Читать книгу Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen & Dramen - Hermann Stehr - Страница 66
Viertes Kapitel
ОглавлениеDabei blieb es denn auch monatelang, es mag sein, vielleicht bis gegen das Jahr hin. Andreas bewegte sich, Hand in Hand, in zärtlicher Liebe mit seiner Frau durch die Tage und trug, ohne es zu verleugnen, aber auch ohne es hervorzukehren, geheim jene Friedlosigkeit in sich, die jede enttäuschende Erfüllung unserer Seele als Erbteil zurückläßt, auch wenn wir sie überwunden haben. Er war zu klug, zu wenig in seiner Tiefe von der dumpfen Enge des bäuerlichen Wesens befangen, als daß er für immer die gekränkte Eitelkeit, die Vaterschaft eines Mädchens und nicht die eines Knaben erhalten zu haben, als den Grund der Beklommenheit und Unruhe eindeutig in sich geduldet hätte. Und doch kam er zu seinem Kinde, dem nach dem Willen der Mutter der Name Helene gegeben worden war, in kein anderes Verhältnis als das erzwungener, unbeholfener Spielerei, belangloser Zärtlichkeit und oberflächlicher Liebkosungen. Er befand sich wohl in der Lage eines Menschen, der in den Stürmen eines wilden, langen Winters sich nach der vollen Erlösung seiner gebundenen Kräfte sehnt und dann durch einen dürftigen Frühling um die besten Hoffnungen betrogen wird. Seine Tollheit, die ihn abermals in der Ehe überfallen hatte, fühlte er immer deutlicher nur als die Ungeduld eines Mannes, der an eine Mauer schlägt, daß sie ein breites Tor zu unbegreiflichen Seligkeiten auftue. Nun hatte es sich erschlossen und nichts als dies zarte, blonde Kind war ihm geschenkt worden, das in einer Welt schwebte, in die zu dringen es sich nicht der Mühe lohnte. Vielleicht litt er neben dieser Maßlosigkeit seines Wesens nur an der Unfähigkeit zum stillen, glückväterlichen Gefühle. Aber es ist ja vergeblich, eine Menschenseele bis auf den letzten Tropfen ausschöpfen zu wollen. Genug, das Vertrauen in die Berechtigung seiner bisherigen Lebensführung wurde so erschüttert, daß ihn auch seine Ausschweifungen langweilten, daß sein Übermut zur leeren Gewohnheit und seine bunten Spaße zur Grimasse wurden. So trieb er sich mißmutig, verdunkelt durch die Gassen seines alten Lebens; nein, auch einsam, ganz einsam; als Gefährten nur ein hohes, unbegreifliches Verlangen.
Ja einsam, denn die Liebe ist ein zu unpersönliches, ein Allgefühl, als daß es über die Stürme der Umarmungen hinaus bis in die Sanddünen unseres alltäglichen Lebens die Seele der Welteinsamkeit entreißen könnte. Kaum brennt das Feuer unseres Auges wieder schwächer, so ist das Wesen, dem unsere Liebe gilt, schon wieder in die Fremdheit seines eigenen Lebens entrückt, uns unerreichbar. Und wenn Andreas seine Frau immer draußen gesehen hatte, gleichsam über die letzten Berge seiner Welt wandernd, jetzt, seitdem sie mit dem Kinde auf dem Arm durch jene stillen Verklärungen ging, war sie ihm ferner als sonst. Da halfen die ungeteilten Gemeinsamkeiten ihrer Arbeit und Sorge nichts, alle Zärtlichkeiten waren vergebens. Wenn er seine Arme öffnete und sie freigab, entglitt sie ihm nach den Gesetzen eines unergründlichen Zaubers. Hörte er, über den Hof schreitend, Johanna mit der Kleinen kosend reden, so klang ihm die Stimme wie aus einem anderen Leben. Sah er an Abenden von der Bank aus, wo er ruhend