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Eure Wege sind nicht meine Wege

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Es mochte gegen das Ende des vergangenen Jahrhunderts sein; die französische Revolution, deren furchtbarer Ausbruch nur wenige Jahre danach erfolgte, kündigte schon hier und da durch verlängerte Stöße der unterwühlten Gesellschaft ihre Annäherung an; da kehrte Graf Thornstein auf seine Güter nach Deutschland zurück. Fast ein Fremdling kehrte er dahin zurück; als junger Mann hatte er die Heimath verlassen, sich seitdem bald hier, bald dort im Auslande aufgehalten, und nachdem er an den lockeren Sitten seiner Zeit den gehörigen Antheil genommen, sich in Paris mit einem französischen Fräulein vermählt, das, reich an Ahnen und arm an anderen Gütern, ihm nichts zubrachte, als die Verbindung mit einer alten, angesehenen Familie und ihre eigene ungewöhnliche Schönheit. Von dieser Schönheit hatten die Insassen des Gutes durch den Verwalter gehört, der einst, Geschäfte halber, nach Paris gereist war und den Grafen einen glücklichen Mann pries. Wieder waren Jahre verstrichen, den alten Mann deckte die Erde, und ein andrer Verwalter nahm seine Stelle ein. Die junge, schöne Gräfin, sagte ein Gerücht, hatte ein früher Tod von der Seite ihres Gatten gerissen, und vom Grafen kam noch immer keine Kunde. Er lebte in der Erinnerung seiner Unterthanen ein schattenhaftes Leben, das nur manchmal von Seiten des Verwalters durch besonders empfindliche Eintreibung grundherrlicher Gerechtsame aufgefrischt ward. Da sprach man denn von ihm als von einem ziemlich leichtsinnigen, ein wenig zum Stolz geneigten, im Ganzen aber freundlichen und milden Herrn, auf den man einst große Hoffnungen gesetzt und dessen Rückkehr man herbeiwünschte, ohne daran zu glauben, weil man in ihr die einzige Schranke für die oft unausstehliche Tyrannei der Beamten sah. Und nun war er wirklich gekommen, fast unerwartet, und Alt und Jung war herbeigelaufen, sich an seinem Anblick zu erfreuen, und Alt und Jung schüttelte die Köpfe über die Verschiedenheit zwischen dem Grafen, den sie geträumt, und demjenigen, den sie nun sahen. Er kehrte zurück, ein gebrochener Mann, vor der Zeit gealtert und die in früher Jugend so muthig erhobene Stirn von einem finstern Ernst umwölkt, der jede Freude ob seiner Rückkehr schnell verstummen hieß.

Der Tod seiner Gemahlin habe ihn so geändert, sagte man sich. Er habe vergebens auf Reisen Zerstreuung für seinen Schmerz gesucht; noch jetzt könne er ihren Namen nicht aussprechen hören, und keine Frau habe seit ihrem Verluste einen Eindruck auf ihn gemacht. Die Bauern schüttelten die Köpfe dazu; Sentimentalität ist auf dem Dorfe wenig zu Hause; sie waren froh, daß der Gram seine Gerechtigkeit und Einsicht nicht getrübt, die Plackereien der Beamten hatten ein Ende, mehr verlangten sie nicht. Doch Liebe und Vertrauen erwarb sich bei ihnen der kalte, schroffe Gebieter nicht, dessen Stolz durch sein Unglück nur gewachsen schien. Ein freundliches Gesicht hätte ihm mehr Herzen gewonnen, als alle seine wirklichen Eigenschaften es vermochten. Nur die Frauen waren mildern Sinnes, sie bedauerten ihn, und die verstorbene Gräfin, die solche Liebe eingeflößt, galt unter ihnen, trotz ihres Todes, für eine hochbeglückte Frau. Zwei Kinder hatten ihn begleitet; der Knabe mit seinem deutschen Namen Otto, war des Vaters Ebenbild, das Mädchen französisch Leonie genannt, und beide einander so unähnlich, als es Bruder und Schwester nur je gewesen sind, doch beide schön, scheu und fremd, denen das deutsche Wort nur gebrochen von den weichen Lippen floß.

Dieser letzte Umstand änderte sich jedoch bald, und dadurch fiel die eine Scheidewand zwischen dem Dorfe und dem gräflichen Hause weg. Denn trotz seines Stolzes duldete der Graf, daß seine Kinder sich in ungestörter Freiheit mit den Kindern der Bauern herumtrieben. Sie hatten freilich auch keinen andern Umgang. Ihr Vater schloß sich von dem benachbarten Adel, der ihm zuerst freundlich entgegenkam, so viel als möglich ab; man hielt seine Absonderung für Theilnahme an den neufranzösischen Ideen, er wurde auch in diesen Kreisen unlieb, und so stand er bald ganz allein.

Bei dieser Abgeschlossenheit befanden sich die Kinder ganz wohl. Mit Büchern und Anstandsvorschriften wurden sie wenig geplagt. Ihr Unterricht beschränkte sich auf das, was sie vom Schulmeister und vom Pfarrer lernen konnten, woran sich für Leonie ein besonderer Cursus in kleinen Handarbeiten und sonstigen weiblichen Beschäftigungen unter den Augen der Frau Pfarrerin schloß.

Wir können nicht sagen, daß unsere kleine Heldin diesen Arbeiten besonders geneigt war; sie liebte den Müßiggang, sie liebte überhaupt Alles, was ihre kleine Person mit Behaglichkeit umgab, und nur wenn sich mit einer Beschäftigung irgend ein Zweck, ein Interesse verband, verwandelte sich oft plötzlich ihre träge Natur in starre Unermüdlichkeit und seltene Energie. Die Pfarrerin selbst war eine gute, sanfte Frau, die das mutterlose Mädchen seiner Mutterlosigkeit wegen schnell lieb gewann und, da sie selbst keine Kinder hatte, es gerne um sich sah; und Leonie war gerne dort, denn sie fühlte sich geliebt. Lieber aber war sie noch, wo es minder ruhig herging, denn, ohne selbst lärmend zu sein, war sie doch die Seele von allem Lärm, und die Knaben des Dorfes, ihr Bruder nicht ausgenommen, dem sie an geistiger Gewandtheit weit vorausgeeilt war, erkannten sie stillschweigend als ihre Herrscherin an. Unter ihnen war sie in ihrem Elemente, von ihnen wurde dem kleinen Fräulein die erste Huldigung dargebracht, und wunderbar war es, wie ihre zierliche Erscheinung sich immer sauber herausschälte aus der rohen Atmosphäre, in der sie sich so wohl gefiel.

Bei Otto drohte der Bauerntölpel mit der Zeit den adeligen Junker ganz zu überwuchern, bei Leonie war das unmöglich. Ihre ganze Organisation widersetzte sich dem. Sie war und blieb ein kleines, feines Ding, das nirgends viel Platz einnahm, geräuschlos auftrat und immer da war, man wußte nicht wie. Alles war Widerspruch an ihr; ihre blonden, lockigen, etwas ins Röthliche schimmernden Haare umrahmten seltsam den zarten Kopf mit den schwarzen, denkenden Augen. Statt des weichen Gemüthes, das ihrem Bruder bei den tollsten Streichen stets den Stempel kindlicher Liebenswürdigkeit verlieh, zeigten sich bei ihr nur kurze, seltene Aufwallungen voll Leidenschaft, die aber der nächste Augenblick spurlos zu verwischen schien. Bis jetzt war eine zähe Beharrlichkeit, die vor keinem Hinderniß zurückschrak, vielleicht einer der deutlichsten Züge dieses keimenden, sonderbar schwer zu erkennenden Charakters. Wohin kein Fuß gekommen, da drang gewiß der ihrige durch. Fest wie Stahl und leicht wie eine Feder, hätte ein Tanzmeister von ihr gerühmt; die Bauern drückten sich minder kunstgemäß aus, zollten ihr aber nicht geringere Bewunderung. Und es war ein eigener Anblick, sie so geschmeidig und lustig in ihrer unbändigen Gesellschaft durch Flur und Felder streifen zu sehen. Wie eine verzauberte Prinzessin-Tochter von bösen Kobolden bewacht, nur daß die Kobolde hier mehr gehorchten als befahlen, und selbst Otto entzog sich diesem Zauber seiner Schwester nicht. Aber keck und muthig in dem kleinen Kreise, in welchem sie Königin war, wurde sie scheu und still, sobald sie vor ihrem Vater stand. Er war ihre einzige, aber auch ihre große Furcht. Wann diese Furcht angefangen, darüber hatte sie nicht nachgedacht; es war ein Zustand, der für sie in der Ordnung der Welt begriffen war. Nie hatte sie ein freundliches Wort von ihm vernommen, nie einen Blick, eine Liebkosung von ihm empfangen, wie sie Otto, trotz seines finsteren Wesens, doch oft von ihm empfing; ja ihre aufkeimende Lieblichkeit, die, wechselvoll wie die Welle, in allen Schattirungen quellenden Lebens unaufhörlich ging und kam, immer dieselbe und doch stets eine andere schien, weckte bei ihm, anstatt Stolz und Befriedigung, offenbar nur eine größere Strenge und eine Kälte, die fast an Abneigung stieß. Doch ruhten seine Augen oft eigenthümlich forschend auf ihr, als suche er ein Räthsel zu lösen, das seinen peinlichsten Anstrengungen stets von neuem zu entschlüpfen schien. In diesem Blicke vielleicht lag der erste Grund der Scheu, die Leonie vor ihrem Vater empfand; sie hatte ihn in seiner unheimlichen Tiefe so oft auf sich geheftet gesehen! Als sie noch in den Armen ihrer Amme lag und das werdende Verständniß an den ersten schwachen Eindrücken der äußeren Welt sich allmählich zu entfalten begann, war es dieser Blick vielleicht gewesen, der an ihr zitterndes Leben trat und der klaren Welle der Empfindung eine dunklere Färbung verlieh. Wer forscht dem Keime unserer Gefühle nach? Genug, die Furcht vor ihrem Vater schien mit Leonieʼs Lebenswurzel verwachsen zu sein, ein heimlicher Trotz gegen einen Druck, der ihr mehr willkürlich als berechtigt erschien, mischte sich nach und nach ihrer Empfindung bei; sie war verschlossen und still in seiner Gegenwart und ging ihm aus dem Wege, wenn sie ihn kommen sah. Er bemerkte es wohl, aber er rief sie nie zurück. Er glaubte sie zu kennen; vielleicht kannte er sie auch, und doch – wir möchten fast sagen, es wäre besser gewesen, er hätte sie nicht so gut gekannt.

Sie sind zu streng gegen Ihre Tochter, Herr Graf, sagte der Pfarrer eines Tages zu ihm.

Finden Sie? frug der Graf in den Hof deutend, wo Leonie, in dem Kreise einiger jugendlichen Verehrer stehend, die ihr angeborne Anmuth in unbewußter Koketterie zum Zeitvertreib an ihnen übte.

Kinderei! meinte der Pfarrer, die Achseln zuckend.

Die Zeit wird kommen, wo es keine Kinderei mehr sein wird, versetzte der Graf, was dann?

Ich begreife Sie nicht. Jeder andre Vater hätte seine Freude an dem schönen Kinde, und Sie —

Ja, sie ist schön, sagte der Graf, und eine Wolke zog über seine Stirn, ich wollte, sie wäre es nicht.

Der Pfarrer war erstaunt, schwieg aber, da er zu fühlen glaubte, dem Grafen sei das Gespräch unangenehm. Seine Verstimmung hatte überhaupt seit einiger Zeit bedeutend zugenommen. Er war offenbar unruhig, ritt einigemal selbst nach der nächsten Stadt und unternahm endlich eine längere Reise, von der er erst nach Wochen wiederkam. Ein gewisses Befremden erregte es vorher im Dorfe, daß er einen Hof, der in einiger Entfernung vom Dorfe ziemlich vereinsamt am Saume des Waldes lag und dem Schlosse eigen zugehörte, einem seiner Diener in Pacht gab, dem einzigen, der ihn aus der Fremde zurück begleitet, sich durch sein mürrisches, verschlossenes Wesen wenig Liebe erwarb und dazu, obgleich ein Deutscher, doch fremd in der Ortschaft war. Wie gesagt, die Leute verwunderten sich über das Glück des Mannes, und die Gunst, in welcher er bei dem Grafen stand, erwarb ihm manchen Neider. Das kümmerte aber den Thomas Werner nicht. In aller Ruhe ließ er seine neue Behausung herrichten, wie man sagte, mehr wie es sich für ein Herrenhaus gezieme, als für einen Bauernhof. Möbel wurden aus der Stadt herbeigeschafft, die Fenster der oberen Zimmer umhüllten sich mit Gardinen, und man wollte von Teppichen wissen, deren Farbenpracht alles im Dorfe Gesehene bei weitem überstieg und sich nur mit denen des Schlosses vergleichen ließ. Daß der Thomas diese Vorbereitungen nicht für sich allein traf, versteht sich von selbst; man munkelte allerhand von einer reichen Braut; als aber das Haus fix und fertig war und in all seinem Glanze dastand, kam eines Tages die alte Mutter des Thomas, die keine Seele kannte, ebenfalls aus der Fremde herbei und quartierte sich ganz still bei ihrem Sohne ein. Von einer Braut war keine Spur, weder aus dem Dorfe, noch aus der Fremde; Thomas und seine Mutter lebten fast ganz allein und hielten keinen Dienstboten, als einen blöden Knecht.

