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Vorwort Dichtung und Wortung «Todleben»
ОглавлениеEinführung in die Lyrik von Hermann Zingg
Es ist nichts Alltägliches, wenn ein neunzigjähriger «Spätexpressionist» aus der Fülle seiner über 30 000 Sonette und anderer Gedichte eine Auswahl von 101 Werken trifft und sie zur Veröffentlichung freigibt. Staunend steht man vor der Ergebnisfülle und fragt sich, woher der Verfasser seine Fantasie und die Schöpferkraft der Umsetzung genommen hat, denn bisher war nur ein sehr enger Freundeskreis in das Geheimnis seines Schaffens eingeweiht.
Der vorliegende Lyrikband erlaubt eine Annäherung in Form einer Einführung an das Weltbild von Hermann Zingg. In seinen eigenen Worten ergründet der Dichter die existenziellen Erfahrungen, die es ihm ermöglichten, in seiner Lyrik einen ganz eigenen Weg zu beschreiten. Den Lesern tut sich kein leichter Zugang auf. Das ist nicht erstaunlich, denn Zinggs Lyrik ist nicht dialogisch angelegt, sondern entzieht sich bewusst einer hermeneutischen Entschlüsselung. Sie ist Ausdruck eines Seelenzustands, ein Ausweg aus der «Trennung vom Selbstsein». In der Lyrik überwindet er die Diskrepanz zwischen Hell und Dunkel, zwischen «schwarznichtsleerem Abgrund» und «blütenweisser Helle». Wenn die Lyrik also einerseits Ausdruck eines Seelenzustands ist, so zeigt sie andererseits auch einen Weg auf, den der Autor «Kindheitsweg» nennt, eine nie endende Reflexion der eigenen geistigseelischen Identität.
Trotz dieser Absage an mögliche Deutungsversuche reizt es den Sprachwissenschafter, an einigen ausgewählten Beispielen aufzuzeigen, wie Hermann Zingg mit dem verbalen Fundus, der ihm zur Verfügung steht, umgeht. Zu gewagten Neubildungen verbinden sich primär widersprüchliche Begriffe wie Todleben oder Duich und Komposita wie etwa Duichwesensmal. Duichhelle. Dazu zählen wir auch scheinbar bloss orthografische Neubildungen wie Seynswahrheit, seynserhellt, deines Seyns, Seynssinn, Seynswahrheitgeschick, die aber auf ältere Sprachzustände und ihren Erneuerer Martin Heidegger zurückgehen, oder Entlehnungen aus anderen Sprachregionen wie etwa das norddeutsche Tiden für die neuhochdeutschen «Gezeiten» mit der Zusammensetzung Tidentracht oder die niederländische Gracht für einen «schiffbaren Kanal» oder archaisierende Formulierungen, wo sich Seyn eräugnet. Dazu kommen neuartige Zusammenrückungen vertrauter Wörter wie Zwieaugtracht, Zwieaugwort, Seinsbruchnot, Kantfelsbrockengrund, Sternallnacht, abschiedsweglang, Blauabgrund, Schneeahnungsprozession. Tatrabön «Böen aus der Tatra».
Eine Besonderheit zeigt sich auch in den um ihre Endungen verkürzten deutschen Wörtern: Sonnkimmwald, lohgeschürte Gartenrah, duld, Kindheitsgüt, Trauf, Herzwortbronn, Sonnstrahl, den Zerrinn; jed Wiedersehn, die uns nicht selten etwas ratlos zurücklassen
Ein Teil der nicht alltäglichen Entlehnungen stammt aus dem Altgriechischen und Lateinischen, wozu wir Kairos«der rechte Augenblick», Lethe «Unterweltstrom, aus dem die Toten Vergessen trinken», Letheflut, Adyton‚ eigentlich «das Nichtbetretbare, das Allerheiligste im Tempel», Aletheia «Aufrichtigkeit, Wahrheit», Apeiron «das Unbegrenzte, Unermessliche», oder das lateinische Adjektiv seren «heiter» zählen. Diese rücken das Werk in den Geistkreis der antiken Mythologie.
Es ist eine Sprache, die nicht Verständigung an die erste Stelle setzt und deshalb ihr Wortmaterial und auch entlegenere Wendungen von überall her entlehnt: Aus Zinggs reichem Bildungshintergrund fliessen auch Verweise auf Mörikes «Peregrina»-Lieder, Goethes «Werther», aber auch auf die Mystiker des persischen Mittelalters Ibn Arabi oder Baha-e Walad ein.
Zu den zahlreichen inspirierenden Einflüssen gehört schliesslich auch das bildnerische Werk des Künstlers Pieter van de Cuylen (1909–1990), das selber wiederum von Zinggs Gedichten angeregt und beeinflusst ist. In den zehn in diesem Lyrikband ausgewählten Gegenüberstellungen verschmelzen Wort und Bild zu einem synästhetischen Ganzen.
Wir haben Hermann Zingg am Anfang dieser Betrachtung als Spätexpressionisten bezeichnet. Diese Kategorisierung ist klar zu eng gefasst, auch wenn der Dichter selber eine Affinität zu Werken von Paul Celan und Nelly Sachs erwähnt. Mit den Spätexpressionisten verbindet ihn sicher die Erkenntnis, dass sprachliche Grenzen gesprengt werden müssen, um dem Unsäglichen Raum zu geben.
Elisabeth und Rolf Max Kully