Читать книгу Der goldene Reif - Hildegard Burri-Bayer - Страница 7

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Miriam McCarthy erwachte von dem Geschrei der Vögel vor dem Fenster ihrer kleinen Wohnung am Rande der Londoner Innenstadt. Am ganzen Körper zitternd öffnete sie die Augen und versuchte, die grässlichen Bilder aus dem Traum zu vertreiben, der sie immer noch fest umklammert hielt. Benommen setzte sie sich auf und presste ihre Hand vor die Stirn, um die überwältigende Bilderflut in ihrem Kopf zu stoppen.

Der Traum machte ihr Angst; er verfolgte sie, seitdem sie denken konnte. Bis heute hatte sie allerdings keine Erklärung dafür, woher die furchtbaren Bilder kamen.

Sie sah sterbende Krieger mit langen Bärten und riesigen Schwertern in der Hand. Wohin man sich wandte, war die Erde blutrot gefärbt und mit wahllos abgetrennten Gliedmaßen übersät, die das grausame Kriegsgeschehen widerspiegelten. Das Schlimmste aber war der süßliche Geruch, der wie ein klebriger Schleier schwer über dem Schlachtfeld hing. Todesangst und Grauen, vermischt mit Schweiß und Exkrementen und dem langsam trocknenden Blut von Männern, Tieren, Frauen und Kindern. Sie konnte die furchtbaren Schreie nicht vergessen, die nach diesem Traum tagelang in ihren Ohren schrillten, wie ein Echo, das nicht aufhörte sich zu wiederholen.

Sie saß vor ihrer Mutter auf dem wild galoppierenden Pferd und krallte sich verzweifelt in die struppige Mähne des Tieres. Die panische Angst ihrer Mutter, die sie immer mit liebevoller Geborgenheit umhüllt hatte, griff wie eine Klaue nach ihr und ließ sie vor Schreck erstarren. Dann erreichten sie den Nebel. Gelbe Schwefelwolken, undurchdringlich und zäh, die alles verschlangen, was in ihre Nähe kam.

Plötzlich war es still, so still, dass Mutter und Tochter das Blut in ihren Adern rauschen hörten und ihre hämmernden Herzen das gedämpfte Trommeln der Hufe übertönten. Miriam spürte noch den Körper ihrer Mutter, roch den vertrauten Duft ihrer Haut, der sich mit dem herabrinnenden Schweiß vermischte, dann war der Traum vorbei.

Noch immer benommen starrte sie auf die leere Stelle neben ihr im Bett. Brian war fort, er hatte sie verlassen. Wie gerne hätte sie sich jetzt in seinen Arm geschmiegt und seine zärtlichen, starken Hände auf ihrem Körper gespürt, um sich den Schrecken dieses Traumes langsam fortstreicheln zu lassen.

Tränen stiegen ihr in die Augen, als sie daran dachte, dass er es kaum hatte abwarten können, um seine Sachen zu packen und zu verschwinden. Hatte ihm die Beziehung mit ihr so wenig bedeutet?

Es fiel ihr nicht leicht, alleine zu leben. Die vier Jahre ihrer Beziehung hatten ausgereicht, um sich so aneinander zu gewöhnen, dass der Verlust tiefe Wunden hinterließ, obwohl sie nicht einmal sicher war, ob sie Brian wirklich geliebt hatte oder nur aus Gewohnheit mit ihm zusammengeblieben war.

Schon wenige Monate, nachdem er in ihr Leben gestürmt war, hatte sie feststellen müssen, dass Brian nicht der Mann war, für den sie ihn gehalten hatte. Er war oberflächlich und eitel, worüber auch sein fröhlicher Charme auf Dauer nicht hinwegtäuschen konnte. Doch bevor sie darüber länger nachdenken konnte, hatte er seine Wohnung längst aufgegeben und war zu ihr gezogen.

Sie hatte den Dingen ihren Lauf gelassen, in der Hoffnung, er würde sich irgendwann ändern. Das bevorstehende Examen und die anschließende Promotion hatten sie so sehr beschäftigt, dass kaum Zeit für Gemeinsamkeiten geblieben war. Vielleicht hatten sie sich deswegen auseinander gelebt? Wenn ihre Beziehung innig genug gewesen wäre, hätte Diana es niemals geschafft, sich zwischen sie zu drängen.

Miriam zwang ihre Gedanken in eine andere Richtung. Es machte keinen Sinn, Vergangenem hinterherzutrauern oder über einen Mann nachzudenken, der ihre Liebe nicht zu schätzen wusste, obwohl sie ihn immer noch vermisste.

Ein Blick auf ihren silbernen Radiowecker zeigte ihr, dass es erst kurz nach acht war. Sie sprang aus dem Bett, setzte etwas Wasser für den Tee auf und lief mit nackten Füßen ins Badezimmer.

Kritisch betrachtete sie ihr schmales Gesicht mit den hohen Wangenknochen in dem wunderschönen Kristallspiegel, den Brian ihr zum Geburtstag geschenkt hatte. Miriam zog eine Grimasse. Sie hatte schon besser ausgesehen. Ihre Haut war blass und tiefe Ringe lagen unter ihren leicht schräg stehenden blauen Augen. Nur ihr dichtes, rotblondes Haar glänzte wie immer und fiel ihr in großen Wellen über die Schultern. Sie war die Einzige in ihrer Familie mit roten Haaren; es musste das Erbe ihres Vaters sein, den sie nie kennen gelernt hatte.

In zwei Wochen würde sie dreißig werden. Das Leben war nicht unendlich und sie hatte bald das erste Drittel davon hinter sich gelassen. Was würde das nächste bringen?

Sie goss sich eine große Tasse Tee ein, kuschelte sich in ihren Lieblingssessel und griff nach der Fernbedienung, um die Nachrichten zu sehen. Ein langer, verregneter Sonntag lag vor ihr und es gab keinen Grund zur Eile.

Nach fünf Minuten war sie auf dem neuesten Stand der aktuellen Kriege in der Welt, der üblichen Streitereien der Politiker und einer Überschwemmungskatastrophe in einem Land, das so weit von ihrem Leben entfernt war wie der Mond. Sie wollte gerade den Fernseher ausmachen, als der nächste Film angekündigt wurde. Es war ein Film über einen schottischen Freiheitskämpfer im zwölften Jahrhundert, untermalt von traumhaft schönen Landschaftsbildern aus den Highlands. Fasziniert starrte sie zwei Stunden lang auf die Mattscheibe und vergaß alles um sich herum.

