten deine Eltern gar nicht traurig oder verbittert zu sein. Gut, sie haben harte Arbeit zu verrichten, bekommen zu wenig Geld für ihr Tun, aber reich sind sie trotzdem.“

„Das ist jetzt schon wieder so was, wie mit dem Herzen sehen ... ich kapiere es bestimmt erst wieder später“, brummelte Severin.

„Kann schon sein, ich will dir auch das erklären, aber da müssten wir auf eine lange Reise gehen, wir zwei.“

Die Perle sah Severin ins Gesicht, in dem viele Fragen standen. Auf die erste brauchte sie auch gar nicht lange zu warten. „Da haben wir es schon wieder“, legte Severin los. „Du willst mit mir auf eine Reise gehen. Ich weiß aber schon, dass man dafür Geld braucht, viel Geld. Und ich habe dir eben gesagt, dass wir keins haben. Wo willst du eigentlich hin mit mir? Bis ins Dorf runter schaff ich es ja noch, wenn es hinter dem Dorf noch viel weiter geht, vielleicht noch bis zu einem großen Meer, dann ... Du, Perle, wie viele Tage braucht man bis zum Meer?“

„Warum fragst du?“

„Ach, nur so“, meinte Severin und ein kurzes Grinsen huschte über sein Gesicht.

„Ich habe dir gesagt, dass man ohne Geld reich sein kann, glücklich sein kann. Mit dem Herzen sehen und hören kostet auch kein Geld“, meldete sich die Perle wieder.

„Aber essen, wir müssen doch essen.“

„Überall lässt der liebe Gott für die Menschen, Tiere und Pflanzen das wachsen, was sie brauchen, da musst du dich nicht sorgen. Komm einfach mit.“

„Haha“, frotzelte Severin, „mitkommen, und dann auch noch ganz einfach. Ich hab keinen Roller und kein Fahrrad. Außerdem hast du mir immer noch nicht erzählt, wo es hingehen soll.“

„Um die ganze Welt!“

„Um die ganze Welt? Das ist aber bestimmt weit“, erschrak Severin. „Da bin ich vielleicht länger als eine Woche weg. Du, Perle, sind wir denn rechtzeitig zu den Sommerferien wieder da?“

Severin glaubte, er könne ganz gut ohne die Schule, den Lehrer und seinen Haselnussstecken auskommen, aber die Sommerferien, die wollte er sich dann doch nicht entgehen lassen. Der Gedanke, nicht in die Schule zu müssen, machte Severin unruhig und neugierig. „Also, ich will mit dir die große, weite Welt anschauen. Du wirst mir aber schon sagen, wie. Zu Fuß oder ...“

Es gab kein oder. Er hatte wirklich nur seine Füße. Wenn es wenigstens Winter gewesen wäre, da hätte er mit dem Schlitten losfahren können, aber jetzt im Frühling?

„Wie soll ich mitkommen, Perle, hast du einen Rat für mich?“

Die Perle fragte ganz vorsichtig: „Severin, möchtest du auch so ein Wassertropfen sein wie ich?“

„Geht nicht“, kam sogleich die Antwort.

„Gehen würde es schon, aber ob du es willst?“

„Ich würde schon gern ein Wassertropfen sein“, stotterte Severin ein wenig ängstlich. „Tut das sehr weh, wenn ich ein Tropfen werde?“

„Überhaupt nicht, es macht plopp und du bist einer wie ich.“

„Ehrlich? So einfach geht das und tut ganz bestimmt nicht ...?“

„Nein, nein, nein, Severin. Komm, entscheide dich, es ist schon bald halb neun und wir wollen doch noch eine ganze Strecke weit kommen an so einem schönen Tag.“

„Also gut. Mach, dass ich ein Wassertropfen werde wie du.“ Ganz wohl war ihm nicht zumute, schließlich würde er ja zum ersten Mal in seinem Leben ein Tropfen sein. „Du, Perle, ich dachte, wir haben es eilig. Was ist los? Ich bin immer noch ein Mensch“, drängelte Severin.

„Pass auf, gleich kommt eine kleine weiße Wolke bis zu deinem Fenster, die dich einhüllen wird. Es macht plopp und du bist ein Wassertropfen und sitzt vielleicht neben mir auf dem Blatt.“

Und tatsächlich kam eine weiße Wolke auf Severin zu. Gerade so groß, dass er darin verschwinden konnte.

„He, he, ich kann ja gar nichts mehr sehen“, jammerte er. „Und kühl ist es auch hier drinnen.“

Da merkte er auf einmal, wie er ganz klein und leicht wurde, gleich würde er ein ...

Plopp hörte er. Die Wolke verschwand und er saß neben der Perle auf dem Blatt. Er war zu einem funkelnden Wassertropfen geworden. Das Ganze hatte aber einen Haken. Die zwei waren zu schwer für das Blatt.

„Festhalten“, rief ihm die Perle noch zu, aber da bog sich das Blatt auch schon leicht nach unten und es ging abwärts auf das untere Blatt. Plitsch und weiter auf das nächste untere Blatt. Platsch und von da genau auf den Rücken einer Hummel, die gerade auf einem Löwenzahn gelandet war, um Nektar zu holen. Severin wollte aufschreien, ließ es aber sein, denn er hatte, als er noch Mensch war, von seinen Schulkameraden gehört, dass Hummeln einen langen schwarzen Stachel haben.

Severins Traumreise

Подняться наверх