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Dynamiden (Geheime Anziehungskräfte)

Donnerstag, 9. November 2017

Im Hinterzimmer des Wiener Innenstadt-Lokals Hexenküche trafen sich ausnahmsweise keine Politiker oder Prominente. Der Wirt Ferdinand Laurent, ein kräftiger Hüne, dessen Glatze von einem buschigen Schnauzer kontrastiert wurde, hatte es für die Feier des 28. Geburtstages seines Sohnes Friedrich Michael reserviert. Alle Gäste waren schon da, nur der Jubilar fehlte. Friedrichs Lebensgefährtin Sayo Binder blickte laufend unruhig auf ihre Uhr. Ihre Mutter Nyoko Humer setzte sich zu ihr. „Was ist mit Friedrich los? Hast du etwas von ihm gehört?“

„Sei bitte nicht so ungeduldig. Ich mache mir so schon genug Sorgen.“

„Ich habe mich schon gewundert, dass du ihn zu der Feier überreden konntest. Hat er kalte Füße bekommen?“

„Nein. Auch wenn er nicht gerne im Mittelpunkt steht, ist er zu höflich, um eine ganze Geburtstagsgesellschaft sitzen zu lassen“, entgegnete Sayo kopfschüttelnd. „Außerdem haben wir eine kleine Überraschung für euch. Die will er sicher nicht versäumen.“

„Du machst es spannend. Um den Mittelpunkt muss er sich nicht sorgen. Wenn ein neun Monate altes Kind im Raum ist, stehen alle anderen im Schatten.“

Sayos kleiner Sohn Benjamin saß am Boden und lachte. Nyokos Mann Christian zauberte einen Plüschhasen aus einem Zylinder. Der Bub gab ihn zurück in den Hut und das Stofftier verschwand wieder. Der Wirt servierte Getränke. „Kannst du nicht meinen Sohn aus diesem Hut zaubern? Ich habe die Reservierung eines Ministers für diese Feier storniert und jetzt kommt Friedrich nicht“, donnerte der Mann mit dem Götterdämmerungsbass. Christian holte einen Hund aus der Kopfbedeckung. „Das ist er offensichtlich nicht. Es kann der Karriere des Ministers nicht schaden. Einem Regierungsmitglied kostete ein Geschäft in diesem Raum das Amt.“

Laurent brummte und ging zu Sayo. „Die Gäste schauen hungrig aus. Sollen wir nicht wenigstens mit der Suppe beginnen? Ich mag es nicht, wenn in meinem Gasthaus keiner etwas isst.“

„Ihr macht mich alle fertig! Ich kann nichts essen, wenn ich nicht weiß, wo Friedrich ist. Bitte verschont mich!“

Nyoko versuchte, abzulenken. „Ferdinand, ich sehe, du hast ein neues Bild gemalt.“ Die Aquarelle des Wirtes zierten die Wände der Hexenküche. Er malte im altmodischen Stil und hatte dabei eine Vorliebe für historische Wiener Gemeindebauten. Sein neuestes Werk zeigte den Karl-Marx-Hof in voller Länge. Das Panorama-Bild erstreckte sich beinahe über die ganze Wand.

Endlich kam Friedrich. Die Festgäste stimmten sofort „Happy Birthday“ an. Der Gefeierte freute sich nicht. Sein Gesicht war noch blasser als sonst. Sayo lief zu ihm, küsste ihn. „Was ist los mit dir?“

Friedrich löste sich aus ihrer Umarmung und ging zu seinem Vater. „Warum hast du mir nichts gesagt?“

Der Wirt erriet sofort, was sein Sohn herausgefunden hatte, und setzte sich. „Das ist schwer zu erklären.“

„Warum hast du mir nie etwas gesagt?“

„Ich und deine Mutter … wir wollten es dir natürlich mitteilen. Dann ist sie gestorben und es hat sich nie wieder ein geeigneter Zeitpunkt ergeben.“

Sayo ahnte, worauf das hinauslief, denn sie wusste, welchen Amtsweg Friedrich an diesem Tag geplant hatte. Erfahrungsgemäß waren Familiengespräche zwischen dem stillen Grübler und dem Brummbären ohne weibliche Hilfe nicht zielführend. Die beiden waren zu verschieden. Sie ging dazwischen. „Schatz, sag mir bitte, was dich bedrückt. Was hätte dir dein Vater sagen sollen?“

„Mein Vater … du weißt doch, dass ich heute wegen des Geburts-Registerauszugs beim Magistrat war …“

Dieses Dokument brauchte man nur bei einer Gelegenheit. Nyoko kapierte es sofort und sprang auf: „Ihr wollt heiraten! Das ist doch schön! Lass dich umarmen, Schwiegersohn. Warum machst du jetzt so ein Gesicht? Man könnte als Mutter der Braut beinahe beleidigt sein.“

„Ich weiß nicht, wer ich bin. Ich habe erfahren, dass ich bei meiner Geburt Friedrich Michael Einheit hieß und meine Eltern unbekannt sind. Ich bin ein Findelkind.“

Christian horchte auf. „Du bist das Einheitsfindelkind? Ich kann mich noch erinnern, sogar in der Schweiz brachten sie die Geschichte in den Nachrichten. Ich gratuliere zur Verlobung!“

Friedrich schien den Glückwunsch gar nicht zu bemerken. Sayo drehte sich zur Seite und schnäuzte sich. Nyoko nahm Friedrichs Hand. „Ich weiß, wer du bist, nämlich der Mann, der meine Tochter glücklich macht. Wir sind froh und stolz, dass du nun endgültig Teil unserer Familie wirst. Und wir verdanken dir unseren kleinen Sonnenschein.“ Sie nahm Benjamin aus Christians Armen und gab ihn seinem Vater. „Dieses Lachen ist die Zukunft. Lass dich nicht von der Vergangenheit runterziehen.“ Der Bub klammerte sich an seinen Vater. „Papa!“

Friedrich hatte Tränen in den Augen. „Ohne Vergangenheit hängt die Zukunft irgendwie in der Luft. Ihr seid doch im Bundeskriminalamt für ungewöhnliche Fälle zuständig. Dürft ihr auch alte Kindesweglegungen untersuchen?“

Nyoko atmete tief durch. „Nach 28 Jahren wird es schwierig sein, noch irgendetwas zu finden.“

Christians Vorliebe für Außergewöhnliches war geweckt. „Nichts ist unmöglich. Ich hätte eine Idee. Wir nehmen eine DNA-Probe von Friedrich und machen einen Verwandtschaftsabgleich mit der Datenbank. Eltern, die ihre Kinder weglegen, kommen meistens nicht aus den stabilsten Verhältnissen. Es gibt eine gewisse Wahrscheinlichkeit, dass wir etwas finden.“

„Christian, das sind sensible Daten! Die können wir nicht für unsere privaten Zwecke missbrauchen.“

„Du wirst immer unflexibler, seit du unsere Chefin bist. Wir werden eine Begründung finden. Die Kindesweglegung ist ein ungeklärter Fall. Bitte, bitte, bitte, liebe Chefin! Eine Geburt zu ermitteln wäre einmal etwas anderes als die ewigen Morde.“

„Christian, wie soll ich das Ernst erklären?“

„Den Herrn Oberst hast du noch immer um den Finger gewickelt. Morgen hast du deinen wöchentlichen Karate-Kampf mit ihm. Du könntest mit einer kleinen Schwächeperiode seine Stimmung heben.“

Der ansonsten sehr redselige Wirt Ferdinand Laurent war lange still gesessen. Nun horchte er auf. „Du kämpfst mit deinem Chef?“

Christian übernahm die Antwort. „Ernst ist ein leidenschaftlicher Wetter und sorgt sich immer um die Fitness seiner Abteilungsleiter. Er kämpft jeden Freitagmorgen gegen Nyoko. Wenn er länger als zehn Sekunden steht, muss Nyoko das Mittagessen bezahlen, ansonsten er. Meine geliebte Frau hat noch nie gezahlt. Ich könnte mir vorstellen, dass sich das morgen ändert.“

Nyoko wusste nur zu gut, dass Christian, wenn er einmal Feuer und Flamme für etwas war, so lange nervte, bis er das Gewünschte bekam. So hatte der Charlie Chaplin-Fan auch „Keystone Cops“ als Abteilungsnamen durchgesetzt. Die Verantwortlichen hatten gedacht, dass es Internationalität signalisierte und zu spät die wahre Bedeutung erkannt. Seither hieß die Elite-Abteilung des österreichischen Bundeskriminalamts wie eine turbulente Komikertruppe aus der goldenen Stummfilmzeit.

Christian hakte nach. „Wir haben noch bei jeder Vorschrift eine Hintertür gefunden, durch die man bequem schreiten kann.“

„Na gut, probieren wir es. Nach dem Kampf habe ich mit ihm eine Besprechung. Du wirst mich begleiten und die Hintertür öffnen. Jetzt wollen wir endlich auf den Geburtstag und die Verlobung anstoßen.“

Freitag, 10. November 2017

Christian wartete vor dem Büro von Oberst Ernst Stockhammer auf die beiden Karate-Kämpfer und feilte an seiner Argumentation. Als er Nyoko und Ernst kommen sah, bezweifelte Christian, dass seine Frau die besprochene Strategie umgesetzt hatte. „Ernst, was hat Nyoko mit dir angestellt? Ich bin jetzt über ein Jahr mit ihr verheiratet, aber ein blaues Auge hatte ich noch nie.“

„Das war es wert!“, rief der Polizeioffizier stolz. „Ich habe es geschafft! 14 Sekunden! Nur bin ich dann etwas unaufmerksam geworden und genau in den Gegenangriff gelaufen. Das wird das beste Mittagessen meiner Berufslaufbahn. Was habt ihr auf dem Herzen, dass ihr mich zu zweit bearbeiten wollt?“

Sie gingen ins Büro und setzten sich. Nyoko richtete sich einen abgerutschten Träger ihres ärmellosen Shirts, setzte eine professionelle Mine auf und öffnete ihren Laptop. „Wir haben eine interessante Anfrage bekommen. Kannst du dich noch an die Geschichte des Einheitsfindelkindes erinnern? Der junge Mann hat erst jetzt erfahren, dass er ein adoptiertes Findelkind ist und uns gebeten, ihm bei der Suche nach seinen leiblichen Eltern zu helfen. Wir möchten den Fall übernehmen.“

Der Oberst hielt sich eine kalte Kompresse auf das Auge. „Einheitsfindelkind? Das war vor 28 Jahren. Habt ihr nichts Wichtigeres zu tun? Wie heißt denn der Mann?“

„Friedrich Michael Laurent.“

„Ist das nicht der Freund deiner Tochter?“

„Seit gestern der Verlobte.“

„Gratuliere! Aber sei mir nicht böse, eine Privatermittlung kann ich euch wirklich nicht gestatten. Ich habe so schon ständig Probleme, weil ihr mehr Narrenfreiheit als jeder andere Beamte in diesem Land genießt.“

Christian fand es an der Zeit, den Oberst von einer zweiten Seite zu bearbeiten. „Wir sind als Keystone Cops auch für Fälle von besonderem öffentlichen Interesse zuständig. Der Minister würde uns anfordern, wenn jemand einem Prominenten in den Garten pinkelt. Friedrich ist einer der besten Schachspieler Wiens, man könnte ihn doch als bekannte Persönlichkeit betrachten. Seine Geburt hat auch etwas Aufsehen erregt. Die damalige Untersuchung der Kindesweglegung war nicht erfolgreich, also ist der Fall noch offen. Wir machen nichts Privates, sondern nehmen einen Cold Case von besonderem Interesse wieder auf.“

Ernst Stockhammer holte verzweifelt tief Luft. „Deine Chefin hat dich anscheinend als Experten für Hintertüren mitgenommen. Fehlt nur noch, dass sie mir die 14 Sekunden geschenkt hat, um mich gnädig zu stimmen. Zur Strafe verlegen wir das Mittagessen von der Kantine in das Gasthaus nebenan. Wir können das trotzdem nicht machen.“ Er stockte kurz nachdenklich. „Hast du gesagt, dass Friedrich ein talentierter Schachspieler ist?“

„Er feiert einen Turniersieg nach dem anderen.“

„Ich nehme an, dass ihr schon eine DNA-Probe genommen habt.“

Christian nahm das Röhrchen aus seiner Sakkotasche und zeigte es Ernst.

Der Oberst dachte kurz nach. „Schaut euch die Geschichte an. Sagt mir sofort, wenn ihr etwas gefunden habt, und erzählt bitte niemandem, dass es euer zukünftiger Schwiegersohn ist.“

Die übrigen Keystone Cops saßen im Büro auf der gemütlichen Eckcouch, die als Besprechungsbereich diente, und warteten auf Nyoko und Christian.