Der Graf ritt hinüber und nahm Alles selbst in Augenschein. Otto bat vergebens mitgehen zu dürfen, das Gerede der Leute hatte ihn neugierig gemacht, und Thomasʼ barsches Benehmen, als er einst versucht bei ihm vorzusprechen, hatte den Grafensohn arg verletzt und seine Neugierde dabei nur vermehrt. Allein sein Vater war nicht nachgiebiger gestimmt, als Thomas selbst, und wies ihn mit seiner Bitte scharf zurück. Mißmuthig schlich er zu seiner Schwester hinab in den Hof. Leonie saß auf einem Steine, ihre goldenen Haare leuchteten hell im blendenden Sonnenschein, die zierlichen Füßchen berührten kaum die Erde; sie sah mit den schwarzen Augen grade vor sich hinaus in die Weite und lächelte seltsam bei ihres Bruders Mittheilung. Du bist ein Narr! sagte sie nach einer kleinen Pause, und weiter sagte sie nichts. Und doch wußte Leonie besser als irgend jemand, woran sie war. Auch sie war neugierig gewesen, lange bevor noch irgend jemand es war. „Und die Hauptsache ist, daß die Kinder sie nicht sehen, und niemand erfahre, wer sie ist,“ hatte sie ihren Vater zu Thomas sagen hören. Leonie hatte besonders scharfe Sinne, und das Gehör stand den andern keineswegs nach. Wer war es, den sie nicht sehen sollte? dessen Dasein der Vater so ängstlich zu verheimlichen befahl? Leonieʼs kindische Neugierde klammerte sich an dem Gedanken fest und ließ ihn nicht mehr los. Daß Thomas den Waldhof erhielt, daß er so viele unerklärliche Vorbereitungen traf, geschah nicht ohne Grund, das sah auch sie wohl ein; Alle frugen, sie allein war still, aber ihr lärmendes Gefolge trieb sich plötzlich öfter ohne sie herum, und sie hatte ungemein viel um die neue Behausung des Thomas zu thun. Da saß sie denn eines Nachmittags im Grünen, von der dichten Hecke versteckt; im Garten arbeitete Thomas, und seine Mutter half ihm dabei.

Und sie kommt also wirklich morgen schon? frug plötzlich die zitternde Stimme der alten Frau. Leonieʼs Ohren öffneten sich weit in horchender Erwartung.

Ja, versetzte Thomas kurz, in seiner Arbeit fortfahrend.

Es ist doch hart, fuhr die Mutter fort; was mag sie nur gethan haben?

Was gehtʼs Euch an? fuhr der Thomas auf, wir werden gezahlt sie zu bewachen, wir bewachen sie – damit istʼs aus für uns! —

Aber man möchte doch wissen, was dahinter steckt. Wenn sich die Polizei nur nicht drein mischt! Wenn ich in meinen alten Tagen noch in eine solche Geschichte käme, es wäre schrecklich.

Der Graf wird wissen, was er thut, sagte Thomas mürrisch; morgen Abend kommt sie an, Alles ist fertig, und das Uebrige kümmert uns nicht.

Damit war das Gespräch zu Ende. Leonie horchte noch immer. Nachdenkend ging sie nach Hause und war den ganzen Abend merkwürdig still.

Einige Tage darauf erzählte man im Dorfe, beim Thomas wohne eine schöne, noch junge, fremd aussehende Frau; man hatte sie in seinem Garten auf und ab gehen sehen, während seine Mutter unter der Hausthüre saß und strickte. Als gefragt wurde, wer sie sei, gab er sie für eine entfernte ausländische Verwandte aus, deren Verstand zerrüttet sei, und die er aus Erbarmen bei sich behalte. Die Leute schüttelten die Köpfe dazu, die stolze, edle Erscheinung war selbst in ihren Bauernkleidern von Thomas und seiner Umgebung himmelweit verschieden; man sprach und sprach, die Sache fing an Lärm zu machen, die Polizei wurde wirklich aufmerksam, Thomas wurde nach der Stadt berufen, er kehrte zurück, und Alles blieb wie es war. Der Graf, hieß es, habe sich seines langjährigen Dieners angenommen und ihn von jeder Unannehmlichkeit durch sein Fürwort frei gemacht. Die Folge davon war, daß man anfing, den Grafen mit der Fremden in Verbindung zu bringen. Natürlich hörten die Kinder des Dorfes Manches von dem, was die Eltern sprachen, und legten es sich auf ihre Weise zurecht; Leonie machte ein gar kluges Gesicht zu ihren Bemerkungen, aber sie schwieg wie das Grab. Und doch war sie dabei gewesen, als die Fremde ankam, die damals keine Bauernkleider trug. Hinter einem Busche versteckt, furchtsam in sich zusammengekauert, hatte Leonie gesehen, wie Thomas sie aus dem Wagen hob und gleich danach ihr Vater zur Erde sprang. Leonie erschrak heftig, ihn so nahe, nur ein paar Schritte entfernt, vor sich zu sehen. Was würde er thun, wenn er sie hier entdeckte? Sie kauerte sich noch mehr zusammen und hielt den Athem an. Ahnungslos gingen die Drei an ihr vorbei, und hinter ihnen erhob sich Leonie. Sollte sie fliehen? Nein, das litt ihre Neugierde nicht. Geräuschlos wie ein Schatten schlich sie näher zum Hause hinan. Weinranken umzogen es bis zum Dache. Wie eine Katze kletterte sie an diesen empor, und hätte der Graf einen Augenblick nach seinem Eintritt das Auge dem Fenster zugewendet, das die Hauptstube des Hofes erhellte, so hätte er ein bleiches Kindergesicht an die kleinen, altmodischen Scheiben gedrückt gesehen. Aber daran dachte er nicht; seine Gedanken waren ganz anders beschäftigt, und doch wäre es gut gewesen, hätte er es gesehen; denn wenn sie auch die Worte nicht vernahm, der Auftritt, der drinnen vorging, war in seiner düstern Färbung gewiß nicht für ein Kinderauge gemacht.

Die Fremde war in des Hauses unterer Stube, sichtbar erschöpft, auf einen Sessel gesunken. Thomas blieb an der Thüre stehen, der Graf maß mit langsamen Schritten und gebeugtem Haupte das Zimmer auf und ab. Endlich trat er mit einer raschen Wendung vor die Fremde hin und schlug mit einer entschlossenen Bewegung ihren Schleier zurück. Sie zuckte sichtbar zusammen, dann erhob sie die bleiche Stirn und starrte ihn aus dem abgemagerten Gesicht mit ein paar dunklen, großen, unnatürlich glänzenden Augen an, welche das einzige Lebendige zu sein schienen an der ganzen Gestalt, so regungslos saß sie da. Des Grafen Augen hafteten fest auf den ihrigen, aber es war kein Blick der Liebe, und die Worte, welche diesem Blicke folgten, waren böse Worte. Der Graf war der erste, der das Schweigen brach.

Du weißt, weßhalb du hier bist? sagte er in französischer Sprache.

Die bleiche Frau wurde wo möglich noch blässer, und ihr unruhiger Blick suchte scheu im Zimmer umher; doch bald faßte sie sich wieder.

Ihr wollt mich tödten, antwortete sie in derselben Sprache; thut es! und ein leiser Schauer durchrieselte ihren Körper.

Immer Dieselbe! sagte der Graf verdrossen; er wandte sich ab und nahm seinen Gang durch das Zimmer wieder auf. Ihre Augen folgten ihm anfangs mit fieberhafter Anspannung, dann lehnte sie den Kopf zurück, senkte die Augenlieder, und es war, als schliefe sie. Nur wer ihr sehr nahe war, hörte das rasche, beklommene Athemholen ihrer Brust. Endlich blieb der Graf wieder stehen, und sie sah von neuem auf.

Du sollst hier bleiben, sagte er, für deine Bequemlichkeit ist gesorgt, so viel es sich thun ließ; nur die Kleider sollst du wechseln, denn du giltst für eine Verwandte meines Pächters, und Niemand darf ahnen, daß dem nicht so ist.

Die feinen, zitternden Hände schlossen sich krampfhaft in einander, und zum ersten Mal zeigte sich ein Ausdruck des Entsetzens auf ihrem Gesicht.

Laßt mich ziehen, sagte sie nach einer kurzen Pause, was habt Ihr hier von mir, wenn Ihr mich nicht tödten wollt?

Ziehen? und wohin? frug der Graf.

Wo mich Niemand kennt, wohin mein Name nie gedrungen ist, von wo Ihr nie mehr von mir hören sollt.

Nein, versetzte er düster, die Zukunft meiner Kinder darf nicht der Laune des Zufalls anheimgestellt sein.

Ich werde schweigen!

Er schüttelte nur heftig den Kopf.

So züchtiget mich, wenn ich rede; Ihr habt ja die Mittel dazu! versetzte sie bitter.

Gott behüte mich davor, sie anwenden zu müssen! rief der Graf mit erhobener Hand. Nein, setzte er kalt und fest hinzu, es bleibt Alles wie bisher, und Nichts ist verändert, als dein Wächter und dein Aufenthaltsort.

Mit unaussprechlicher Angst wandten die Augen der Fremden sich vom Grafen auf Thomas, der regungslos an der Thüre stand; doch der Diener schien nichts gehört zu haben, und die Züge des Grafen blieben unbewegt. Sie stöhnte laut auf und barg das bleiche Gesicht in die Hände. Alles war still, der Graf ging wieder auf und ab, endlich, nach einer längeren Pause, fing er wieder an:

Es soll dir nichts abgehen, sprach er in beruhigendem Tone, weiter kam er nicht. Es war, als habe eine Schlange sie gestochen, mit solcher Heftigkeit warf die Fremde den gebeugten Kopf in die Höhe. Da war keine Spur mehr von Angst und Verzweiflung; ein wilder, wüthender Trotz hatte jeden andern Ausdruck verdrängt. Ihre Lippen bebten, ihre schwarzen Haare wallten unordentlich um das bleiche, noch immer schöne Gesicht, und aus den schwarzen Augen blitzte ein stechendes Feuer, vor dem der Graf unwillkürlich erblaßte und einen Schritt zurückwich.

Es soll mir nichts abgehen! wiederholte sie in höhnendem Tone. Was giebt es denn, das mir nicht abginge? Daß Ihr mich den Athem des Lebens schöpfen lasset, ist das die große Gnade, die Ihr nur gewährt, für mein Glück, für meine Jugend, die Ihr mir genommen, für jeden Schatz des Lebens, den Ihr mir geraubt! Sie ballte leidenschaftlich die Hände und hob sie mit einem irren Lachen. So saget doch, Ihr versteht Euch ja darauf, saget mir, was es noch giebt, das Ihr mir nicht erbarmungslos zertreten habt. Hättet Ihr mich getödtet, es hätte Euch nicht die halbe Freude gemacht.

Ueber des Grafen Augen schien bei diesen Worten eine Wolke zu ziehen. Mit einem furchtbaren Laute des Zornes trat er auf sie zu, faßte sie heftig am Arme und drückte sie auf den Stuhl, von dem sie sich in ihrer Aufregung halb erhoben. Zitternd vor Erschöpfung sank sie darauf zurück, aber mit ungebrochenem Trotze blickte sie noch immer zu ihm auf. Seine Brust hob sich schwer, es rollte darin ein tiefes Ungewitter, doch brach es nicht sogleich los, und ohne daß er es wußte, drückten seine Finger dunkle Flecke in den weißen, weichen Arm, den er gefaßt. Warum ich dich nicht getödtet? sagte er endlich leise, aber mit der zermalmenden Kraft, welche allem der höchste Zorn gewährt; mahne mich nicht daran! ich habe Blut genug gesehen. Unselige! was hast du aus mir gemacht! – Sie wandte erbebend das Gesicht von ihm ab; die Besinnung kam ihm wieder und er ließ sie los. Was nützen Worte? fuhr er dann nach einer Weile, dumpf aber ruhig, fort. Vorwürfe machen das Geschehene nicht ungeschehen, und wir müssen tragen, was nicht zu ändern ist. – Er schwieg, dann begann er wieder mit lauter, fester Stimme: Nein, Nichts läßt sich ändern; – was zu mildern war, habe ich gemildert; martern will ich dich nicht, aber schwören mußt du mir —

Glauben Sie noch an Schwüre, Herr Graf? frug sie, den Kopf erhebend, doch ohne ihn anzusehen. An meine Schwüre? setzte sie höhnisch hinzu.

Auch gut, erwiderte er, deine Unkenntniß der Sprache bürgt mir für deine Unschädlichkeit, und allem Uebrigen werde ich vorzubeugen wissen. Er trat zur Thüre, die er öffnete, und Thomasʼ Mutter, welche draußen gewartet hatte, trat jetzt herein. Sorget für sie, sagte er ihr in deutscher Sprache, auf die Fremde weisend; dann blickte er noch einmal um: Gott behüte dich! sagte er wieder auf französisch. Sie hatte das Gesicht in die Hände gelegt und rührte sich nicht. Er verließ das Gemach und trat in den Garten hinaus. In tiefen Gedanken blieb er hier stehen, die Hand an die Stirne gelegt. Es wird schwer sein, sie zu bändigen, sagte er endlich vor sich hin, als glaube er sich allein.