saß, sie, das Kind im Arm wiegend, vor sich durch die Stube gehen, so hätte er die Hand heben mögen, um weiße Schleier aus der Luft zu streichen, durch die sie gleicherweise verhüllt und verschönt wurde. Dabei bemerkte er, daß sein Weib oft bis ins Schmerzen von ihrem Mutterglück erfaßt wurde. Dann mußte sie das Gesicht des Mädchens, das sie bohrend, nein beschwörend lange betrachtet hatte, endlich mit der Hand bedecken und aufschluchzend hinausgehen, als übersteige es Menschenkraft, so viel Lieblichkeit lange zu betrachten. Ja, manchmal schien es ihm gar, sein Weib entzöge ihm sein Kind. Dann schlich er sich zur Wiege, wenn Johanna das Melken im Stall beaufsichtigte oder sonstwie beschäftigt war, schickte das Kindermädchen unter einem Vorwand auch hinaus und versenkte sich in den Anblick des Kindes, um wenigstens etwas von den Wundern zu ergründen, die seine Frau so bis in die Seele ergriffen. Aber das kleine Wesen lag still und weiß in den Kissen, die Wänglein rötlich überhaucht, die Stirn von seidenen Löckchen umspielt und richtete mit einem seligen Horchen im Gesicht ihre Augen regungslos und weit offen über sich. Kaum ein Zucken ging über ihre Lider, wenn er an die Wiege trat oder sich rührte. Nichts von der Leidenschaft eines Blickes zuckte in dem Blau ihrer Sterne, über denen ein bernsteingelber Schimmer, wie der Widerschein unsichtbarer, goldblühender Büsche lag. Tief, klar und einsam waren diese Augen, bis auf den letzten Grund hell wie das Wasser ruhiger Teiche in der Heide, die nichts sind als Spiegel des Lichtes. Sobald er aber zu dem Kinde sprach, schrak es von dem Klang seiner Stimme, wie unter einem Schmerz, zusammen, schlug mit den Händchen, als wehre es ihn ab, und begann zu schreien. Dann schlich er davon und war bei seiner einsamen Arbeit bemüht, sich diese seltenen, seltsamen Augen seines Kindes vorzustellen, aber es gelang ihm nichts anderes, als zu einem Gefühl ferner, rätselhafter Ergriffenheit zu kommen.
An einem Abend trat er in den Hausflur und hörte Johannas Stimme wieder zu dem Kinde reden. Geräuschlos drückte er die Tür auf und trat in die Stube, die leer war, und das letzte Licht des Tages lag schräg und grau darin. Seine Frau stand versunken über die Wiege gebeugt. Sie fuhr immer nahe über dem Gesicht Lenchens mit der Hand durch die Luft, als necke sie das Kind mit dem Hauch der Bewegung, und rief jedesmal seinen Namen, aber nicht kosend, nicht in seliger Hingenommenheit, nein mit einer dringend schmerzvoll-ratlosen Stimme, wie man jemand lockt, der auf unerreichbar fernen Hügeln wandert. Und ein graues Umklammern, ja sogar etwas wie Furcht kamen über Andreas, daß er beklommen fragte: »Was machst du denn, Johanna?« Da schrak sein Weib herum, und er sah, daß ihr Gesicht von Tränen überströmt war. Aber sie faßte sich schnell, fuhr mit der Schürze über die Augen und antwortete hoch aufatmend, wie aus der Verschollenheit ihres Glückes auftauchend: »Ach, Andreas, ich spiel' mit dem Kinde. Es ist zu schön, zu schön!« Dann ergriff sie seine Hand und zog ihn aus der Stube zum Hofe hinaus. Dort stand sie und sprach von dem Himmel, den abendlichen Hügeln, die um sie lagen, von Hemsterhus und ihrer Heimat. Sie redete schnell, überstürzt und frierend, und er fühlte, wie sie am ganzen Leibe bebte.