Der Tatort-Analyst Klaus Zimmermann, der mit seinen rötlichen abstehenden Haaren wie ein Clown aussah und diesen Eindruck mit einer Fliege und einem knallroten Sakko verstärkte, blätterte in einem Oldtimer-Magazin. Er sah auf die Uhr. „Wieso will sie eigentlich eine Morgenbesprechung machen, wenn sie doch immer zu spät kommt?“

Johann Sturmaier improvisierte auf seiner Kontragitarre. Das ursprünglich schwarze T-Shirt des Fünfzigjährigen war ähnlich wie die zusammengebundenen Haare in einen ausgewaschenen Grauton übergegangen, nur der buschige Schnauzer und der kleine Kinnbart im Stil von Frank Zappa waren noch schwarz. „Heute hat sie Christian zu Ernst mitgenommen. Ich bin gespannt, was die beiden wieder aushecken.“

Der Jüngste, Paul Falke, saß in seinem Rollstuhl, tippte auf seinem Laptop, und sagte nichts.

Johann schrieb ein paar Noten auf und versah sie mit der Überschrift „Warteschleifen-Polka“, als Nyoko und Christian kamen. Christian, der auch im Winter sommerliche Anzüge bevorzugte, hängte sein Leinensakko an den Haken, während seine Frau ihre Pistole und die Handschellen vom Gürtel ihrer engen Jeans nahm. Sie setzte sich und eröffnete die Besprechung. „Hallo zusammen! Heute sind wir das erste Mal seit einer Woche wieder vollzählig, nachdem Christian wieder einmal bei der Soko J’arrive mitarbeiten musste, weil der Kletterer seine Fahne auf den Turm des Stephansdoms gehängt hat. Willst du unseren Kollegen etwas darüber erzählen, bevor wir zu unserem neuen Fall kommen?“

J’arrive war ein Urban Climber, der schon seit mehr als einem Jahrzehnt seine Fahne bei öffentlichen Gebäuden an Stellen, die nach menschlichem Ermessen nicht erreichbar waren, aufhängte. Christian berichtete von seinem letzten Streich auf dem Kirchturm des Wiener Wahrzeichens. „Unglaublich!“, schloss er seinen Bericht mit glänzenden Augen. „J’arrive schoss hübsche Panorama-Fotos von oben, die ein Renner im Internet sind.“

Nyoko schaute ihn streng an. „Christian, du darfst ihn nicht so bewundern! Wenn er Fans in der Soko hat, werdet ihr ihn nie finden.“

„Gib zu, dass du als Bergsteigerin diese Leistung auch anerkennst. Interessanter ist aber ein anderer Aspekt. Der Name ‚J’arrive‘ klingt für nicht sprachenkundige Menschen arabisch. Daher löst jede Aktion Terrorängste aus, obwohl es der Titel eines französischen Chansons ist. Der Innenminister verstärkt das, wenn er wütende Pressekonferenzen gibt und ihn als Terroristen bezeichnet, um strengere Gesetze zu fordern.“

„Was ist, wenn die Aktionen doch Drohungen sind? Oder das Auskundschaften von passenden Anschlagsorten? Ein Turm weckt schreckliche Erinnerungen.“

„Niemand droht länger als ein Jahrzehnt, wenn er tatsächlich etwas Schlimmes vorhat. J‘arrive zeigt uns aber, wo man die Sicherheitsvorkehrungen verbessern kann. Er kam in den Dom mit seinen wertvollen Kunstschätzen und brach in den Raum mit der Steuerung des Glockengeläutes ein. Dort befindet sich auch die Zentrale der Alarmanlage. Dabei zerstörte er nichts, nicht einmal Kratzer befinden sich an den Schlössern.“

„Wollen wir hoffen, dass du recht behältst. Männer! Es ist höchste Zeit, dass wir wieder etwas gemeinsam bearbeiten. Wir haben einen neuen Fall. Könnt ihr euch noch an die Geschichte des Einheitsfindelkindes erinnern? Das Kind ist Friedrich Michael Laurent. Er hat uns gebeten, dass wir seine Eltern ausforschen.“

Johann legte seine Gitarre zur Seite. „Sayos Freund? Ich habe gar nicht gewusst, dass er adoptiert ist.“

„Das hat er selbst erst gestern erfahren.“

Klaus spielte mit seiner Lupe, die sein ständiger Begleiter war. Falls er sie nicht benötigte, war sie ein Spielzeug, das seine Hände beschäftigte. „Wie habt ihr es geschafft, dass Ernst der Privatermittlung zustimmt?“

„Zuerst war er strikt dagegen. Als Christian erwähnt hat, dass Friedrich Schachspieler ist, hat er seine Meinung schlagartig geändert. Sein Gesichtsausdruck war eigenartig. Er vermutet irgendetwas.“

Christian überreichte Klaus das Röhrchen mit dem Wattestäbchen. Nyoko füllte ein Beweismittel-Formular aus. „Das ist Friedrichs DNA. Macht bitte einen Verwandtschaftsabgleich mit der Datenbank. Christian und Johann, ihr holt die Akten aus dem Archiv. Paul, schau dir an, was du im Internet darüber findest. Mir bleibt wieder einmal nur der Papierkram. Am Nachmittag besprechen wir die Ergebnisse.“

Nyoko hatte als Chefin ein eigenes Büro. Sie benutzte es fast nie. Meistens saß sie mit dem Laptop bei ihrer Gruppe im Gemeinschaftsbüro auf der Besprechungscouch im Schneidersitz, manchmal gar im Lotussitz. Sie unterschrieb gerade einige Formulare, als Christian und Johann nach stundenlanger Recherche aus dem Archiv zurückkamen. Sie schoben einen mit Akten voll beladenen Wagen vor sich her.

Nyoko unterzeichnete die letzten Papiere ungelesen und war froh, sich mit etwas anderem beschäftigen zu können. „So viele Akten bei einer Kindesweglegung? Das hätte ich nicht erwartet.“

Christian widerstand dem Drang, seine Frau zu küssen. Die beiden hatten einen Dienstzeit-Zölibats-Eid ablegen müssen, um in derselben Gruppe arbeiten zu dürfen. „Mit deinen Erwartungen lagst du nicht so falsch.“ Er zeigte ihr einen dünnen Schnellhefter. „Das ist der Findelkind-Akt. Der Rest gehört zu einem Fall, der damit zusammenhängen könnte. Aus der Asservatenkammer haben wir auch etwas mitgebracht.“

Nyoko nahm den Beutel, den Christian ihr reichte. „Ist das die Strampelhose von Friedrich? Nein, wie süß! Schaut euch die Akten an, ich muss wieder einmal zu einer langweiligen Besprechung.“

Als Nyoko von der Abteilungsleiter-Konferenz zurückkam, verband Paul seinen Laptop mit dem großen Bildschirm, der an einer Wand des Büros hing. Er hatte mit Bauplänen aus dem Jahr 1989 ein 3D-Modell des Krankenhauses Rudolfstiftung programmiert, dazu die Bewegungen der Menschen laut den Zeugenaussagen. Jene Nacht erwachte in der virtuellen Realität zu neuem Leben. Sogar einen Keystone Cops-Avatar hatte er programmiert. Der näherte sich dem siebzehnstöckigen Hochhaus aus der Luft, landete auf dem Hubschrauberlandeplatz und fuhr mit dem Aufzug in die chirurgische Abteilung im sechsten Stock. Paul war bei seinen Modellen immer etwas detailverliebt.

Christian moderierte die Bilder: „Am 9.11.1989, während die ganze Welt die Nachrichten aus Berlin verfolgt, holt die Krankenschwester Stephanie Kleindienst um etwa 23 Uhr Bettwäsche aus dem Lager im Keller.“ Die virtuelle Kleindienst fuhr hinunter, ging durch einen langen Gang und betrat einen Raum. „Hier findet sie das Baby, also Friedrich. Die letzte Person vor Kleindienst hat diesen Raum um 21 Uhr verlassen. In diesen zwei Stunden wurde Friedrich hier abgelegt.“ Paul wechselte zu einem großen Schema des Gebäudes, ein kleines Baby zierte das Wäschelager. Christian sprach weiter. „Es gibt einen Nachtportier beim Haupteingang und einen Nachtwächter, der festgelegte Runden dreht.“ Christian zeigte die Wege. „In der Nacht ist nur der Haupteingang offen, aber das Personal hat Schlüssel für die anderen Türen und es gibt zusätzlich versperrte Personaleingänge. Paul, zeig uns bitte noch einmal die Bewegungen der Menschen.“

Die Keystone Cops beobachteten das nächtliche Treiben in der Rudolfstiftung. Patienten hielten sich in den Raucherzonen auf, Ärzte und Schwestern gingen zu ihren Stationen, Verletzte kamen in die Notfallambulanz, der Nachtwächter drehte seine Runden. Bei der Zeitmarkierung 22 Uhr 45 sprang Nyoko auf. „Stopp! Hier ist zum ersten Mal eine Lücke, wo sich jemand unbeobachtet zum Wäschelager bewegen konnte, und zwar durch diesen Eingang, für den man einen Personalschlüssel braucht. Friedrich wird abgelegt und schon ein paar Minuten später kommt Kleindienst. Man hat das Kind in ein Krankenhaus gelegt, wollte, dass es versorgt wird. Warum in einen Kellerraum, der in der Nacht kaum frequentiert wird? Das war kein Zufall. Kleindienst hat etwas damit zu tun, wir müssen sie befragen.“

Christian bat Paul, die Zeit auf 20 Uhr zurückzudrehen. „Ich glaube auch, dass sie irgendwie verwickelt ist, sie war aber nicht die Mutter. Es gibt nur zwei Probleme. Erstens: Sie war seit 20 Uhr im Dienst und niemandem ist aufgefallen, dass sie einen Säugling dabei hatte …“

Nyoko kam in Fahrt. „… dann hatte sie eben Komplizen. Was immer damals war, ist jetzt 28 Jahre her. Es wird Zeit, dass sie es uns erzählt …“

„… das führt uns zum zweiten, größeren Problem. Es befindet sich in den Aktenstößen auf dem Wagen. Ich übergebe an Johann.“

Der Angesprochene öffnete eine der Schachteln, nahm ein Foto aus einem Ordner und legte es auf den Tisch. Sie betrachteten die Frau. Eine Schusswunde in der Brust und eine in der Stirn. Johann legte zwei Beutel mit den Projektilen und einen Zeitungsausschnitt daneben. „Geiseldrama in Bank! Eine Tote!“ Es war die Ausgabe vom 1. Dezember 1989, also drei Wochen nach Friedrichs Geburt. Paul zeigte die Fotos der Überwachungskameras auf dem Bildschirm. 5-Sekunden-Takt. Schwarz-weiß. Unscharf. Zwei maskierte Männer mit Maschinengewehren stürmten die Bank. Sie bedrohten die Kunden und Angestellten. Einer schoss auf eine Geisel. Sie lag am Boden, ein Gewehr auf ihren Kopf gerichtet. Die Männer liefen hinaus.

Johann nahm das Tatort-Foto. „Das ist Stephanie Kleindienst. Der Bankräuber hat ohne Grund plötzlich auf sie gefeuert. Den ersten Schuss in die Brust hat sie überlebt. Der zweite hat aus nächster Nähe ihren Kopf getroffen, das war eine sinnlose Hinrichtung. Die Täter sind ohne Beute geflüchtet.“

Klaus betrachtete ein Projektil mit der Lupe. „9 x 19 Millimeter. Sechs Züge. Rechtsdrall.“ Er ging zum Bildschirm, betrachtete die Waffen ebenfalls durch die Lupe. Paul schüttelte den Kopf und sagte: „Ich kann zoomen“. Klaus beachtete ihn nicht. „Das sind Heckler & Koch MP5, nicht unbedingt üblich bei Banküberfällen.“

Johann nickte. „Die Ermittler haben keine anderen Überfälle gefunden, bei denen Tatablauf, Waffen und die spärlichen Täterbeschreibungen mit diesem übereinstimmen. Für die Zeugen hat es nach einem gezielten Anschlag auf Kleindienst ausgesehen. War der Banküberfall eine verdeckte Exekution? Diese These ist verworfen worden, weil das Opfer eine harmlose Krankenschwester war.“

Nyoko nahm die Strampelhose in eine Hand und ein Projektil in die andere. „Das gefällt mir nicht.“

Sie lehnte sich zurück, dachte an Friedrich und Sayo. Ein kleines Findelkind in der Rudolfstiftung. Die Finderin wenige Wochen darauf ermordet. Nyoko erinnerte sich an Ernst, der bei der Erwähnung des Schachspiels plötzlich hellhörig wurde.

„Das gefällt mir gar nicht.“

Samstag, 11. November 2017

Heinrich und Fidelio – sie nannten sich noch immer mit ihren alten IM-Namen, wenn sie sich heimlich trafen – spazierten durch den Wiener Türkenschanzpark. Im November konnte man sich hier ungestört unterhalten.

