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Jonas Nilsens Mutter hat einen Fernseher in der Zelle. Und einen kleinen Schreibblock und einen Tisch und ein Bücherregal mit fünf Büchern. Sie hat einen Kleiderschrank mit T-Shirts und Hosen, sie hat einen Kalender an der Wand, mit Bildern von Hundebabys. Puppies 2007 steht darauf. Sie hat einen Spiegel und eine Haarbürste und einen Heizkörper hinter einem Gitter.

Und auf einem Brett über dem Bett hat sie ein Bild von sich und Jonas. Dieses Bild ist vor sechs Jahren aufgenommen worden. Jonas sitzt neben ihr auf der Treppe zu Hause in Krattbo. Ihr Lippenstift ist rosa und ihr Trägerkleid grün. Er hat einen dunklen Struwwelkopf und dunkle Augen. Er sieht skeptisch aus. Genervt. Obwohl er ein Eis in der Hand hält. Obwohl es noch über einen Monat dauern wird, bis seine Mutter einen Mann tötet.

Marita Nilsen geht zu dem Bild und streicht Jonas über die Wange.

Sie spürt nichts unter ihren Fingerspitzen.

Nur kaltes Glas.

Jonas Nilsen ließ sich Zeit im Badezimmer. Er stand vor dem Waschbecken und beugte sich zum Rasierspiegel vor. Der war auch ein Vergrößerungsglas, er war zwei Dinge in einem, im Prinzip konnte man alles sehen. Alle Pickel, Kratzer, alle harten schwarzen Stoppelhaare am Kinn, die geplatzten Äderchen, die die Wangen rot machten, den Rotz in den Nasenlöchern, wenn man den Kopf in den Nacken legte.

Jonas legte den Kopf in den Nacken.

Als er seine Nasenlöcher ausgiebig betrachtet hatte, öffnete er den Badezimmerschrank und nahm eine Packung Zahnseide heraus. Nur Putzen und Spülen reichte ja nicht. Auf diese Weise wurde man die Essensreste nicht los, schon gar nicht die Krümel, die sich zwischen den Backenzähnen versteckten. Wenn man nicht gründlich vorging, konnten die Krümel wochenlang dort sitzen bleiben. Dann riskierte man Löcher in den Zähnen. Jonas spannte den Faden zwischen Daumen und Zeigefinger, wie er das beim Zahnarzt gelernt hatte. Er wollte rein gar nichts riskieren.

Jemand rüttelte an der Türklinke.

Jonas Nilsen ließ sich nichts anmerken. Er öffnete den Mund und legte den Kopf in den Nacken, um richtig hineinlangen zu können, um zu sehen, was für Gemeinheiten dort lauerten, Bakterien, die sich ihren Weg nagten und ihm bald wehtun würden.

»Jonas?«

Vor der Badezimmertür stand der Vater. Jonas wusste, dass er schon eine ganze Weile dort gestanden hatte, ohne etwas zu sagen.

Aber wer die Badezimmertür abschließt, tut das, weil er das Bedürfnis hat, allein zu sein.

»Aufmachen.«

Jonas fischte ein kleines Stückchen Apfel aus seinen Zähnen.

Wenn niemand je das Bedürfnis hätte, allein zu sein, müsste es keine Schlüssel geben.

»Nein.«

»Was machst du?«

Jonas zog die Zahnseide aus dem Mund und stellte fest, dass die sich gerötet hatte. Er warf den blutigen Faden in den Mülleimer und blieb mitten im Raum stehen, während er durch den Türspalt den schweren Atem des Vaters hörte.

»Jonas?«

»Nichts.«

»Genau. Und jetzt machst du verdammt noch mal auf! Ich kann diesen Quatsch nicht mehr ertragen!«

Wieder wurde an der Klinke gerüttelt. Hart.

»Joi«, sagte Jonas.

Die schwarzen Haare fielen ihm in die Augen. Jetzt sah er die Welt nicht mehr. Jetzt sah er im Spiegel sein eigenes bleiches, hässliches Gesicht nicht mehr. Er nahm einen Gelklumpen aus der kleinen roten Dose auf dem Waschbeckenrand und strich sich die Haare nach hinten. Dann hob er noch einmal den Blick, und zum ersten Mal fiel ihm die Decke des Badezimmers auf. Die war tapeziert. Psychedelisch. Braun und Orange. Von diesen Farben wurde ihm schwindlig. Wenn er stehen blieb und sich das Muster ansah, würde er sich bald nicht mehr aufrecht halten können.