Irgend etwas Geheimes, das ihn und das Kind betraf, bedrängte ihre Seele. Aber Andreas hätte sich in den Jahren der Gemeinschaft mit seinem Weibe schon so viel von der linden Art ihres Wesens erworben, daß er nach einigem vergeblichen Drängen, den Grund ihrer großen Erregung zu erfahren, abließ, den rechten Arm um ihre Schultern schlang und sie auf dem Umweg hinter den Scheuern durch den Blumengarten in die Stube zurückführte. Johanna dankte ihm für die ritterliche Zurückhaltung durch stilles, warmes Anschmiegen, und ihre Worte bekamen wieder den ruhigen Unterton. Doch an der Tür, hinter der das Kind lag, löste sie sich aus seinem Umfangen in einer Weise, die ihn bat, nicht mit einzutreten. So, als ob sie vertröstend zu ihm spräche: Laß gut sein, drückte sie ihm die Hand und glitt in die Stube, und der Sintlinger trat zurück und streifte lange in den Ställen, durch Schuppen und über Dachböden umher. Sein Denken tappte währenddessen leidenschaftlich in dem Halbdunkel, das auch um sein Inneres lag, und strengte sich an, die Geheimnisse zu begreifen, durch die Frauen von der Mutterschaft verwandelt werden. Und doch mußte er immer wieder stehenbleiben, aus diesen allgemeinen Erwägungen wie von erdichteten Ausflüchten zu sich zurückspringen und fragen: »Warum nimmt sie mich nicht mit zu ihrem Kinde? Warum?« Zuletzt sagte er das auf dem Schüttboden zu sich. Er stand neben dem großen Kornhaufen und rührte sinnend mit der Spitze seiner Stiefel darin. Dann ging er, hob die Fenster der Dachluken und band sie fest, damit der Wind über die Körner streiche; denn es herrschte eine warme, muffige Stickluft. Als er mit dieser Arbeit zu Ende gekommen war, trat er vor dem Hinuntergehen noch einmal an jene Luke, von der aus man den breiten Strom der Hügel bis weit über, Hemsterhus hinaus übersehen konnte. Aber die immer niedriger gehenden Bodenwellen lagen schon tief in den Abendschatten, daß sie wie grauschwarze, undeutlich geschiedene Wolken aussahen, die regungslos auf der Erde lagen. Am Himmel stand stumm und zerflossen, wie ihr Spiegelbild, dasselbe Gewölk. Dazwischen hing dichte, aschfarbene Dämmerung bis an den Horizont hin, wo die Finsternis der Höhe und der Tiefe zusammenstießen. Dort, aber so weit, daß es aussah, als sei das schon jenseits der Welt, bebte die letzte Tageshelle, ein winziger, mattblauer Fleck. Wie die Augen meines Kindes, dachte der junge Bauer selbstvergessen und erschrak dabei so seltsam, als sei er an allem, an der doppelten Finsternis und dem machtlosen, stumpfen Fünkchen Licht darin schuld. Da er aufsah, war auch das erloschen, und die Dunkelheit hatte sich in Nacht verwandelt.
Seit diesem Abend wagte er nicht mehr, sich allein an die Wiege seines Kindes zu schleichen, und fing das Kleine zu weinen an, nicht so reißend, wie es die Art der Kinder ist, nein, mit fast melodischem Schweben des silbernen Stimmchens, mehr ein Singen des Leides, denn ein Weinen, und die Händchen des Mädchens taumelten um das Köpfchen, so wurde das Gesicht Andreas' immer einen Ton blasser, und endlich mußte er hinausgehen. Wie oft auch fühlte Johanna in dieser Zeit mitten in der Nacht seine Hand über ihr Gesicht tasten, und wenn sie ihn fragte, was es gäbe, drehte er sich unter einem erleichterten Atemzuge wieder auf seine Traumseite und antwortete: »Ach, da ist es ja gut.« Oder sie hörte ihn aus dem Schlaf wie stürzend durchs Fenster fortspringend, die Schlösser aller Türen und die Wirbel aller Fenster untersuchen und dann unter ärgerlichem Murmeln über Störungen wieder unter die Decke kriechen. Beim Dreschen ließ er die Pferde oft so antreiben, daß die Maschine heulend das Getriebe in sich hineinfraß und das Schüttelwerk wie rasender Trommelwirbel ging. Er aber lehnte an der Tennenwand und verschlang den Lärm der wie vom Fieber geschüttelten Maschine bleichen Gesichts mit dem Glanz einer förmlichen Gier im Auge.