Heinrich zündete sich eine Zigarre an. „Friedrich hat herausgefunden, dass er ein Adoptivkind ist. Die Keystone Cops ermitteln jetzt in der Kindesweglegung.“

„Sind sie wirklich so gut, wie alle sagen?“, fragte Fidelio.

„Sie feiern regelmäßig spektakuläre Erfolge. Vor allem sind sie sehr kreativ und unberechenbar. Wir müssen etwas unternehmen.“

Fidelio blickte Heinrich wütend und entschlossen in die Augen. „Wir werden sie ablenken, stoppen, und wenn das nicht funktioniert, eliminieren.“

„Das Polizisten-Traumpaar wohnt übrigens gleich dort vorne ums Eck.“

„Das weiß ich doch.“

Sonntag, 12. November 2017

Im Café Steinitz - benannt nach dem großen Schachtheoretiker und ersten Weltmeister - stieg die Spannung. Das Finale der Vereinsmeisterschaft des SK Steinitz. Ingrid Pichler gegen Friedrich Michael Laurent. Friedrich war in der Regel ein sehr schneller Spieler. Diesmal kämpfte er gegen die Zeit. Seine Gedanken schweiften immer wieder ab. Er spielte seine Lieblingseröffnung, Benoni-Indisch, gegen jene Frau, die ihm vor Jahren diese Variante beigebracht hatte.

Friedrichs Gedanken waren beim 1. Buch Mose. Rahel starb bei der Geburt ihres Sohnes, konnte aber noch den Namen „Ben-Oni“, das heißt „Kind des Schmerzes“, vorschlagen. Der Vater nannte seinen Sohn dennoch „Ben-Jamin“, „Kind des Glücks“. Warum musste er ein Ben-Oni sein?

Ein Blick auf die Schachuhr brachte ihn zurück ins Geschehen. Die Stellung war katastrophal. Er hatte einen Läufer weniger und Pichler drängte nach vorne. Eigentlich sollte er aufgeben.

Gab es da nicht doch einen Weg? Friedrichs Gedanken flogen weiter zur Jahrhundertpartie Donald Byrne gegen Bobby Fischer. Mit einigen spektakulären Opfern, als Höhepunkt die Dame, hatte der dreizehnjährige Fischer das Spiel umgedreht und den erfahrenen Meister geschlagen.

Friedrich dachte an seinen Sohn Benjamin, das Kind des Glücks. Jetzt sah er es genau. Er musste nicht den Vormarsch der Gegnerin stoppen, sondern sie in die Falle locken, und zwar möglichst schnell!

Das erste Springeropfer sah noch harmlos aus, wie ein Fehler unter Zeitdruck. Pichler nahm an. Friedrich schickte einen Turm an die ungedeckte Front. Raunen im Publikum. Pichlers Dame verließ ihre Verteidigungsstellung, um das Geschenk anzunehmen. Nun hatte Friedrichs Königin den großen Auftritt und zog heldenhaft in die Schlagrichtung eines Läufers. Pichler wurde angesichts des Vorsprungs leichtsinnig. Sie liebte es, wenn sie den Gegner demütigen konnte. Der Läufer schlug zu.

Pichler ging weiter nach vorne, aber ihr König stand nun ziemlich allein. Friedrich schlug zu und musste seinen Regenten entblößen. Doch er fuhr tief in die Reihen seiner Gegnerin und das mit atemberaubendem Tempo. Nun musste Pichler opfern, da sich eine Mattchance für Friedrich abzeichnete. Benoni führte oft zu heftigen Kämpfen auf dem Damenflügel.

Es war ein unscheinbarer Bauer aus Friedrichs Armee, dem sich nun eine freie Bahn zur Beförderung öffnete. Pichler konnte nichts dagegen tun. Die kleinste Figur wurde zur größten.

Pichler gab grundsätzlich nie auf. Nun versuchte sie verzweifelte Opfer im Stile ihres Gegners. Dafür hatte sie zu wenig Figuren. Am Ende war Pichlers König so allein, dass Friedrich sie mit einem Grundlinienmatt, wie es jeder Anfänger als erstes lernt, an die Wand spielte.

Montag, 13. November 2017

Nyoko und Christian kamen sehr spät ins Büro. Sie hatte am Vortag ein Turnier der japanischen Schachvariante Shogi in München gewonnen. Nach der Siegerehrung waren sie erst in den frühen Morgenstunden zurückgekommen. Das Büro war mit noch mehr Aktenordnern und Asservatenkartons vollgeräumt als in der vergangenen Woche.

Klaus nahm einen Beutel mit einem Reiseschach aus einer Schachtel. „Guten Morgen! Dein Strahlen sagt alles. Du bist eine Siegerin.“

„Hallo! Stimmt. Ich habe gewonnen und auch Friedrich ist der Sieger seiner Vereinsmeisterschaft. Warum sieht es hier aus wie bei einer Umsiedlung der Buchhaltung des Innenministeriums? Gibt es neue Erkenntnisse?“

„Das kann man wohl sagen. Die DNA hat tatsächlich ein Ergebnis geliefert.“

Paul schaltete den großen Bildschirm ein und zeigte ein Foto. Nyoko ging zum Monitor. „Das ist doch Garri Kasparow? Was hat die Schachlegende mit Friedrich zu tun?“

„Alle schauen immer nur auf die großen Meister, wobei ich das zumindest bei dir verstehen kann. In diesem Fall solltest du die Aufmerksamkeit auf den blassen Herrn neben dem Weltmeister richten. Der hatte an diesem Tag seine große Stunde und den damals beinahe Unbesiegbaren geschlagen.“

Nyoko betrachtete das Bild. „Diese Augen! Genau wie bei Friedrich. Willst du sagen, dass …“

„Genau! Darf ich vorstellen? Frank Pottersfeld, der Großvater deines Enkels.“

„Jetzt muss ich mich setzen.“ Sie setzte die Ankündigung um und schüttelte den Kopf. „Und ich wollte Christian den Unsinn mit der DNA-Probe für einen 28 Jahre alten Fall ausreden.“ Der Ehemann grinste breiter als seine Frau am Vortag bei der Siegerehrung. Sie schloss die Augen. „Erzählt mir von ihm.“

Paul zeigte die Wikipedia-Seite zu Frank Pottersfeld auf dem Bildschirm. „1964. Geboren in Leipzig. Bibliotheksfacharbeiter. Schachspieler. Beste Weltranglistenposition 67. 1989 Kasparow-Sieg. Lebensgefährtin Irene Kupfer. Schwanger. Turnier in Wien. Tot.“ Paul war im vergangenen Jahr in den Kopf geschossen worden und die Ärzte hatten bei der Notoperation auch noch einen Tumor entdeckt. Seither war er wegen spastischer Lähmungen an den Rollstuhl gefesselt und das Sprachzentrum ließ nur noch Satzfragmente heraus. Sein Talent auf dem Computer blieb aber unbeeinträchtigt und er konnte mit einem Sonderstatus als im Dienst verletzter Polizist weiter bei den Keystone Cops arbeiten.

Johann stellte sich zu den Ordnern. „Frank Pottersfeld hat im November 1989 ein Turnier in Wien gespielt und war auffallend nervös. Dann haben sich Krankheitssymptome eingestellt und er ist während einer Partie kollabiert. Aus dem Koma ist er nicht mehr erwacht und ein paar Tage danach im AKH gestorben. Es hat keinen endgültigen Befund gegeben, der Arzt im Krankenhaus hat den Verdacht auf ein unbekanntes Gift angegeben. Der Pathologe hat auch nichts gefunden. Pottersfelds Lebensgefährtin Irene Kupfer, offensichtlich Friedrichs Mutter, war auch in Wien und ist nach dem Kollaps von Pottersfeld spurlos verschwunden. Sie war damals im neunten Monat.“

Nyoko streckte den Daumen nach oben. „Männer! Souverän gelöst! Wir kennen Friedrichs Eltern. Schon haben wir einen neuen Fall. Ich will Pottersfelds Mörder fassen! Zu Kupfer stelle ich folgende These auf: Das Paar wird bedroht. Er wird vergiftet und sie taucht unter. Sie bringt das Kind zur Welt und gibt es weg, weil sie Angst vor dem Mörder hat und Friedrich schützen will. Was ist danach passiert? Entweder ist sie gefunden und auch ermordet worden, oder sie lebt irgendwo mit einer neuen Identität und traut sich noch immer nicht aus der Deckung. Was für furchterregende Feinde müssen das heute noch sein? Noch eins: Ernst hat es geahnt, als Christian Schach erwähnt hat. Der Kerl hat nichts gesagt. Ich muss meinen Vorgesetzten besser erziehen.“

Nicht ahnend, dass Nyoko gerade plante, ihm die Leviten zu lesen, betrat Ernst Stockhammer den Raum. Der Oberst war sichtlich verärgert. „Nyoko! Wir haben ein Problem. Seit ich dich zu meiner Stellvertreterin ernannt habe, obwohl du die jüngste und rangniedrigste meiner Abteilungsleiter bist, wird permanent intrigiert. Neid, Eifersucht und Unverständnis über mein Konzept, euch Narrenfreiheit zu geben, treiben immer neue Blüten. Sie beschweren sich sogar, dass du deinen Mann immer so verliebt anschaust. Die DNA-Analyse für eine private Ermittlung hat sich herumgesprochen. Jetzt wird scharf geschossen. Am liebsten würde ich alle zu einem Karate-Training mit dir verdonnern. Ich brauche dringend etwas, um die DNA zu rechtfertigen, bitte gebt mir irgendetwas.“ Er blickte um sich. „Wie sieht es denn hier aus? Ihr ermittelt den zweiten Arbeitstag eine uralte Kindesweglegung und schon ist euer Büro voll mit Akten und Beweismitteln. Findet ihr wieder einmal Zusammenhänge, die sonst keiner sieht?“

Erst jetzt sah er das Bild auf dem großen Bildschirm und starrte es mit offenem Mund an. „Also doch. Pottersfeld. Ist er der Vater?“

Der Oberst setzte sich auf die Besprechungscouch. „Nyoko, schau mich nicht so streng an. Der Gedanke an Pottersfeld ist mir schon am Freitag gekommen. Ich wollte aber sichergehen und euch nicht umsonst Flausen mit der alten Geschichte in den Kopf setzen. Ihr gebt dann ja keine Ruhe, bis ihr es gelöst habt, egal was sonst noch ansteht. Mit der DNA sollte sich das klären. Ich muss wohl nicht nachdenken, ob ich euch den Auftrag für die Wiederaufnahme des Falles gebe. Das sind noch mehr Akten, als ich erwartet hätte.“

„Wir haben nicht nur Pottersfeld ausfindig gemacht. Die Krankenschwester, die Friedrich gefunden hat, war wahrscheinlich nicht nur Finderin, sondern an der Kindesweglegung beteiligt. Sie ist ein paar Wochen später ermordet worden. Dieser Fall ist auch ungeklärt.“

„Denkt ihr, dass das alles zusammenhängt? Ihr beginnt bei einer Geburt und findet zwei Morde.“

Nun mischte sich auch Christian ein. „Ernst, im Leben hängt alles irgendwie zusammen, zum Beispiel dein blaues Auge letzte Woche mit dem Sieg eines DDR-Schachspielers gegen Kasparow vor 28 Jahren. Uns würde brennend interessieren, welche Fäden dich sonst noch mit diesem Fall verbinden.“

„Das war damals eine riesige Sonderkommission, da das Opfer ein internationaler Prominenter war. Die Ermittlungen sind sehr schleppend geführt worden. Die Welt war im Umbruch, das Herkunftsland des Opfers konnte nicht einmal mehr von einer Mauer zusammengehalten werden. Der Tote war zuletzt auch durch Regimekritik aufgefallen. Mein Eindruck war, dass man in der kritischen Situation seines Heimatlandes nicht in die Weltgeschichte eingreifen wollte. Es gab nur drei Querulanten: Euren ehemaligen Chef, mich und Wolfgang Jacobs, der damals noch Assistent am Institut für Pathologie war. Rufen wir die beiden dazu.“

Harald Ritter wurde immer noch von allen „der Chef“ genannt, selbst von Menschen, deren Vorgesetzter er nie war. Der Mann, der die Idee hatte, Leute mit außergewöhnlichen kreativen Talenten abseits des Berufes in eine Gruppe zu spannen und so den etwas chaotischen, aber sehr erfolgreichen Haufen der Keystone Cops geschaffen hatte, arbeitete jetzt in einer Stabstelle und beriet die höchsten Führungsebenen.

