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2. Kapitel

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Die Witwe war bleich und mager, als Polzer nach Karl Fantas Abreise nach dem Süden bei ihr einzog. Die Trauerkleider hingen lose um ihren Körper. Es war in den ersten Monaten nach dem Tode ihres Gatten. Ihre Hautfarbe war gelblich wie altes Papier. Erst später wurde die Gestalt voller, und die Hüften rundeten sich breit.

Sie hieß Klara Porges. Später schien Polzer, als habe ihr Namen zu allem beigetragen. Vom ersten Augenblick an hatte ihn dieser Name verstimmt. Er erschien ihm in seiner Zusammenstellung unerhört lächerlich und ärgerlich zugleich.

Polzer lebte allein mit Frau Porges. Eines von den Zimmern stand leer. Die Stühle waren in diesem Zimmer mit Leinenüberzügen verkleidet. Frau Porges mußte alle häusliche Arbeit ohne Hilfe besorgen, denn ein Dienstbote wurde nicht gehalten. Bloß seine Schuhe putzte sich Polzer selbst. Auch dieses Geschäft wollte ihm die Witwe abnehmen, allein er überließ es ihr nicht. Er hatte immer Wert darauf gelegt, seine Schuhe selbst zu bürsten, und war auch nie einem Menschen begegnet, dessen Stiefel so geglänzt hätten wie die seinen, daß man bei flüchtigem Hinsehen glauben konnte, es seien Schuhe aus Lackleder. Zu Hause mußte er auch die Schuhe des Vaters und der Tante bürsten; darauf verwandte er aber keine Mühe. Dem Reinigen seiner Schuhe widmete er täglich morgens eine halbe Stunde. Er verwandte nacheinander mehrere Bürsten und Lappen von verschiedener Qualität. Frau Porges meinte, es sei ein Geschäft, das einem Mann nicht anstehe. Polzer aber wußte, wie angenehm und erfrischend es sei, des Morgens verläßlich geputzte Schuhe an den Füßen zu haben, und zugleich, daß diese Tätigkeit keineswegs etwas Unmännliches an sich haben könne, da doch überall, wo Diener im Hause seien, wie in Hotels und bei reichen Leuten, dieses Geschäft von Männern besorgt würde. Er erinnerte auch Frau Porges daran.

Die Witwe umgab ihn vom ersten Tag an mit Fürsorge. Er ließ sich alles von ihr abnehmen, was ihn beunruhigte. Das waren vor allem die außergewöhnlichen Ereignisse, die der Tag mit sich bringt. Ihr geringstes noch, das nicht täglich war, erfüllte ihn mit ängstlicher Bestürzung. Das Bewußtsein, an einem der folgenden Tage in einen Laden treten zu müssen, um einen Einkauf zu besorgen, machte ihn unruhig, seine Gedanken bewegten sich ununterbrochen darum, die Angst, es zu versäumen, erfüllte ihn mit Qual, er berechnete die Zeitaufwendung, die notwendig sein würde, und bereitete die Sätze vor, die er sprechen wollte. Sogleich war ihm, als sei nun zu nichts anderem mehr Zeit, als reiche sein ganzes Leben zu nichts anderem mehr hin. Es konnten sich Zwischenfälle ereignen, die nicht vorauszusehen waren. Besonders, es konnte der verlangte Preis größer sein als die Summe Geldes, die er bei sich trug. Zahlungen, die an bestimmten Tagen fällig waren wie die Miete, ließen ihn Wochen vorher nicht schlafen. Er überzählte nachts das nötige Geld. Plötzlich am Tage in anderen Gedanken, nachts im Schlaf, ertappte er sich erschrocken dabei, daß er es jetzt, in diesem Augenblick vergessen habe, und er hielt sich vor, daß er es nicht vergessen dürfe und doch es vergessen könne. Aber Frau Porges war bereit, seinen Gehalt zu Monatsbeginn zu übernehmen und für alles selbst zu sorgen. Sie gab ihm wöchentlich einige Kronen, von denen Polzer das Frühstück im Büro und den Fahrschein auf der Straßenbahn bezahlen konnte. Selbst neue Kleidungsstücke besorgte nun sie für ihn, ohne daß er in einen Laden eintreten oder darum überhaupt wissen mußte.