Sie liebte das schottische Hochland mit seinen blaugrün schimmernden Hügeln. Kindheitserinnerungen stiegen in ihr hoch und sie konnte sich nicht satt sehen an den Bildern, die ihr entgegenflimmerten.

Der dunkelhaarige, gut aussehende Leinwandheld jagte auf einem schwarzen Hengst über die Highlands, die melancholische Einsamkeit ausstrahlten. Unbändiger Stolz ging von ihm aus, gepaart mit dem wildem Drang nach Freiheit, die er brauchte wie die Luft zum Atmen.

Er war ein Mann, der für seine Überzeugungen sterben würde und nur einmal in seinem Leben liebte. Warum gab es solche Traummänner nur im Fernsehen oder in Romanen? Das war einfach nicht gerecht.

Der Film ging Miriam nicht mehr aus dem Kopf. Immer wieder tauchten die Bilder von den grünen Hügeln in ihren Gedanken auf und sie stellte sich vor, wie herrlich es wäre, durch die Highlands zu reiten. Die Idee in ihrem Kopf nahm mehr und mehr Gestalt an. Warum sollte sie nur davon träumen? Es gab Träume, die sich erfüllen ließen, und sie hatte noch drei Monate Zeit, bevor sie ihre erste Stelle als Dozentin für Kunstgeschichte an der Londoner Universität antreten würde.

Seit langem hatte sie geplant, nach Inverurie zu fahren, um nach ihrem Elternhaus zu sehen, das seit dem Tod ihrer Großmutter vor acht Monaten unbewohnt war. Sie musste sich endlich entscheiden, ob sie das Haus behalten wollte oder nicht. Brian zuliebe hatte sie die Reise immer wieder verschoben. Er war durch und durch Engländer und mochte das schottische Hochland nicht.

Miriam beschloss, ihre Idee in die Tat umsetzen, und machte sich sofort an die Arbeit. Über das Internet buchte sie einen Flug nach Schottland. Anschließend rief sie ihre Freundin Mary an und bat sie, während ihrer Abwesenheit die Blumen zu gießen. Die nächsten Tage verbrachte sie damit, ihre Wohnung aufzuräumen, die Post zu erledigen und ihren Koffer zu packen.

Eine Woche später war es so weit und sie flog mit der British Airways von London nach Aberdeen. Sie konnte es jetzt kaum mehr erwarten, den Ort ihrer Kindheit wiederzusehen. Es regnete in Strömen, als sie aus dem Flugzeug stieg. Das saftige Grün, das sie jedes Mal vor Augen hatte, wenn sie an Schottland dachte, hatte sich in zähes Grau verwandelt. Die Straßen waren genauso farblos wie die Häuser, deren Dächer nahtlos in den grauen Himmel übergingen.

Die verschiedensten Gefühle stürmten auf sie ein, als sie mit dem Taxi die fünfunddreißig Kilometer nach Inverurie fuhr. Sauber, freundlich und nach wie vor von der grellen Hektik der Großstädte unberührt, hatte sich der kleine Ort kaum verändert. Ihr Herz zog sich zusammen, als das Taxi vor ihrem Elternhaus stoppte. Es war kleiner, als sie es in Erinnerung hatte.

Sie bezahlte den Taxifahrer und stieg mit klopfendem Herzen die beiden Stufen zum Eingang hinauf. In Gedanken sah sie ihre Mutter lächelnd im Rahmen der dunkelrot gestrichenen Haustüre stehen, von dem nun die Farbe abblätterte. Ihre Mutter lächelte immer, nur wenn sie sich unbeobachtet fühlte, legte sich tiefe, melancholische Trauer wie ein Schatten über ihr schönes Gesicht, das von den gleichen schräg stehenden Augen beherrscht wurde, wie Miriam sie besaß. Dann zog sie sich in ihre Gedankenwelt zurück, zu der sie niemandem Zutritt gewährte, nicht einmal ihrer Tochter, die sie über alles liebte. Sie war viel zu früh gestorben. Miriam war erst acht Jahre alt gewesen, als ihre Mutter von einem betrunkenen Autofahrer angefahren wurde und in ein Koma fiel, aus dem sie nie wieder erwachte. Sie wuchs bei ihrer Großmutter auf, die ebenfalls nicht über ihren Vater redete, nach dem sie sich als kleines Mädchen so sehr gesehnt hatte. Ihre Mutter hatte ihr nur erzählt, dass er kurz nach ihrer Geburt gestorben und ein wundervoller Mann gewesen sei. Nicht einmal ein Foto hatte Miriam von ihm gesehen.

Im Dorf war viel über ihren Vater spekuliert worden, nachdem ihre Mutter einige Jahre verreist und dann mit ihrer kleinen Tochter an der Hand zurückgekehrt war. Doch nach einer Weile hatten sich die Menschen im Dorf an die Situation gewöhnt und begonnen, über andere Dinge zu reden. Mit zitternder Hand holte Miriam den altmodischen Schlüssel aus ihrer eleganten schwarzen Handtasche und schloss die schwere Holztüre auf.

Feuchte, abgestandene Luft schlug ihr entgegen, die sie an Gerüche aus ihrer Kindheit erinnerte. Ihr Blick wanderte durch die kleine Diele mit der altmodischen Blümchentapete und den blank gewienerten, dunklen Dielen, die jetzt von einer dicken Staubschicht überzogen waren, und blieb an den silbergerahmten Schwarzweißfotos über dem Sideboard hängen. Sie stellte ihren Koffer ab und betrachtete die Fotos der drei Menschen, die ihr am meisten bedeutet hatten und die sie schrecklich vermisste. Ihre Großmutter, deren aristokratische, stolze Gesichtszüge auch im Alter schön geblieben waren, und ihr geliebter Großvater, dessen Güte schon auf dem Foto zu erkennen war. Sie nahm das Foto ihrer Mutter von der Wand und strich zärtlich mit dem Finger darüber. Ihre Mutter war wunderschön gewesen. Lange blonde Haare umrahmten das schmale Gesicht mit der leicht gebogenen Nase und dem vollen, warmen Mund.