Ritter kam gleichzeitig mit Professor Wolfgang Jacobs, dem Institutsvorstand für Gerichtsmedizin und Schwiegervater von Klaus. Nach der Begrüßung kam Nyoko wie üblich schnell zur Sache. „Es schaut so aus, als ob ihr einiges zu berichten hättet. Eines frage ich mich schon den ganzen Tag: Pottersfeld wurde 1989 ermordet. Warum ist die DNA in der Datenbank?“

Ernst lächelte zufrieden. „Du bemerkst aber auch alles. Damals war der Chef der Jungstar in der Wiener Kriminalpolizei und noch nicht lange Gruppenleiter. Er ist wegen seiner kritischen Fragen in der Soko schnell kaltgestellt worden. Ich war noch der Anfänger für die Kopierdienste. Dabei habe ich immer mitgelesen und Harald mit Informationen versorgt. Schließlich sind wir beide aus der Sonderkommission geflogen. Harald hat mich später in seiner Gruppe aufgenommen.“

Der Chef zog an seiner kalten Pfeife. „1996 haben wir beschlossen, den Fall wiederaufzunehmen. Es gab jetzt die DNA-Analyse und Datenbanken. Außerdem war Österreich der EU beigetreten und Deutschland wiedervereinigt. Wir haben auf die internationale Zusammenarbeit gehofft. Doch dann ist Ernsts Frau ermordet worden …“

Nyoko sprang auf. „Oh mein Gott! Das war damals? Vielleicht wollte man euch vom Pottersfeld-Fall ablenken.“

Ernst verschränkte die Arme und zog die Schultern hoch, als ob ihm plötzlich kalt wäre. „Sicher nicht. Wir haben den Mörder geschnappt. Es war ein Krimineller, der uns schon öfter beschäftigt hatte. Er war 20 Jahre alt, beim Pottersfeld-Mord also gerade mal 14. Er ist allerdings wegen eines Formfehlers aus der Untersuchungshaft entlassen worden. Einen Tag später hat man ihn selbst ermordet.“

Nyoko betrachtete die Aktenberge. „So sicher wäre ich mir da nicht. Er könnte ein Auftragsmörder gewesen sein und als er gefasst worden ist, haben die Männer im Hintergrund den Versager exekutiert. Ich will die Akten sehen!“

Christian stöhnte. „Ich wollte eine Geburt ermitteln und jetzt stehen wir vor vier Morden.“

Auch Ernst war verzweifelt. „Nyoko, bist du dir sicher, dass du dich nicht verrennst? Wo willst du den ganzen Papierkram hingeben?“

„Verrennen kann ich mich nur, wenn ich mich nicht auskenne. Ich will alles sehen. Dann prüfen wir auf Gemeinsamkeiten und entscheiden, welchen Weg wir gehen, ohne uns zu verlaufen. Johann? Warst du nicht damals auch schon beim Chef?“

„Ich war 1996 ein paar Monate suspendiert und auf Entzug. Als ich zurückgekommen bin, war der Mord an Ernsts Frau Inge bereits geklärt. Von Pottersfeld habe ich nie etwas gehört, das war wohl alles während meiner Abwesenheit.“

„Du warst ein Kollege von Ernst?“, wunderte sich Nyoko. „Warum hast du das nie erzählt?“

Johann wich ihren Blick aus. „Wenn er sich erinnert, wie ich damals war, feuert er mich sofort. Ich will diese Phase meines Lebens vergessen.“

Es wurde kurz still, bis Klaus sich an Wolfgang Jacobs wandte. „Du hast heute noch kein Wort gesagt. Man könnte glauben, dass du gar nicht der Vater meiner Frau bist. Was war denn dein Anteil in diesem verschworenen Trio?“

„Hmmm … also … eigentlich will ich das in einem Polizeigebäude nicht sagen. Außerdem muss ich euch etwas zeigen, das ich zuhause aufbewahre. Ich lade euch zum Abendessen ein. Lydia hat mich ohnehin vor Kurzem gefragt, wann ihr wieder einmal kommt. Passt euch heute 20 Uhr?“

„Wird das ein Geheimbund oder soll ich deine Tochter und Enkel mitnehmen?“

„Ihr dürft sogar früher kommen und bei der Vorbereitung helfen.“

Nyoko setzte sich wieder. „Wir bringen den Wein und den Apfelsaft für Johann. Da ich nicht gewusst habe, dass Ernst einmal für den Chef gearbeitet hat, drängt sich noch eine interessante Frage auf. Harald hat nur Kollegen mit außergewöhnlichen Hobbys oder Talenten in seine Gruppe geholt. Ernst, gibt es bei dir etwas, das wir noch nicht kennen?“

„Nyoko, selbst du musst nicht alles wissen.“

Christian bat Johann, seine Gitarre zu holen. „Ich erzähle euch eine Geschichte. Vor einigen Jahren spazierte ich durch die Stadt und sah vor einem Hotel ein Plakat. Angekündigt war der Auftritt eines italienischen Schlagersängers mit dem schönen Namen Ernesto Pianomartello. Ich fragte mich, ob das eine originelle Übersetzung von ‚Stockhammer‘ sein könnte, und ging hinein. Tatsächlich sang dort der Mann, der damals noch ein entfernter Bekannter war. Lieber Herr Oberst, oder soll ich Colonnello sagen, dein ‚Azzurro‘ ist der Beste von Wien.“

Nyoko lachte. „Christian, in einer guten Ehe gibt es keine Geheimnisse. Warum hast du mir das nicht erzählt?“

„Das war wohl in einer turbulenten Beziehungs-Phase. Damals warst du nicht meine Chefin und er nicht deiner.“

Nyoko deutete Johann, die Gitarre wieder in die Ecke zu stellen. „Bevor es zu gemütlich wird, gehen wir wieder an die Arbeit. Wir nehmen am Abend italienischen Wein mit und Johann die Gitarre. Ernst darf dann italienische Gassenhauer zum Besten geben. Jetzt aber: Christian untersucht Pottersfeld. Johann nimmt sich Ernsts Frau und ihren Mörder vor. Ich mache die Kindesweglegung und Kleindienst. Paul, du bekommst von uns die Namen aller Menschen, die in den Fällen aufgetaucht sind. Recherchiere die Biografien und suche Überschneidungen. Klaus, schau dir die Spuren von allen Tatorten an. Auf geht’s!“

Nyoko konnte nicht sofort mit ihren Aufgaben beginnen. Ernst bat sie und den Chef zu einer vertraulichen Besprechung in ihr Büro. Sie nahmen am kleinen runden Besprechungstisch Platz.

Der Oberst begann. „Nyoko, ich will die Anwesenheit deines Mentors nutzen, um eine organisatorische Frage zu besprechen. Du bist die schnellste und entscheidungsfreudigste Offizierin des BKA und dennoch schleppst du eine Angelegenheit seit mehr als einem Jahr vor dir her. Für deine offene Stelle kommen laufend Bewerbungen von den besten und erfahrensten Kriminalpolizisten. Gruppenleiter würden ihre Führungsfunktion abgeben, um ein Keystone Cop zu werden. Einige Bewerber sind schon irritiert, weil sie keine Antwort bekommen. Wir können die Position nicht ewig offenhalten, sonst wird sie uns gestrichen.“

„Es war eben noch nicht der Richtige dabei.“

„Das stimmt doch nicht! Es gab einige, von denen ich weiß, dass du sie sehr schätzt. Da ist noch etwas anderes. Reden wir offen darüber.“

Nyoko sagte nichts. Der Chef spielte mit seiner Pfeife. „Nyoko, ich denke, dass ich den Grund kenne. Die Stelle war für Paul vorgesehen, der für dich eine Art kleiner Bruder ist. Jetzt gehört er zum Sonderposten für im Dienst verletzte Polizisten. Die Ärzte haben damals gemeint, dass sich die Folgen der Kopfverletzung eventuell ganz zurückbilden könnten und du hast ihm die Stelle freigehalten. Nach einem Jahr müssen wir diese Hoffnung aber aufgeben. Es ist großartig, wie du dich um ihn kümmerst und ihn integrierst. Dass er bei Klaus wohnen darf, zeigt, dass die Keystone Cops eine Familie sind, die immer zusammenhält. Das sollte aber nicht zur Verzögerung von Personalentscheidungen führen.“

„Paul ist von einem Mörder verwundet worden, der mich als letztes Ziel hatte. Ich kann ihn doch nicht als Strafe aus der Gruppe drängen. Von welcher Kostenstelle er bezahlt wird, ist mir egal. Er ist ein vollwertiger Keystone Cop.“

Ernst fuhr sich durch die Haare. „Du hast selbst gesagt, dass sein Wert nicht von der Organisation abhängt. Ich sehe das auch so. Daher ist das Offenhalten der Stelle nicht nötig. Wenn Paul einmal genesen sollte, werden wir das entsprechend organisieren. Ich nehme nicht eine exzellente Kraft aus einem funktionierenden Team, außerdem bekommen die Keystone Cops sowieso immer, was sie wollen. Wer einen skurrilen Gruppennamen und eine DNA-Analyse für ein Familienmitglied erhält, muss sich keine Sorgen machen, irgendetwas nicht zu erreichen. Ein ruhender Pol wäre eine gute Ergänzung. Dafür gibt es zwei ideale Kandidaten. Bitte nimm einen davon oder jemand anderen, aber gib einem Kollegen die Chance, bei den Keystone Cops zur Höchstform aufzusteigen.“

Christian stammte aus einer reichen Familie mit großer Tradition. Ein Vorfahr hatte in einer Schlacht seinem Kaiser das Leben gerettet, was seine Karriere zum Feldmarschallleutnant und Ritter I. Klasse des Ordens der Eisernen Krone befördert hatte. Seine Nachfahren wurden Unternehmer, doch Christians Leben hatte ihn auf vielen Umwegen zur Polizei geführt.

In der stattlichen Familienvilla wohnten nun die Nachfahren europäischer Ritter und des japanischen Samurai-Clans Sato aus Hiroshima. Im Viergenerationen-Haus lebte neben dem Polizistenpaar auch Nyokos Mutter Misaki Binder. Für das junge Paar Sayo und Friedrich war ebenso genug Platz. Unangefochtener Mittelpunkt war der kleine Benjamin.

Das große gemeinsame Wohnzimmer war im Stil der kubanischen Kolonialzeit eingerichtet. Auch Japan fand seinen Platz im karibischen Flair. An der Wand hing normalerweise das Familienschwert der Satos, das allerdings gerade für eine Ausstellung des Weltmuseums verliehen war. Nyokos Urgroßvater - der Mann erfreute sich mit 107 Jahren bester Gesundheit und lebte in Fukushima, wohin die Familie 1945 gezogen war – hat es ihr überreicht, als er von ihrer Lebensgeschichte erfahren und den Kämpfergeist seiner Urenkelin bei einem Shogi-Turnier in Kyoto gesehen hatte. In einem Eck des Wohnzimmers befand sich ein Ahnenschrein, der neben den buddhistischen und shintoistischen auch jüdische und christliche Symbole enthielt.

Die Familie saß beim Tisch aus dunkelbraun lackiertem Pappelholz. Nyoko nahm ein gerahmtes Bild aus ihrem Rucksack. „Friedrich, sagt dir der Name ‚Frank Pottersfeld‘ etwas?“

„Das war ein ostdeutscher Schachspieler, der eine legendäre Partie gegen Kasparow gespielt hatte und später in Wien unter mysteriösen Umständen gestorben ist. Was ist mit ihm?“

Nyoko überreichte ihm das Bild. „Er ist dein Vater.“

„Pottersfeld? Wirklich? Wie seid ihr darauf gekommen?“

„Es war die DNA-Probe. Der Tod von deinem Vater war mysteriös, aber höchstwahrscheinlich ein Mord, und ist nie geklärt worden. Wir haben den Fall wiederaufgenommen.“

Friedrich betrachtete das Bild des Mannes, dessen berühmteste Partie er auswendig kannte. „Was ist mit meiner Mutter?“

„Deine Mutter Irene Kupfer ist spurlos verschwunden, als dein Vater ins Koma gefallen ist. Damals haben unsere Kollegen vermutet, dass sie auch getötet worden ist, und damit das ungeborene Kind. Wie sie es geschafft hat, dich in die Rudolfstiftung zu bringen, und was ihr weiteres Schicksal war, ist noch völlig unklar. Es gibt da einige Dinge und komplexe Zusammenhänge, die wir nicht verstehen.“

Christian versuchte ohne Erfolg zu verhindern, dass Benjamin sein Polo-Shirt ansabberte. „Jetzt haben wir auch noch einen Deutschen im Haus, damit sind wir endgültig multikulturell. Du bist doch ein Experte der Benoni-Eröffnung. Kennst du das Buch ‚Benoni – Schlachten auf dem Damenflügel‘?“

„Davon habe ich noch nie etwas gehört. Warum?“

„Das ist ein Teil unseres Rätsels. Frank Pottersfeld ist übrigens hier in Wien begraben. Es gab keine Verwandten und die ostdeutschen Behörden waren damals zu sehr mit sich selbst beschäftigt, um sich darum zu kümmern. Das Grab wird vom österreichischen Schachbund gepflegt und bezahlt. Wir haben mit der Verwaltung des Zentralfriedhofs gesprochen, ein unbürokratischer Austausch zwischen Beamten. Wenn du heute noch hinfahren willst, lassen sie dich auch nach der Schließung hinein.“

„Ich weiß gar nicht, wie ich euch danken soll. Ich muss aber vorher noch zu meinem Vater – Adoptivvater - in die Hexenküche. Er ist auch sehr gespannt, was bei der Geschichte herauskommt.“ Er stellte das Bild auf den Ahnenschrein und zündete eine Kerze an.

