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3. Dämon Angst

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Mi 3.3.93 Simone geht langsam zu ihrer Therapeutin, widerstrebend. Blöd, dass ich noch weiter laufen muss als sonst. Die langen Flure blenden mich.... Spiegelböden. Die Türen sperren sich gegen mich. Die Treppe hört gar nicht auf. Erst die Hälfte, und schon zittern die Beine. Scheißtabletten! Scheißleben! Weiß nicht weiter.... Scheißalkohol! .... Vorsicht, nicht fluchen! .... Abends im Dunkeln, dann Jieper und Zerren .... dann brauchst Du die Flasche! .... Was soll ich ihr heute bloß wieder sagen? Sage ihr doch immer die Wahrheit ohne es zu wollen. Will mich ganz klein machen, verstecken. Das hat auch keinen Zweck. Gespräche holt sie dann eben nach.... Habe Angst vor ihr.... Sie weiß alles.... Sie tut nur so gut.... Sie ist böse.... Habe sie gerne.... Hasse ihre Fragen.... Die Gespräche sind Magie, ich traue ihr nicht. Ich im Mittelpunkt .... geil! .... Mein Märchen .... Da ist die Tür. Muss japsen, kriege keine Luft. Angst pocht .... bis in die Ohren. Klopfe an. Warte. Die Tür geht auf.... Sie lächelt .... Echt! Bleibe lieber an der Tür stehen... Sie setzt sich an einen Tisch, sieht mich an. Ich traue ihr nicht.... Stehe und stehe .... Sie lässt mich. Sieht mich einfach an und wartet.... Komme mir langsam albern vor. Da steht ein Stuhl.... Mächtig nah an ihr dran .... muss! Bin doch kein Kind!


Hanna Leider macht sich derweil Notizen:

Patientin kommt pünktlich allein ins Labor. Sie wirkt ängstlich, zittert, lächelt kläglich. Sie bleibt unbeweglich etwa eine viertel Stunde an der Tür stehen. Dann setzt sie sich zögernd auf den Besuchersessel. Das offene Thema der letzten Sitzung ansprechen!

„Manchmal werden wir hier im Labor sitzen. Da läuft noch ein Apparat, den ich nachher abzustellen habe. Schön, dass Sie sich hergefunden haben. Das war gar nicht so leicht, nicht wahr?“

„Ja, ich war ängstlich. Jetzt nicht mehr.“

„Wenn wir öfter hier oben arbeiten, dann gewöhnen Sie sich dran. Sie haben jedenfalls genügend Mut.“ Hanna hält inne.

„Wo waren wir beim letzten Mal stehen geblieben?“

„O .... ich weiß nicht!“

„Es ging um Enttäuschung.“

„Ich bin oft enttäuscht, fast jeden Tag.“

„Die Frage war, wie Sie mit einer Enttäuschung umgehen.“

„Ja.“

„Haben Sie darüber nachgedacht?“

„Nnein....“

„Vorgestern haben Sie gesagt, Sie würden mit Wut reagieren und sich zurückziehen. Und was denken Sie dann?“

„Dass meine Mutter .... oder die anderen .... eben besonders blöd sind.“

„Was ist denn blöd an Ihrer Mutter oder den Anderen?“

„Die sind lästig.... Immer Vorschriften, immer Meckern. Verstehen mich nicht.“

„Die Menschen sind nicht immer leicht zu ertragen. Was für eine konkrete Enttäuschung fällt Ihnen ein, die Sie nicht vergessen können?“

„Ich durfte nicht mit auf eine Klassenfahrt. Das war in der 5.Klasse, glaube ich.“

„Warum nicht?“

„Ich hatte was ausgefressen. Die Lehrerin hat es meiner Mutter gepetzt.“

„Wollen Sie darüber reden?“

„Die anderen ließen mich nicht mitmachen, wenn sie mit einer Katze spielten. Da habe ich die Katze gefangen.... und umgebracht. Sie haben sie gefunden und auch gleich gewusst, wer das war.“ Ziemlich intensives Rachepotential für ein Mädchen. Will sie aber nicht erschrecken.