Sie hängte das Foto zurück an die Wand und betrat das kleine, gemütliche Wohnzimmer mit dem grün gekachelten Ofen, der den Raum beherrschte. Ich hätte früher kommen sollen, warf Miriam sich vor, als sie die von der Feuchtigkeit stammenden Wellen in der Tapete entdeckte.

Plötzlich hatte sie das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen. Die Gedanken an die Vergangenheit waren erdrückend. Rasch lief sie zu den beiden kleinen Fenstern und öffnete sie weit. Sie genoss die frische, kühle Luft, die in das niedrige Zimmer strömte und die sie tief in ihre Lungen sog.

Das Wichtigste war, erst einmal durchzuheizen, um die Feuchtigkeit aus dem Haus zu bekommen. Sie lief um das Gebäude herum, zu dem kleinen Schuppen im Garten und nahm so viel von den ordentlich gestapelten Holzscheiten, wie sie tragen konnte.

Wenige Minuten später brannte ein gemütliches Feuer im Ofen. Miriam band ihr Haar zu einem Pferdeschwanz zusammen und nahm Staubtuch, Wischmob und Besen zur Hand, um das Haus von den dicken Staubschichten zu befreien.

Nachdem sie alle Zimmer bis auf das ihrer Mutter gesäubert hatte, setzte sie Wasser für einen Tee auf, nahm ihren Koffer und brachte ihn in ihr Schlafzimmer. Wehmütig betrachtete sie die Poster, Puppen und Stofftiere, die ihr eine Zeit lang so viel bedeutet hatten. Sie räumte ihre Kleider in den Schrank und lief zurück in die kleine Wohnküche, um ihren Tee zu trinken, als ihr Magen sich mit einem unangenehmen Rumoren bemerkbar machte. Seit dem Frühstück hatte Miriam nichts mehr gegessen und jetzt war es bereits vier Uhr nachmittags. Der Pub von Mrs. MacMulligan fiel ihr ein und mit ihm die köstlichen Eintöpfe, die genau das Richtige waren, wenn man einen so großen Hunger verspürte wie sie jetzt. Sie legte ihren Mantel um, nahm ihre Handtasche und verließ das Haus. Der Pub lag nur wenige Meter von ihrem Elternhaus entfernt auf der anderen Straßenseite und wurde von Mrs. MacMulligan nach dem Tod ihres Mannes alleine bewirtschaftet. Mister MacMulligan war an den Folgen seines übermäßigen Whiskykonsums gestorben, wie man hinter vorgehaltener Hand munkelte. Man konnte ihn gut verstehen. Was blieb einem anderes übrig als zu trinken, wenn man eine derartig herrschsüchtige Frau zu Hause hatte?

Mit klopfendem Herzen betrat Miriam den Pub. Obwohl es erst früher Nachmittag war, saßen mehrere Männer zigarrerauchend an der Theke und tranken Guinness und Whisky. Neugierige Blicke folgten ihr, als sie sich an einen kleinen Tisch in die Nähe des Fensters setzte. Mrs. MacMulligan erkannte sie sofort, so wie sie es befürchtet hatte. Sie war noch dicker, als Miriam sie in Erinnerung hatte. Ihr schweres, graues Haar trug sie zu einem Dutt hochgesteckt. Als sie Miriam entdeckt hatte, wischte sie sich die Hände an ihrer sauber gestärkten Schürze ab und lief mit wogendem Busen und unverhohlener Neugier in den kleinen Augen auf sie zu.

»Das ist aber eine Überraschung, Kindchen, wie geht es dir denn?« Den flinken Augen von Mrs. MacMulligan entging nicht die geringste Kleinigkeit. Sie musterte Miriam von oben bis unten, während sie weiterredete, ohne eine Antwort auf ihre Frage abzuwarten.

»Wir haben dich früher erwartet, deine Großmutter ist schon fast ein Jahr unter der Erde und du warst das letzte Mal bei ihrer Beerdigung hier, aber ihr jungen Dinger habt ja keine Zeit mehr für unsereins. Wenn ich mich nicht um die Gräber deiner Lieben gekümmert hätte, wie würden sie wohl heute aussehen? Verwahrlost wären sie und eine Schande für unseren Ort.« Ein vorwurfsvoller Blick folgte ihren Worten. Miriam bereute es fast, dass sie hierher gekommen war, obwohl man Mrs. MacMulligan ohnehin nicht entgehen konnte. Spätestens am morgigen Tag hätte die Rauchfahne, die aus Miriams Haus stieg, ihre Anwesenheit verraten.

»Wann bist du denn eingetroffen, du siehst müde aus und Hunger wirst du auch haben. Ich habe noch etwas von dem Braten, den ich gestern zubereitet habe.«

Miriam ließ das Geplapper der dicken Wirtin eine Weile über sich ergehen und beantwortete ihre Fragen so knapp wie möglich. Endlich besann sich Mrs. MacMulligan wieder ihrer Pflichten, nachdem die Männer an der Theke bereits auffordernd mit ihren leeren Gläsern klapperten.

Erleichtert lehnte Miriam sich in dem alten Stuhl zurück und starrte auf den blank gescheuerten Holztisch, dessen Mitte von einer karierten Decke geschmückt wurde, auf der sich lediglich ein schwerer Aschenbecher mit Whiskywerbung und einige Bierdeckel befanden.

Nach wenigen Minuten kam Mrs. MacMulligan mit einem dampfenden Teller zurück, gefüllt mit Kartoffeln, Lammfleisch und Sauce. Sie stellte den Teller vor Miriam auf den Tisch und wünschte ihr einen guten Appetit. Das Essen roch köstlich und ihr Magen quittierte den aufsteigenden Duft mit einem auffordernden Knurren. Eines musste man der Frau lassen, sie konnte mindestens so gut kochen wie andere Leute ausfragen und das wollte etwas heißen.

»Nun iss schön, damit du was auf die Rippen bekommst.« Missbilligend wanderten ihre Augen über den engen Pullover, der Miriams schlanke Taille betonte. Eigentlich ist Mrs. MacMulligan ja ganz nett, dachte Miriam, während sie sich heißhungrig über das Essen hermachte. Wenn sie nur nicht so fürchterlich geschwätzig und neugierig wäre.

Nach dem Essen fühlte sie sich besser. Sie stand auf, bezahlte und bedankte sich bei Mrs. MacMulligan für die Pflege der Gräber und ließ sich das Versprechen abnehmen, bald wieder vorbeizuschauen.