Sie kamen eine halbe Stunde zu spät. Das machte nichts, sie mussten trotzdem zehn Minuten im Lehrerzimmer auf die Rektorin warten.

Jonas’ Vater konnte nicht still sitzen. Er schob seine Kaffeetasse hin und her, er kleckerte, er wischte den lauwarmen Kaffee mit dem Daumen vom Tisch, er spielte an den Blättern der Plastikblume herum, schloss seine Jacke und öffnete sie wieder, hob die Hände, drehte sich zur Tür, auch wenn niemand hereinkam.

Am Ende sah er Jonas an.

»Hm?«

Das war das Einzige, was er gesagt hatte, seit Jonas aus dem Badezimmer gekommen war. Jonas schüttelte den Kopf. Der Vater holte Luft, hielt sie an, stieß sie durch die Nasenlöcher aus, sodass fast ein Pfiff entstand. Pfiiiiiip. Er versuchte, etwas zu sagen, aber das dauerte, und es dauerte Stunden, einige wenige Sätze herauszupressen, und wenn er damit angefangen hatte, war keine Zeit mehr. Jonas’ Vater schaffte es nie, das zu sagen, was wichtig war. Auch jetzt nicht. Zum Glück.

»Da seid ihr ja.«

Die Rektorin war größer als sie beide, sie war größer als die meisten anderen, deshalb ging sie immer mit gesenktem Kopf und durchgebogenen Knien. Sie gab Jonas die Hand, aber sie machte das ungeschickt. Ihre Hand war kalt und fast glatt. Sie war ebenfalls nervös.

»Wie nett, dich wieder bei uns zu haben, Jonas«, sagte die Rektorin.

Sie nickte beim Reden. Jonas’ Vater fing ebenfalls an zu nicken. So war der Vater von Jonas Nilsen: zu Hause sauer und anderswo peinlich.

»Ja. Ja ... danke.«

Jonas sah, dass sein Vater erleichtert war. Angespannt, aber doch erleichtert. Das wurde deutlich an der kleinen vibrierenden Runzel, die der Vater im Mundwinkel hatte. Ein Versuch eines Lächelns. Ein Anfang.

»Das wird bestimmt sehr gut gehen«, sagte die Rektorin.

Der Vater leckte sich die Oberlippe. Er hatte sich den Schnurrbart abrasiert, die Spucke blieb hängen und glitzerte, während sie trocknete. Sie sah aus wie Schweiß. So, als ob er gerannt wäre. Jonas sah, dass der Vater Atem holte. Anlauf nahm. Dann kam es.

»Das ... da ... da. Bin ich mir nicht so verdammt sicher.«

Die Runzel in seinem Mundwinkel vibrierte und vibrierte. Dann verschwand sie. Jonas Nilsens Vater kam nicht weiter, es wurde wohl zu viel. Er schaffte es nicht, die Rektorin anzulächeln. Stattdessen hob er die Hand, um Jonas durch die Haare zu fahren. Er fuhr Jonas niemals durch die Haare, wenn sie nur zu zweit waren. Das hier machte er sicher nur, um dem Jugendamt zu entgehen. Um nicht als Rabenvater dazustehen.

Aber Jonas wich aus, und die Hand blieb in der Luft hängen; die Rektorin folgte ihr mit den Augen und nickte immer weiter. Nick, nick, nick. Die ganze Zeit starrte sie auf die Hand des Vaters, die keine Haare fand und stattdessen schlaff auf den Oberschenkel fiel: ungeschickt.

»Doch, das glaube ich schon«, sagte die Rektorin, und jetzt blickte sie Jonas an. Jonas sah, dass ihre Augen nicht einfach blau waren, sondern hellblau, fast türkis, und alles an dieser Dame war gut gemeint, aber nichts war gut genug. Nichts reichte.

Sie wollte, dass er etwas sagte.