„Sie fühlten sich von den Kindern enttäuscht. Verstehen Sie jetzt, als Erwachsene, was Sie damals gemacht haben?“

„Ich war wütend. …. Habe meine Wut an der Katze ausgelassen.“

„Hhm .... Haben Sie irgendwann mal mit Ihrer Mutter über diesen Vorfall reden können?“

„Nein.“

Hanna überlegt. Kränkungen kann sie nicht ertragen.

„Ich denke, wir sind bei dieser Geschichte auf ein zentrales Problem gestoßen. Später werden wir daran arbeiten müssen.“ Simone entspannt sich sichtlich, dass sie diese unangenehme Erinnerung loslassen kann. Hanna aufmunternd:

„Lassen wir die schweren Brocken. Wovon wollen Sie heute berichten?“

„Ich träume so viel, fast immer. Manchmal habe ich Angst ins Bett zu gehen, weil im Traum immer nur Schlechtes passiert.“

„Erinnern Sie sich an einen solchen Traum?“

„Ja, gestern .... die ganze Welt ist durch Erdbeben zerstört. Sehe alles in Trümmern.... Leichen und gebrochene elektrische Kabel.... Ich überlebe.... Beim Aufwachen habe ich Schuldgefühle.... “

„Warum? Glauben Sie, mit dieser Zerstörung etwas zu tun zu haben?“

„Ja. Ich bin schlecht.“

„Weshalb?“ Simone übertreibt etwas. Masochismus?

„Ich hasse alle.“

„Träume sind geheime Wünsche, aber das ist uns nicht bewusst. Also, Träume stehen für Wunscherfüllung. Können Sie damit etwas anfangen?“

„Hm, nee.... “

„Wir wollen gemeinsam versuchen, Ihren Traum zu verstehen. Was breitet der Traum vor Ihnen aus?“

„Zerstörung .... kaputte Welt.“

„Ja, das ist ein Symbol. Was könnte Ihr Traum denn symbolisieren?“

„Mich?“

„Ja. Es könnte etwas sein, das sich in Ihren Vorstellungen abspielt, wovon Sie innerlich ständig beherrscht werden.“

„Verstehe ich nicht.“

„Überlegen Sie. Wovon sind Sie innerlich so voll?“

„Angst .... und Hass.“

„Und Wut. Möchten Sie nicht oft Rache nehmen an der bösen Welt?“

„Ja.“

„Also, was symbolisiert Ihr Traum?“

„Mh .... meine Rache? .... Aber das würde ja heißen, dass ich mir die bösen Träume selber wünsche! .... Nee, kann nicht sein.... Ich habe doch Angst davor.... Wie kann ich mir denn so was wünschen?“

„Sie haben Recht, wenn Sie das als Widerspruch empfinden.“

„Zwei Wünsche zugleich und .... entgegengesetzt? .... Ist doch Unsinn!“

„Nun ja, wir existieren alle mit einer unbekannten Dimension in unserem Ich. Damit ist das Unbewusste in uns gemeint. Das ist für jeden erst einmal schwer zu verstehen.“

„Sitzt da meine Krankheit?“

„Weniger. Man nimmt an, dass Ihre Störungen an bestimmte Ich-Strukturen gebunden sind. Diese gestörten Strukturen sind noch nicht voll entwickelt, sondern unreif geblieben. Daher können diese Teile Ihres Ich noch nicht völlig normal funktionieren.“

„Mm .... Klingt mächtig.... ernst .... Da ist ja sowieso nichts zu machen!“

„O doch. Es ist zwar nicht leicht, das Ich zum Nachreifen zu bringen und bedeutet viel Arbeit, auch für Sie selbst. Aber, wenn Sie wirklich wollen, sich nicht schonen und richtig mitarbeiten, dann wird sich etwas ändern, auch in Ihrem Alter. Nehmen wir Hass und Angst. Sie leiden an Ihrem Hass, weil Sie davon ständig Schuldgefühle bekommen, nicht wahr?“

Kopfnicken.

Muss langsam sprechen. Ungewohnt für sie.