Auf dem Rückweg kaufte sie noch einige Lebensmittel ein und beobachtete die Menschen auf der Straße, die emsig ihren Geschäften nachgingen. Nur im letzten Moment konnte sie einem großen, dunkelblonden Mann ausweichen, der mit derTimesunter dem Arm aus dem Zeitungsladen stürmte. Er schien es eilig zu haben. Miriam murmelte eine Entschuldigung, ohne sich den Mann näher anzusehen, und ging weiter.

Malcolm blieb verblüfft stehen und starrte der jungen Frau nach. Die Stimme kam ihm bekannt vor. Das konnte doch nicht wahr sein. Miriam! Es war Miriam, seine Freundin aus der Schulzeit, die er beinahe umgerannt hätte. Während er ihr nachlief, rief er ihren Namen. Miriam drehte sich überrascht um. Lächelnd ließ sie es zu, dass er sie überschwänglich in seine Arme riss und auf beide Wangen küsste. Dann schob er sie ein Stück zurück, um sie genauer zu betrachten. Sie war noch schöner als in seiner Erinnerung. Ihre Wangen hatten sich vor Überraschung und Freude gerötet und ihre Augen strahlten wie zwei funkelnde Sterne.

»Seit wann bist du hier? Du hättest mich anrufen können, dann hätte ich dich vom Flughafen abgeholt. Wie lange hast du geplant zu bleiben?« Die Fragen sprudelten nur so aus ihm heraus.

»Ich bin heute Mittag angekommen, hätte dich selbstverständlich heute Abend angerufen und wie lange ich bleibe, steht noch nicht fest.« Lächelnd sah sie ihren alten Schulfreund an.

»Auf jeden Fall lange genug, um alle deine Fragen zu beantworten«, setzte sie scherzhaft hinzu. Malcolm warf einen Blick auf seine goldene Armbanduhr.

»Ich habe in einer halben Stunde noch einen Termin, hast du heute Abend schon etwas vor? Wir könnten essen gehen.«

»Es wäre mir lieber, du würdest mich in meinem Haus besuchen. Ich mache uns ein paar Sandwiches und wir können uns unterhalten. Ich möchte möglichst bald die persönlichen Dinge meiner Mutter durchsehen, weil ich mich immer noch nicht entschieden habe, ob ich das Haus behalten möchte oder es doch besser verkaufe.«

»Einverstanden, ich werde um acht Uhr bei dir sein«, versprach Malcolm und küsste sie zum Abschied noch einmal auf die Wange. Dann drehte er sich um und lief mit langen Schritten auf einen mattglänzenden, silbernen Rover zu. Miriam sah ihm lächelnd zu, wie er sich in seinen Wagen schwang und davonbrauste. Sie freute sich auf den Abend mit ihm. Es waren mindestens fünf Jahre vergangen, seitdem sie sich das letzte Mal gesehen hatten, oder waren es schon sechs?

Jedenfalls hatte er sich kaum verändert. Er war immer noch genauso liebevoll und fröhlich, wie sie ihn in Erinnerung gehabt hatte.

Gut gelaunt lief sie nach Hause, verstaute ihre Einkäufe im Kühlschrank, legte noch etwas Holz nach und begab sich an ihre Arbeit. Mit klopfendem Herzen öffnete sie die Türe zum Schlafzimmer ihrer Mutter. Obwohl sie sehr jung gestorben war, hatte Miriam seit ihrem Tod den Raum nicht mehr betreten. Doch heute wollte sie es endlich wagen. Ein leichter Rosenduft stieg ihr in die Nase. Entsprang er ihrer Einbildung? Genauso hatte ihre Mutter immer gerochen. Miriam unterdrückte die aufsteigenden Tränen und nahm sich zusammen. Irgendwann musste sie den Nachlass ihrer Mutter ja einmal durchsehen. Sie setzte sich an den zierlichen, antiken Sekretär und öffnete mit zitternden Händen die erste Schublade. Ordentlich zusammengebunden lagen einige Briefe darin, die sie neugierig öffnete. Die Briefe stammten von verflossenen Verehrern ihrer Mutter, aus einer Zeit lange vor ihrer Geburt. Sie legte die Briefe zurück und zog die nächste Schublade heraus. Abgesehen von einem mahagonifarbenen, glänzenden Holzkästchen, das mit einem winzigen, goldenen Vorhängeschloss versehen war, befand sich nichts darin. Neugierig nahm Miriam das Kästchen in die Hand. Der Schlüssel fehlte. Sie zog eine Schublade nach der anderen heraus, konnte ihn aber nirgendwo finden. Es widerstrebte ihr, das Schloss zu zerstören, und so nahm sie das Kästchen mit in das Wohnzimmer, nachdem sie den restlichen Teil des Sekretärs durchgesehen hatte. Malcolm würde vielleicht eine Idee haben, wie man das Schloss aufbekam. Er hatte immer schon für alles eine Lösung gefunden, wenn es Probleme gegeben hatte. Während der Schulzeit war er einer der am meisten umschwärmten Jungen gewesen und auch sie war eine Zeit lang in ihn verliebt gewesen. Malcolm hatte ihre Gefühle damals erwidert, was Miriam zunächst als sehr schmeichelhaft empfand. Doch etwas hatte immer gefehlt. Sie wusste nicht genau, was es war, besaß er doch alles, was man sich von einem Mann wünschen konnte. Er war zuverlässig, gut aussehend und charmant, hatte immer gute Laune und strahlte die Geborgenheit aus, die sie bei Brian so vermisst hatte. Wie kam es, dass sie mit einem Mann wie Brian zusammengezogen war und nicht mit Malcolm, der sie anscheinend immer noch sehr attraktiv fand? Sie wusste keine Antwort auf diese Frage. Nach einem Blick auf die antike Wanduhr, die noch von ihren Ur-Großeltern stammte, begann sie damit, einige Sandwiches zu belegen und die Flasche Rotwein zu öffnen, die sie am Nachmittag gekauft hatte. Malcolm würde in einer halben Stunde bei ihr sein und sie wollte sich noch umziehen, bevor er eintraf.

Sie war gerade fertig, als es klingelte. Malcolm stand lächelnd in der Tür. Er war frisch rasiert und duftete nach einem teuren Rasierwasser. In der Hand hielt er einen großen Blumenstrauß, den er ihr mit einer eleganten Verbeugung überreichte.