Sie ist krank, versetzte Thomas, der ihm gefolgt war, sehr krank, die Paar Jahre haben schrecklich an ihr gezehrt.

Nichts konnte mir ungelegener kommen, als diese Verheirathung des Arztes; und sie einem Andern anvertrauen – nein, das ging auch nicht an! – Er schwieg und versank von Neuem in Gedanken.

Wer weiß, wie bald die letzte Lösung kommt, sagte Thomas halb zögernd. Der Graf antwortete nicht. Ihr kennt meinen Willen! sagte er dann, sich gegen seinen Diener wendend.

Sie kennen mich ja, gnädiger Herr. Der Graf nickte, reichte ihm die Hand, und ohne weitere Worte schieden sie.

Im Schlosse angekommen, lief Otto allein dem zurückkehrenden Vater entgegen. Wo ist Leonie? sagte dieser, sich nach ihr umsehend, und jetzt erst wurde das kleine Mädchen vermißt. Man rief und suchte, und die ganze Dienerschaft gerieth in Aufregung. Der Graf runzelte die Stirne und ging mit verschränkten Armen ungeduldig im Hofe auf und ab. Das Fräulein ist gern im Pfarrhause, vielleicht behielt die Pfarrerin sie über Nacht, sagte der Verwalter zu ihm. Man soll hingehen und sie zurückbringen, wenn sie dort ist, befahl der Graf. Da kam der Pfarrer selbst daher, um seinen Gutsherrn bei der Rückkehr zu begrüßen. Das Kind sei nicht bei ihm, versicherte er. Alle sahen sich bestürzt an.

Sie streift gerne herum, meinte der Pfarrer besorgt, sie hat sich wohl gar verirrt.

So müssen wir sie suchen! rief der Graf und schritt selbst nach dem Stalle, aus welchem schon sein Pferd vorgeführt ward. Alles lief hin und her, Otto wollte mit, und der Pfarrer hielt ihn nur mit Mühe zurück. In dieser Unruhe trat plötzlich Leonie, erhitzt und athemlos, unter das Thor des Hofes. Sie erblaßte, als sie in dem Gewühle ihren Vater hoch zu Pferde sah. Sie hatte gehofft, vor ihm nach Hause zu kommen, aber in der Eile und der Dunkelheit einen Pfad mit dem andern verwechselt. Der Graf sprang vom Pferde und trat zu ihr: Wo warst du? sagte er, seine Hand fest auf ihre Schultern legend.

Sie sah mit den unergründlichen Augen zu ihm auf: Ich war spazieren, antwortete sie mit zitternder Stimme, die jedoch fester wurde in dem Maße, als sie ihre Fassung wieder gewann; ich war spazieren im Felde und verlor den rechten Weg.

In des Grafen Brust stieg in diesem Augenblicke eine Wallung gegen das Kind auf, als könne er es zerdrücken; er fühlte, daß seine Hand schwerer wurde auf ihrer Schulter, und er zog sie unwillkürlich zurück.

Solche Irrfahrten kannst du ein andermal unterlassen, sagte er kalt und wandte sich ab.

Wie ein Pfeil schoß sie von ihm fort und athmete erst in ihrem Zimmer wieder frei auf.

Was weiter geschah, haben wir schon erzählt. Des Dorfes Neugierde wurde rege, und Otto blieb natürlich nicht frei. Als alle seine Fragen von Thomas nichts herausbrachten, als einige Grobheiten, die dem Grafensohn schwer zu verdauen waren, wandte er sich endlich um Erklärung an seinen Vater selbst.

Wer ist die fremde Frau, die bei dem Thomas wohnt? frug er ihn eines Tages mit der ihm eigenen Offenheit, die einen der besten Züge in seinem guten, liebenswürdigen Charakter bildete.

Kümmre dich nicht um fremder Leute Angelegenheiten, war des Grafen barsche Antwort.

Allein Otto war des Vaters Liebling und hatte allen Muth eines solchen.

Die Leute sagen aber, daß du sie kennst, Papa, fuhr er unerschrocken fort.

Diesmal erblaßte der Graf und wandte sich so jählings gegen den Knaben, daß dieser zusammenfuhr.

Hörst du noch nicht mit dieser Dummheit auf? rief er zornig. – Und höre, fuhr er fort, indem er sich bezwang, der Thomas beklagt sich, daß du sein Haus umlagerst wie ein Dieb und ihm beständig auf dem Halse liegst; wenn mir noch etwas dergleichen zu Ohren kommt, so werde ich mich erinnern, wo unser Herrgott die Ruthe hat wachsen lassen, – das merke dir! —

Er verließ das Zimmer, und Ottoʼs Stirne zog sich trotzig zusammen; des Thomas Angeberei lenkte indessen seine Gedanken von des Vaters unerklärlicher Heftigkeit ab.

Der Thomas ist ein gemeiner Kerl, sagte er ärgerlich, in meinem Leben schaue ich ihn nicht mehr an.

Leonie hatte scheinbar unbekümmert dem Auftritt beigewohnt; auch jetzt sagte sie nichts, aber in ihrem Herzen wühlte es und ließ ihr keine Ruhe. Was war es denn, was der Vater, zu dem sie stets nur mit tiefer Scheu, wie zu einem höheren Wesen, unfehlbar in seiner unerbittlichen Strenge, aufgeblickt, was war es, das er so sorgfältig, – ja in dem Grunde ihrer Gedanken lag das Wort unausgesprochen: wie ein Verbrechen – verbarg?

Ich muß doch dahinter kommen, sagte sie sinnend. Aber es war schwerer, als sie geglaubt.

Eines Tages war sie mit Otto im Walde.

Wir müssen heim, sagte er, es wird spät —

O, wir können den kürzeren Weg nehmen, meinte Leonie.

Dann müssen wir beim Thomas vorbei, und das thue ich nicht.

Der Thomas ist aber nicht zu Hause; ich hörte gestern wie die Leute sagten, er gehe heute nach der Stadt.

Das ist mir einerlei, war Ottoʼs resolute Antwort.

So gehe ich allein, versetzte Leonie schnippisch.

Du weißt, der Vater hatʼs verboten, und ich sagʼs ihm, wenn du gehst.

Mir hat erʼs nicht verboten, erwiderte Leonie in gereiztem Tone. Aber du weißt, er mag mich nicht, und da freust du dich, wenn du mir einen Verdruß machen kannst.

Damit war nun freilich Otto geschlagen. Sein gutes Herz litt unter der größeren Liebe des Vaters, die er als eine Ungerechtigkeit gegen die Schwester empfand; aber sein Nachgeben zeigte sich nicht auf eine freundliche Art.

Du bist eine rechte Katze, sagte er ärgerlich und sah sie zornig an. Meinetwegen! thue was du willst. – aber mit dir gehe ich nicht, und wennʼs der Vater erfährt, so istʼs meine Schuld nicht, wenn er dir ein Wetter macht.

Ich will nur den kürzeren Weg gehen, um schneller daheim zu sein, und das ist nichts Böses, versetzte sie still.

Er entfernte sich langsam; bevor er verschwand, drehte er sich noch einmal um. Kommst du? rief er ihr zu.

Sie hatte sich niedergesetzt. Nein, sagte sie, und er ging fort.

Als er zwischen den Bäumen verschwunden war, stand sie auf, horchte ein wenig und schritt dann leichtfüßig und froh den Weg dahin, der zum Waldhof führte; dort angekommen, ging sie langsamer; sie sah um sich; es war um die Mittagszeit und kein Mensch war auf dem Felde zu sehen. Sie näherte sich der Hecke des Gartens und blickte hindurch. Auch hier war Alles verlassen, die Fenster geschlossen, die oberen mit weißen Vorhängen umhängt. Ihr Herz klopfte ein wenig; sie dachte, die fremde Frau könne plötzlich hervortreten und wirklich eine Wahnsinnige sein. Sie dachte an Thomas, an dessen Mutter, die sie sehen konnte, an ihren eigenen Vater, an seinen Zorn, den sie mehr als Alles fürchtete, und sie war nahe daran, die Rückkehr nach Hause in Wahrheit anzutreten, aber die Neugier überwand doch jede Furcht. Ich will nur ein wenig ausruhen, sagte sie und setzte sich. Sie war ermüdet, die Sonne brannte, sie neigte den Kopf zurück, und bevor sie sichʼs versah, war sie eingeschlafen. Ein leises Geräusch weckte sie. Sie schlug die schweren Augen auf; durch die mühsam zurückgebogenen Zweige der Hecke schimmerte ein bleiches, eingefallenes Gesicht, aus dem zwei dunkle, weitgeöffnete Augen mit einem fast irren Blick unverwandt auf das zarte, kleine Wesen sahen. Es war die Fremde. Leonie sprang auf. Ihre erste Empfindung war ein überwältigendes Entsetzen, ihre erste Bewegung war eine Bewegung zur Flucht. Aber rasch wie ein Gedanke fuhr eine weiße, durchsichtige Hand, sich blutig ritzend, durch die Dornen der Hecke und hielt das erschreckte Kind am Kleide fest.

Bleibe! sagte eine süße, leise Stimme in der sanften Sprache, die sie so lange nicht mehr gehört, und die wie ein halbvergessener Traum nur noch in seltenen Nachklängen durch ihre Seele zitterte. – Wieder siegte die Neugierde, sie blieb stehen und wandte sich der Fremden zu.

Wer bist du? Wie heißest du? frug diese jetzt, und ihre zweite Hand, ebenfalls durch die Dornen gestreckt, erfaßte mit zitternder Hast des Mädchens kleine, halb widerstrebende Hand.

Ich heiße Leonie und bin des Grafen Tochter, dem das Gut gehört.

O komm näher! Laß dich anschauen! bat die Frau und zog sie mit beiden Händen dichter an die Hecke heran. Mit durstigen Augen hing sie an dem seinen, in wechselnder Bewegung erröthenden und erbleichenden Gesichtchen fest. Kein Zug, murmelte sie halblaut, kein einziger Zug! Ein düsterer Ausdruck wie Schmerz und Trauer, aber ohne Weichheit, zog über ihr Gesicht und überdeckte es mit einer noch tieferen Blässe. Wo ist dein Bruder? frug sie plötzlich, wie sich besinnend.

Er wollte nicht kommen, der Vater hatʼs verboten, sagte Leonie.

Und da kommt er auch nicht?

Nein, er fürchtet sich.

O er ist seines Vaters rechtes Kind! sagte die Frau mit einer Bitterkeit, die nicht ohne Verachtung war. Sie, schwieg eine Weile. Hat er dirʼs auch verboten? frug sie dann.

Die Röthe der Scham schlug unwillkürlich auf in Leonieʼs Gesicht. Ich habe nicht gefragt, sagte sie zögernd und erwartete fast einen Verweis.

Die Frau betrachtete sie aufmerksam einen Augenblick. Liebst du deinen Vater? frug sie dann.

Leonie stockte – darüber hatte sie noch nicht nachgedacht. Sie schlug die Augen zu Boden und blieb die Antwort schuldig.

Die Fremde zog sie immer näher an sich heran; mit ihren mageren, heißen Händen streichelte sie die glühende Wange des Mädchens und strich ihr das glänzende, goldrothe Haar aus der weißen, feuchten Stirne. Wie schön du bist! flüsterte sie wie in einem irren Traume, wie deine Augen glänzen! Auch ich war einst schön— man sieht jetzt nichts mehr davon. – Was ist Schönheit ohne Klugheit? O werde klug, und dann gehört dir die Welt!

Wer sind Sie? frug Leonie, sie erstaunt anblickend.

Mit einem schmerzlichen Stöhnen, das einem unterdrückten Schrei glich, beugte die Fremde den Kopf. Frage mich nicht, rief sie dann, sie tödten mich, wenn ich dir es sage, und ich will nicht sterben, nun ich dich gesehen. O sie haben mir das Leben furchtbar ausgesogen! Er – hüte dich vor Ihm – hörst du? – Er kennt kein Erbarmen! – Aber du wirst mich rächen! O siehst du – die Rache bleibt noch, und wenn uns Alles genommen ist! —

Leonie verstand sie nicht recht; sie dachte, ein großes Uebel müsse der Frau widerfahren sein von Jemand, vielleicht von ihrem Vater – der war ja immer so streng! Die Rührung nahm aber bei ihr selten überhand, und so erregte das wilde Klagen der Unbekannten mehr ihre Neugierde, als daß es zu ihrem Herzen sprach. Sie blickte ihr erstaunt und aufmerksam in das bleiche Gesicht, sie getraute sich nicht, zu fragen, wen sie durch Er bezeichnen wollte, darum nicht, weil sie es ahnte, und so blieb sie ganz still.

Wirst du wiederkommen? frug die Fremde jetzt.

Ich – ich weiß nicht, sagte Leonie, Thomas darf nicht wissen, daß ich da war.