„Ein gewisses Maß an Angst und Aggression gehört zu jedem lebendigen Dasein. Damit werden wir alle geboren. Aber gesunde erwachsene Menschen bewältigen das normalerweise. Sie können Angst ertragen und Unmut einigermaßen bezwingen. Schwerarbeit für das Ich. Der Unterschied zwischen Ihnen und mir ist also nur graduell.“

„Oft träume ich von Menschen ohne Kopf .... Als Kind habe ich ein anderes Kind von der Schulmauer geschubst. Das Mädchen ist auf der anderen Seite sehr tief hinuntergefallen und von einem Hund ins Bein gebissen worden. Ich habe wie gebannt zugesehen. Dann hatte ich furchtbare Schuldgefühle.... bis jetzt.“

„Zuerst die Aggression und dann die Schuldgefühle zeigen an, dass Ihrem Ich die innere Balance fehlt. Mit Ihren Schuldgefühlen wollen wir uns in der nächsten Stunde auseinandersetzen.“


Do 4.3.93 Gespräch

Simone Maurer kommt heute ziemlich aufgeregt an. Sie sei gestern in ihrem Betrieb gewesen, hätte die Kündigung erhalten. Sofort telefonische Beratung mit unserer Sozialarbeiterin, Frau Laux. Wir besprechen unsere Einflussmöglichkeiten. Frau Laux will sich darum kümmern, meint, im Öffentlichen Dienst gäbe es ganz gute Chancen für Erfolg, mehr als in der Wirtschaft.


Simone ist wieder einmal verletzt und enttäuscht. Ihr alter Hass sei hochgekommen. Sie habe spätabends dort Scheiben eingeschlagen und in der Nacht geträumt, sie habe sich ihre eigene Hand abgehauen. Sofortige Deutung als Entlastung: dieser Traum sei ein Symbol für Selbstbestrafung. Es wäre verfrüht, ihr die Annahme eines extrem strengen, sadistischen Über- Ichs verständlich machen zu wollen.

„Wir haben noch ein Problem von gestern offen.“

„Ich weiß nicht mehr.“

„Am Ende der letzten Stunde erwähnten Sie, Sie hätten ein Mädchen die Schulmauer hinuntergeschubst. Sie sei auf das benachbarte Grundstück gefallen und von einem Hund gebissen worden.“

„Ach das .... ja.“

„Wie kam es zu dem Impuls von Ihnen, warum waren Sie auf das Mädchen wütend?“

„Ich weiß nicht mehr genau.“

„Was erinnern Sie? Wie hieß das Mädchen? Gehörte es zu Ihren Freundinnen?“

„Ich hatte überhaupt keine Freundinnen. Das Mädchen hieß Beate. Sie war die Beste in der Klasse.... Sie war immer mit den anderen zusammen.... Die ließen mich nie mitspielen.... “

„Es herrschte also eine Dauerspannung. Sie auf der einen, die anderen auf der anderen Seite?“

„Ja ...., so ungefähr ....“

„Was passierte dann?“

„Die Lehrerin hat meiner Mutter Bescheid gegeben. Die hat mich bestraft.“

„Bestraft?“

„Sie hat tagelang nicht mit mir gesprochen.“

„Wie haben Sie reagiert?“

„Ich hatte Schuldgefühle, auch jetzt noch.“

„....?“

„Ich verstehe mich später selbst nicht mehr. Weiß dann nicht, wie ich so gemein sein konnte.“

„Daraus entnehme ich, dass Sie eigentlich alles gut und richtig machen wollen.“

„Ja .... schon ....“

„Warum?“

„Ist doch normal.“

„Ja, wir wollen alle so brav sein, weil wir geliebt sein wollen. Von wem wollten Sie als Kind geliebt werden?“

„Von meiner Mutter. So genau habe ich nie darüber nachgedacht.... Sie fragen Sachen.... aus mir raus .... “

Um Simone nicht zu ängstigen, lacht Hanna leise bei ihrem nächsten Satz: „Aber dann kommt so ein innerer Rabauke, und aus ist es mit dem Musterkind? Könnte es so sein?“