Lydia Jacobs hatte das Essen dem angekündigten Vortrag von Ernesto Pianomartello angepasst. Es gab Minestrone, Piccata Milanese und als Nachspeise Tiramisu. Neben den Polizisten war auch Wolfgangs Tochter Corinna Zimmermann zu Gast. Die blonde Frau war einen Kopf größer und zehn Jahre jünger als ihr Mann, der Spurensicherer Klaus. Sie beschäftigte sich beruflich im Gegensatz zu ihrem Vater mit lebenden Patienten. Als Haus- und Notärztin aller Keystone Cops samt Familien machte sie sich Sorgen um ihren Patienten Friedrich. „Wie geht es ihm?“

Nyoko, die ihren überbordenden Energieverbrauch am liebsten mit Süßspeisen ausglich, nahm sich ein zweites Stück Tiramisu. „Er ist stolz, der Sohn eines Kasparow-Bezwingers zu sein. Dieses Match kennt er sogar auswendig. Aber wirklich verdaut hat er das alles noch nicht.“

„Er gehört zu den Menschen, für die ein Arztbesuch wie der Weg durchs Fegefeuer ist, neigt aber auch zur Psychosomatik. Wenn er Hilfe braucht, führt ihr ihn am besten mit Handschellen zu mir.“

Christian schaute finster. Nyoko hatte das einmal mit ihm gemacht. Mit seiner hypochondrischen Neigung war er Stammgast bei Corinna, nur nicht, wenn er wirklich krank war. Nyoko hatte ihre Nachspeise verdrückt und war nun bereit für den Fall Pottersfeld. „Leute! Wir helfen Friedrich am meisten, wenn wir alle Unklarheiten um seine Eltern beseitigen. Lasst uns loslegen! Ich schlage vor, dass wir chronologisch erzählen, was wir bisher herausgefunden haben und unsere Veteranen steigen ein, wenn sie zusätzlich etwas beitragen können.“

Sie gingen ins Wohnzimmer. Paul verband seinen Laptop mit dem Fernseher. Wolfgang öffnete den Safe, der sich nicht sehr originell hinter einem Bild befand, und nahm eine kleine Schachtel heraus, die er vor sich legte.

Christian begann. „Frank Pottersfeld stammt aus Leipzig. Er ist Bibliotheksfacharbeiter, seine Leidenschaft gehört aber dem Schach. Seine Lebensgefährtin Irene Kupfer hält sich in der Öffentlichkeit völlig im Hintergrund. Wir haben noch nicht einmal ein Bild von ihr gefunden. 1989 wird sie schwanger. Wir haben ein paar Aufnahmen von Pottersfeld bei Schachturnieren aus diesem Jahr. Die kommentiert am besten Nyoko.“

Die Chefin übernahm das Wort. „Hier im Jänner 1989 ist er etwas unsicher, ängstlich. Er spielt sicher gut, aber der Kampf ist nicht sein Ding. Bei einem Gegner mit dieser Körpersprache weiß ich schon vorher, dass ich gewonnen habe. Im April ist alles anders. Er ist hoch konzentriert, fokussiert und auf Angriff eingestellt. Wenn ich vor einem Spiel solche Augen sehe, stelle ich mich auf eine schwierige Partie ein. Pottersfeld startet eine spektakuläre Siegesserie. Haben ihm die Vaterfreuden Selbstvertrauen gegeben? Oder hat der beginnende politische Aufbruch seinen Geist befreit? Er beginnt, bei Interviews im Ausland leise Systemkritik zu üben. Jetzt sein Meisterstück. Seht euch die zwei Männer an! Testosteron pur! Kontrolliert von hochintelligenten Menschen. Der Grund für Kasparows Niederlage ist nicht eine Formkrise an diesem Tag. Pottersfeld spielt die Partie seines Lebens. Friedrichs Vater verliert danach kein Spiel mehr, bis er im November nach Wien kommt. Wir sehen seine letzte Partie, er hat davor schon zwei verloren. Was ist da los? Nervös, die pure Angst. Er schaut ein paar Mal nach hinten, so etwas macht nicht einmal ein mittelmäßiger Amateur. Und er hat noch einen neuen Tick. Seht ihr es? Jetzt … und noch einmal … schon wieder … er greift sich an die linke Pobacke. Wolfgang, du schaust auf deine Schachtel. Kann es sein, dass du uns jetzt etwas erzählen willst?“

Der Gerichtsmediziner nickte anerkennend. „Nicht schlecht! Was ich euch jetzt zeige, sollte unter uns bleiben. Wenn das offiziell wird, ist meine Karriere beendet. Ich war damals Assistent in der Gerichtsmedizin. Der Institutsvorstand war ein Schreibtischmensch, der schon lange keine Obduktion durchgeführt hatte. Nur Pottersfeld wollte er selbst untersuchen und ich durfte nicht einmal dabei sein. Ich habe mich daher in der Nacht davor ins Institut geschlichen und die Leiche untersucht. Dabei habe ich in seiner Gesäßbacke das hier gefunden. Christian, du kennst dich mit Geschichte aus. Willst du uns erklären, was es ist? Du wirst die Lupe von Klaus benötigen.“

Christian öffnete die Schachtel und betrachtete mit der Sehhilfe das Objekt, eine Kugel mit etwa einem Millimeter Durchmesser, in der sich zwei kleine Löcher gegenüberliegend befanden. „Auch das noch! Das sieht aus wie das Ding, das beim Regenschirm-Attentat verwendet wurde. 1978 tötete der bulgarische Geheimdienst einen Dissidenten, indem er ihm so eine Kugel mit Gift verabreichte. Das geschah mit einer Vorrichtung, die in einen Regenschirm eingebaut war. Der scheinbar harmlose Zusammenstoß mit einem Passanten war ein perfider Mordanschlag.“

Klaus übernahm das Kügelchen und seine Lupe. „Wird das jetzt eine Geheimdienstverschwörungsgeschichte? Dann können wir aufhören.“

Christian wandte sich wieder zum Bildschirm. „Das schaut auf den ersten Blick so aus, aber wenn es tatsächlich mit den anderen Fällen zusammenhängt, könnte jemand aus Wien involviert gewesen sein. Beenden wir den Exkurs und kehren zurück zu Pottersfeld. Er kommt nach Wien und kauft sich das Schachbuch ‚Benoni – Schlachten auf dem Damenflügel‘, wird hypernervös, verliert zum ersten Mal seit Längerem wieder Spiele, bekommt diese Geheimdienstkugel in den Hintern und stirbt daran. Klaus, du bist dran.“

„Der Gerichtsmediziner hat seinen Bericht ohne Befund abgeschlossen, auch der Einstich, wo der Großvater meiner Kinder in seiner nächtlichen Aktion dieses Giftding herausgeholt hat, ist nicht dokumentiert. Es gibt natürlich die Sachen, die er bei sich getragen hat und jene aus dem Hotelzimmer. In einer Jackentasche haben die Kollegen eine Quittung über den Kauf des Schachbuches gefunden, das Christian so fasziniert. Das Buch selbst ist nicht unter den Beweismitteln. Hat er es weggeworfen, weil es so schlecht war? Oder verloren? Hängt es mit dem Fall zusammen? Wir wissen es nicht. Irene Kupfer ist einige Tage nach Pottersfeld angereist. Als sie dann untergetaucht ist, hat sie vorher noch gepackt, es waren keine Sachen von ihr im Hotelzimmer. Damit sind wir bei Nyokos Teil.“

„Kupfer verschwindet nach dem Anschlag auf Pottersfeld. Sie bringt an einem unbekannten Ort Friedrich zur Welt. Als die Krankenschwester Stephanie Kleindienst den Buben in einem Wäschelager der Rudolfstiftung findet, ist er wenige Stunden alt. Ich gehe aufgrund des zeitlichen Ablaufs davon aus, dass sie den Buben nicht zufällig findet, sondern in die Sache verwickelt ist. Seine Babywäsche war ein westliches Fabrikat, nicht aus der DDR. Kleindienst wird wenige Wochen später als Geisel bei einem Banküberfall erschossen. Der Fall ist ungeklärt.“

Nyoko übergab mit einem Augenzwinkern an Klaus. „Es waren zwei Schüsse, zuerst ein nicht tödlicher in die Brust und dann die gezielte Hinrichtung mit einem Kopfschuss aus kurzer Distanz. Die Waffe war eine Heckler & Koch MP5. Es wurden keine vergleichbaren Überfälle in dieser Zeit verübt. Die Kamerabilder und die Zeugenaussagen lassen den Schluss zu, dass der Banküberfall nur inszeniert worden ist, um das wahre Motiv für die Tötung von Kleindienst zu verschleiern.“

Nun war Johann an der Reihe. „Wir springen in das Jahr 1996. Die Wiederaufnahme des Pottersfeld-Falles wird vom Mord an Inge Stockhammer beendet. Sie wird mit einer MP5 erschossen. Die gesamte Kriminalpolizei jagt den Mörder der Frau eines Kollegen und ist erfolgreich. Der Killer wird aber wegen eines Formfehlers aus der Untersuchungshaft entlassen. Einen Tag später werden ihm drei Finger abgeschnitten und er verblutet. Der Täter wird nicht gefasst, in diesem Fall ist die Polizei nicht sehr motiviert. Es gibt sogar Gerüchte, dass es ein Kollege war, auch Ernst wird kurze Zeit verdächtigt. Wichtige Spuren haben wir nicht, aber noch eine interessante Information. Wie ihr wisst, pflege ich ein dichtes Informantennetz und eines der Zentren dieser Kontakte ist die Lustoase, wo sich neben der notgeilen Kundschaft auch Kriminelle treffen. Ich kenne dort einen Menschen, dem ein Finger abgetrennt worden ist und einem fehlt ein Ohr. Sie haben mir nie gesagt, wie das passiert ist, nicht einmal einen Unfall vorgeschoben, einfach nur geschwiegen.“

Ernst klopfte Nyoko auf die Schulter. „Das alles an einem Tag! Ihr seid jedes graue Haar wert, das ich wegen euch bekomme. Aber ein bisschen abenteuerlich sind die Zusammenhänge schon. Wie sicher seid ihr euch dabei?“

Nyoko dachte kurz nach und schüttelte den Kopf. „Überhaupt nicht. Wir finden das interessant und schauen es uns noch genau an. Ein Teil könnte rausfallen, ein anderer dazukommen. Wir stehen am Anfang. Wenn das wirklich alles zusammenhängt, ist der Mörder von Friedrichs Vater nicht ein Spion, der einmal kurz nach Wien gekommen ist, um einen Regimekritiker zu töten, sondern jemand, der hier seit Jahrzehnten sein Unwesen treibt und Körperteile abschneidet. Den will ich aus dem Verkehr ziehen, egal ob er etwas mit Pottersfeld zu tun hat. Paul sucht nach weiteren Gemeinsamkeiten. Du hast noch nichts gefunden, oder?“

„Nein.“

„Die finden wir schon noch. Ernst, haben wir den Auftrag?“

„Ich werde Staatsanwalt Brell informieren, dass wir die Fälle wiederaufnehmen, um bisher unbekannte Zusammenhänge zu prüfen.“

„Männer! Ihr habt es gehört. Es wird stressig. Aber jetzt ist es höchste Zeit für den besten ‚Azzurro‘ von Wien!“

Am Zentralfriedhof brannte eine einsame Kerze. Friedrich stand am Grab seines Vaters. Sayo hielt seine Hand. In den Grabstein war eine Stellung aus der legendären Partie graviert. Der Moment, in dem Pottersfeld den Weltmeister mit einem verwegenen Angriff ohne Rückendeckung ins Wanken gebracht hatte.

Das war also sein Vater. Friedrich hatte seine Wurzeln gesucht und überraschend schnell gefunden. Oder doch nicht? Er fühlte sich wie bei einem Blindschach-Spiel, ohne die Stellung zu wissen. Wieso wurde sein Vater ermordet? Von wem? Was ist mit seiner Mutter geschehen?

Nein, er kannte seine Wurzeln nicht. Er brauchte Halt. Sayo umarmte ihn.