Man sagt, dieser Zustand des Sintlingers habe an drei Wochen gedauert, und die Leute einfacher Dörfer beobachten gut. Nach dem Besuch der Hemsterhuser Schenke hörte das eigentümliche Gehaben des jungen Bauern auf, und jenes rätselhafte Leben begann auf dem Sintlingerhofe, das das Bauerngut und seine Besitzer in so hohen Ruf brachte.
In dieser entscheidenden Nacht war Andreas von halbem Verzagen und lockender Gegenwehr wieder einmal heimlich den Hügel hinunter fortgeführt worden und saß in dem einzigen Gasthause des Dorfes unter lustiger Kumpanei. Erst sprangen fröhliche Neckereien in der Runde, man vergnügte sich über die Tölpel der Umgegend, erzählte Schwanke und löste den Riegel von mancher verborgenen Torheit, und der Sintlinger gebärdete sich ausgelassener als sonst, das Schellenwerk seiner witzigen Einfälle, treffenden Bosheiten und komischen Anekdoten stand nicht still, und neben ihm taten sich besonders zwei in sprühenden Nutzlosigkeiten hervor, der dicke Müller von Querhoven, mehr ein Faß denn ein Mann, mit einem unförmlichen Kopf und einem Fuder brandroter Haare darauf, und der Fürstlich Arenbergsche Förster, eine richtige, endlos lange Lärmstange. Und nach Stunden geriet die ganze Gesellschaft in das laute, leere Gedalber der Trunkenheit. Aber je unbesonnener die anderen ihre Stimmen immer tiefer in die Glut des Rausches neigten, desto ferner wurde Andreas, desto kühler, bleicher und schweigsamer. Der Wirt sagt, ein Glas Schnaps sei schuld gewesen. Ein Hemsterhuser Kleinbauer, ein geduldeter Mitläufer, hatte, um sich bei den Gewaltigen der Zechgenossen in Gunst zu setzen, eine Runde Wacholderbranntwein auffahren lassen, jenen wasserklaren Schnaps, der so stark ist, daß er im halben Schlund schon zu brennender Lust wird. Des Bieres überdrüssig, begrüßten alle den Einfall mit lautem Hallo, und der lange Förster erhob sich, um dem Getränk eine spaßhafte Grabrede zu halten. Während aber die anderen, die Hand am Glase, alle scherzhaften Einfälle des Trinkredners schon im voraus mit Gelächter belohnten und ungeduldig auf das Kommende paßten, die Spende hinter ihrer Zunge zu beerdigen, stierte der Sintlinger mit wachsendem Schauder auf den kleinen, blanken Spiegel des Branntweines, der, von dem Lichtdunst der Decklampe gelb überlaufen, in dem Glase lag und unter den Erschütterungen des Tisches fortwährend zitterte. Die Augen des jungen Bauern waren wie abwesend; er war stumm und rührte sich nicht. Auch als die anderen am Schluß der Ansprache aufsprangen und unter Getöse den Schnaps in den Schlund kippten, saß der Sintlinger regungslos mit vorgebeugtem Kopfe, und da man endlich spöttisch auf ihn eindrang, erhob er sich geräuschlos und sah die Runde, einen um den anderen, wortlos, mit einem solchen Ausdruck leidvollen Staunens im bleichen Gesichte an, daß alle vor Bedrücktheit verstummten. Die Zunächstsitzenden erhoben sich auf seinen Wink wie unter einem Bann. Andreas neigte grüßend den Kopf und ging schweigend hinaus.