„Sie sind ja lustig!“ Über Simones Gesicht huscht ihr Spottlächeln. „Das .... gefällt mir.... da könnte was dran sein.“

„Die Rabauken, das sind im Fachjargon die aggressiven seelischen Impulse. Solange sie ungehindert durchkommen, beherrschen wir uns selbst noch nicht genügend.“

„Dann wäre ich.... nicht so viel schlechter als die Anderen? .... Kann ich nicht glauben.... nein ....“


Fr 5.3.93 Gesprächsnotizen von Hanna Leider

Simone Maurer schildert folgenden Traum: Sei auf einen Baum geklettert, um vor Menschen sicher zu sein. Der Ast, auf dem sie saß, sei abgebrochen. Sie sei in kalte Asche gefallen und erstickt.

Deutung im Hier und Jetzt. Der Baum bin ich, die Therapeutin. Ich könnte Rettung und Hilfe bedeuten, aber Simone kann mir nicht vertrauen. Beim Gespräch über ihre Beziehung zu mir war Simone recht einsilbig.

Hannas Kladde:

6.3.93 22 Uhr Von Kindheit an gefährliche pathologische Verhaltensmuster. Ungleichgewicht zwischen Ich, Es und Über-Ich. Chaos mit Dominanz des sadistischen Über-Ichs. Das Ich ist schwach geblieben und kann die aggressiven Impulse des Es nicht scharf genug bremsen. Automatisch folgt antisoziales Verhalten (Katzenmord, Mauerstoß, zerschlagene Fensterscheiben). Dann Gewissensnot mit Strafträumen.

Menschliche Beziehungen und die gesamte soziale Wirklichkeit erlebt sie chaotisch verdreht. Diffuse Ängste betäuben jede Vernunft. Ihre Sozialfilter funktionieren primitiv nach dem Schwarz-weiß- und Gut-Böse-Prinzip.

Simone M. sucht Schutz bei uns. Sie leidet hellbewusst an Angst in allen Graden und an unkontrollierten Aggressionen. Ist sie auch in der Lage, die Hilfe, über die wir verfügen, aktiv anzunehmen und zu verarbeiten? Bis jetzt macht sie eher passiv mit. Über ihren Umgang mit Enttäuschungen hat sie gar nicht erst versucht nachzudenken. Ich fürchte weniger ihren Widerstand als um ihre Fähigkeit zur Selbstreflexion, zur Innenschau. Das wäre der beobachtende Ich-Anteil in Funktion. Erst wenn sie das Wissen, das ich ihr gebe, aktiv aufnimmt und es mit ihren eigenen Erfahrungen verarbeitet, kann sie vorankommen, Lösungen selbst erkennen. Das Nachreifen solcher Fähigkeiten vollzieht sich langsam, mühselig, könnte Jahre brauchen. Aus Simones zeitweise wachem Interesse in den Stunden hoffe ich, dass sie dennoch profitiert. Will ihrem Ich Hoffnung geben, Kraft zuführen. Es bestätigen, wo es geht. Kernberg dazu aber skeptisch.


Mo 8.3.93 Gespräch mit Hanna Leider

„Nach allem, was Sie gesagt haben und nach Ihrem Verhalten scheint Angst Ihnen am meisten zu schaffen zu machen. Wann und wo haben Sie Angst?“

„Immer .... überall.“

„Ist die Angst in ihrer Intensität immer gleich oder doch wechselnd?“

„Wechselnd.“

„Und wann ist sie am intensivsten?“

„Wenn ich allein bin.“

„Allein im Wald haben viele Menschen Angst oder Unbehagen. Haben Sie auch Angst allein in der eigenen Wohnung?“

„In der Wohnung, auf der Straße, überall.“

„Was machen Sie dann?“

„Ich setze mich ins Auto und fahre los. Nachts sind die Straßen frei. Wenn ich dann schnell fahre, so 160 Sachen, dann bin ich abgelenkt.“

„Ist das nicht ein bisschen gefährlich? Wird Ihnen da nicht auf andere Weise mulmig?“