Dienstag, 14. November 2017

Der vierjährige Kito Suluhu versteckte sich unter seinem Bett. Seine Eltern weinten. Ein böser Mann bedrohte sie mit einem Gewehr. Kito hielt sich die Ohren zu. Kein Knall ertönte. Nur ein „Plopp“. Die Mutter fiel um und starrte mit unbeweglichen, glasigen Augen zu Kito. Er wollte schreien, doch er traute sich nicht. Plopp. Der Vater fiel neben die Mutter. Der böse Mann hinkte aus der Wohnung. Kito kroch zu den leblosen Körpern seiner Eltern. Er legte sich auf seine Mutter. Sein Leibchen wurde rot von ihrem Blut. Mama! Der Vater lag daneben und rührte sich nicht. Papa!

Im Büro der Keystone Cops wurde fleißig gearbeitet. Klaus betrachtete DIN A3-Vergrößerungen der Fotos von Frank Pottersfelds Hotelzimmer. Seine Aufmerksamkeit galt dem Reiseschachspiel, das im Hintergrund zu sehen war. Er versuchte, die Stellung zu rekonstruieren, als unerwarteter Besuch eintraf. Sayo kam mit Friedrich und Benjamin. Der Knirps lief sofort zu Christian, der aus seiner Zauberutensilienschublade einen kleinen Ball holte. Bei der Gelegenheit legte er auch die Waffe in einen für das Kind unerreichbaren Schrank.

Sayo war zufrieden. „Christian ist so ein begabter Stiefopa. Dürfen wir sein Talent nutzen? Wir haben gestern Abend beschlossen, uns heute zur Hochzeit anzumelden. Wäre es möglich, dass ihr inzwischen auf Benjamin aufpasst?“

Klaus rief dazwischen. „Ernst hat eine private DNA-Probe gerechtfertigt, da wird es ihm auch gelingen, zu erklären, was der Junge hier macht. Friedrich, bevor du die Tochter meiner Chefin lebenslänglich einsperrst, musst du mir helfen. Ich brauche einen Schachspieler. Kannst du die Stellung der Schachfiguren auf diesem schrecklich unscharfen Foto erkennen? Mich interessiert vor allem, ob die aus einer Benoni-Eröffnung kommen könnte, weil Christian so auf dieses Buch fixiert ist.“

Friedrich betrachtete das Bild. „Das war das Hotelzimmer meines Vaters? Es ist ein eigenartiges Gefühl, das so zu sehen.“ Er nahm ein Blatt Papier, zeichnete ein Schachbrett, übertrug die eindeutig sichtbaren Figuren und setzte die Restlichen mit seinem Schachwissen ein. „Ja, das ist eindeutig eine Benoni-Stellung. Ich habe mir in der Nacht noch alle Partien angeschaut, die ich von meinem Vater in den Datenbanken finden konnte. Er hat nie Benoni gespielt. Es ist seltsam, dass er mit einem so exotischen Buch in das Thema eingestiegen ist.“

Nyoko hatte sich in der Zwischenzeit eine Jacke angezogen. „Christian, ich nehme an, du willst mit deinen weltweiten Freunden telefonieren, um ein Exemplar dieses Buches aufzutreiben. Langsam werde ich auch neugierig darauf. Kannst du das mit einem Kind auf dem Schoß machen?“

Er nickte nur und beschäftigte sich weiter mit dem Buben. Nyoko lächelte zufrieden. „Ich fahre jetzt in die Rudolfstiftung zu Schwester Olivia Pasch, die in der Nacht Dienst mit der Entdeckerin von Friedrich hatte.“

Im Krankenhaus stellte Nyoko fest, dass Paul eine gute Animation erstellt hatte. Sie fand sich im Keller zurecht, als ob sie schon einmal hier gewesen wäre, und sah vor sich, wie sich die Menschen zum Zeitpunkt der Kindesweglegung bewegt hatten.

Olivia Pasch zeigte ihr das Wäschelager. „Hier ist Friedrich gut gebettet in einem Wäschewagen gelegen. Das Kind hatte Glück, dass Stephanie in der Nacht heruntergekommen ist. Gegen 23 Uhr ist der sonst sehr gewissenhaften Kollegin plötzlich eingefallen, dass sie das Wäscheholen in ihrem letzten Dienst vergessen hatte. Ihr Engagement für die Flüchtlinge hat sie wahrscheinlich zu sehr abgelenkt.“

Nyoko wurde hellhörig. „Sie war karitativ tätig?“

„Immer! In jenen Tagen ist die deutsch-deutsche Flüchtlingswelle durch Österreich gezogen. Stephanie war bei sozialen Aktionen stets mit Begeisterung dabei. Man hat sogar gemunkelt, dass sie einigen geholfen hat, die aus Angst vor der Stasi untergetaucht sind. Einige haben die lebenslange Furcht vor dem totalen Überwachungsstaat nicht an der Grenze ablegen können.“

Nun wusste Nyoko, dass sie auf einer wichtigen Spur war. „Dann war der Mauerfall sicher eine Sensation für Frau Kleindienst. Die Ereignisse haben sich während ihres Dienstes überschlagen. War sie da nicht sehr abgelenkt? In den Krankenzimmern gibt es Fernseher und ich denke, dass alle nur eines verfolgt haben.“

„Ja … sie hat … ähm … also …“, stotterte Pasch.

„Sie ist nicht um 20 Uhr zum Dienst gekommen, oder?“, fragte Nyoko vorsichtig.

Pasch dachte kurz nach.

Nyoko war zufrieden. „Es geht hier nicht darum, ob sie mit ihrer Aussage damals eine Kollegin vor Schwierigkeiten bewahren wollten. Wir haben die Identität der Eltern bereits herausgefunden. Der Vater ist ermordet worden, die Mutter spurlos verschwunden, beide stammten aus der DDR. Kurz darauf hat man auch Stephanie Kleindienst erschossen, die DDR-Flüchtlingen geholfen hatte. Wahrscheinlich hängt das alles zusammen. Es gibt auch Hinweise auf mehrere Morde ein paar Jahre später. Die Täter treiben noch immer ihr Unwesen.“

„Aber … Stephanie ist doch bei einem Banküberfall getötet worden.“

„Der war vermutlich inszeniert, um das wahre Motiv für ihre Tötung zu verschleiern. Das sind eiskalte Profis, die wir stoppen müssen. Daher brauche ich Ihre ehrliche Aussage. Wann hat Frau Kleindienst tatsächlich ihren Dienst angetreten? Diese Information bleibt rein informell, ohne Protokoll.“

„Na gut, sie war zu spät. Als sie gekommen ist, hat sie sich sofort an die Bettwäsche erinnert und ist ins Lager gegangen.“

„Danke für Ihre Offenheit. Sie hat also wahrscheinlich das Kind abgelegt und danach ihren Dienst begonnen, um es sofort zu finden. Das hilft uns sehr weiter. Kennen Sie jemanden, der Frau Kleindienst bei ihrem sozialen Engagement geholfen hat?“

„Nein, sie hat diese Dinge immer strikt von der Arbeit getrennt. Niemand von uns hatte privat Kontakt zu ihr.“

Christian beherrschte 25 Sprachen und telefonierte oft mit seinen Freunden in zahlreichen Ländern. Bei seinen Weltreisen besuchte er gerne Polizeistationen und unterhielt daher ein größeres Kollegennetzwerk als Interpol. Das hatte bei internationalen Ermittlungen schon manchen Amtsweg abgekürzt. Diesmal suchte er keinen Verbrecher, sondern ein Schachbuch. Das Original stammte aus Israel und es war in Iwrit, dem modernen Hebräisch, geschrieben. Eine Mitarbeiterin des Verlages in Tel Aviv erzählte ihm, dass längst alle Exemplare eingestampft worden waren. Der Autor war vor einigen Jahren bei einem Unfall gestorben. Es gab aber auch eine deutsche Übersetzung. Christian versuchte mehrmals, den Verlag in Hamburg zu erreichen, allerdings ohne Erfolg. Er rätselte, ob das Personal des Buchhauses womöglich nur aus einem Anrufbeantworter bestand. Seine Ungeduld wurde von Benjamin abgelenkt, der gegen das Telefon um Aufmerksamkeit kämpfte. Nach den Verlagen rief Christian Freunde an. Er hoffte, dass irgendwo in der Diaspora ein Exemplar des hebräischen Buches aufzufinden war. Benjamin verfolgte den Klang von Christians linguistischem Talent und lachte bei jeder neuen Sprache. Melodisches Französisch, temperamentvolles Italienisch, brummendes Russisch. Der Bub bemerkte nicht, dass Christian arbeitete. Der Keystone Cop glitt tatsächlich manchmal ins Privatvergnügen ab. Ein Anruf in Namibia war wohl keine fokussierte Strategie für die Suche nach einem hebräischen Schachbuch. Aber Benjamin hatte großen Spaß mit den Versuchen, die Klick-Laute des Khoekhoegowab zu imitieren. Christian wollte gerade von seiner Aufgabe noch weiter abschweifen und einen Inuit anrufen, um Benjamin die eskimoaleutische Sprache näherzubringen, als sein Telefon läutete und eine Nummer aus Hamburg anzeigte. Es meldete sich eine Mitarbeiterin des Verlages, in dem die deutsche Übersetzung erschienen war. Christian stellte sich vor. Die Frau lachte etwas verwundert. „Ein Anruf der österreichischen Kriminalpolizei ist bei uns etwas sehr Exotisches. Wie kann ich Ihnen helfen?“

„Ich bin auf der Suche nach dem Schachbuch ‚Benoni – Schlachten auf dem Damenflügel‘, das in den Achtzigerjahren in Ihrem Verlag erschien. Besitzen Sie eventuell noch ein Exemplar, das Sie mir schicken könnten?“

Sie lachte. „Das haben wir schon vor langer Zeit makuliert. Es war einer der größten Flops unseres Hauses.“

„Das ist schade. Sie scheinen sich sehr lebhaft daran zu erinnern. War es so ein spektakulärer Ladenhüter?“

„Nein, das Bemerkenswerteste an diesem Buch waren die Diskussionen mit den ostdeutschen Behörden.“

Christian fühlte sich wie nach der Infusion von drei Tassen Mokka. „Sie mussten sich mit der DDR plagen? Was war das Problem?“

„Sie haben uns keine Einfuhrgenehmigung erteilt.“

„Das Buch war in der DDR verboten?“

„Nicht direkt verboten, aber auch nicht erlaubt. Sie haben unseren Antrag ewig liegen gelassen. Als wir nachfragten, mussten wir ein neues Formular ausfüllen. Das kam zurück mit einer langen Liste von Ergänzungsforderungen. Als wir die beisammenhatten, wurden wir an ein anderes Amt verwiesen. Das war aber auch nicht zuständig und wir landeten wieder beim Ersten, das wieder monatelang nicht reagierte. In der Zwischenzeit haben wir festgestellt, dass sich sowieso niemand für das Buch interessierte und die Bemühungen aufgegeben. Man kann Bürokratie sehr effizient einsetzen, um etwas zu verhindern. Aber können Sie mir sagen, was in diesem Buch damals die Behörden der DDR störte und jetzt jene aus Österreich interessiert?“

„Ich verspreche Ihnen, mich zu melden, wenn ich es weiß. Könnten Sie bitte noch einmal nachschauen, ob nicht doch ein Exemplar in Ihrem Keller verstaubt?“

Während sich Christian verabschiedete, kam Nyoko aus dem Krankenhaus Rudolfstiftung zurück und nahm Christian den Buben ab. „Hallo! Das muss ein interessantes Telefonat gewesen sein. Du siehst aus wie eine Eule, die zum ersten Mal ein Flugzeug sieht.“

„Und das ist gleich ein Jumbojet. Eine Verlagsmitarbeiterin aus Hamburg erzählte mir eben, dass die DDR-Behörden dem Benoni-Buch die Einfuhr verweigerten. Warum verbietet ein Staat ein Schachbuch?“

„Du wirst mit deiner hartnäckigen Vorliebe für Skurriles doch nicht schon wieder die richtige Nase bewiesen haben?“

Nyoko wurde von Christians Telefon unterbrochen. Er wechselte ein paar Sätze mit dem Anrufer und schrieb sich eine Adresse auf. „Ich komme sofort. Bis gleich!“

Christian holte seine Waffe aus dem Schrank und hängte sich das Schulterholster um. Während er sein Leinensakko anzog, berichtete er Nyoko. „August Unterberger vom LKA hat mich angerufen und um Assistenz gebeten.“

„Worum geht es? Kinder oder Exoten?“

„Beides. Ein afrikanisches Ehepaar wurde in der Herbeckstraße ermordet. Das vierjährige Kind klammert sich jetzt an seine tote Mutter und lässt sich nicht von ihr trennen. Wahrscheinlich musste der Junge den Mord an seinen Eltern mitansehen.“

„Du liebe Güte! Der Multilinguist und Spezialist für Kinderbefragungen in Personalunion. Man könnte fast glauben, der Mörder will unbedingt dich als Ermittler.“

„Na klar! Die Stasi fand heraus, dass ich das Schachbuch suche, und lockt mich zu einem afrikanischen Tatort. Wenn jetzt auch noch ein J’arrive-Transparent auf dem Haus hängt, schalte ich die Staatspolizei ein.“