»Ich weiß doch, wie sehr du Blumen liebst«, sagte er mit warmer Stimme und küsste sie auf die Wange.

Miriam bedankte sich höflich und bat ihn ins Wohnzimmer. Malcolm setzte sich in einen der beiden dunkelbraunen Ledersessel und sah sich neugierig um. Die warme Atmosphäre in dem kleinen Raum gefiel ihm sehr. Auf dem niedrigen Tischchen standen liebevoll zubereitete Sandwiches und zwei Rotweingläser, die in dem Licht des Kerzenleuchters funkelten, den Miriam in die Mitte gestellt hatte. Miriam ließ sich in dem anderen Sessel nieder und sie redeten eine Weile darüber, wie es ihnen nach ihrer Schulzeit ergangen war.

Malcolm hatte Betriebswirtschaft studiert und arbeitete nun als Juniorpartner in einer großen Firma. Er besaß eine große Wohnung, die er alleine bewohnte. Bisher hatte er keine Frau gefunden, mit der er sich ein gemeinsames Leben vorstellen konnte.

Plötzlich fiel Miriam das Mahagonikästchen wieder ein. Sie sprang auf und holte es. Auffordernd hielt sie es Malcolm entgegen.

»Es ist abgeschlossen und ich kann den Schlüssel nicht finden. Kannst du es öffnen, ohne das Schloss zu beschädigen?«

Malcolm betrachtete das Schloss einen Moment und begann zu grinsen.

»Hast du eine Haarnadel oder Ähnliches? Das Schloss erinnert mich an die Schlösser von euren Tagebüchern, die ihr früher des Öfteren mit in die Schule genommen habt. Weißt du noch, wie wir Jungs uns einen Spaß daraus gemacht haben, sie zu öffnen, wenn eines unbeobachtet herumlag? Ich glaube, ich kriege das noch einmal hin.«

Miriam musste lachen, als sie daran dachte, wie empört sie und ihre Freundinnen damals über so viel Frechheit und Indiskretion gewesen waren. Rasch lief sie ins Badezimmer und kam mit einer Haarnadel ihrer Großmutter zurück. Sie reichte sie ihrem alten Freund und sah bewundernd zu, wie er geschickt damit hantierte. In weniger als einer Minute sprang das Schloss auf. Mit einem triumphierenden Lächeln reichte er Miriam das Kästchen.

»Dafür habe ich mir aber mindestens einen Kuss verdient«, flachste er und zog die Hand, in der er das Kästchen hielt, näher zu sich. Miriam gab ihm mit einem gespielten Seufzer einen Kuss auf die Wange.

Dann nahm sie ihm das Kästchen aus der Hand und öffnete es erwartungsvoll. Es war der Schmuck ihrer Mutter, der sich in seinem Inneren befand. Sie nahm ein Schmuckstück nach dem anderen heraus und betrachtete es. Gedankenverloren streifte sie sich einen Ring mit einem wunderschön geschliffenen, roten Stein über den Finger. Ihre Mutter hatte Rubinschmuck geliebt. Miriam war enttäuscht, dass sich, abgesehen von dem Schmuck, nichts in dem Kästchen befand.

»Freust du dich nicht darüber, dass noch alles da ist?« Malcolm war die Traurigkeit in ihren Augen nicht entgangen.

Miriam sah ihn nachdenklich an. »Ich habe die ganze Zeit über gehofft, dass ich in dem Nachlass meiner Mutter irgendetwas über meinen Vater finden würde. Ich weiß bis heute nichts von ihm. Wer er war, wie er gelebt hat und wann er gestorben ist. Meine Mutter hätte mir sicher alles über ihn erzählt, wenn sie nicht so früh gestorben wäre.« Sie legte den Schmuck zurück in das Kästchen und stellte es auf den Tisch. »Ich weiß nicht einmal, wie er ausgesehen hat. Und meine Großmutter hat ebenfalls hartnäckig über ihn geschwiegen«, sagte sie traurig.

Malcolm beugte sich zu ihr herüber, um ihr tröstend über den Arm zu streichen. Dabei streifte er mit seinem Ellenbogen versehentlich das Kästchen, das polternd auf die Dielen stürzte. Die Schmuckstücke fielen heraus und verteilten sich über dem Boden.

Malcolm sprang sofort auf, um alles aufzusammeln. Als er das Kästchen in die Hand nahm, bemerkte er, dass der mit blauem Samt bezogene Boden nur lose eingelegt war. Neugierig hob er ihn hoch und entdeckte einen Briefumschlag darunter, auf dem Miriams Name stand.

»Sieh mal, was ich gefunden habe.« Er hielt Miriam den Brief hin, die ihn mit großen Augen ansah. Was hatte ihre Mutter ihr mitteilen wollen? Ob sie jetzt mehr erfahren würde? Vorsichtig öffnete sie den Umschlag und zog drei eng beschriebene Briefbögen heraus. Sie erkannte die feine, klare Handschrift ihrer Mutter sofort. Aufgeregt begann sie zu lesen.

Malcolm beobachtete sie gespannt. Bewundernd betrachtete er Miriams klares Profil und das seidige Haar, das ihr rotgolden schimmernd über die schmalen Schultern floss, wie ein Wasserfall, den die untergehende Sonne für einen winzigen Augenblick in flüssiges Kupfer zu verwandeln schien.

Plötzlich wurde ihm klar, dass er nie aufgehört hatte sie zu lieben. Wie hatte er es nur all die Jahre ohne sie aushalten können? Keine der Frauen, die es in seinem Leben gegeben hatte, war ihm wirklich wichtig gewesen, weil er unbewusst jede von ihnen mit Miriam verglichen hatte.

Er liebte alles an ihr; die ernsthafte Nachdenklichkeit ebenso wie ihren etwas spröden Humor. Die schönen Beine mit den schmalen Fesseln und ihren schlanken Hals. Es gab ihm einen Stich, wenn er daran dachte, dass ein anderer Mann sie in seinen Armen gehalten und trotzdem unglücklich gemacht hatte. Doch das war endgültig vorbei, wie Miriam ihm erklärt hatte. Ob es jemals eine Chance für ihn gab, sie für sich zu gewinnen?

Er war so in seine Gedanken versunken, dass er nicht bemerkte, wie alle Farbe aus Miriams Gesicht gewichen war.