In diesem Augenblicke wurde die Thüre des Hauses aufgerissen, und Thomas selbst trat heraus. Er schritt rasch auf seine Gefangene zu, und bevor diese sich von ihrem Schrecken erholt, stand er schon neben ihr. Er blickte über die Hecke, und als er das zitternde Mädchen auf der anderen Seite stehen sah, zog sich seine Stirne in wunderbar krause Runzeln zusammen; doch er nahm die Mütze ab, und seine Rede war höflich, wenn auch fest. Gnädiges Fräulein, sagte er, es schickt sich nicht, so heimlich herzukommen wider den Willen Ihres Vaters und mit Leuten zu reden, die ihren Verstand nicht bei sich haben, und in deren Nähe man keinen Augenblick sicher ist.

Ich ging vorüber, da rief sie mich an, sagte Leonie, in deren Leben die Großmuth nur dann eine Rolle spielte, wenn sie deren von Anderen bedurfte. Sie wandte sich ab und ging. Den ganzen Tag stand sie in der Erwartung eines strengen Verweises von ihrem Vater; sie studirte sein Gesicht; aber es war nicht anders als sonst. Am folgenden Morgen erhielt sie den Befehl, mit der Pfarrerin, welche dort eine Schwester besuchen wollte, nach der Stadt zu fahren. Leonieʼs Augen öffneten sich weit; das Vergnügen, das ihr geboten ward, kam ihr weniger gelegen, als es sonst der Fall gewesen wäre. Sie dachte an die Fremde und saß lange schweigend in dem Wagen neben der ebenfalls schweigenden Pfarrerin. Plötzlich fuhr sie aus ihrer Träumerei auf. Was ist Klugheit? fragte sie die Pfarrerin.

Dieser war die Unterbrechung nicht gerade angenehm. Sie hatte in der Stadt sehr viel vor, theils im Auftrage des Grafen, theils für sich selbst, und in Gedanken ging sie eben die Mittel und Wege durch, sich ihrer verschiedenen Verpflichtungen zu fremder und eigener Zufriedenheit zu entledigen. Sie antwortete daher so kurz sie konnte, was sie einmal von ihrem Manne gehört: Klugheit ist, immer das Rechte zu thun zur rechten Zeit.

Leonie dachte ein wenig nach. So jung sie war, wußte sie doch manchen Fall, wo das Rechte thun dem Thäter übel bekommen war; aber dann lag es vielleicht daran, weil er die rechte Zeit nicht abgewartet.

Wann ist die rechte Zeit, das Rechte zu thun? fuhr sie fort.

Immer – sagte die Pfarrerin. Das Mädchen schüttelte den Kopf. Wenn wir aber Verdruß davon haben, das Rechte zu thun?

Man muß es dennoch thun.

Aber warum?

Weil Gott es befohlen hat.

Aber warum hat er es befohlen?

Weil es so recht ist.

Aber warum ist es recht? fuhr Leonie, die nicht aus dem Kreise heraus kam, zu fragen fort.

Weil Gott es befohlen hat, ist es recht.

Aber er hätte auch das Gegentheil befehlen können, war des Mädchens kecker Schluß.

Kind, rede nicht so gottlos, sagte die fromme Frau, die an dem Ende ihrer theologischen Weisheit angelangt war und in ihre früheren Gedanken versank. Aber in Leonieʼs regem Geist blieb die ungelöste Frage und beschäftigte sie, bis sie an dem Orte ihrer Bestimmung aus dem Wagen stieg.

Hier indessen schwanden die letzten Eindrücke sehr bald vor den Ueberraschungen, die sie erwarteten, und die für Leonie den vollen Reiz der Neuheit besaßen. Die Frau Pfarrerin hatte Auftrag bekommen, dem kleinen Fräulein eine standesmäßige Toilette zu verschaffen, und die etwas rohen Stoffe, die bis jetzt ihre Garderobe ausgemacht, wurden durch die feinen und glänzenden Gewebe ersetzt, mit welchen der Luxus seine Auserkorenen bedeckt. Niedliche kleine Schuhe umschlossen die zierlichen Füßchen, durch welche zwar das Herumsteigen in Feld und Wald, wie es ihnen bis jetzt eigen gewesen, so ziemlich zur Unmöglichkeit gemacht wurde, die aber Leonieʼs eitles Mädchenherz schnell genug durch ihre Zierlichkeit zu versöhnen versprachen. Auch hatte die Frau Pfarrerin Erlaubniß, Leonie einige Mal inʼs Theater zu führen, und so flogen die Paar Wochen, die der bezaubernde Aufenthalt dauerte, wie ein seliger Traum dahin.

Die Überraschungen, die sie bei der Rückkehr auf dem Schlosse erwarteten, waren indessen weniger angenehmer Art. Leonie erstaunte nicht wenig, als ihr in dem Salon, zu dem sie hinaufging, ihren Vater zu begrüßen, eine ältliche Dame entgegentrat, die ihr der Graf als ihre Gouvernante vorstellte, und welcher er die volle Macht einer Mutter auf das erschrockene Mädchen übertrug. Als sie sich nach Otto erkundigte, erfuhr sie, er sei fort, auf die Schule geschickt, und erst nach Monaten werde sie ihn wiedersehen. Auch eine Kammerfrau war angenommen worden, deren besondere Aufgabe es war, das Fräulein auf ihren Spaziergängen zu begleiten; wenn Fräulein Pertold einmal daran verhindert wurde und Leonie glaubte, ja einmal den günstigen Moment zu, erhaschen, um unbemerkt aus dem Schlosse zu entwischen, so eilte stracks ein baumlanger Bediente nach, welcher der kleinen Dame unterthänig Schirm und Ueberwurf trug.

Und so ging denn Leonie in ihren kostbaren Kleidern und eleganten Schuhen allem Zwang entgegen, der das gewöhnliche Erbtheil der Kinder der privilegirten Kaste ist, und der für Leonie, nach der Freiheit, die sie bis dahin genossen, nur eine erhöhte Marter war.

Sie wußte jedoch, daß ihres Vaters Wille unwiderruflich sei; ihr Widerstand, wenn sie einen wagte, durfte nur ein verborgener sein, und so fügte sie sich mit scheinbarer Gelassenheit in ihr verändertes Geschick und rächte sich so gut sie konnte für die beständige unleidliche Aussicht durch ein unruhiges, still-trotziges Wesen, bei dem ihre Studien nur wenig Fortschritte machten.

Fräulein Therese Pertold war indessen keine gewöhnliche Gouvernante, und die Personen, die sie dem Grafen empfohlen, hatten Grund zu der Empfehlung gehabt. Sie verstand ihr Fach und hatte nicht nur Gelegenheit gehabt, Charaktere zu studiren, sie hatte sie wirklich studirt, und was nicht immer damit verbunden ist, sie verstand es auch, aus diesen Studien Nutzen zu ziehen, und wenn sie dabei im Grunde mehr an sich, als an ihre Zöglinge dachte, wer wird es ihr verargen? Sie wurde ja nicht für die Liebe, sondern für den Unterricht bezahlt. Sie hatte denn sehr bald herausgebracht, mit welcher Geistesrichtung sie es hier zu thun hatte. Sie sind ein adeliges Fräulein, sagte sie daher eines Tages zu Leonie, die sich eben einer besonderen Unliebenswürdigkeit befliß. Sie sind ein adeliges Fräulein und gehören einer alten berühmten Familie an; auch werden Sie reich sein, wie es sich zu Ihrem Stande schickt. Was ist aber das Alles, wenn Sie nicht auch durch Ihre Manieren sich von dem gewöhnlichen Menschentroß unterscheiden? Manieren und Kenntnisse, die den Geist entwickeln, und die man lernen muß, mit Klugheit zu benützen, das ist die einzige wahre Auszeichnung, in der unsere Macht gesichert ist.

Es war das zweite Mal, daß Leonie die Klugheit rühmen hörte, als Mittel zum Ziele. Die Erklärung der Pfarrerin hatte sie nicht vergessen und seitdem im Stillen manche Bemerkung darüber gemacht. Wenn Klugheit nichts Anderes war, als immer das Rechte zu thun, so haben wir gesehen, daß ihr die oft üblen Folgen nicht entgangen waren, und das schien ihr wenig beneidenswerth.

Was ist Klugheit? frug sie jetzt wiederum.

Klugheit, erläuterte Fräulein Pertold, ist die Kunst, jeden Menschen nach der ihm eigenen Weise zu behandeln und ihn auf diese Art nach unserem Willen zu lenken. Diese von jener der Pfarrerin sehr verschiedene Erklärung leuchtete Leonie auch viel besser ein.

Und kann man Klugheit lernen? fuhr sie mit plötzlichem Interesse zu fragen fort. Zum Theil kann man sie lernen, zum Theil muß sie freilich eigene Begabung sein; auch gehört ein großer Verstand dazu, immer deutlich zu unterscheiden, was man zu thun und zu lassen hat. Aber anmuthige Manieren und ein feiner, gebildeter Geist erleichtern die Sache sehr und sichern uns überall ein Uebergewicht.

Leonie war nachdenklich geworden und blickte in Gedanken hinaus. Ihr Vater kam so eben in den Hof hereingesprengt..– Da ist mein Vater, dachte sie; wäre ich klug, so thäte er Alles, was ich will. Mit Otto und den anderen Knaben ist es leicht genug; nur mit dem Vater ist es schwer. – Sie stützte den Kopf in die Hand und sah träumerisch vor sich nieder.

Von nun an war es nicht mehr nöthig, Leonie zum Lernen anzuspornen. Sie kam selbst mit Büchern und Zeichenmappe; keine Arbeit war ihr zu schwer oder zu langwierig, und mit einer wunderbaren Begabung ausgestattet, überwand sie leicht jede Schwierigkeit. Sie befliß sich eines ernsten Ganges, und die früheren Vertraulichkeiten mit der Dorfjugend schienen bis auf die letzte Spur aus dem Gedächtniß des kleinen Fräuleins verwischt. Fräulein Pertold hatte sich nicht getäuscht und erntete überall bei den wenigen Nachbarn, die Zeuge von der Umwandlung ihres Zöglings waren, viel Lob und Ehre ein. Nur in dem Grafen selbst brachten die glänzenden Fortschritte seines Töchterchens keine Aenderung hervor; er blieb still und kalt wie immer und verfolgte die rastlose Thätigkeit des Mädchens mit demselben räthselhaft forschenden Blicke, mit dem er einst den Spielen des Kindes zugesehen.

Von Thomas und seinem Hause, so wie von der fremden Frau war nicht mehr die Rede. Leonie war seit jenem Nachmittage nicht mehr hingekommen. Fräulein Pertold wich nicht von ihrer Seite; aber seitdem blinder Gehorsam gegen ihren Vater eine Triebfeder ihrer kleinen, schon so reifen Politik geworden war, schien der ganze Vorgang von ihr vergessen zu sein. Schien, sagen wir; denn wie ein schlummernder Keim lag er in ihrer Seele und wartete des Anstoßes, der ihn zu neuem Leben wecken sollte, und dieser blieb nicht aus.

Sechs Jahre waren auf diese Weise verflossen, Leonie hatte das fünfzehnte Jahr erreicht, und die erste Morgenröthe der Jungfräulichkeit übergoß ihre Stirne mit einem erhöhten Zauber.

Sie saß am Klaviere, über dessen Tasten unter Fräulein Pertoldʼs Leitung ihre feinen Finger in glänzenden Trillern flogen. Von dem frühern Wildfang war nichts mehr an ihr zu sehen. Ihre Kleidung war gewählt, ihre Haltung elegant und fein, und das goldige Haar schmiegte sich in glänzender Fülle um das junge, geistvolle Haupt.

Um dieselbe Stunde des Nachmittags ging es lebhafter als sonst in dem kleinen Hofe am Walde her. Die fremde Frau lag im Sterben. Seit sechs Jahren hatte die Krankheit in ihrer Brust rastlose, wenn auch langsame Fortschritte gemacht, und eigentlich war es ein Wunder, daß sie noch nicht gestorben war. Aber mit eiserner Willensfestigkeit klammerte sie sich an das fliehende Leben; es war, als erwarte sie etwas, als könne sie nicht sterben, bevor es in Erfüllung gegangen, und Tag, für Tag, unausgesetzt, von ihrem Lehnstuhle am Fenster, übersahen die fieberhaften Augen die Wege und Pfade, die nach dem Hause führten.

Allein was sie erwartete, das zeigte sich nicht. Leonie war in guter Aufsicht, und wenn sie auch den kleinen Vorfall aus ihrer Kindheit keineswegs vergessen hatte, so war sie doch viel zu sehr auf ihr eigenes Wohl bedacht, viel zu sehr von andern Wünschen und Plänen erfüllt, um dem ausgesprochenen Befehle ihres Vaters, ohne besondern Anstoß, zu trotzen.