Dies alles geschah, trotzdem Polzer Frau Porges mit Abwehr gegenüberstand. Ihr Blick, mit dem sie ihn in zärtlich-mütterlicher Art zu umfangen suchte, beängstigte ihn. Er hatte etwas unangenehm Näherwollendes, Nahes. Polzer sah sie nur wenig. Morgens, wenn sie ihm das Frühstück, und abends, wenn sie ihm das Abendbrot brachte. Er wich ihrem Blick aus und vermied Gespräche. Er wohnte Tür an Tür mit der Witwe, er hörte nachts ihren Atem, hörte ihr Bett knarren, wenn sie sich im Schlaf bewegte. Aber er war all die Jahre nicht länger als einige Minuten zugleich mit ihr in einem Raum.

Klara Porges‘ Gegenwart erfüllte ihn vom ersten Augenblick an mit Beklommenheit. Ihr Haar strömte einen Geruch aus, der ihn entfernt an Seife erinnerte. Sie trug es in der Mitte gescheitelt wie die Tante. Dazu kam, daß sich ihm unbegreiflich bei ihrem Anblick sogleich die Vorstellung ihres unbekleideten Körpers aufdrängte. Das erfüllte ihn mit tiefer Scham über sich und mit Widerwillen. Es war die Vorstellung eines unbestimmt schwarzen Körpers. Der Zwang zu dieser Vorstellung nahm zu, je voller ihre Formen wurden.

Seit frühester Jugend erfüllten ihn solche Vorstellungen mit Abscheu. Polzer hätte auch früher nicht mit Frauen verkehrt, wenn Karl, der dies nicht verstand, ihn nicht zu Frauen geführt und zum Verkehr mit ihnen gezwungen hätte. Polzer erbrach sich oft, wenn er das Haus verließ, in das ihn Karl geführt hatte. Schon als Knabe fürchtete er den Anblick der Frauen. Er wich Milka aus, weil ihm war, als ändere sich unter dem Flattern der losen Bluse, die den Blick anzog, unaufhörlich die Form ihrer runden Brüste. Er wagte nicht, nach Milkas Brüsten zu sehen. Als er von Karl erfuhr, daß die Burschen im Walde auf Milka warteten, vermied er, Milkas Hände zu berühren, wenn er allein im Laden war und das Geldstück von ihr in Empfang nehmen mußte. Denn ihm graute vor Milkas Händen. Milka merkte es wohl, daß er sie fliehe, und oft suchte sie ihn zu ergreifen und an sich zu ziehen. Einmal traf sie ihn auf der dunklen Treppe. Er drückte sich in die finstre Nische, in der an einem hölzernen Kreuz der Heiland hing. Er konnte nicht mehr entfliehen. Sie kam auf ihn zu, und sie lachte, denn sie sah, daß er sich fürchte. Ihre Hände ergriffen ihn. Er bewegte sich nicht. Sie nestelte an seinen Knöpfen. Polzer zitterte. Sie ergriff sein Geschlecht. Milka lachte, als sein Same kam, und gab ihm einen Schlag, daß er taumelte.

Schon als der Schatten der Tante aus der hellen Tür fiel, wußte Franz Polzer, daß die Nacktheit der Frau entsetzlich sei. Schon vor dem Schatten der Tante quälte ihn wie vor Frau Porges der entsetzliche Gedanke, daß dieser nackte Körper nicht verschlossen sei. Daß er in grauenvollem Schlitz bodenlos klaffe. Wie offenes Fleisch, wie die Schnittlappen einer zerrissenen Wunde. Nie wollte er die Bilder und Statuen von nackten Frauen in den Galerien sehen. Er wollte nie den nackten Körper einer Frau berühren. Ihm war, als sei da Unreinheit und widerwärtiger Geruch. Er sah Frau Porges nur am Tag in ihren Kleidern. Trotzdem quälte ihn die Vorstellung ihres dicken, nackten Leibes.