»Wie kann das möglich sein?« Die Fassungslosigkeit in Miriams Stimme brachte ihn wieder in die Wirklichkeit zurück.

»Wie kann was möglich sein?«, fragte er beunruhigt. »Sag schon, was steht in dem Brief?«

Miriam gab ihm keine Antwort. Immer wieder las sie den Brief. Der Schock war zu groß und die Buchstaben begannen vor ihren Augen zu tanzen. Es kam Malcolm wie eine Ewigkeit vor, bis Miriam ihm endlich wortlos den Brief reichte.

Meine geliebte Miriam,

wenn du diesen Brief liest, muss etwas geschehen sein, das mich daran gehindert hat, dir selbst von deinem Vater zu erzählen. Ich habe damit so lange warten wollen, bis aus dir eine junge Frau geworden ist und du die Tragweite meiner Geschichte besser verkraften kannst.

Doch bevor ich beginne, sollst du wissen, dass ich dich mehr liebe als mein Leben. Du bist immer ein zärtliches, liebes Kind gewesen und hast mich allein durch deine Anwesenheit sehr glücklich gemacht. Es fällt mir schwer, die richtigen Worte zu finden, denn das, was ich dir jetzt schreibe, wird nicht leicht für dich zu verstehen sein.

Aus diesem Grund habe ich auch deinen Großeltern nichts von dem erzählt, was ich in den vier Jahren, die ich damals fort war, erlebt habe. Sie hätten mir nicht geglaubt, auch wenn sie sich bemüht hätten, wäre es ihnen nicht gelungen. Ich wollte sie nicht beunruhigen, obwohl es mir wehgetan hat, dass sie die ganzen Jahre über gedacht haben, ich wäre mit einem Mann durchgebrannt und hätte sie in Angst und Sorge zurückgelassen. Doch du hast ein Recht darauf zu erfahren, was geschehen ist und wer dein Vater war.

Es begann damit, dass ich an einer Abschlussfahrt von der Schule teilnahm. Die Schulleitung hatte einen fünftägigen Campingausflug in die Grampian Mountains für meinen Jahrgang geplant und wir waren alle begeistert, noch ein paar Tage gemeinsam zu verbringen, nachdem wir endlich die Schulzeit hinter uns gelassen hatten. Wir wanderten den ganzen Tag durch die herrliche Natur und genossen es, uns abends am Lagerfeuer Geschichten zu erzählen.

Eines Morgens, als ich Wasser von einer nahe gelegenen Quelle holen wollte, entdeckte ich einen schweren goldenen Halsreif am Uferrand. Er war wunderschön gearbeitet und so konnte ich nicht widerstehen und legte ihn mir für einen Moment um den Hals. Doch dann erschien der Nebel, der plötzlich überall war und mich fast erstickt hätte. Ich wurde besinnungslos. Als ich wieder zu mir kam, fand ich mich in einer fremden Gegend wieder. Die Quelle war noch da, aber sie befand sich plötzlich inmitten eines tiefen Waldes auf einer kleinen Lichtung. Verzweifelt habe ich nach meinen Klassenkameraden und Lehrern gesucht, doch ich konnte sie nicht finden. Es war niemand mehr da.

Ich war erst zwanzig Jahre alt und musste zu meinem Entsetzen feststellen, dass ich mich in einer völlig anderen Zeit befand! Wie ich später herausfand, war es das Jahr vierundfünfzig nach Christus. Du hast richtig gelesen, mein kleines Mädchen! Es ist schwer zu glauben, aber ich hatte tatsächlich eine Reise durch die Zeit gemacht. Allein und verängstigt bin ich durch den dichten Wald und die Berge gelaufen, habe mich von wild wachsenden Beeren ernährt und nachts unter den Bäumen geschlafen, bis ich irgendwann zu einem kleinen Dorf kam. Die Menschen haben mir erlaubt, bei ihnen unterzukommen, doch sie waren sehr misstrauisch. Ich musste von morgens bis abends hart arbeiten und es hat Monate gedauert, bis die Frauen mich akzeptiert haben. Erst als ich den kleinen Sohn des Stammesfürsten vor dem Ersticken retten konnte, wurden die Menschen freundlicher und schenkten mir etwas Vertrauen. Natürlich habe ich verzweifelt versucht, die Quelle wiederzufinden, um zurück nach Hause zu kommen, doch es ist mir nicht gelungen. Ich hatte Angst, die Dorfgemeinschaft zu verlassen, und gleichzeitig habe ich mich nur schwer an diese Art zu leben gewöhnen können. Doch dann habe ich deinen Vater kennen gelernt. Aedui war der älteste Sohn des Fürsten Artebates und hat mich geheiratet, obwohl ich keine Mitgift besaß. Ich hatte im Übrigen keine Wahl, weil ich dem Stammesfürsten gehorchen musste, der diese Hochzeit arrangiert hatte. Doch Aedui hat mich gut behandelt und irgendwann habe ich angefangen mich in ihn zu verlieben. Es war nicht leicht für mich, in dieser fremden, grausamen Zeit zu leben, mit Menschen, die an Naturgötter glaubten und von Aberglauben geprägt waren, doch dein Vater hat mir durch seine Liebe die Kraft gegeben, die ich brauchte.

Als du ein Jahr später geboren wurdest, waren wir überglücklich. Du warst mein kleiner Sonnenschein! Mein altes Leben ist immer weiter von mir fortgerückt, bis es mir nur noch wie ein Traum erschien, den ich vor langer Zeit einmal geträumt hatte.

Doch eines Tages wurde unser Dorf von den Römern überfallen und niedergebrannt. Dein Vater und viele andere Menschen aus unserem Dorf wurden brutal getötet; Männer, Frauen und Kinder einfach abgeschlachtet. Ich konnte im letzten Moment mit dir fliehen und habe es durch eine glückliche Fügung geschafft, die Quelle zu finden und in unsere Zeit zurückzukehren. Bis heute, wo ich diesen Brief an dich schreibe, erscheint es mir als der glücklichste Zufall, dass ich den goldenen Reifen ein zweites Mal anlegen und der Gefahr entrinnen konnte. Der Weg aus den Grampian Mountains nach Hause war ein Kinderspiel gegen alles, was ich davor erlebt hatte.