Reden fiel Jonas leicht. Es fiel ihm leicht, die Leute locker werden zu lassen. Sie zum Lachen zu bringen. Er konnte gut Grimassen schneiden, imitieren, auf alle viere sinken und wie ein Hund bellen. Wie ein Hahn krähen. Jonas Nilsen konnte alles, was gerade nötig war.

Der Vater wollte auch, dass er etwas sagte. Am liebsten etwas Witziges. Das wäre jetzt nötig gewesen. Um die Stimmung aufzulockern. Die war so schwer. Wie übrigens fast alles.

Als Jonas nichts sagte, zog der Vater mit den Daumen seine Trainingshose hoch und schob die Hüften vor, und dabei schnaubte er, räusperte sich. Dann öffnete die Rektorin plötzlich den Mund.

Redet ihr viel über sie?

Jonas’ Vater fing an, sich mit Daumen und Zeigefinger an den Nasenhaaren zu ziehen. Jonas sah die rote Bluse der Rektorin an. Dann pfiff er. Lange und ein wenig schrill. Wie nach einem Hund. Die Rektorin gab auf. Hatte den Wink verstanden. Schlug vor, jetzt die Klasse zu begrüßen.

»Aber dann ... dann kann ich ja gehen. Ellen?«

Er hätte die Rektorin nicht Ellen nennen dürfen. Das hörte Jonas. Und er wusste, dass der Vater das auch selbst gehört hatte, denn sofort streckte der wieder seine Hand nach Jonas’ Haaren aus. Wieder wollte er ihn zausen. Diesmal war Jonas nicht schnell genug. Er spürte, wie der Vater ihm die Kopfhaut rieb, wie er die starren schwarzen Haare nach unten drückte, jetzt hatte der Vater Gel an der Handfläche, jetzt wurde er klebrig, und das war ja auch der Sinn der Sache, das hatte er gewollt, dachte Jonas. Der Vater wollte ein wenig von Jonas’ Haargel entfernen, aber Jonas wollte sein Haargel behalten.

»Nein«, sagte Jonas.

»Hm?«

Die Rektorin war auf dem Weg zur Tür, jetzt blieb sie stehen.

»Was hast du gesagt?«

Der Vater schloss die Augen. Jonas stellte sich vor, dass er hinter den Augenlidern hundert Millionen Sternschnuppen vor dem roten Himmel sah.

»Komm mit«, sagte Jonas.

»In die Klasse?«

Jonas nickte.

Jetzt ging die Rektorin in die Hocke. Jetzt war sie kleiner als Jonas. Jetzt hatte sie keine türkisen Augen mehr. Jetzt war ihr Blick dunkel und besorgt, und Jonas wusste, was sie dachte: So leicht wird das hier doch nicht. Es ist durchaus nicht sicher, ob es gut geht. Jetzt kam der Zweifel. Im Zweifel für den Angeklagten.

»Ich glaube ...«, fing die Rektorin an. »Weißt du, was ich glaube, Jonas?«

Der oberste Knopf der roten Bluse der Rektorin war abgegangen. Jonas blickte genau in den Spalt zwischen den Brüsten. Die wurden zusammengepresst. Sie schienen Atemprobleme zu haben, nach oben zu wollen. Vor allem die rechte. Die rechte Brust war größer als die linke, oder vielleicht lag es daran, dass die Rektorin hockte, vielleicht übten ihre Knie einen ganz besonderen Druck auf ihre rechte Seite aus.

»Ich glaube, es wäre besser, du gingst allein zurück in die Klasse«, sagte die Rektorin jetzt. »Meinst du nicht?«

»Nein.«

Die Brüste schwollen an, als die Rektorin tief Luft holte.

Wenn Jonas sich vorbeugte, würde er ihnen heraushelfen können. Sie würde ihn nicht daran hindern können. Nicht, wenn er es schnell machte. Sie würde es nicht schaffen, das Gleichgewicht zu halten.

Aber dann spürte er einen Arm um die Schultern. Es war sein Vater, der ihn wegzog.

»Na gut. Du hast gewonnen. Der Teufel soll dich holen, Jonas.«

Sein Atem traf Jonas wie ein harscher Wind. Kaffee.

Zeit der Lügen

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