Während Christian in den 19. Bezirk fuhr, herrschte in der Lustoase ungewöhnlicher Hochbetrieb für diese Tageszeit. Auf dem Boden lagen viele Kabel und einige Kameras waren aufgestellt. Scheinwerfer sorgten für grelle Beleuchtung. Komparsinnen bemühten sich, nuttig auszusehen. Ein bekannter TV-Schauspieler stritt mit dem Regisseur. Der Chef des Etablissements, trotz seiner Größe von 162 Zentimetern als „Der große Karl“ bekannt, sah einen unerwarteten Besucher kommen. „Johann Sturmaier! Das ist eine nette Abwechslung zu dem Trubel hier.“

„Servus Karl! Hast du dein Lokal wieder einmal für einen Filmdreh vermietet?“

„Die machen einen Fernsehkrimi. Es geht um einen Polizisten, der Unterweltkontakte in einem Puff pflegt, und jetzt kommst du. Stell dir vor, die haben mir gesagt, dass meine Einrichtung nicht authentisch wirkt. So ein Fernsehküken, dessen Mutter schon bei mir gearbeitet haben könnte, will mir erklären, wie ein Bordell auszusehen hat. Ich stelle ihn dir vor. Er meint sicher, dass du nicht wie ein echter Polizist ausschaust.“

„Dafür fehlt mir die Zeit“, murrte Johann. „Ich muss etwas Wichtiges mit dir besprechen.“

„Ich habe dir doch schon oft gesagt, dass ich nicht schuld bin, wenn meine Gäste außerhalb meiner Räume etwas anstellen. Das ist ein Ort der Liebe.“

„Warum drehen sie dann hier immer nur Krimis und keine Romantik-Schmonzetten? Inzwischen wird jeder zweite heimische Fernsehkrimi bei dir gedreht. Heute suche ich bei dir ausnahmsweise keine Täter, sondern Opfer. Mir ist aufgefallen, dass bei deinen Gästen die Anzahl der Finger leicht unter dem Durchschnitt liegt. Wie kommt es dazu?“

Karl versuchte, eine Weinflasche zu öffnen. Er rutschte mit dem Korkenzieher ab und schlug sich eine Wunde in den linken Handrücken.

„Autsch! Verdammt! Was gehen mich die Verletzungen meiner Kunden an? Du solltest … lass es lieber.“

„Warum bist du so nervös? Das schaut ja schlimm aus. Brauchst du ein Pflaster?“

„Nein, danke. Das geht schon.“

„Also? Was ist nun mit den Fingern? Sind das Betriebsunfälle aufgrund der gefährlichen Berufe deiner Gäste? Gibst du Invaliden Rabatt? Warum?“

Karl blickte nervös um sich und sprach leise weiter. „Glaube mir, es hat keinen Sinn sich darüber Gedanken zu machen. Lass es einfach gut sein.“

„Hast du eigentlich den Kerl gekannt, der vor zwanzig Jahren die Frau von Ernst Stockhammer ermordet hat? Er ist ein paar Tage später selbst umgebracht worden. Man hat ihm drei Finger abgeschnitten.“

„Was willst du mit den alten Geschichten? Damals haben viele gedacht, dass das ein Polizist getan hat.“

„Du erinnerst dich also an ihn. Waren es dieselben Leute, die auch heute noch deine Gäste verunstalten? Du solltest mir helfen, die auszuschalten.“

„Nein, vergiss es! Da ist sicher kein Zusammenhang. Ich habe jetzt keine Zeit, die Filmleute brauchen mich.“

Vor dem Haus in der Herbeckstraße versuchte August Unterberger erfolglos, sein Hemd rundherum in die Hose zu stecken. Als er Christian sah, ging er ihm entgegen.

„Servus Christian! Danke, dass du sofort gekommen bist. Wir können nichts unternehmen. Der Bub hängt an seiner toten Mutter und schreit, sobald sich ihm jemand nähert. Niemand kann ihn von seinen Eltern trennen. Auch die Winkler vom Jugendamt ist hilflos.“

„Conny ist auch da? Sehr gut, mit ihr kann man vernünftig arbeiten. Was weißt du über die Familie?“

Unterberger nahm seinen Notizblock aus der Manteltasche. „Der Vater war Assistenzprofessor Doktor Nguvumali Suluhu, Arzt für Innere Medizin im Allgemeinen Krankenhaus, seine Frau Universitätsassistentin Doktor Diplom-Ingenieur Laryana Suluhu hat am Institut für Lebensmitteltechnologie der Universität für Bodenkultur gearbeitet.“

Christian sah eine junge Frau auf sich zukommen, deren bunte Kleidung und die knallrote Rasta-Frisur Farbe in den grauen Herbsttag brachten.

„Hey, bist du der Babysitter vom BKA?“, rief sie zu Christian. „Kannst du dich endlich um den Buben kümmern und nicht mit dem Alten plaudern?“

„Was haben wir denn da für ein erfrischendes Nachwuchsexemplar?“, fragte Christian lächelnd.

Unterberger stöhnte. „Darf ich dir Edith Brell vorstellen? Sie hat mich in den paar Monaten bei meiner Gruppe mehr Haare gekostet als alle anderen Kollegen in meinem gesamten Berufsleben. Edi, das ist Christian Humer.“

Christian reichte ihr die Hand. „Es freut mich, dich kennenzulernen.“

„Das freut mich auch, wenn du dich bald um das Kind kümmerst. Wir wollen arbeiten.“

„Bist du mit dem Staatsanwalt verwandt?“

„Was für eine Plaudertasche! Das Alt-Wiener Fossil ist mein Vater. Können wir?“

„Das wird das Beste sein, bevor hier jemand explodiert. Die jungen Leute sind so fleißig heutzutage.“

Christian drehte sich zum Hauseingang, Unterberger hielt ihn zurück. „Du solltest noch wissen, dass wir es hier mit dem Drogenmilieu zu tun haben.“

Edi machte eine verächtliche Handbewegung. „Vergiss den Blödsinn! Ihr tragt die Polizeiausweise, damit ich euch nicht mit den Leichen verwechsle. Das Kokain war in der Klospülung, so etwas gibt es nur im Fernsehen. Es war frisch angebracht und schon feucht. Die Wohnungseinrichtung entspricht einer Akademikerfamilie ohne illegalem Zusatzeinkommen. Das Koks ist vom Mörder gelegt worden.“

Christian nickte zustimmend. „August, das klingt schlüssig. Jetzt gehen wir aber wirklich. Edi, komm mit! Ich werde deine Hilfe brauchen.“

In der Wohnung wurden sie von Cornelia Winkler empfangen. Sie küsste Christian rechts und links. „Hallo! Die Umstände sind immer so unerfreulich, wenn wir uns sehen.“

„Servus, Conny! Das ist das Schicksal, wenn Jugendamt und Polizei zusammenkommen. Komm mal zum Essen zu uns.“ Er hörte einen lauten Seufzer hinter sich. „Ich wurde schon für meine Plauderei gerügt. Was kannst du mir über den Buben erzählen?“

„Sein Name ist Kito. Ich fürchte, dass er schwer traumatisiert ist, denn er lässt sich kaum von seinen Eltern trennen. Professor Jacobs steht daneben und kann die Leichen nicht untersuchen. Wie wirst du es diesmal anlegen? Bauchreden mit einem Stofftier, Zaubern, oder gibt es etwas Neues?“

Christian dachte kurz nach und deutete dann zu Edi. „Diesmal mache ich die Kollegin zum Kuscheltier. Das erfordert mehr Zauberei als nur einen Trick. Darf ich das Zimmer des Jungen sehen?“

Conny zeigte ihm den Raum. Grüntöne dominierten. Christian sah Bausteine, die zu einem kleinen Häuschen aufgerichtet waren. Der Bub schien außerordentliches Talent für einen Vierjährigen zu haben. Außerdem liebte er es strukturiert.

„Edi, ich gebe dir jetzt die schwierigste Aufgabe deines Lebens. Der Bub muss mich als Autorität wahrnehmen. Sei bitte schön unterwürfig.“

„Das hättest du wohl gerne“, schnaubte sie.

Er nahm sie zur Seite, legte einen Arm um sie und flüsterte ihr in verschwörerischem Ton zu. „Ich erkläre es dir. Hier befinden sich fast nur Leute, die nicht übermäßig souverän wirken. Der Bub hat sicher schon bemerkt, dass du die dominante Figur auf dem Feld bist. Du musst das auf mich übertragen oder dich selbst um ihn kümmern. Das kann bei einem traumatisierten Kind Wochen dauern. Wenn wir fertig sind, darfst du mir ein ganzes Schimpfwörterlexikon an den Kopf werfen.“

Edi holte kurz Luft, um zu kontern. Christian sah sie bittend an. Sie zuckte mit den Schultern und zeigte Richtung Wohnzimmer. Die beiden gingen hinein. Christian sah ein afrikanisches Paar mit Schusswunden auf dem Boden liegen. Der Bub klammerte sich an den Körper der Mutter und weinte. Christians Blick schweifte durch den Raum und blieb beim Bücherregal hängen. Die Suluhus pflegten ein Hobby, das im Mittelpunkt seines anderen Falles stand. „Edi, habt ihr die Schachbücher schon untersucht?“

„Tut mir leid, Herr Humer! Dazu sind wir noch nicht gekommen.“

August Unterberger erblasste vor Neid, als er sah, wie brav Edi bei dem Keystone Cop war. Christian widmete Edi einen strengen Blick. „Könnt ihr das bitte schnell erledigen? Das ist wichtig.“

„Machen wir sofort, Herr Humer.“ Edi verbeugte sich beinahe vor Christian. „Wir haben einen Mitgliedsausweis des Schachvereins SK Steinitz gefunden. Ist das von Bedeutung?“

Das war der Schachklub von Friedrich. Christian fühlte sich wie in einem Netz gefangen. Alle Fäden hingen irgendwie zusammen. „Das ist enorm wichtig! Sehr gute Arbeit!“

Nun wandte er sich dem Buben zu, sagte ihm ein paar Worte auf Swahili. Kito schaute auf. Christian redete weiter. Seine Stimme war jetzt ganz sanft. Er näherte sich dem Buben, streckte ihm die Hand entgegen. Kito ergriff sie. Er klammerte sich um Christians Hals und weinte.

Christian ging mit ihm zu Conny. „Wenn ihr einverstanden seid, nehme ich ihn mit nach Hause. Bis ich ihn befragen kann, wird das etwas dauern. Zuerst braucht er ein neues stabiles Umfeld. Bitte packe ein paar Sachen für ihn ein, vor allem etwas Grünes und auch Bausteine. August, ich komme morgen zu euch. Dieser Fall könnte mit unserer aktuellen Geschichte zusammenhängen.“

Mittwoch, 15. November 2017

Nyoko, Christian, Misaki, Sayo und Friedrich saßen am Frühstückstisch. Kito spielte auf dem Boden mit Benjamin. Friedrich beobachtete den Buben. „Mein Vater wurde ermordet, seiner auch. Wir haben die beiden Ingo und Lara genannt, weil die afrikanischen Namen so kompliziert sind. Ich kann es nicht glauben, dass sie tot sind. Er war ein netter Mann und ein guter Spieler, nur etwas zaghaft im Spielaufbau. Mit Drogen hatte er sicher nichts zu tun. Glaubt ihr wirklich, dass ich das mit der Frage nach meiner Herkunft losgetreten habe? War es das wert?“

Nyoko nahm den letzten Schluck ihres Matcha-Tees. „Wir entdecken laufend seltsame Dinge, die auf mysteriöse Art zusammenhängen könnten. Nicht du bist dafür verantwortlich, sondern die Mörder. Das ist unser Stichwort. Christian, wir müssen gehen! Mama, Sayo, ist das wirklich kein Problem, wenn ihr auf Kito aufpasst? Er hat sich schon an euch gewöhnt.“

Misaki lächelte, während Nyoko sich Schuhe aus der größten Turnschuhsammlung Wiens aussuchte, an diesem Tag ein grünes Paar. „Natürlich machen wir das. Er spielt so lieb mit Benjamin.“

Als Christian sich von Kito verabschiedete, begann der Bub zu weinen. Benjamin krabbelte zu ihm und hielt ihm einen Baustein entgegen. Kito hörte auf zu weinen, baute einen kleinen Turm, den Benjamin umstieß.

Christian besuchte die Gruppe von August Unterberger. Die Kollegen besprachen gerade den Suluhu-Fall. Der Keystone Cop setzte sich dazu und sprach noch einmal die Theorie an, dass dieser Mord mit dem Pottersfeld-Fall zusammenhängen könnte.