Deine Großeltern waren überglücklich darüber, dass ich wieder da war, und sie haben mich nie gedrängt, über meine Erlebnisse zu sprechen. Es ist einfacher, Dinge, die man nicht wahrhaben möchte, totzuschweigen, als sich mit ihnen auseinander zu setzen. Doch die Wahrheit lässt sich nicht auf Dauer verdrängen.

Was würde ich dafür geben, wenn ich jetzt bei dir sein und dich trösten könnte. Der Brief muss ein Schock für dich sein und ich habe lange überlegt, ob ich ihn schreiben soll. Doch für den Fall, dass mir etwas zustoßen sollte, ist es wichtig, dass du auf diese Weise alles über deine Herkunft erfährst.

Dein Vater war ein tapferer und gütiger Mann. Seine wunderschönen roten Haare hast du übrigens von ihm geerbt. Aedui gehörte zum Stamm der Caledonier, unseren Vorfahren, die den Grundstein für die Unabhängigkeit unseres geliebten Schottlands gelegt und mit ihrem Blut erkämpft haben. Er war liebevoll und gerecht, aber er konnte auch kämpfen und töten, wenn es um die Sicherheit unseres Dorfes ging. Er war sehr stolz auf dich und hat dich geliebt, obwohl du nicht der Sohn warst, den er sich gewünscht hatte.

Ich habe ihn nie vergessen und denke oft an die Zeit mit ihm zurück. Unser Glück währte nicht lange, doch ich bin für jeden Tag, den ich mit ihm verbringen durfte, dankbar. Nicht jeder Mensch erlebt eine Beziehung, die so innig und bedingungslos war wie die unsere, und ich wünsche mir nichts sehnlicher, als dass du ebenfalls dieses Glück erfahren wirst.

In Liebe deine Mutter

Nachdem Malcolm den Brief gelesen hatte, sah er Miriam schweigend an. Hilflosigkeit lag in seinem Blick. Er versuchte, das eben Gelesene zu verstehen, doch es war zu fantastisch. Wie hatte Miriams Mutter mit dieser Geschichte leben können?

Zärtlich nahm Malcolm Miriams Hand und streichelte sie sanft. Sie fühlte sich kalt an. Lange Zeit saßen sie nebeneinander und starrten in das Feuer, dessen gemütliches Knistern eine anheimelnde Atmosphäre verbreitete.

Miriam kam zuerst wieder zu sich. »Ich möchte alles über die Zeit erfahren, in der mein Vater mit meiner Mutter gelebt hat«, sagte sie und sprang auf.

Sie lief zu dem Bücherschrank ihres Großvaters, öffnete ihn und sah die darin geordneten Bücher durch.

Kurze Zeit später kam sie beladen mit einem Stapel zurück und legte ihn auf den Tisch. Dann griff sie nach ihrem Weinglas und trank es in einem Zug leer.

Wohlige Wärme durchströmte sie und ihre Wangen begannen sich zu röten.

»Du hast Recht, wir sollten uns erst einmal von diesem Schock erholen.« Malcolm nahm sein Glas und trank es ebenfalls in einem Zug leer.

Er nahm das oberste Buch und begann darin zu lesen. Es gab einige Bücher über die Geschichte Schottlands, doch nur wenig aus dieser Zeit, in der erst Julius Cäsar, dann Domitian und anschließend Kaiser Hadrian versucht hatten, Schottland zu erobern, um an das begehrte Zinn und andere wertvolle Metalle zu gelangen. Über die Caledonier und die anderen Stämme fanden sie nur sehr wenig Informationen. Miriam beschloss, gleich am nächsten Tag die kleine Bücherei im Ort aufzusuchen.

»Ich werde einige Zeit benötigen, um den Inhalt dieses Briefes zu verarbeiten. Doch meine Mutter hatte Recht. Auch wenn es schwierig für mich ist, das alles zu begreifen, weiß ich jetzt, wer mein Vater war und warum es keine Fotos von ihm gibt.« Sie sah Malcolm an.

»Kannst du mir sagen, wann die erste Kamera erfunden worden ist?«

»Irgendwann im neunzehnten Jahrhundert, glaube ich.«

»Es muss schrecklich für meine Mutter gewesen sein, in dieser fremden Zeit leben zu müssen, ohne Freunde und Familie, sie war doch noch so jung. Könntest du dir das vorstellen? Keine Autos, Fernseher, Waschmaschinen oder Kühlschränke? Keine Supermärkte, Krankenhäuser, nicht einmal ein Telefon.«

»Es gibt heute noch genügend Länder auf der Welt, in denen die Menschen auf die moderne Zivilisation und Technik verzichten müssen«, gab Malcolm nachdenklich zur Antwort. »Doch nicht nur auf die Zivilisation, sondern auch auf Demokratie und Freiheit. Ich glaube, jede Zeit hat auch ihre guten Seiten. Vergiss nicht, dass deine Mutter dort glücklich gewesen war, weil sie einen Mann wie deinen Vater kennen gelernt hatte, der ihr Familie und Freunde ersetzte. Technik und Geld allein haben noch keinem Menschen Zufriedenheit gebracht.«

Miriam hatte die Rotweingläser noch einmal gefüllt und nahm einen großen Schluck. Der Wein entspannte sie ein wenig.

»Ich werde nach der Quelle suchen«, sagte sie plötzlich. Der Gedanke war ihr gerade erst gekommen, aber er gefiel ihr. Sie setzte sich auf.

»Ich muss es einfach tun! Ich möchte die Stelle sehen, an der sie verschwunden ist, mehr nicht. Schließlich hatte ich mir schon in London vorgenommen, durch die Highlands zu reiten, um wieder einen klaren Kopf zu bekommen. Es gibt doch sicher eine Möglichkeit herauszufinden, von wo aus die Schulklasse damals aufgebrochen ist, oder? Allzu weit kann es nicht sein, weil sie gewandert sind. Mit den Pferden wären wir schneller und flexibler. Wirst du mich begleiten?« Dem bittenden Blick aus ihren schönen blauen Augen konnte Malcolm keine Sekunde lang widerstehen.

»Mir wird nichts anderes übrig bleiben. Ich könnte den Gedanken, dich allein in den Bergen zu wissen, nicht ertragen. Wann hast du denn vor aufzubrechen? Wie ich dich kenne, würdest du doch am liebsten sofort losreiten, aber ich habe diese Woche noch einige wichtige Termine, die sich nicht ohne weiteres verschieben lassen.« Bewundernd sah er Miriam an. Es war beeindruckend, wie sie mit dieser völlig neuen Situation umging. Aber war sie nicht schon immer spontan gewesen und hatte sich durch nichts unterkriegen lassen? Malcolm hatten diese Eigenschaften stets sehr gut an ihr gefallen.