Zu Hause traf er sein Weib noch wach. Beim Scheine einer kleinen Lampe kniete sie, die Arme über das Bettchen geworfen, das Gesicht in die Kissen gedrückt, an der Wiege. Als er leise eintrat, hob sie erschöpft den Kopf und musterte ihren Mann auf eine dringende, schmerzvolle Art. Der hängte seine Mütze an den Rechen und umfaßte mit einem langen Blick sein Weib. Und während er so stand und hinsah, wurde Johanna, die Wiege mit dem Kinde und die ganze Ecke der Stube in verklärtes Licht getaucht. Dort hinein ging er wie auf einer Brücke, die hoch über finstere Luft gespannt ist. Als er bei der Wiege angekommen war, erhob sich die Bäuerin, nahm das Mädchen aus der Wiege und legte es ihm in die Arme, und Andreas redete mit einer so weichen Stimme zu dem Kinde, daß es seine blicklosen Augen öffnete und das erstemal lächelnd nach seinem Gesicht langte.
»Woher weißt du, daß unser Kind blind ist?« fragte Johanna plötzlich und senkte dabei die Augen. Der Sintlinger fuhr ihr streichelnd über den Scheitel und schloß sie erschüttert in die Arme.
Wenn sich Johanna die ob auch wunderlich ergreifende, aber kurze Art überlegte, mit der ihr Mann die Erkenntnis des Geschickes seines Kindes aufgenommen hatte, erschrak sie. Denn sie, die ihn in den Launen seines veränderlichen Willens so gut übersah und dem Kindhaften seines Wesens durch engelgleiche Güte so gerecht wurde, wußte doch nichts von den Überraschungen und Übertreibungen, durch die er sich überhaupt am Leben erhalten konnte. In der sicheren Luft bäuerlicher Tage erlitt er Peinen wie ein Erstickender. Er glich einem Wanderer, der nur dadurch glaubt vorwärts zu kommen, daß er fortwährend in Abgründe springt. Sein lasterhaftes Toben, sein berserkerhafter Fleiß, die Verzückungen seiner jähen Liebe, alles waren solche Abgründe gewesen, in die er sich in der Meinung gestürzt hatte, auf einem Gipfel, hoch und ferne, in einem Leben wieder aufzutauchen, das von den gewohnten Formen seiner Vergangenheit nicht eine Spur mehr enthielt. Und immer erwachte er doch aus seinem Taumel zu dem gewohnten, trägen Gang seiner Beschäftigung, die er mit dem verbissenen Zorn seines Herzens trieb, bis ihn wieder die graue Luft fast erwürgte. Das Leben seines Kindes aber, um das er Monate ratlos verborgene Kreise gezogen hatte, angewidert von der Ödigkeit seines Lasters, überwältigt von der ewig gleichen Süße seiner Ehe, ungläubig blinzelnd, von Ahnungen ins Dunkel verlockt, von unbegreiflicher Ergriffenheit bedrückt, durch das seltsame Gebaren seiner Frau aufs neue angestachelt, all dieses marternde Zwielicht, durch das er tappend gegangen war, hatte sein Wesen in solche unterirdische Spannung versetzt, daß die geheimnisvolle, blitzartige Erkenntnis von dem grausen Wunder, in das sein Kind hineingeboren war; wie ein Sprengschuß wirkte. Durch Finsternis hatte es ihn augenblicklich in hohem Bogen in die unbegreifliche Helle geschleudert, die von den blicklosen Augen seines Kindes ausging. Als er wieder auf die Erde fiel, fand er sich nicht mehr in seinem gewohnten Leben, sondern wie auf einem unbekannten Eiland mitten im Ozean. Daher war auch plötzlich alles in ihm verändert.