„Anfangs vielleicht, aber irgendwann bin ich richtig high, dann geht es mir gut.“

„Also ein Kick gegen die Angst. Und wie ist es, wenn Sie auf der Straße gehen am Tage, dann sind Sie ja meist nicht allein?“

„Den Menschen auf der Straße weiche ich aus. Die Menschen sind schlecht, vor denen habe ich Angst.“

„Sind Sie schon mal auf die Idee gekommen, dass diese Menschen so ähnlich sein könnten wie Sie und ich?“

„Nein. Die grinsen mich höhnisch an. Die sind gefährlich und voller Hass.“

„Sie meinen, alle Menschen haben etwa so eine Menge Hass in sich wie Sie und könnten Sie einfach so angreifen?“

„Komisch, wie Sie das so anders herum ansehen.... ich bin voller Hass.... und vor mir hat keiner Angst.... Kann mir nicht vorstellen, dass die Menschen friedlich sind.“

„Trauen Sie keinem freundlichen Gesicht, keinem freundlichen Wort?“

„Ich denke, das ist gespielt. Die sind falsch.“

„Meinen Sie, ich sei Ihnen gegenüber voller Hass und Aggressionen?“

„Im Moment nicht. Aber zu Anfang denke ich immer, Sie sind mir böse.“

„Nein, bin ich nicht. Ich versuche Sie zu verstehen. Und ich mag Sie recht gerne, merken Sie das nicht?“ Simone richtet statt einer Antwort unsichere große Augen auf die Therapeutin. Hanna will Simone Vertrauen einflößen und spricht jetzt langsam weiter.

„Ich bin Ihnen doch nicht böse, warum? Für das Durcheinander in Ihrer persönlichen Entwicklung können Sie nichts. Auch wenn Sie mich wie alle anderen Menschen verzerrt sehen sollten und finden, ich wäre böse. Das nehme ich nicht persönlich.“ Will Simones Selbstbewusstsein stärken.

„Ich bin Ihnen gegenüber neutral. Ich kann Ihre Wut aushalten. Ich wäre selbst dann nicht sauer, wenn Sie Fehler oder Unsinn machten. Am besten wäre es, wenn Sie einfach über Ihre Wut reden.“

„Kann ich nicht.“

„Worüber sind Sie wütend, jetzt?“

„Bin jetzt nicht wütend.“

„Könnte es sein, dass Sie Ihren Hass den anderen selbst erst aufprägen?“

„Wie meinen Sie das?“

„Nun, Sie kennen nur sich. Ihre Eltern haben Sie nicht als liebevoll erlebt. Freunde haben Sie nicht. So scheint Ihnen jeder andere Mensch ebenfalls voller Hass, damit also böse und gefährlich zu sein. Sie kennen ihn nicht und haben keinen Vergleich aus dem Zusammensein mit Freunden. Stattdessen projizieren Sie Ihren Hass von Ihrem Ich auf Ihre Vorstellung vom Ich eines anderen, zum Beispiel auf der Straße. Hoppla, war das zu kompliziert? Vielleicht habe ich mich nicht genau genug ausgedrückt.“ Simone sitzt ein wenig abwesend da. Es ist fraglich, ob sie verstanden oder überhaupt zugehört hat.

„Frau Maurer, hallo! Haben Sie zugehört?“

„Och .... ich weiß nicht.“

„Ich habe eben versucht etwas zu erklären. Projizieren ist übertragen. Man projiziert ein Bild, auch ein Foto, auf eine Leinwand.“ Simone gähnt verhalten. Hanna lässt sich nichts anmerken.

„Nun sind wir wieder abgekommen von der Angst. Wie geht es Ihnen, wenn Ihre Tochter da ist?“

„Tageweise fällt es mir schwer, sie zu drücken. Habe Angst, dass sie mir zu nahe kommt“.