Wenn Frau Porges eintrat, sah Polzer in die Zeitung und vermied es, sie anzusehen. Trotzdem bemerkte er, wie sie von Jahr zu Jahr voller wurde. Manchmal fühlte er ihren Blick auf sich. Dann wagte er nicht, sich zu bewegen. Es war ihm immer unbegreiflich, wie es zu ihrem ersten Gespräch gekommen war. Er hatte geglaubt, daß auch sie ihn kaum beachte. Es geschah abends, als sie ihm das Essen brachte. Mit diesem Abend fing alles an.

Polzer saß vor dem Tisch, als sie eintrat. Er heftete den Blick auf die Zeitung, allein er las nicht. Unruhig wartete er, bis sich die Tür hinter ihr wieder schlösse. Er hörte ihren Schritt schon sich der Tür nähern. Plötzlich wußte er, daß sie an der Tür stehe und ihn ansehe. Er blickte fest in die Zeitung. Er fühlte, daß sie ein Wort von ihm verlange, aber er sagte es nicht. Er wollte warten und sich nicht bewegen, bis sie ginge. Da hörte er sie schluchzen. Er blickte auf. Sie schlug die Hände vor das Gesicht und begann heftig zu weinen.

Es beunruhigte ihn, daß sie während des Weinens den Atem verlor und nach Luft schnappte. Er begriff, daß nun von seiner Seite etwas geschehen müsse, und stand auf. Er wußte sich nicht zu helfen. Ratlos forderte er sie auf, sich zu beruhigen und ihm den Grund ihres Schmerzes zu sagen. Frau Porges aber beruhigte sich nicht. Sie war zu Boden gesunken und schnappte immer beängstigender nach Atem. Da trat er auf sie zu und versuchte, ihre Hände vom Gesicht zu entfernen. Zugleich richtete er sie auf.

Sie hörte zu weinen auf und begann nun stockend und noch von Schluchzen unterbrochen zu sprechen. Sie leide, weil er zu ihr, einer verlassenen Witwe, so lieblos sei. Für ihn allein sorge sie und plage sie sich. In all den Jahren habe sie kein leises Wort des Dankes von ihm gehört.

Polzer hatte sich wieder von ihr entfernt und unterbrach sie nicht.

»Sie behandeln mich wie Ihren Dienstboten,« sagte sie.

Sie schwieg und schien eine Antwort zu erwarten.

»Es liegt mir fern, Frau Porges,« erwiderte er.

»Doch,« sagte sie, »wie man einen Dienstboten behandelt. Nie haben Sie mich gefragt, was ich tue, wenn ich mit meiner Arbeit fertig bin, wie ich meinen Sonntag verbringe. Sie gehen fort, und ich bleibe einsam zu Hause.«

»Ich unterließ es, Frau Porges, weil ich daran nicht dachte und weil ich nicht wußte, daß Sie Wert auf meine Gesellschaft legen. Aber wenn es Ihnen beliebt, werden wir Sonntag miteinander einen Spaziergang unternehmen, Frau Porges.«

Sie sah Polzer freudig an. Er begriff erschrocken, was er gesagt hatte.

»Wir werden nach Kuchelbad fahren,« sagte sie. »Gleich am Morgen.«

»Am Nachmittag, Frau Porges,« erwiderte Polzer.

Das geschah am Donnerstag. Polzer verbrachte Freitag und Samstag in Aufregung. Er hörte Frau Klara Porges in der Küche mit dem Geschirr hantieren und singen. Er begegnete ihr auf der Treppe. Sie sah ihn vertraulich lächelnd an. Polzer beschloß zu fliehen.