Am zeitigen Morgen, noch ehe sein Weib erwachte, klang das dünne, schwebende Stimmchen Helenens auf, zart wie der Laut des ersten Frühvogels. Da sprang Andreas mit einem vorsichtigen Satze so aus dem Bette, als habe er die ganze Nacht hindurch nur auf diesen Ruf gelauert, eilte an das kleine Bett und beugte sich mit stürmischer Hingabe darüber, daß ein Erschrecken über das Gesicht des Kindes lief. Seine Händchen fuhren auseinander, und die Augen schlössen sich. Sowie der Sintlinger aber wieder kosend und weich seine Stimme über die Wangen der Kleinen streichen ließ, öffneten sich die Lider. Die Augen blühten in stiller Klarheit auf und standen regungslos wie horchende Spiegel. Es war das Sehen eines Lauschens in ihnen, ein umgekehrter Blick, so, als breite sich die Welt nicht draußen vor ihnen aus, als zöge alles durch die Tiefen ihres Innern vorüber. Und wenn er redete, erwachte nicht das Sehfeuer in ihnen, kein glückhaftes Zucken des Verstehens, keine von den wandelbaren Lichtwolken kam und schwand durch das Firmament der Iris. Auf dem Grunde erwachte ein Leuchten von einer so seligen Schönheit, als ergieße sich in ihre Gründe der Schimmer, der nach dem Glauben der Frommen von den Toren Gottes ausgeht. Nein, dieses, sein Kind war nicht blind, es war auf eine andere, geheimnisvollere Art sehend als die gewöhnlichen Menschen. Wir schauen mit Hilfe der Dinge in die Welt, in diesen Augen schimmerte klar das Licht, das wir anderen mühsam und dunkel durch die Formen der Wesen ahnen. Je länger sich Andreas in sie versenkte, desto mehr wurde er von ihnen gefesselt. Sie entrückten ihn in eine andere Welt, und endlich ertrug er es nicht mehr, in sie zu schauen. Es geschah ihm, was er an Johanna nicht begriffen hatte: er mußte die Hand über sie decken. Dann litt es ihn nicht mehr in der Stube und im Hofe. Geräuschlos und mit fliegenden Händen kleidete er sich an und rettete sich weit ins Feld hinaus.
Als nach dem Erwachen sein Weib das Lager neben sich leer und schon fast ausgekühlt fand, glaubte sie nichts anderes, Andreas sei von dem Unglück des Kindes vor Anbruch des Tages aus dem Bett gerissen und zum Haus hinaus auf eine neue Wanderung von Schenke zu Schenke getrieben worden.
So rückte der Tag bis hinter den Mittag. Da entschloß sie sich endlich, den alten Knecht ins Mitwissen zu ziehen. Der tröstete sie mit einem spöttischen Lächeln und meinte, es sei nicht schlimm, er habe den Bauer in der ersten Frühe den Hügel in der Richtung nach dem Walde hinuntergehen und vom Dachfenster aus, wo er gestanden und sich angezogen habe, im Felde verschwinden sehen. Vielleicht, wie er grinsend hinzufügte, sei wieder das Treiben über ihn gekommen, und da würde weiter nichts Schlimmes heraushängen. Seine Treue und sein natürlicher Takt hinderten den Menschen, nach dem Grunde des Wirbels zu fragen, der über seinen Herrn gekommen war. Er schlug seine Mütze spaßend aufs Knie, daß eine dicke Wolke Staub herausplatzte, und machte sich ohne Umstände auf die Suche. Er war an den fünf Gebreiten, die sich von der Brindeisenerschen Grenze quer hinzogen, vorübergegangen und hatte die letzte Bodenwelle, die Hohe Kippe, erreicht, von der aus er die große, muldige Wiese übersehen konnte, die sich am Walde hinzog, nur vom Hemsterhuser Wege durchschnürt. Da bemerkte er einen Mann in dem herbstkurzen Grase, nicht allzuweit von dem Saum des Waldes. Er lag hingestreckt und sah, den Oberkörper auf die Ellbogen gestützt, unverwandt und regungslos in den blaßblauen Himmel hinauf, an dem in unendlicher Höhe fortwährend einige weiße Wölkchen träumend zergingen und wieder entstanden. Vorsichtig, immer den Mann im Auge behaltend, stieg er den sanften Abhang auf den Hemsterhuser Weg hinunter, der hier die Höhe erklomm und durch den Wald dem Rheine zu zog. »Heda!