Auch heute stand der Lehnstuhl der Kranken neben dem Fenster, auch heute starrten ihre Augen in heißer Sehnsucht in die herbstgefärbte Landschaft hinaus. Der Arzt war gekommen und fortgegangen. Diese Nacht werde wohl die letzte sein, hatte er unten zu Thomas gesagt und eben schob dieser die schweren Riegel hinter dem Fortgehenden zu. Da schlich seine Mutter sacht aus dem Krankenzimmer zu ihm herab, um den letzten Ausspruch des Arztes zu vernehmen. Oben bei der Sterbenden blieb nur ein halberwachsenes Kind, eine arme Waise, welche Thomas zu sich genommen, um der Mutter in der Pflege der Kranken beizustehen.

Es war ein eingeschüchtertes, scheues Wesen, das in der unheimlichen Stille des Hauses kaum eine Bewegung zu machen oder ein lautes Wort zu sprechen wagte. Denn die alte Frau hatte die Gemächlichkeit, die sie zu Anfang mitgebracht, in ihrem Wächteramte längst verloren, und Thomas war mürrischer als je. Selbst für ihn war es ein trauriges Schauspiel, die gequälte, noch immer schöne Frau so Zoll für Zoll absterben zu sehen, und es ist kein Wunder, wenn die Zeit ihm lange währte, bis sie die letzte Erlösung fand.

An jenem Kinde nun hatte die Frau in aller Stille sich eine Bundesgenossin gemacht. Wort für Wort, ohne daß Jemand darum wußte, hatte sie von ihr so viel von der deutschen Sprache gelernt, als sie bedurfte, um sich verständlich zu machen, um zu hören, was um sie her gesprochen wurde, obgleich niemals eine Miene in ihrem Gesichte verrieth, daß sie den Inhalt der Gespräche verstand.

Geräuschlos war die Thüre in das Schloß gefallen, und der schleppende Gang der alten Frau war auf der Treppe verhallt. Die Lampe brannte auf dem Tische; in der Ecke saß das Mädchen mit rothgeweinten Augen angstvoll zusammengedrückt und rührte sich nicht. Da erhob sich die Sterbende langsam aus ihrer liegenden Stellung, und mit einer gebieterischen Geberde winkte sie die Kleine herbei.

Jetzt geh! – jetzt ist es Zeit! sagte sie.

Das Mädchen fuhr zitternd in die Höhe.

Hörst du mich, Tine? rief die Kranke ungeduldig.

Das arme Kind sank in die Kniee: Ich kann nicht! hauchte sie in furchtbarer Angst – Ich darf nicht! – Mein Oheim jagt mich fort, wenn ich es thue! —

Dann nimm den Fluch einer Sterbenden auf dich! – Weißt du denn nicht, daß du geschworen hast? – und ich habe Niemand zu schicken, als dich – und ich sterbe – ich sterbe! – Weh dir, wenn ich sterben muß in dieser Todesangst, die mich nicht sterben läßt! —

Sie war aufgestanden und machte eine Bewegung auf das Mädchen zu. Doch dieses war todtenbleich – aufgesprungen.

Ich gehe, sagte sie, mag mein Oheim mit mir thun, was er will. —

Und leise und eilig hatte sie das Zimmer verlassen und schlich durch eine Hinterthüre zum Hause hinaus.

Der Abend war unterdessen angebrochen, der trübe Herbstabend, der sich ohne Sternenlicht in seinem Nebelmantel feucht über die erstarrende Erde legt. Leonie saß noch immer am Klavier in dem verdunkelten Zimmer; aber Fräulein Pertold hatte sie verlassen, und in dieser Stunde der Einsamkeit lag auf der jungen Stirn ein Ausdruck, der von dem ruhiger Heiterkeit, den sie vorhin trug, sehr verschieden war. Es war der Ausdruck tiefster Langeweile und Abgespanntheit. Die zierlichen Hände glitten in nachlässiger Trägheit über die Tasten und lockten Accorde daraus hervor, die ohne Ordnung und Verbindung, wie sie schienen, die oft unterbrochene Begleitung für die unruhigen Gedanken des jungen Mädchens bildeten. – O Gott! dachte sie, wann wird das enden? Wie bin ich müde, müde, müde! – Otto liebt das Landleben – ja freilich – er ist immer in der Stadt! – Wie glücklich sind die Knaben! Sie können fort. – Was gäbe ich darum, ein Knabe zu sein! – Trab – trab – ein Tag wie der andere. Das ewige Einerlei bringt mich noch um. Der Vater und Fräulein Pertold – Fräulein Pertold und der Vater – die Pertold ist langweilig – sie sagt, ich sei schön – das weiß ich ohne sie, aber was nützt es mir hier? Mit dem Vater kann ich einmal nichts machen – ich habe die Hoffnung aufgegeben. – O diese ewige Verstellung – und wozu? Er glaubt mir doch nicht! – Die Pertold schauʼ ich durch und durch, die habʼ ich auswendig gelernt, sie wartet auf eine Pension. – O hätte sie sie doch und ließe mich in Ruhe! – Dann die Frau Pastorin – die ist gut wenigstens – ich glaube auch, sie hat mich lieb – das ist aber Alles alt, und was gehtʼs mich an? – Es ist doch nicht, was ich will – und was ich will, das ist nicht hier in diesem alten Loche – von der Pertold kann ich nichts mehr lernen – was sie weiß, weiß ich jetzt auch – sie sagt, ich sei eine ganze Dame. – O Welt – wann öffnest du dich mir?

Hier sanken die Hände wie erschöpft von den Tasten herunter, und Leonieʼs Kopf senkte sich auf das Klavier. In demselben Augenblicke klopfte es an die Thüre. Leonie erhob sich rasch, Langeweile und Abspannung waren aus ihren Zügen verschwunden, ein Lächeln spielte um den Mund. Herein! rief sie; die Thüre öffnete sich, und athemlos und weinend erschien Tine auf der Schwelle.

Des Fräuleins Gesicht überflog ein Ausdruck von Ueberraschung und leichtem Mißvergnügen, aber Tine war zu aufgeregt, um es zu bemerken.

Ach, Fräulein, rief sie hastig und zog die Thüre vorsichtig hinter sich zu, verrathen Sie mich nicht, um Gottes willen! Die wahnsinnige Frau bei meinem Onkel Thomas liegt im Sterben und will Sie durchaus sehen.

Ueber Leonieʼs bewegliche Züge flog ein neuer Wechsel, reine Verwunderung war das Erste, dann blitzten ihre Augen auf, und ihre erste Bewegung war ein Schritt nach der Thüre. Doch plötzlich hielt sie inne und überlegte einen Augenblick. Freilich war sie der Lösung des Räthsels nahe, die sie einst mit so leidenschaftlicher Gier gesucht – aber würde ihr Vater nicht erfahren, wo sie gewesen? würde er selbst vielleicht in dieser letzten Minute die Frau nicht sehen wollen, für welche er ein so reges, wenn auch feindseliges Interesse an den Tag gelegt? – Sie schwankte und wandte sich unschlüssig wieder ab.

Mit einem angstvollen Blick folgte Tine jeder ihrer Bewegungen. O Fräulein! bat sie wieder; doch Leonie hörte sie nicht, ihre Gedanken schlugen eine andere Wendung ein. Und sollte sie einer einfachen Möglichkeit wegen, die vielleicht nicht in Erfüllung gehen würde, die Gelegenheit aufgeben, die einzige, die sich nie mehr bieten würde, dieses Räthsel endlich aufgeklärt zu sehen? O dieses Räthsel, mit dem das Leben ihres Vaters vielleicht so eng verflochten war, dieses Vaters, der nie einen freundlichen Blick für sie gehabt – und sie sollte nicht erfahren, was er so heimlich vor der Welt verbarg? – Sie sollte nicht wissen, aus welchem dunklen Grunde die Wurzel dieses Thuns entsprang? Und warum? Wegen einer Möglichkeit, die vielleicht nicht in Erfüllung ging; – und wenn auch! dachte sie; die flüchtige Erregtheit wich einer leichten Blässe, und ihre Züge sammelten sich nach und nach in einen Ausdruck unbeugsamer Entschlossenheit – wenn auch – ist es mir erlaubt, die Bitte einer Sterbenden abzuschlagen? Was ist es mehr? Und – tödten kann er mich doch nicht.

Rasch warf sie ein Tuch um Kopf und Schulter, und den nächsten Augenblick schon eilten sie Beide dem Waldhofe zu. Um dieselbe Stunde schlug Thomas bedächtigen Schrittes den Weg nach dem Schlosse ein.

Seine alte Mutter indessen, nachdem sie seinen Bericht mit manchem Seufzer und bedeutsamem Achselzucken entgegengenommen und, sich auf Tineʼs Treue verlassend; außerdem noch einige kleine Vorkehrungen in den unteren Räumen ihres Hauses glücklich zu Ende gebracht, trippelte ruhigen Gewissens, so leise sie konnte, die knarrende Treppe wieder hinauf, und war nicht wenig überrascht und gekränkt, Tine auf ihrem Posten zu vermissen. Das Kind wird sich gefürchtet haben so allein, dachte sie, man kann sich aus die Jugend doch gar nicht verlassen. – Die Kranke war ruhig und athmete mühsam und leise. Die alte Frau zog ein Gebetbuch aus der Tasche, setzte die Brille auf die Nase und begann für die scheidende Seele zu beten. Alles war still. Die Zeit wurde ihr lang, ihr selbst war nicht sehr geheuer, und Tine kam noch immer nicht.

Das Mädel muß wo eingeschlafen sein, sagte sie sich, es ist ja noch ein Kind, und das viele Wachen hat es ermüdet. – Draußen ertönten jetzt Schritte, aber sie hörte sie nicht, sie nickte und murmelte über ihr Buch gebeugt. Ein leiser Ausruf erweckte sie erst aus dem halben Schlummer, in den sie versunken war: wer ihn ausgestoßen, wußte sie nicht, aber sie schlug die Augen auf und sah ihr junges Fräulein, vom raschen Laufe erhitzt, mit wirrem Haar und wunderschön, wie ein Lichtgebilde, mitten im verdunkelten Zimmer stehen. Die Kranke stand aufrecht, wie von neuer Lebenskraft beseelt. Mein Kind! – rief sie und streckte der Eintretenden beide Arme entgegen.

War es die Stimme des Blutes, die mit überwältigender Macht zu dem Herzen des jungen Mädchens sprach? Wie Strahl und Blitz schlug es in sie ein, sie wußte, wem sie gegenüberstand, und hatte sie doch nie gekannt. – Meine Mutter! rief sie laut und stürzte mit mächtiger Bewegung der Wiedergefundenen an die Brust. Aber es war zu viel für die schwindende Kraft der schwachen Frau, und sie sank erschöpft in ihren Sessel zurück, während Leonie in bebender Ueberraschung an ihr nieder auf die Kniee glitt.

Unterdessen hatte sich die alte Bäuerin allmählich von ihrem Staunen erholt; der strenge Befehl des Grafen fiel ihr ein und zugleich die Angst für ihren Sohn. – Ach, Fräulein Leonie, wo kommen Sie her? jammerte sie und faßte des Fräuleins Arm mit ihren zitternden Händen, sie wo möglich von der Kranken wegzuziehen. Herr Gott! was wird der Herr Graf sagen! Ach, gnädiges Fräulein, haben Sie Mitleid mit mir und meinem Sohne, der nicht zu Hause ist! – Aber mit einer ungeduldigen Geberde machte Leonie sich von ihr los, und rathlos sank die alte Frau auf ihren Stuhl zurück.

Mit freudestrahlendem Auge betrachtete indessen die Kranke das junge Mädchen, das neben ihr auf die Kniee gesunken war. Ja, du bist mein Kind, meine Tochter! meine einzige Tochter! mein Eigen, mein süßes Eigenthum! und leidenschaftlich küßte sie des Mädchens Stirn, Haare und Hände, die sie fest an ihren Busen geschlossen hielt.

O meine Mutter, warum das Alles? rief Leonie; aber der Ausruf verhallte ungehört, der Kranken ganzes Leben schien nur noch in ihren Augen zu liegen.

Laß dich anschauen! sagte sie leise, aber mit aller tiefen Glut ungesättigter Leidenschaft, laß dich anschauen! Laß mich sehen, wie schön du bist! O du bist schön! Du mußtest es ja sein. – Er war es auch. – O nur einen Zug des Lebens laß mich aus deinen Augen trinken, an deinen Lippen hängt ja der volle Becher! Einen Tropfen nur von dem Ueberfluß, der deiner Jugend entflieht! O du bist glücklich! – Sei es – aber vergiß deine Mutter nicht!

Die furchtbare Aufregung fing an, sich zu legen, sie schloß die Augen und lehnte den matten Kopf an die Polster zurück. Leonie drückte zitternd das Gesicht in die Kleider der Sterbenden.

Düstere Gedanken schienen bei dieser die Aufwallung der ersten Freude nach und nach zu verdrängen; die dunklen, geisterhaften Augen öffneten sich von Neuem und hefteten sich mit verzehrendem Feuer auf die bebende Leonie. – Fürchte dich nicht, sagte sie endlich, und ihre Stimme klang hohl, sieh mich an – die Minuten sind mir gezählt – sieh deine Mutter an, bevor du sie auf ewig verlierst. – Deine Mutter, die der langen Marter endlich erliegt. – Ja, auch ich war einst schön und jung wie du, aber es war Einer da, der stärker war als ich – und der mich zertrat, bis ich das geworden bin, – was du jetzt an mir siehst. Aber du wirst mich rächen; Jahrelang habe ich nach diesem Augenblicke gelechzt, daß ich nicht sterben konnte ohne ihn. – Und du bist mein eigen Kind – ich habe mich nicht getäuscht, – und dein soll die Rache sein, daß ich mich noch im Grabe freuen kann! – Schwöre deiner Mutter, daß du sie rächen willst! – Schwöre! wiederholte sie fast tonlos und mit drohend erhobenem Finger, als das junge Mädchen sprachlos und bleich mit großen, schreckenvollen Augen zu ihr aufsah!