Das war in der Nacht vom Samstag zum Sonntag. Er übersah seine Sachen und überlegte einen Plan. Er mußte das Haus am Morgen verlassen, solange sie noch schlief. Er mußte eine Wohnung in der Vorstadt finden, wo er verborgen sein konnte. Er hatte an Häusern Zettel aushängen gesehen. Er nahm sich vor, vorsichtig zu sein und sich genau zu erkundigen, ehe er die Wohnung nahm, ob jüngere Frauen da seien und Kinder. Er hatte seit jeher Angst vor Kindern. Auch ob die Leute einen ehrlichen Eindruck machten, wollte er beobachten. Es mehrten sich die Nachrichten von Diebstählen und selbst von Morden.

Gegen Morgen fiel ihm ein, daß sein Gepäck nicht zu retten sei und daß er kein Geld besitze, da Frau Porges es verwaltete. Zudem konnte sie jederzeit ihn vor der Bank erwarten. Er erkannte, daß er ihr nicht entfliehen könne.

Außer dem Widerwillen, mit dem er dem mehrstündigen Beisammensein mit Frau Porges entgegensah, war ihm an dem Ereignis seine Außergewöhnlichkeit bedrückend. Franz Polzer war gewöhnt, Sonntag nachmittags einen bestimmten Spaziergang zu machen. Er verließ das Haus um vier Uhr, ging über den Karlsplatz nach dem Kai und schritt dort ein Stück am Ufer entlang. An bestimmten Stellen blieb er stehen und sah auf den Fluß. Dann bog er in das Innere der Stadt ab.

Um fünf Uhr betrat er ein kleines Café und setzte sich an einen Tisch im Billardzimmer. Er sah den Billardspielern zu. Dieses Zusehen versetzte ihn in eine gehobene Stimmung. Er verfolgte das Rollen der glatten Kugeln über das grüne Tuch und freute sich des hellen Klangs des Zusammenstoßes. Zugleich beobachtete er die Bewegungen der Spieler, wie sie sich weit über das Brett bogen und zum Stoß ansetzten. Mit Aufmerksamkeit zählte er die guten Punkte, die jeder Spieler erzielte. Sein Wunsch war, es möge einem von ihnen gelingen, eine endlose Serie von Treffern zu erzielen, er hielt den Atem bei jedem Stoß an und war enttäuscht und verletzt, wenn er mißlang.

Seine Sehnsucht war, selbst Billard zu spielen. Sie erfüllte sich ihm nie. Polzer schrak davor zurück, seine Bewegungen öffentlich allen Augen preiszugeben. Der Doktor forderte ihn später einmal auf zu spielen. Polzer hatte das Queue schon in der Hand und war sich bewußt, daß er es nun sorgfältig kreiden müsse. Da entsann er sich, daß er einmal schon ein Queue in der Hand gehalten habe. Es schien ihm, als seien Leute dabei gewesen. Er wußte im Augenblick nicht, ob es im Traum gewesen sei. Aber es konnte nicht gut anderswo gewesen sein. Als er zu kreiden begann, war es gewachsen und schwer geworden, und er hatte das Gleichgewicht verloren.

Polzer erinnerte sich dessen erschrocken und stellte das Queue vorsichtig in den Rahmen zurück.

Gegen Sonnenaufgang überlegte Polzer, ob er Krankheit vorschützen solle, Er verwarf diesen Gedanken, da er noch nie einen Tag krank gewesen war, seit er bei Frau Porges wohnte. Eine andere Möglichkeit auszuweichen, gab es nicht. Wenn starker Regen den Ausflug unmöglich machen würde, war zu befürchten, daß Frau Porges ihn ins Café begleite. Das mußte peinlicher sein als der Ausflug.