« schrie er endlich dem Unbekannten zu und winkte freundlich mit seiner Mütze. Der Ruf traf den Liegenden wie ein Stoß, rollte ihn zusammen und warf ihn dann in ein paar flüchtigen Sätzen durch das Buschwerk in den Wald, aus dem er nicht wieder zum Vorschein kam. Der Knecht streifte wohl eine Stunde unter den Stämmen umher, spähte fleißig aus und rief, wenn er irgendwo ein verdächtiges Geräusch hörte, den Namen des Bauern. Doch als er auf dem Rückwege wieder den Hemsterhuser Weg überschritten hatte und auf der Hohen Kippe sich umdrehte, sah er den Unbekannten in derselben Stellung im Grase liegen und versunken gegen den Himmel starren, als habe er sich nicht vom Flecke gerührt, sondern, unsichtbar gemacht, in diesem närrischen Treiben fortwährend verharrt. Nun kam es ihm vor, als sei der seltsame Mann wirklich niemand als der Sintlinger, aber eine unerklärliche Scheu, fast ein ehrfürchtiger Schauer hielt ihn ab, noch einmal mit lautem Rufen gegen ihn loszufahren. Zu Hause angekommen, verschwieg er, auch der Bäuerin gegenüber, das Erlebnis, sprach nur von seinem zwecklosen Umherstreifen und trödelte sich mit Gemurmel, das den Ton von Trost und Entschuldigung hatte, von Johanna weg zu seiner Arbeit. Das arme Weib beendete nun kummervoll den Tag und gab sich redlich Mühe, wieder einmal mit der Unabänderlichkeit ihres Geschicks fertig zu werden, ohne das Bild Andreas' durch Vorwürfe oder Klagen zu versehren. Doch als sie endlich im Bett lag, glaubte sie in hoher Ferne schwach und dumpf die mitleidslosen Stöße eines Webstuhls zu vernehmen. Mit jedem dieser brummenden, zerflossenen Laute schien die Finsternis um sie schwärzer und dichter zu werden. In ihrer Beklemmung tastete sie nach der Wiege, schwang sie vorsichtig und begann ganz leise und hoch ein Schlummerlied zu singen. Dabei dachte sie fortwährend: Mein Kind ist blind, mein Kind ist blind, und konnte ihre Tränen nicht mehr erhalten.
Der letzte Ton des Liedes schwebte noch zwischen ihren bebenden Lippen wie der Stiel einer blassen Blume, die sie im Begriff stand fallen zu lassen, da hörte sie ihren Mann heimkehren. Wenn es ihr Herz nicht erlauscht hätte, ihr Ohr würde es nicht erraten haben. So achtsam wurde die Tür bewegt, so gleichmäßig, fast schonend strichen lange Schritte durch den Flur. Nun trat er in die Wohnstube und ging leise bis in deren Mitte. Dort blieb er stehen. Sie hörte ihn laut und stürmisch ein paarmal atmen, wie es jemand vor einem bedeutsamen Vorhaben befällt. Obwohl Johanna nun wußte, daß er nicht trunken sei, ging ihr Herz plötzlich wie ein fallendes Blatt vor der tieferen Sorge, den Mann regiere die wache Wut. Und wirklich. Schon ging die Tür lautlos, stand lauernd still, und vor der Öffnung, die als finstere Schlucht sich aus der Nacht heranschob, sah sie langsam das blasse Gesicht ihres Mannes auftauchen und witternd, wie vor dem Anspringen, eine Weile stillhalten. Sie kam entsetzt in die Höh und mußte ihren erschlaffenden Körper mit versteiften Armen stützen. Da, wie wußte sie nicht, lag der Sintlinger an ihrer Brust und schnürte seine Arme wie Seile um sie und atmete erstickt und kochendheiß an ihrem Halse hin. Er sprach stoßend und endlos, aber sie verstand nichts als den seligen Wirbel, von dem sie durch seine Worte aus ihrem Verzagen emporgerissen und fortgetragen wurde. Auf einmal löste er die Arme, bettete sein Weib behutsam aufs Lager, entkleidete sich schweigend und legte sich nieder. Obwohl Johanna nicht nach ihm hinsah, spürte sie doch, daß er auf dem Rücken lag und mit weiten Augen in die Nacht starrte. Nach langem sagte er erschüttert und fast unhörbar: »Ich habe kein Kind, ich habe einen Engel.« Dann drehte er sich um und schlief ein.