Da wurde die Thüre aufgerissen. Leonie! rief es laut, und ein gleichzeitiger Schrei der drei Frauen gab Antwort auf den Ruf. Es war der Graf, der eingetreten war. Leonie! wiederholte er, und in seinem Tone rangen Zorn und Schrecken um die Oberhand. Rasch ging er auf sie zu, aber mit einem wüthenden Blicke warf sich, die Kranke in die Höhe und schlug beide Arme über das junge Mädchen zusammen. Was willst du? rief sie, Diese ist mein, du hast keinen Theil an ihr.

Dein Platz ist nicht hier, Leonie, sagte jetzt der Graf mit wiedergewonnener Ruhe; entferne dich.

Mechanisch erhob sie sich, um zu gehorchen; aber es war nur ein flüchtiger Augenblick, und wenn der Graf die düstere Leidenschaftlichkeit dieser verschlossenen Natur nicht in ihrem richtigen Maß schon früher erkannt, so bot sich ihm jetzt die Gelegenheit dazu. Regungslos stand sie vor ihm und sah ihm zum ersten Male furchtlos in die Augen in einem starren, finsteren Trotze, in dem ihre zarte Gestalt weit über natürliche Größe emporzuwachsen schien. – Ich bleibe! sagte sie leise, aber fest. Ein heiseres Lachen klang durch das Zimmer; es war die Kranke, die triumphirend zu dem Grafen hinübersah.

Seine Augen blitzten, und eine dunkle Röthe bedeckte seine Stirne. Doch noch einmal bezwang er sich, er trat dem Lehnstuhle näher, in welchem die Kranke lag, und legte seine Hand auf Leonieʼs Haupt.

Ich werde sie beschützen, selbst gegen dich, sagte er. Was du ihr sagen willst, paßt nicht für ein so junges Ohr. Er sah nur den Blick der Kranken, es war ihre einzige Antwort, aber dieser Blick war eben so lauernd, entschlossen und kalt, als er ihn nur je in der vollen Kraft des Lebens an ihr gesehen. Einen Augenblick dachte er daran, das Mädchen mit Gewalt fortbringen zu lassen, aber eben so schnell gab er den Gedanken wieder auf. Seine Gestalt hob sich höher, sein zürnender Blick begegnete fest dem ihrigen.

Gut, so werde ich reden, fuhr er mit langsamer Betonung fort, und dann wähle zwischen mir und dir. Da ging eine merkwürdige Veränderung mit der Kranken vor; ihr Auge schien vor dem des gehaßten Mannes zurückzuweichen, das stechende Feuer, das ihn daraus angeglüht, erlosch nach und nach, sie schlug die bleichen Hände zitternd vor das Gesicht. Geh, hauchte sie fast tonlos, geh, Leonie, es ist besser so! und sie zog sich immer tiefer in den Lehnstuhl zurück, als schauere sie vor einem entsetzlichen Gebilde ihrer Phantasie.

Zögernd blickte das junge Mädchen zu ihr auf. Da trat der Graf hinzu, hob sie fast mit Heftigkeit von der Erde, zog sie zurück und hielt sie an seiner Seite fest. Die Augen der Sterbenden folgten ihm mit einem furchtbar angstvollen Blicke. Jetzt wendete er sich wieder zu ihr.

Du hast keinen Priester sehen wollen, daß er die Qualen deiner Seele zur Ruhe spreche, obgleich ich dich wiederholt darum bitten ließ. Nun bin ich selbst gekommen, dir ein Wort der Versöhnung mitzugeben in die letzte Heimath, zu welcher du nun gehst. Möge der Himmel dir ein milder Richter sein! Du weißt, ich habe dir längst verziehen.

Da blitzten die Augen der Unglücklichen zornglühend auf. Ich will keine Verzeihung, schrie sie laut, daß es in dem Zimmer widerhallte und Jeder entsetzt von ihr zurückwich, was habe ich mit dem Himmel zu thun? Was brauche ich deine Verzeihung? Ich fühle keine Reue – was ich that, ich thäte es wieder. – O, daß es nicht gelungen ist! Jede Freude hast du mir genommen, jede Lust des Lebens hast du mir zerstört. – Fluch dir! – Fluch Allen, die in meinem Wege standen! Weg mit deiner Verzeihung! Dem Schicksal fluche ich, das mich zertrat – und Rache – Rache – ja, Rache – Die Kräfte versagten ihr, und sie sank bewußtlos zurück. Auf ein Zeichen des Grafen wurde Leonie halb ohnmächtig hinausgebracht.

Er ließ einen Wagen kommen und fuhr mit ihr nach dem Schlosse zurück. Noch bevor er das Haus verließ, war Alles beendet, und die unglückliche Frau hatte die Ruhe gefunden, die ihr auf dieser Erde so lange Zeit gefehlt.

Gleich nach ihrer Rückkehr auf das Schloß zog sich Leonie in ihr Zimmer zurück. Kein Wort war seit dem furchtbaren Vorgang über ihre Lippen gekommen; sie schüttelte verneinend den Kopf, als der Graf ihr rieth, die Kammerfrau bei sich wachen zu lassen, und er kam selbst ein paar Mal während der Nacht, nach ihr zu sehen. Aber sie lag, ohne sich zu rühren, und er erhielt weder Blick noch Wort. Die Einsamkeit und Stille der Nacht thaten ihr wohl. Alles brannte und tobte in ihr, und der Schritt ihres Vaters ging wie ein scharfer Messerstich durch ihr Gehirn. Dennoch saß sie am folgenden Morgen angekleidet und äußerlich gesammelt, als wäre Nichts geschehen, an ihrem Platze bei dem Frühstücktisch. Der Graf machte keine Bemerkung, nur sagte er nach dem kurzen Mahle: Ich habe mit dir zu sprechen, und schweigend folgte sie ihm auf sein Zimmer. Setze dich! sagte er, und sie gehorchte seinem Befehl. Ihr gegenüber nahm er Platz.

Es sind diese Nacht Dinge vorgefallen, sagte er mit einem tiefen Ausdruck von Ernst, Trauer und Besorgniß, wie Leonie nie an ihm gesehen, es sind Dinge vorgefallen, die zu verhindern seit Jahren mein stetes Bemühen war. Welchen Eindruck sie auf dich gemacht, ist mir nicht möglich zu ermessen, und ich kenne dich genug, um zu wissen, daß es nutzlos wäre, dich darüber zu befragen. Dir die Gründe meines Betragens auseinander zu setzen, ist mir nicht möglich, und für dich könnte es nur schädlich sein. Ich mußte so handeln, wie ich handelte, und das schreckliche Ende der unglücklichen Frau, die dir das Leben gab, sagt dir deutlich genug, daß die Schuld nicht auf meiner Seite ist.

Leonie antwortete nicht.

Der Graf fuhr nach einer Pause fort: Da der Aufenthalt auf diesem einsamen Schlosse mir jetzt nicht rathsam für dich erscheint und deine Ausbildung überdies einer größeren Vollendung bedarf, als Fräulein Pertold allein sie dir mittheilen kann, so ist es meine Absicht, schon morgen mit dir nach B. abzureisen. Halte dich also zu früher Morgenstunde bereit. Fräulein Pertold wird uns begleiten. Du kannst gehen.

Leonie erhob sich, und nach einer Verbeugung, die der Graf nur kalt erwiderte, entfernte sie sich aus dem Gemach.

So war also ihr sehnlichster Wunsch erfüllt, bevor sie dessen Erfüllung nur möglich geglaubt. Sie sollte in die Welt, diese zauberhafte Welt, von deren Wundern Fräulein Pertold zu erzählen pflegte, den Eifer ihrer Schülerin anzufachen, auf jener glänzenden Bühne die eigene Rolle einst mit Ehre zu bestehen. Was ging in Leonie vor, während sie da, auf ihrem Bett sitzend, unter dem Wortschwall der entzückten Gouvernante die träumerischen Augen durch das Zimmer gleiten ließ, das sie durch so viele Jahre mit ihren heißblütigen Träumen und Plänen in verschwiegener Treue beschirmt? War es die Trauer des Scheidens, die sich nun im letzten Augenblicke über ihre Seele stahl? Nein, Trauer war es nicht. Auch Freude konnte man es nicht nennen, wenigstens nicht jene Freude, die sie sich so oft vorgespiegelt empfinden zu müssen, bräche dieser Tag des Scheidens jemals für sie an. Zu viel bittere Gefühle mischten sich darein. Die Entdeckung dieser Nacht, das Bewußtsein, daß der Riß zwischen ihr und ihrem Vater dadurch unheilbar geworden und keine Verstellung von ihrer Seite jemals genügen könne, ihn auszufüllen; die Empfindung trotzigen Hasses, welche aus diesem Bewußtsein und dem Schicksal ihrer Mutter entsprang und, nur von Angst und Grauen gedämpft, sich scheu unter einen anderen Namen verkroch, und zu welchem die frühere Entfremdung nur zu sehr den Weg gebahnt, das Alles lag dumpf auf ihrem Herzen und übertönte die lockende Stimme in ihr, die so leidenschaftlich nach Glanz und Vergnügen schrie.

Und doch mischte sich darin kein Schmerz um jene Mutter, die, kaum gefunden, ihr fast in demselben Augenblick unwiederbringlich durch den Tod entrissen war. Leonie bedurfte einer Mutter nicht. Die Weichheit, die in der Brust fast jeden Weibes nach einer festeren Stütze begehrt, fehlte in ihrem Charakter, oder war wenigstens längst in ihr erstickt. Fast schneller noch als die kleinen Füße, die sie so leicht und stark über jedes Hinderniß trugen, das ihr im Wege lag, hatte ihr Geist allein gehen gelernt, und keine Hand der Liebe hatte ihn dazu geführt. Und nach der ersten Aufwallung war nichts in ihr geblieben, als ein düsteres Brüten, ein staunendes Entsetzen über das, was ihr Vater gethan. Was konnte er nicht Alles noch thun, wenn er das im Stande gewesen! Und hatte auch, wie sie es aus den halben Aeußerungen Beider zu entnehmen glaubte, ihre Mutter die größte Sünde begangen, die ein Weib, dem Manne gegenüber, begehen kann; hatte dieser Mann darum das Recht, sie zu einem solchen Leben zu verdammen? Ein Leben, das nur ein langsames Sterben war! O lieber, viel lieber ein schneller Tod! Und Leonie, die den Werth der Freiheit kannte, weil sie ihrem inneren, zügellosen Wesen höchstes Bedürfniß war, schauderte, tief in sich zusammengeschmiegt.

Sie stand auf, ließ sich ankleiden, ging auf und ab und setzte sich wieder, bald hier, bald dort. Die Unruhe ihres Herzens ließ sich nicht beschwichtigen. Fräulein Pertold erzählte; die Kammerfrau weinte, die Heimat zu verlassen, und lächelte zwischen ihren Thränen, denn sie dachte doch auch an die mancherlei Zerstreuungen, die das Stadtleben bieten würde, und für welches sie durchaus nicht unempfindlich war. Dazwischen gingen die Vorbereitungen zur Abreise rüstig vor sich, und Leonieʼs Gedanken schwärmten weit von Allem weg, was um sie her sich begab. Aus dem Wagen blickte sie noch einmal nach dem Waldsaum zurück, wo ein vor Kurzem so heißes Herz jetzt so ruhig schlief, so ruhig und so kalt! Sie warf sich in die Wagenecke zurück; ihr Vater saß ihr gegenüber und schien für nichts Sinn zu haben, als für Pferde, Wege, Wagen und alle Bedürfnisse einer raschen Fahrt.

* * *

Ein Jahr ist vorübergegangen, unter dessen Einfluß das frühreife Mädchen schnell zur vollendeten Jungfrau herangeblüht. Leonieʼs Traum war erfüllt; sie war in die Welt eingetreten und an hohen und höchsten Orten vorgestellt worden, wo das Vorstellen gebräuchlich ist, und selbst ihr ehrgeiziges Herz war mit dem Aussehen zufrieden, das ihre Erscheinung überall hervorgebracht. Der Graf hatte sein Haus geöffnet, dem seine Tochter, unter Fräulein Pertoldʼs Leitung, mit aller Anmuth ihres Wesens verschönernd vorstand. Er machte kein Hehl daraus, daß er sie jung zu verheirathen wünsche, und er hatte ihr ein Heirathsgut ausgesetzt, das sie zu einer der glänzendsten Partieen des Landes machte und sie über die Nothwendigkeit heben sollte, nach Glücksgütern oder ihrem Aequivalent, einträglichen Aemtern, zu sehen. Freilich wachte er mit großer Sorgfalt darüber, daß nur solche Männer in sein Haus kamen, deren Ruf und Charakter ihm das Glück seiner Tochter zu verbürgen schienen, unter diesen aber ließ er ihr vollkommen freie Wahl.