„Ist Ihnen ihre Nähe manchmal unbehaglich?“

„Mmh .... ich glaube, ja.“

„Geht es Ihnen mit anderen Verwandten ähnlich?“

„Ja, na sicher.“

„Gegen diese Näheangst kommen Sie wohl nicht an. Aber was fühlen Sie, wenn sich Ihre Tochter an Sie kuschelt?“

„Nicht so viel .... Habe wenig Gefühl .... Auch aus Angst, enttäuscht zu werden .... Meine Tochter kam eigentlich ungewünscht.... Als sie dann da war, habe ich sie geliebt. Aber dieses Gefühl halte ich nicht lange durch.“

„Empfinden Sie Ihre Tochter als einen Teil von sich?“

„Ja, zeitweise. Aber meist fällt mir dieses.... Fühlen sehr schwer.“

„Als Sie so klein waren wie Ihre Tochter, haben Sie da versucht, Ihre Mutter zu umarmen, zu drücken? Haben Sie gelernt, so ein Nähegefühl als Wohlsein und Behagen zu erleben?“

„Nicht so richtig, glaube ich.“

„Haben Sie gemerkt, dass Ihnen etwas fehlt?“

„Ich habe mich immer ausgeschlossen gefühlt. Habe die anderen beneidet.“

„Um was beneidet?“

„Die konnten sich freuen, die hingen zusammen, lebten einfach. Da hatte ich keinen Zugang.“

„Haben Sie eine Freundin oder einen Freund?“

„Nein.“

„Sie haben keine seelische oder gefühlsmäßige Bindung an andere Menschen?“

Trauriges Kopfschütteln.

„Wenn ich mit jemandem, den ich schätze oder gerne habe, viel zusammen bin, dann ist er in meinem Ich als nahe Person gespeichert, aufbewahrt. Bei Problemen kann ich mit ihm reden, mich beraten. Auch wenn er körperlich nicht anwesend ist. Ich bin nicht einsam, auch wenn ich allein bin. Die Psychologen nennen das Verinnerlichung. Wen haben Sie auf diese Weise verinnerlicht?“

„Ich glaube, meine Tochter, aber sonst niemand. Höchstens hier in der Klinik. Bin ich mit Schwester Oda und Ihnen viel zusammen, rede ich abends zu Hause mit Ihnen. Wenn ich was falsch mache, denke ich an Sie.... und stelle mir vor, was Sie sagen würden. Meinen Sie so was?“

„Ja, gut, genau das meinte ich. Und Ihre Eltern, haben Sie sie verinnerlicht?“

„Doch, meine Mutter .... obwohl ich sie hasse. Egal, was ich mache, ich habe sofort das Gefühl, sie macht mich runter, sagt, ich könnte das nicht, würde nur alles falsch machen.“

„So eine Art negative Verinnerlichung. Das ist sehr traurig.“

„Ich bin daran gewöhnt.“

„Haben Sie schon mal daran gedacht, sich mehr von Ihren Eltern zu distanzieren, vielleicht sogar abzulösen?“

„Nein, kann ich nicht.... Ich brauche sie doch, besonders wegen Jana.“

„Zurück zur Angst. Versuchen Sie doch mal, aufzuzählen, wovor Sie außerdem noch alles Angst haben.“

„Vor Menschen auf der Straße. Angst vor dem Einkaufen, weil dort zu viele Menschen sind.

Früher hatte ich Angst vor Messern .... schon lange Angst vor Verkehrsmitteln, Bus, Straßenbahn und am meisten vor der U-Bahn .... Oder im vorigen Jahr, da war ich in der Sächsischen Schweiz, wollte einfach nach oben klettern. Aber es kamen immer wieder Menschen. Da musste ich immer weiter vor ihnen ausweichen.“

„Das heißt wohl weg von den bequemeren, hin zu den schwierigeren Touren?“

„Klar, “ sagt sie triumphierend.

„Sieht so aus als würde Ihre Angst vor Menschen jede andere Angst übertreffen, so dass Sie aus Angst vor Menschen große Risiken, z. B. sogar Absturz, in Kauf nehmen.“

„Ja, muss ich doch.“

Das wäre dann wieder den Tod versuchen ….