Polzer wußte nicht, wie Frau Porges sich für die Straße kleide. Er war ihr auf der Straße noch niemals begegnet. Vielleicht besaß sie, wie die Tante, keinen Hut. Er wagte nicht, sie danach zu fragen. Keinesfalls konnte er auf Eleganz rechnen. Aber selbst wenn sie ohne Hut käme, mußte er nun schon neben ihr unter die Leute.

Da Kuchelbad als Ausflugsort beliebt war, war ein großer Andrang von Menschen zu erwarten. Polzer dachte daran, daß er sich um die Fahrkarten werde drängen müssen, und daß er auf dem kleinen Schiff gepfercht unter fremden Menschen werde stehen müssen, wenn überhaupt er schnell genug sein würde, unter den ersten an Bord zu kommen. Er hatte die Panik solcher Augenblicke vom Kai aus manchmal mit angesehen. Auch konnte das Schieben und Drängen der Menschen bei Besteigen des Dampfbootes Taschendieben günstige Gelegenheit bieten. Polzer beschloß, seine Taschenuhr zu Hause zu lassen.

Er hatte am Sonntag kaum die Gabel aus der Hand gelegt, als Frau Porges eintrat.

Sie war gut gekleidet. Sie trug ein schwarzes Kostüm mit langer Jacke, einen kleinen schwarzen Hut mit Schleier, schwarze Handschuhe, eine Ledertasche und einen Schirm. Polzer zog seinen Rock an. In die Tasche des Überziehers steckte er die Zeitung.

Der Landungssteg war voll von Menschen. Polzer sah aus dem Tarif, daß die Fahrt zweiter Klasse nicht allzu teuer zu stehen komme, und entschloß sich, zweiter Klasse zu fahren. Er war seit jeher ein Freund vornehmen Reisens. Frau Porges war umsichtig und sicherte zwei Sitzplätze. Sie begann sofort ungemäß laut zu sprechen. Polzer vergewisserte sich, daß kein Bekannter auf dem Schiff sei. Frau Porges gab er keine Antwort, da ihn das Gefühl belästigte, die Umstehenden könnten dem Gespräch folgen. Da wurde auch Frau Porges still.

In Kuchelbad bestiegen Polzer und Frau Porges einen Hügel, der ziemlich menschenleer war. Polzer kam der Gedanke, daß er keine Gelegenheit haben würde, sich im Falle des Bedürfnisses auf einen Augenblick von Frau Porges zu entfernen. Kurz darauf begannen sich Anzeichen einzustellen, die ihn mit Besorgnis erfüllten. Seine Unruhe stieg, als er an einer solchen Notwendigkeit nicht mehr zweifeln durfte. Es zeigte sich ihm keine geeignete Möglichkeit, ein Beiseitetreten glaubhaft zu begründen, trotzdem sich der ihn quälende Reiz immer mehr zu schmerzhaftem Drang verdichtete.

Am Abhang breitete er seinen Überrock aus. Sie saßen nebeneinander. Er zog die Zeitung aus der Tasche und begann zu lesen. Frau Porges verwies es ihm halb scherzhaft. Die untergehende Sonne beschien ihr Gesicht. Er bemerkte, daß ihre Wangen mit weichen Härchen bedeckt waren.

»Daß Sie gar nicht mit mir plaudern wollen,« sagte Frau Porges seufzend. »Sie haben mit mir einen Ausflug gemacht, und nun blicken Sie stumm vor sich hin. Ich habe mich darauf gefreut, und jetzt machen Sie mich ganz traurig.«

»Das wollte ich nicht, Frau Porges,« sagte Polzer.

»Das wollten Sie nicht, wirklich, Sie wollten mir nicht die Freude verderben?«

Frau Porges rückte ihm etwas näher.

»Nein, das wollte ich nicht, Frau Porges,« sagte er, ohne sie anzusehen.