Gegen die Hauptsache hatte Leonie nichts einzuwenden; auch sie wollte sich verheirathen, und zwar so schnell als möglich, und darin stimmte ihr Wille einmal mit dem ihres Vaters überein. Doch auf die Stimme des Herzens legte sie weit weniger Gewicht, als er, und der Graf hätte den Kreis, der sie umschloß, immerhin etwas weiter ziehen können; Leonie hatte praktische Ansichten, weggeworfen hätte sie sich nicht. Sie hatte sich ein eigenes Bild von dem Manne gemacht, den sie mit ihrer Hand beglücken wollte. Auf Rang und Geburt hielt sie wie ihr Vater, vielleicht noch etwas mehr; Frauen sind von Natur conservativ; in allem Andern wich sie vollkommen von ihm ab.

Vor allen Dingen mußte sie durch ihre Vermählung so gestellt werden, daß jeder fernere Einfluß, den ihr Vater auf ihr Leben nehmen könnte, dadurch abgeschnitten war, und Reichthum schien ihr dazu eine unerläßliche Bedingung zu sein. Ihre Mitgift aber, so bedeutend sie war, schien in Leonieʼs Augen nur eine goldene Nuß, knapp hinreichend, drei Wünsche zu erfüllen, und sie war keineswegs gesonnen, Haus und Hof damit zu erhalten. Reich, sehr reich mußte also der Erwählte sein, und nicht nur reich, auch hochgestellt. Das war das Zweite, was ihr zu ihrem Zwecke nöthig schien. Außerdem sichert der Ehrgeiz des Mannes der Frau manchen Vortheil, der in diesem bunten Schauspiel der Gesellschaft, wo der Schein eine so wichtige Rolle spielt, nicht zu übersehen ist. Darauf beschränkten sich denn, auch ihre Forderungen. Alles Andere war von untergeordneter Bedeutung, nur an diesen zwei Punkten hielt sie fest. Nun drängte sich zwar eine bedeutende Schaar von Bewerbern um die schöne, reiche Erbin, aber bei der strengen Sichtung, die ihr Vater mit ihnen vornahm, blieben nicht immer die Reichsten und Angesehensten zurück, und bis jetzt war Keiner erschienen, welcher die von Beiden gewünschten Eigenschaften vereint in genügendem Grade besaß.

Aber Leonie konnte warten. Sie kannte ihre Macht zu gut, um über den Erfolg im Geringsten zweifelhaft zu sein. Der Spiegel hatte ihr es oft genug gezeigt, was sie so gerne sah; und hätte er es auch nicht gethan, die stumme und laute Bewunderung, die sie überall, wo sie sich zeigte, wie ein berauschender Duft umgab, hätte sie hinreichend darüber aufgeklärt. Zwar war ihre Schönheit gerade nicht von der Art, welche man mit dem Worte glänzend bezeichnet; sie war zu fein und ätherisch, um auf irgend eine Weise in die Augen fallend zu sein; doch riß der Blick, der ihr einmal folgte, sich nur mit Mühe von ihr los. Und wem hatte diese weiche, kindlich zarte Gestalt, mit dem schwebenden, elastischen und doch schüchternen Schritt, die dunklen Augen, unter deren langen Wimpern der Blick wie eine scheue Bitte sich nur furchtsam hervorzustehlen schien, das wundersame, süß geheimnißvolle Lächeln, das die seinen Lippen umschwebte und Jeden unwillkürlich aufzufordern schien, zu erforschen, was sich dahinter verbarg; das Licht mit Schatten wechselnd, das über die feinen, beweglichen Züge ging und kam, in ewig neuem, wechselnden Reiz; wem hätte Alles dies nicht wenigstens ein Gefühl lebhaften Interesses eingeflößt, das sehr geeignet war in eine tiefere Huldigung überzugehen? Wer konnte es ihr nachmachen in der schweren Diplomatie der Toilette, die mit dem französischen Blut ihrer Mutter auf sie übergegangen war? Welch tiefes Verständniß lag in der anspruchslosen Kleidung, die selbst des einfachsten Schmuckes zu entbehren schien und doch durch ein unerreichbares Etwas allen Schmuck der Andern verdunkelte!

Genie ist unmittelbare Offenbarung der verklärten Natur, und zu jeder höheren Vollkommenheit, wäre es auch nur Koketterie, gehört Genie. Und wenn die noch nicht siebzehnjährige Kokette nachlässig hingegossen, mit dem Fächer spielend, an banger Scheu und Sittsamkeit es der Sprödesten zuvorthat, so wußte sie dabei ganz genau, daß an jeder Locke ihres blonden Haares, an jedem süß verstohlenen Blick mehr Augen und Herzen hängen blieben, als die blendendste, offen zur Schau getragene Schönheit zu erobern vermochte.

Das war Etwas, und für den Augenblick war es genug. Ohne mit Bestimmtheit Hoffnungen zu erwecken, die sie zu erfüllen nicht gesonnen war, und doch ohne Einen ihrer zahlreichen Bewerber zu entmuthigen, ging sie ruhig ihren Weg. Einer zieht den Andern an, dachte sie, und der Beste von diesen ist noch immer besser als gar keiner, wenn ich doch endlich zu einer schlechten Wahl schreiten soll.

Sie hatte tausend kleine Mittel bei der Hand, den Schüchternen die Hoffnung zu erhalten und den Zudringlichen zu beweisen, daß Geduld die Wurzel alles Gelingens sei, und ihre Sittsamkeit leistete ihr treffliche Dienste dabei. Dennoch erfaßte sie manchmal ein Mißbehagen, ein Zorn gegen sich selbst und die Welt – aber es war der Zorn über die weite Ferne des Zieles, das sie sich gesetzt, und das trotz alles Bemühens noch immer von ihr zu weichen schien.

Endlich ging ein glänzender Stern an dem Horizonte ihrer Hoffnungen auf, und sogleich wurden alle Mittel in Bewegung gesetzt, damit diese Erscheinung keine vorübergehende sei. Niemand sah den Weg, den sie ging; kein Blick, kein Lächeln wurde aufgefangen, das sie nicht jedem Andern eben so süß und hold und verschämt gegönnt, und doch fühlte Derjenige, den es anging, sich mit jedem Tage fester von einem unsichtbaren Zaubernetze umspannt. Er ging und kam zuerst zufällig, dann nach und nach die Häuser suchend, wo er denken konnte sie vielleicht zu sehen; und immer enger fühlte er sich von den unzerreißbaren Fäden umstrickt, und immer häufiger nach einander folgten sich ihre Begegnungen mit ihm, bis sie eines Morgens seine Karte auf dem Schreibtische ihres Vaters fand. Und noch immer hatte kein Mensch, selbst ihr Vater nicht, eine Ahnung von dem großen Werke, das sie so still und heimlich und sicher angelegt.

Wenn sein Blick so prüfend an ihr hing, da es einem so reizenden Geschöpfe galt, erregte es weiter keine Aufmerksamkeit; der Ernst, der ihm eigen war, schien sogar tiefer geworden in der letzten Zeit, und wenn sie mit so reizendem Erröthen die strahlenden Augen in schüchterner Frage zu ihm ausschlug, und mit so tiefer Ehrerbietung den meist kurzen Antworten lauschte, was war es weiter als die Befangenheit, die einem jungen Gemüthe, dem Uebergewicht an Jahren und Erfahrung gegenüber, so natürlich ist? Weiter dachte man nicht, und kein Mensch sah oder errieth, daß dieser Mann Alles besaß, was für Leonie die Panacee des Lebens war. Was ein jüngeres Gemüth – denn Leonie, obgleich jung an Jahren, war alt im Geiste, älter vielleicht als mancher vielgelebte Greis – was also ein jüngeres Gemüth abgeschreckt hätte, das waren für sie nur Stäubchen auf einem Gemälde, die ihr befriedigtes Auge leicht übersah. Was wollte sie auch mehr? Freilich war er nicht jung, aber wie dankbar würde er in diesem Bewußtsein für jede kleine Aufmerksamkeit sein! Freilich war er nicht schön, aber häßlich im Grunde auch nicht, und eine Frau konnte sich immerhin an seinem Arme sehen lassen und noch den Neid ihrer Gefährtinnen erregen. Von seinem fabelhaften Reichthume hatte Leonie oft genug gehört, und wie viel er beim Könige galt, wußte alle Welt. Selbst ihr Vater mußte sich im Ganzen als befriedigt erkennen; Graf Hoheneck war ein Ehrenmann, und wenn auch nicht von der romantischen Sorte, wie die Phantasie eines jungen Mädchens sie so gerne träumt, in den Augen ihres Vaters konnte das kein großer Fehler sein, und wir wissen es, Leonie hatte nicht viele jugendliche Träume gehabt.

O wenn der Vater ihm nur den Zutritt gestattet! sagte sie sich, das kleine Blättchen in ihrer Hand um und um besehend, als suche sie darauf die Spur zu finden, welche die mögliche Zukunft ihm vielleicht eingedrückt, und wenn er es auch nicht gestattet, fuhr sie in ihren Gedanken fort, es ließen sich wohl Mittel und Wege finden – wenn nur – an diesem „wenn nur“ blieben ihre Gedanken haften, während sie die Treppe hinunterging und in den Wagen stieg, der ihrer wartete, und alle gewagten Möglichkeiten, welche die verzweifelnde Liebe ersinnt, um zu dem ersehnten Ziele zu gelangen, zogen während der Fahrt nach einander durch Leonieʼs liebeleeren Sinn.

Aber zu solchen Maßregeln sollte sie nicht getrieben werden. Schon bei der Rückkehr von der Spazierfahrt trat ihr Graf Hoheneck aus dem Hause entgegen. Er verbeugte sich tief und folgte mit den Augen dem feinen, anmuthigen Wesen, das, fast wie ein Hauch, mit kaum merklichem, schüchternem Gruße an ihm vorbeischwebte und, ohne ihn anzusehen, um die Biegung der Treppe verschwand.

Also hat der Vater ihn angenommen, dachte sie; nun wohl, desto leichter ist der Sieg. Und sie irrte sich nicht, der Sieg war leichter, als sie es geglaubt, denn schon nach einigen Tagen hielt Graf Hoheneck um sie an, und die junge Rechnerin hatte ihr langerstrebtes Ziel erreicht.

Du bist also seinem Antrage nicht abgeneigt? sagte ihr Vater mit besorgter Miene zu ihr, als sie, ihm gegenüber sitzend, mit ernster Miene und niedergeschlagenen Augen ihn anhörte.

Durchaus nicht, Papa, was kann ich Besseres erwarten?

Den Einklang der Jahre. Bedenke, der Graf könnte dein Vater sein!

Wirklich? mir scheint er nicht so alt.

Wenn dein Herz trotzdem für ihn spricht, fuhr der Graf mit einem Seufzer fort, so kann ich nichts dagegen haben. Du scheinst ihm große Hoffnungen gegeben zu haben, wenigstens ließ er es mich verstehen. Uebrigens ist er ein Ehrenmann.

Sein Vermögen soll bedeutend sein, sagte Leonie, mit ihrem Armbande spielend.

Ich wollte, du hättest andere Gründe, ihm den Vorzug zu geben, versetzte der Graf. Indessen er ist reich. Aber vergiß nicht, daß der Reichthum des Mannes ebensowenig das Glück der Frau sichert, als die Schönheit der Frau jenes des Mannes, wenn nicht ein tieferes Verständniß sie aneinander knüpft.

O, das weiß ich, sagte Leonie, in ihrem Spiele fortfahrend; aber Sie sagten ja selbst, er sei ein Ehrenmann.

Ich glaube wenigstens, daß er es ist. Doch das allein ist noch nicht genug, daß du ihn von Herzen lieben kannst, und dazu scheint mir der Graf nicht der Mann zu sein. Ich wollte, du gingest ernstlich mit dir zu Rathe, bevor du ein Bündniß schließest, worauf die ganze Zukunft deines Lebens beruht.

Der Graf scheint mir alle Eigenschaften zu besitzen, die ich in dem Manne wünsche, den ich heirathen soll. Ich achte ihn und ziehe keinen Anderen vor. Ist das für den Anfang nicht genug? fuhr Leonie mit einer so unschuldigen Miene, daß ihr Vater, der Leser verzeihe uns, sich stark versucht fühlte, ihr eine Ohrfeige zu geben.

Für den Anfang vielleicht, sagte er ärgerlich, aber wird es immer so bleiben? Der Friede – die Heiligkeit der Ehe, die Bande der Familie beruhen alle auf der Treue der Frau —

Habe ich in meinem Benehmen eine Spur von Leichtsinn gezeigt, Papa, so bitte ich, es mir zu sagen, damit ich mich ändere, versetzte Leonie auf das Ehrerbietigste.

Nein, das hast du nicht, sagte der Graf mit einem Seufzer der Entmuthigung; ich wollte fast, du hättest es – dann könnte ich doch wenigstens hoffen – daß – Er hielt inne – Leonie schwieg. – So kann ich dem Grafen also sagen, daß du seinen Antrag annimmst? frug er dann.