Hannas Kladde

Sa 6.3.93 20Uhr30 Simone bringt es fertig, einen Gedanken mit sich selbst in Widerspruch zu bringen ohne es zu merken. Mündlich weniger, da ihre Sätze meist kurz bleiben. Aber schriftlich äußert sie manchmal in einem Halbsatz das Gegenteil vom nächsten. Satzbrüche. Schlingern der logischen Schaltungen oder Minimalbrüche. Daher gab es in früheren Jahrzehnten die Diagnose Praeschizophrenie, z. B. bei Rosenberg. Die Patienten, die Rosenberg als Praeschizophrenie psychotherapeutisch gebessert hat, waren vermutlich Menschen mit frühen Störungen.

Für die Ich-Entwicklung werden die genetische Veranlagung, aber auch die sozialen Beziehungen verantwortlich gemacht. Also die ausreichend gute Mutter, der Vater, Verwandte, Spielkameraden, Lehrer und Bücher. Bei Simone scheint es fast keine positiven sozialen Bindungen zu geben. Im normalen Umgang verschleiert ihr Charme die Mängel ihrer Persönlichkeit.


Was tun mit einem Menschen, dessen zentrale Struktur gestört ist? Vorurteilsfreie Zuwendung, Aufmerksamkeit, Respekt, menschliche Wärme sind selbstverständlich. Aber wie lernt Simone, ihre Gestörtheit zu verstehen, selbst zu erfassen und zu überwinden? Nach psychoanalytischem Verständnis vor allem in der intensiven, direkten Beziehung zu uns Therapeuten. Kernberg erwähnt die Modifikation des Über-Ichs nach Strachey als eine Transformation der Substanz des Über-Ichs. Transsubstantiation. Durch Deuten. Eine tiefere Verinnerlichung des Therapeuten als je eines anderen Menschen? Im Laufe einer Therapie hat das Über-Ich des Patienten unbewusst Spuren des Über-Ichs des Therapeuten übernommen. Psychologisch bewerkstelligt durch die Beziehung. Technisch aber geschieht die Transformation des Über-Ichs vorwiegend mit Hilfe der Deutung. Deuten soll das Über-Ich modifizieren und bewegen. Reparatur einer Ich-Struktur. Argumentativ bedingte Änderung der Einstellungen des Über-Ichs, der inneren Zensur? Für die Kräftigung eines schwachen Ichs ist die Modifikation des sadistischen Über-Ichs die wichtigste Grundlage. Am Anfang steht das Deuten im Hier und Jetzt. Deuten des aktuellen Verhaltens von Simone und ihrer Beziehung zu mir ist also stets sofort notwendig. Aber Deuten genetischer Art, der krankmachenden Ursachen, soll nicht zu früh erfolgen. Immer auf das Jetzt beziehen. Was hat sie jetzt gedacht oder getan? Was bedeutet das für die Beziehung? Alles, was in der Stunde von der Patientin vorgebracht wird, muss entschlüsselt werden. Was ist der emotionale Hintergrund? Was ist dem Patienten wirklich wichtig? Ein langer Lernprozess für die Therapeuten. Da stehe ich noch ganz am Anfang mit eigener Erfahrung, eigenem Urteil, eigenem Erfühlen. Hat die Beziehung zu Simone nicht meist was mit Gefühl zu tun? Zumindest, dass ich sie und ihr Erleben annehme wie meine Kinder. Containing, das Aufbewahren des Leidens des anderen, um es mit ihm fühlend und denkend in ihm zu verändern.

Die Projektion muss ich ihr noch einmal im Hier und Jetzt klar machen. Das wird sie vielleicht von ihrer Unaufmerksamkeit wegbringen. Ist es Unaufmerksamkeit oder viel mehr Abwehr? Und wie weit ist ihr beobachtender Ich-Anteil entwickelt? Wie weit kann sie sich beurteilend steuern? Wie hat sie in der Stunde Gehörtes und Erlebtes verarbeitet? Wie nutzt sie das Verarbeitete? Also Probleme wieder und wieder aufwerfen, Fragen stellen.


Zerbrechliche Ichbrücken

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