Unterberger raufte sich die Haare. „Weil der Ermordete im selben Schachklub wie dein Schwiegersohn war, soll dieses Verbrechen mit jenem an seinem Vater vor 28 Jahren zusammenhängen? Ist das nicht etwas weit hergeholt?“

Edi schüttelte den Kopf. „Das ist zwar idiotisch, aber nicht so schwachsinnig wie der Zusammenhang mit den Drogen. Immerhin sind da auch noch die seltsamen Spuren.“

Christian horchte auf. „Gibt es weitere ungewöhnliche Dinge?“

„Die Spurensicherer haben Haare auf den Toten gefunden, die der Täter offensichtlich deponiert hatte“, erklärte Edi. Sie sind nicht afrikanisch. Ein paar sind grau, andere gefärbt. Außerdem sind da noch die Projektile.“

„Was ist mit den Kugeln?“

„Sie wurden selbst gegossen, obwohl sie wahrscheinlich von einer handelsüblichen Waffe abgefeuert worden sind.“

„Wir reden nicht zufällig von einer Heckler & Koch MP5?“, wagte Christian einen Schuss ins Blaue.

Unterberger blätterte in den Unterlagen. „Wieso weißt du das schon wieder? Die MP5 ist im Bericht als eine der möglichen Waffen aufgeführt.“

„Die Krankenschwester, die Friedrich gefunden hat, ist auch mit einer MP5 ermordet worden, ebenso die Frau von Ernst Stockhammer.“

„Du willst jetzt aber nicht einen Zusammenhang aller Morde mit dieser Waffe in den letzten 30 Jahren herstellen, oder? Das Kokain war 20.000 Euro wert. Für eine falsche Fährte? Was sagt uns das?“

Nun mischte sich Edi wieder ein. „Wir suchen einen reichen Mörder.“

Christian gab ihr einen Stoß. „Da hat jemand im Profiling-Unterricht gut aufgepasst. Seit uns Friedrich gebeten hat, seine Herkunft zu ermitteln, tauchen ständig neue seltsame Geschichten aus der Vergangenheit auf. Es ist, als ob geheime Anziehungskräfte wirkten, die das Geflecht zusammenhalten.“

Edi schlug sich die Hand auf die Stirn. „Was ist denn das für eine durchgeknallte Ansage? Kommen eigentlich alle Mystiker der Polizei zum BKA? August, sollen wir jetzt Räucherstäbchen anzünden?“

Unterberger warf einen verzweifelten Blick zur Decke. „Liebe Edi, der Kollege ist Physiker und hat einmal am CERN gearbeitet, bevor ihn unergründliche Wege zur Polizei gebracht haben. Mit seltsamen Kräften kennt er sich aus.“

Christian mochte es gar nicht, davon zu sprechen. Es erinnerte ihn zu sehr an die geistige Erkrankung seines Vaters. „Es ist wie ein Schachspiel. Jede Figur hat Einfluss auf alle anderen, die eigenen und jene des Gegners. Selbst ein geschlagener Spielstein wirkt durch seine Abwesenheit auf das ganze Feld. Das ist natürlich zu fantastisch, um die gesamte Ermittlung darauf aufzubauen, aber wir sollten zusammenarbeiten. Haltet uns bitte auf dem Laufenden, vor allem wenn ihr neue Zusammenhänge mit Schach, der DDR oder abgetrennten Körperteilen findet. Wir berichten euch, falls uns der Pottersfeld-Fall in eure Richtung führt. Kito wohnt vorerst bei uns. Ich teile es euch natürlich sofort mit, wenn er etwas über die Morde sagt.“

Unterberger nickte. „Ich schlage vor, dass wir Edi als Verbindungsglied einsetzen. Sie könnte in beiden Gruppen mitarbeiten und so deine geheimen Kräfte schnell erkennen. Es wäre auch eine Chance für eine junge Kollegin, zu sehen, wie die Keystone Cops ermitteln.“

Edis Freude hielt sich in Grenzen. „Du liebe Güte, jetzt soll ich neben den Schlaftabletten auch noch bei den Halluzinogenen arbeiten.“

Christian stimmte zu. Nach der Besprechung unterhielt er sich noch allein mit August Unterberger. „Gib es zu, du willst ein paar Stunden Ruhe von der Nervensäge haben.“

„Wäre das schlimm?“

„Ich verstehe dich. Sie ist etwas forsch im Umgangston, scheint aber talentiert zu sein. Bei uns ist Johann für die Einführung neuer Kollegen zuständig. Mit feurigen Temperamenten kennt er sich aus, er hat das sogar bei Nyoko hinbekommen. Edi und Nyoko, das wird ein Spaß. Wir werden Wasserwerfer brauchen.“

Donnerstag, 16. November 2017

Wenn Staatsanwalt Gilbert Brell einen Raum betrat, bekamen die Anwesenden das Gefühl, sich auf einer Zeitreise zu befinden. Der Mann trug seinen buschigen Bart wie Kaiser Franz Josef am Kinn rasiert und kleidete sich stets in einer Wiener Tracht. Er begrüßte Nyoko mit einem Handkuss. „Guten Tag, meine Damen und Herren! Edith? Was machst du denn hier?“

„Hallo Papa! Ich helfe den Kollegen, ein Rätsel zu lösen, das fast so alt ist wie dein Look. Es gibt geheime Anziehungskräfte zu einem Fall von unserer Gruppe, die man nur versteht, wenn man einmal beim CERN gearbeitet hat. Daher laufen wir im Kreis wie dort die Elementarteilchen, und Nyoko versucht, uns auf dieselbe Geschwindigkeit zu beschleunigen.“

„Es ist eine große Ehre, mit diesen erfahrenen Kollegen zusammenzuarbeiten. Ich bin sehr stolz. Versprich mir, dass du dich gut benimmst.“

„Gott, Gütiger! Ich bin 28!“

Brell wandte sich zu Nyoko. „Frau Leutnant, ich habe gehört, dass Sie den Mörder von Herrn Pottersfeld mit einem Schachbuch suchen. Gibt es schon einen Bericht zu diesem Vorgang?“

„Wir konzentrieren uns nicht nur auf das Buch. Es gibt mehrere Fälle, die zusammenhängen könnten. Wenn das stimmt, ergibt die Kombination sicher neue Erkenntnisse. Christian schreibt gerne einen Vorhabensbericht.“

„Herzlichen Dank! Bitte schicken Sie ihn auf Papier. Meine Sekretärin mokiert sich immer, wenn sie alles ausdrucken muss.“

„Selbstverständlich. Bitte nehmen Sie Platz! Sie sind jederzeit ein gern gesehener Gast bei unseren Besprechungen. Leute, wir müssen mehr über Pottersfeld erfahren! Vorschläge!“

Johann meldete sich als Erster. „Ich kann etwas einbringen, das sonst Christians Spezialität ist, nämlich einen Kontakt im Ausland. Ich habe mich beim Polizeimusikfest mit dem Kapellmeister aus Pottersfelds Wohnort Leipzig angefreundet.“

„Sehr gut! Du fährst mit Christian auf eine Dienstreise. Ihr werdet auch das Stasi-Archiv in Berlin besuchen.“

Edi griff sich an den Kopf. „Wenn das so weitergeht, werden wir bald auf dem Mond ermitteln.“

Nyoko schlug mit der Faust auf den Tisch. „Edi! Ich dulde hier nur sachdienliche Witze! Das Teenie-Gemaule bringt uns nicht weiter!“

„Du musst mich nicht gleich anpflaumen!“ Edi lehnte sich zurück und verschränkte die Arme.

Staatsanwalt Brell schämte sich für seine Tochter und versuchte, vom Streit abzulenken. „Wie geht es dem afrikanischen Jungen?“

Nyoko entspannte sich. „Er gewöhnt sich an unsere Familie, aber er ist noch immer sehr still und beschäftigt sich mit seinen Bausteinen. In der Nacht hat er oft geweint.“

„Das arme Kind. Ich sitze im Rat eines Kinderheimes und kann einen Platz für ihn organisieren. Es ist eine schöne Einrichtung und die Angestellten sind sehr engagiert. Eine solide christliche Erziehung würde dem Kind sicher guttun.“

„Das ist ein nettes Angebot, aber er beginnt sich gerade wohlzufühlen. Wir wollen ihn nicht schon wieder aus seiner Umgebung reißen.“

„Da haben Sie wohl recht. Herr Abteilungsinspektor Humer, ich habe gehört, dass Sie das Kartenspiel pflegen. Ein Mitglied meiner Tarock-Runde ist leider erkrankt. Würden Sie uns die Ehre erweisen und einspringen?“

„Papa, Christian ist Zauberkünstler. Du darfst dich nicht wundern, wenn er statt der Karten plötzlich Schachfiguren in der Hand hält.“

Am späten Nachmittag traf neuer Besuch bei den Keystone Cops ein. Johann sah mit erstauntem Gesicht seine sechzehnjährige Tochter an. „Hast du schon wieder eine neue Frisur? Kaum wachsen an der einen Stelle die Haare nach, scherst du eine andere. Du rasierst dich inzwischen öfter als ich.“

Johanna, allgemein Jo genannt, drehte sich einmal wie ein Model. „Spiel nicht den Spießer. Ich weiß genau, dass du lockerer bist.“

Ihre Freundin Elisabeth „El“ Eselsböck war etwas beständiger. Sie trug schon seit Monaten den gleichen Irokesen.

Nyoko kam von einer Abteilungsleiter-Besprechung zurück und freute sich nach der langweiligen Sitzung über die etwas lebendigeren Gesprächspartner. „Hallo, ihr beiden! Wollt ihr meinen Stellvertreter entführen?“

„Wir fahren in ein Musikgeschäft, um neue Saiten zu kaufen.“

„Habt ihr wieder einmal zu wild gespielt?“

„Nein. ‚Jo-El‘ ist Geschichte. In der Punk-Musik haben wir alle Akkorde durch. Die Strings sind für meine Geige und Els Cello. Wir gründen ein Streichquartett, in dem uns kein Erwachsener reinreden darf. Als Erstes machen wir ein Beethoven-Programm.“

„Das ist aber keine typische Jugendmusik“, staunte Nyoko.

Jo verdrehte die Augen. „Ich habe ein etwas entspannteres Verhältnis zum alten Ludwig. Alle Menschen hören von Kindheit an, was er für ein Genie war. Ich habe von ihm zuerst erfahren, dass er gerne Wein getrunken hat. So ist er schon cooler.“

Edi wunderte sich. „Wieso beschäftigt sich ein Kind mit Beethovens Saufgelagen?“

„Wir sind eine uralte Weinbaufamilie und angeblich hat Ludwig van Beethoven einmal unseren Heurigen besucht. Es gibt heute noch eine Plakette auf dem Platz, wo er gesessen sein soll. Aber seit der Betrieb geschlossen ist und wir den Klassiker nicht mehr zur Vermarktung brauchen, glaubt keiner mehr dran.“

Freitag, 17. November 2017

Der Steinitzsteg führt im Norden Wiens von der Brigittenau über die Donau nach Floridsdorf. Ursprünglich als Ausweichroute für die Generalsanierung der benachbarten Nordbrücke errichtet, dient die knallgelbe Brücke mit den kräftig blauen Geländern seither als Geh- und Radweg.

Heinrich und Fidelio standen auf dem Übergang und blickten die Donau entlang Richtung Süden. Kalter Wind blies ihnen ins Gesicht.

Heinrich stützte seine Arme auf das Geländer. „Die Keystone Cops sind weiter als befürchtet. Sie suchen sogar das Buch. Nächste Woche fahren sie nach Leipzig und Berlin.“

„Das macht mir keine Sorgen. Damals sind alle Unterlagen über uns vernichtet worden“, antwortete Fidelio siegessicher.

„Du weißt doch, wie groß das Archiv war. Hoffentlich ist wirklich alles weg. Das Ablenkungsmanöver mit den Afrikanern hat auch nicht funktioniert. Der Fall bleibt beim Landeskriminalamt.“

„Es ist Zeit, dass wir sie noch intensiver beschäftigen. Die Reise nach Deutschland wird ein Trip in die Hölle werden. Ich möchte den Plan mit der Bombe ändern. Wenn uns die Keystone Cops einkreisen, bringen wir das Ding nicht mehr nach Brüssel. Ich habe eine nette Idee.“ Fidelio holte eine alte Zeitung aus der Tasche und zeigte Heinrich einen Artikel. Auf dem Foto waren mehrere Polizisten zu sehen, unter ihnen Christian.

Heinrich schüttelte den Kopf. „Wir dürfen unser Ziel nicht aus den Augen verlieren. Die maximale öffentliche Wirkung muss sichergestellt werden, immerhin wollen wir etwas bewegen.“

„Du hast mich noch nicht verstanden. Wien ist eine UNO-Stadt. Schau dir die Karte an.“ Fidelio begann, den Donauwalzer zu summen. „Aber das Schönste dabei ist: Sie wird vor den Augen der Keystone Cops hochgehen.“

Benoni

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