Wenn Sie die Güte haben wollen, Papa, sagte Leonie, sich erhebend; kann ich mich jetzt entfernen?

Du kannst gehen! und mit einer leichten Handbewegung entließ er sie.

Endlich! sagte Leonie, als sie den Augenblick danach im Gefühle ihres Triumphes in ihrem Zimmer stand, nun endlich ist das Leben mein, und ich kann es gestalten, wie ich will. Ihre Brust hob sich, ihr Auge leuchtete – sie blieb stehen und versank allmählich in Gedanken.

Und hatte dieses junge Mädchen, das so ruhig in der ersten Blüte ihres Lebens sich zu einer Convenienz-Heirath entschloß, hatte sie denn gar keine Ahnung von dem Opfer, das sie dem Moloch ihres Ehrgeizes brachte? Hatte denn nie eine Stimme in ihrem Herzen von höheren Freuden gesprochen, als denen, welche die Eitelkeit gewährt?

O doch! so gar trocken war die Seele doch nicht, die in diesem blütenfrischen jungen Busen schlug. Auch an ihr Herz hatte der Frühling geklopft, und daß sie ihm nicht aufgethan, das war freilich ihre Schuld, aber er war darum nicht minder da gewesen, sie hatte ihn gesehen, und gerade jetzt überlief sie ein warmer Schauer bei der glänzenden Erinnerung. Man sagt von der Liebe, daß sie ein Funke sei, der einschlage und zünde, man wisse nicht wie und woher. Fast so war es Leonien gegangen, und das war eben der eigenthümliche Widerspruch in ihrem Wesen, der ihr fast über Jeden, welcher mit ihr in Berührung kam, eine so schrankenlose Macht verlieh: die tiefe Leidenschaftlichkeit, die jeden Augenblick aufbrausen konnte, über alle Hindernisse und Gesetze hinaus, und die kalte Berechnung, welche diese Leidenschaftlichkeit unter ein eisernes Joch zwang. – Zwang? – wenigstens für jetzt.

Es war an einem Abend in der Oper. War es die weiche Schwingung der Musik, welche ihre Seele gefangen nahm? Sie saß in der Loge zurückgelehnt, einer schwankenden Träumerei hingegeben, die ihr sonst nicht gewöhnlich war, und ohne sich Rechenschaft davon abzulegen, hingen ihre Augen an dem Kopf eines jungen Mannes, der nicht weit von ihr, in dem halbverfinsterten Hintergrund einer anderen Loge saß. Er selbst war ihr unbekannt, und ebenso die Gesellschaft, in welcher er sich befand. In dem schwebenden Spiele ihrer Phantasie, von den Tönen der Musik gehoben und begleitet, suchte sie die Linien dieser Stirn zu entziffern, von welcher das dunkle, glänzende Haar in reichen Wogen zurückgeworfen war.

Plötzlich sah er auf, sein Blick begegnete dem ihrigen. Es war ein Blitz. Leonie fuhr auf, durch alle Fibern schoß der elektrische Funken, und das Blut wallte heiß in ihr auf. Es war nur ein Augenblick, eine sonderbare Betäubung folgte nach, sie senkte die Augen und lehnte sich zurück. Die leuchtenden Blicke des Unbekannten ruhten noch immer in offenbarer Bewunderung auf ihr. Leonie wandte fast unmerklich den anmuthigen Kopf von ihm weg. Ihr Vater hatte sie nicht begleitet, nur Fräulein Pertold saß in der Loge neben ihr, und zu dieser neigte sie sich: Wer ist der junge Mann dort in der Loge? fragte sie. Aber die Gouvernante wußte es nicht.

Der junge Mann dort links mit den schwarzen Augen, der soeben nach uns gesehen hat? sagte ein Bekannter ihres Vaters, der vor einigen Minuten in ihre Loge getreten war, indem er das Opernglas von den Augen nahm.

Derselbe, versetzte Leonie, scheinbar mit der tiefsten Ruhe. Er kommt mir so bekannt vor, doch weiß ich nicht, wo ich ihn hinthun soll.

Das kann ich Ihnen sagen: er ist ein Emigrirter von sehr vornehmer französischer Familie, der sich für den Augenblick hier aufhält.

Ah so, meinte Leonie, so habe ich mich doch getäuscht. Derjenige, den ich meine, ist freilich auch ein Ausländer, aber ein armer junger Mann.

Was das betrifft, so könnte es immer derselbe sein. Ich glaube nicht, daß er große Schätze aus Frankreich mitgebracht hat.

Ich habe mich doch geirrt, er kann es nicht sein, sagte Leonie und wandte den ganzen Abend das Gesicht nicht mehr nach der Loge hin.

Aber in ihrem Herzen war es nicht so still, und mit ihrer Aufmerksamkeit auf die Musik war es vorbei. Schon vor dem Ende des Stückes entfernte sie sich. Als sie durch den Gang hinter den Logen schritt, streifte ihr Kleid an den Fremden an; ein heißer Stich fuhr durch ihr Herz, doch sie ging vorüber, ohne aufzusehen, und zu Hause angekommen, schloß sie sich gleich in ihr Zimmer ein.

Sie suchte den Eindruck los zu werden, der ihr so ungelegen gekommen war. Sie beschäftigte sich, räumte, kramte, Alles umsonst. Sie versuchte einen Brief fertig zu schreiben, der angefangen auf ihrem Tische lag, und mitten im Schreiben entfiel die Feder ihrer Hand, der Kopf sank auf das Papier; sie war im Theater, die Musik brauste, die Melodieen schmolzen in einander, süß, weich und verlockend, und der Blick des Unbekannten umwebte sie mit einem entnervenden Netz. Mit Gewalt riß sie sich los und nahm die Feder wieder auf, aber kein Gedanke wollte kommen, und sie schleuderte sie zornig weg. Hatte sie denn nicht mehr Gewalt über sich? Sie stand auf, sie stützte die Hand auf den Tisch und sah finster vor sich nieder.

Ich bin mein eigener Herr, sagte sie zürnend und wie drohend dem Bild entgegentretend, das hartnäckig vor ihrem inneren Auge stand. Wer wird mich zwingen zu fühlen, was ich nicht fühlen will? Hinweg mit dieser Thorheit! mein Weg liegt klar von mir, und wer wird sagen, daß ich ihn nicht gehen soll? – Sie läutete ihrem Mädchen und ließ sich entkleiden, und welcher Art auch die Träume waren, die in dieser Nacht sie umschwebten, ihr Wille stand fest, es war der unbeugsame Wille, den sie von ihrer Mutter geerbt.

Doch so leichten Kaufes sollte sie der Gefahr nicht entgehen. War es eine Warnung, die ihr der Himmel gab? Wohin sie ging, begegnete sie dem Fremden; es war, als führe eine unsichtbare Hand ihn ihr immer in den Weg. Er suchte sich ihr nicht zu nähern, nicht einmal sein Name wurde ihr genannt, und sie wich jeder Gelegenheit dazu mit Sorgfalt aus. Aber immer übten seine Blicke auf sie dieselbe magnetische Kraft aus, der sie sich nicht zu entringen wußte. Allein wir wissen es, Leonie war nicht diejenige, die sich durch solche Eingebungen leiten ließ, und der Empfindung, die sie nicht ganz ersticken konnte, trat sie entgegen mit einer Art von Haß.

Da trat die Versuchung plötzlich von einer Seite an sie heran, wo sie am wenigsten darauf vorbereitet war.

Auf einem Balle, den sie kurze Zeit nach ihrer Verlobung, noch immer unter Fräulein Pertoldʼs tugendhaftem Schutz, besuchte, hatte sie sich, um von dem Tanze auszuruhen, neben eine sogenannte Freundin gesetzt. Wir sagen „sogenannt“, denn Leonie war weit über das Bedürfniß nach einer Freundin hinaus.

Von allen süßen Kleinigkeiten, die ein Mädchenherz ausfüllen, und die Eine der Anderen als wichtige Geheimnisse anzuvertrauen pflegt, hatte sie nie eine Ahnung gehabt, und hörte sie ja einmal davon, so war ein mitleidiges Lächeln ihre einzige Antwort darauf. Das reine Aufdämmern des Gefühles, das ahnungsvoll vor dem Geheimniß des Lebens stehend, nur nach einer Schwester zu begehren glaubt, um in Liebe zu dieser aufzugehen, war Leonien fremd geblieben, wie so manche andere Blüte der Jungfräulichkeit. Und wie sie keines Vertrauens bedurfte, so flößte sie auch keines ein, und sie stand einsam unter den Mädchen ihres Alters, deren Kreis, wenn sie sich ihm nahte, scheu vor ihr auseinander wich. Aber Marie von Lobenstein war die Tochter eines Mannes, der mit ihrem Vater zugleich in Frankreich gewesen war. Von ihm hatte Leonie gehört, daß sie die strahlenden Augen ihrer Mutter geerbt, und mehr von dieser Mutter zu erfahren, war der Grund, warum sie sich näher an seine Tochter schloß. Aber sei es, daß der Baron geheime Instructionen von Leonieʼs Vater erhalten, sei es, daß er ihr vorsichtiges Ausforschen nicht verstand, der verpönte Name kam nicht mehr aus seinem Munde. Das junge Mädchen hatte er indessen zu seinem besonderen Lieblinge gemacht. All ihre kleinen Liebenswürdigkeiten, Schmeicheleien (chatteries, wie die Franzosen sagen), die so sehr dem unwiderstehlich reizenden Getändel eines lieblichen Kindes gleichen, gewannen ihm ihr Herz im Siegesschritt. Das ist ein Wettermädel, pflegte er zu sagen; die könnte ein Regiment um den Finger drehen, und ihren Mann wird sie unter dem Pantoffel haben, daß er nicht wissen wird, wie ihm geschieht.

Dieses Urtheil, das so gründlich zutraf, wie er es gar nicht dachte, störte ihn in seiner Vorliebe keineswegs, und es schmeichelte ihm, daß Leonie seine Tochter all ihren anderen Gefährtinnen vorzog. Marie selbst bewunderte ihre Freundin in einfacher Aufrichtigkeit und sprach es bei jeder Gelegenheit sehr ruhig und unumwunden aus. Sie war überhaupt ein einfaches, natürliches Wesen, diese Marie, offenbar ohne jede Koketterie, denn sie selbst war es jetzt gewesen, die ihre Freundin herangewinkt, obgleich sie in ihrem reichen Ballschmucke, dem die deutsche Mutterliebe alles mögliche Schöne aufgehängt, sich nicht zu ihrem Vortheil neben Leonieʼs duftigem weißem Gewande ausnahm, an dem nur hie und da eine Blumenknospe sich schüchtern wie die Trägerin aus dem anmuthigen Faltenwurfe hervorzustehlen schien. Doch war sie schön, viel schöner für die Menge als Leonie, frisch und blühend, mit dunklem Haar und wolkenlosen braunen Augen, die offen und verständig in die schöne Welt ihrer achtzehn Jahre hinaussahen.

Mit wem spricht dein Vater dort? sagte Leonie plötzlich mit bebender Stimme zu Marie, deren. Aufmerksamkeit auf einen anderen Punkt gerichtet war.

O, versetzte diese, nachdem ihr Blick der Richtung von Leonieʼs Augen nach dem fernen Winkel des Saales gefolgt, wo ihr Vater mit einem jungen Manne sprach, der von ihnen abgewendet stand: das ist ein Emigrirter. Mein Vater hat seine Mutter in Frankreich gekannt, und er schwärmt noch immer für sie. Vor einigen Tagen erfuhr er, der Sohn befinde sich hier. Sogleich hat er ihn aufgesucht und ihn auch in Beschlag genommen, der alten Freundschaft zulieb. Seine Mutter muß wirklich eine vortreffliche Frau gewesen sein, und auch der Sohn ist ein ganz liebenswürdiger Mensch.

So? sagte Leonie.

Ja, und gut. Du kannst dir gar nicht denken, wie er diese Mutter liebt! Wäre es nicht rührend und schön, es könnte langweilig sein. Er hat auch nur sie gehabt, denn er war noch ein Kind, als sein Vater sich erschoß. O, es ist romantisch! Soll ich ihn rufen, damit du dir ihn ansehen kannst?

Ich? rief Leonie mit einem Tone so wahren Entsetzens, daß Marie sie überrascht ansah.

Worüber erschrickst du denn so? frug sie dann.

O, du weißt, er wird glauben, daß es auf eine Einladung abgesehen ist, und ich bin so müde, daß ich gar nicht mehr tanzen mag.

Marie brach in ein unterdrücktes Lachen aus. O, darüber brauchst du nicht zu erschrecken, sagte sie dann. Er tanzt nie, und es ist viel, daß er überhaupt gekommen ist; das habe ich ihm angethan. Einen Ball hält er, glaube ich, für eine Ausgeburt des Bösen, der die armen Menschen damit zur Sünde zu verlocken sucht. Ich bin überzeugt, er steht dort wie auf Nadeln – du glaubst nicht, was für ein Sonderling er ist.

Eure Wege sind nicht meine Wege

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