»Ich glaube, daß Sie ganz anders sind, als es den Anschein hat. Nicht wahr, ich habe recht?«

»Das entzieht sich meiner Beurteilung, Frau Porges. Aber nehmen wir es an, Frau Porges, nehmen wir es an!«

»Frau Porges, immer Frau Porges! Wo wir solange miteinander leben! Wer würde es glauben, wenn man es ihm erzählte!« Sie sah ihn zärtlich an. »Sagen Sie Frau Klara zu mir!«

»Nein,« erwiderte Polzer sogleich.

Als sie auf das Schiff kamen, war es Abend geworden. Im Sitzen wurde Polzers Schmerz immer größer. Er bemerkte einen Oberbeamten aus der Buchhaltung in der Nähe. Das Schiff war übervoll, neigte sich auf die Seite und schaukelte. Frau Porges schrie auf und preßte sich an seinen Arm. Er war ganz finster.

»Lassen Sie mich sogleich los,« sagte Polzer.

Er preßte die Schenkel aneinander. Er glaubte, daß seine Blase platzen müsse.

»Was ist Ihnen geschehen?« fragte Frau Porges.

»Etwas Fürchterliches,« sagte er tonlos, »etwas Fürchterliches.« Als sie landeten, konnte er vor Schmerzen kaum mehr gehen. Frau Porges nahm seinen Arm und stützte Polzer. Polzer ließ es zu.

Er biß vor Schmerz die Zähne aufeinander und wimmerte leise. Bei jedem Schritt fürchtete er, daß sein Wille endlich schwächer sein würde als der Drang. Sie gingen durch eine mattbeleuchtete Nebengasse. Frau Porges blieb stehen. Sie sah sich nach allen Seiten um.

»So,« sagte sie, »es ist genug. Niemand kann Sie sehen.«

Polzer hätte es nicht mehr länger ertragen. Er konnte rasch noch die Knöpfe öffnen. Dann befreite er sich von der Qual seiner Schmerzen.

Erst das Geräusch machte ihm bewußt, was er tue. Es schien ihm unerhört laut, und er versuchte vergeblich, den Schall zu mildern.

Am Karlsplatz kamen sie an einem erleuchteten Café vorbei. »Wir werden noch einen Kaffee trinken,« sagte Frau Porges.

Er wagte nicht, ihr zu widersprechen. Sie traten ein und setzten sich an einen kleinen Fenstertisch. Es war kein Bekannter im Lokal.

Polzer schämte sich der Schwäche, die ihn vor Frau Porges erniedrigt hatte. Sie sah ihn an. Er begriff, daß er etwas sagen müsse, wie beschämend auch dies alles sei. Er fühlte, daß sie es erwarte.

»Frau Porges,« begann er, »Sie haben das Recht, eine Erklärung von mir zu verlangen. Der Gedanke, daß Sie eine Dame sind, ich gebe es zu, ist einen Augenblick lang bei mir in den Hintergrund getreten, woran Ihre Aufforderung vielleicht nicht ganz unschuldig gewesen sein mag, Frau Porges. Ich glaube fast, daß ich es niemals von selbst getan hätte.«

»Sie sind sehr rücksichtsvoll,« sagte Frau Porges. »Es freut mich, daß Sie mich so als Dame behandeln, trotzdem ich nur eine einfache Frau ohne Mädchen bin.«

Ihm schien, daß sie ihn nicht ganz verstanden habe. Das Unziemliche seines sonstigen Betragens gegen Frau Porges fiel ihm ein. Er dachte einen Augenblick daran, sie von nun an als gnädige Frau anzusprechen. Doch ließ er diesen Gedanken fallen, weil er nicht wußte, wie er eine solche Änderung ihr begreiflich machen sollte.

Im dunklen Treppenhaus überfiel Frau Porges Angst, und sie drängte sich an Polzer. Er hatte kein Zündholz bei sich und beruhigte sie mit einigen Worten. Beim Abschied deutete ihm Frau Porges an, wie sehr sie sich auf den kommenden Sonntag freue. Polzer vermied es, vorläufig darauf zu erwidern.

Die Verstümmelten

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