»Was hältst du vom nächsten Wochenende? Wir könnten Freitagmittag losreiten und wären Sonntagabend wieder zurück. Hast du eigentlich deine Angst vor Spinnen überwunden? Wir werden in einem Zelt übernachten müssen.« Er grinste, als er daran dachte, dass das Einzige, was seine schöne Miriam aus der Fassung bringen konnte, harmlose, kleine Spinnen waren.

»Darüber brauchst du dir keine Gedanken zu machen.« Miriam erwiderte sein Grinsen. »Ich bin fest entschlossen.«

»Ich werde Willie anrufen und ihn fragen, ob er zwei Pferde für uns hat. Du erinnerst dich doch sicher noch an unseren kleinen rothaarigen Freund? Soweit ich informiert bin, führt er jetzt die Farm seiner Eltern. Während ich das Zelt und die Vorräte besorge, könntest du die Schule deiner Mutter besuchen und dort Erkundigungen einziehen.« Auf einmal freute er sich auf den Ausflug in die Berge. Er würde Miriam für sich allein haben und Tag und Nacht mit ihr zusammen sein. Davon abgesehen lag sein letzter Urlaub schon einige Zeit zurück. Es würde ihm sicher nicht schaden, einmal einige Tage auszuspannen.

Malcolm erhob sich. »Es ist schon spät und ich habe morgen einen anstrengenden Tag vor mir. Kann ich dich jetzt allein lassen, oder möchtest du, dass ich bei dir bleibe?«

»Nein danke, ich muss nachdenken. Ich brauche noch etwas Zeit, um den heutigen Tag zu verarbeiten.« Miriam hatte sich ebenfalls erhoben, um Malcolm hinauszubegleiten. »Ich bin so froh, dass du hier warst.« Sie gab ihm einen Kuss auf die Wange und verabschiedete sich von ihm.

»Ich rufe dich morgen Abend an«, versprach Malcolm, bevor er ging. Miriam schloss die Türe hinter ihm und ließ sich gedankenverloren in ihren Sessel fallen. Die Morgendämmerung zog bereits herauf, als sie sich schließlich in ihr Schlafzimmer zurückzog und in einen unruhigen Schlaf sank.

Sie erwachte gegen Mittag, mit einem erwartungsvollen Kribbeln in der Magengegend. Nachdem sie geduscht hatte, fühlte sie sich erfrischt und voller Tatendrang. Gut gelaunt holte sie ihr altes Fahrrad aus dem Schuppen. Die Reifen waren platt von dem langen Stehen, doch das tat ihrer Stimmung keinen Abbruch. Sie pumpte sie auf und fuhr zu der Schule, die erst ihre Mutter und später sie besucht hatten. Der Weg führte an granitverkleideten, einstöckigen Häusern mit den typischen Ziegeldächern und Treppengiebeln vorbei, die jetzt im Sonnenlicht silbern glänzten. Wenige Minuten später fuhr sie auf das alte Schulgebäude zu. Als sie die schwere Eingangstüre öffnete, schlug ihr der bittere Geruch von altem Holz entgegen und die verschiedensten Erinnerungen an ihre Schulzeit stiegen in ihr hoch.

Sie hatte Glück. Ihre alte Lehrerin, die kleine, aber energische Mrs. MacLish, lief ihr auf dem Flur entgegen. Sie hatte sich kaum verändert, nur ihre Haare waren von dem strengen Silbergrau in ein sanfteres Weiß übergegangen. Freundlich wurde Miriam von ihr begrüßt. Mrs. MacLish lud Miriam ein, mit in ihr Büro zu kommen. Sie war mittlerweile zur Direktorin der Schule befördert worden.

Nachdem Miriam eine Weile von ihrem Studium und dem Leben in London erzählt hatte, sah Mrs. MacLish sie prüfend an.

»Es ist schön, dass du den Weg zu uns gefunden hast, doch ich habe das Gefühl, dass es einen Grund für deinen Besuch gibt. Oder bist du wirklich nur gekommen, um deine alte Lehrerin wiederzusehen?« Ein feines Lächeln begleitete ihre Worte. Miriams Erregung war ihr nicht entgangen.

»Ihnen konnte man noch nie etwas vormachen.« Miriam lächelte jetzt ebenfalls. Es war wirklich schön, Mrs. MacLish zu sehen. Sie war eine warmherzige Frau, die immer Verständnis für ihre Schüler gehabt hatte. Doch sie konnte auch streng sein, wenn es erforderlich gewesen war.

»Sie haben Recht. Ich habe tatsächlich einen Grund für meinen Besuch. Ich würde gerne wissen, wo genau der Ausflug des Abschlussjahrgangs meiner Mutter damals stattgefunden hat.« Erwartungsvoll sah sie Mrs. MacLish an.

Die Direktorin lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und erwiderte den Blick. Ihr Lächeln war bei Miriams Worten verschwunden und ihr Gesicht ernst geworden. Miriam wurde ganz unbehaglich, während sie auf eine Antwort wartete.

»Darf ich fragen, warum du dich nach so langer Zeit dafür interessierst? In der Schule ist über diesen Ausflug nie wieder gesprochen worden. Es hat nach dem Verschwinden deiner Mutter auch keine weiteren Ausflüge mehr in die Grampian Mountains gegeben. Die ganze Schule stand damals unter Schock. Wir haben nie erfahren, was deiner Mutter in den vier Jahren, die sie verschwunden war, geschehen ist. Weder deine Mutter noch deine Großeltern haben später darüber auch nur ein Wort verloren, obwohl wir damals die ganze Zeit über mit ihnen gezittert, gebetet und gehofft haben. Auch die Journalisten haben nichts in Erfahrung bringen können, sosehr sie sich auch bemühten. Wochenlang haben sie damals das Haus deiner Großeltern belagert.« Mrs. MacLish stand auf und holte einen schwarzen Aktenordner aus dem Schrank. Sie schlug ihn auf und zeigte der überraschten Miriam einige vergilbte Zeitungsartikel.

»Schülerin während Abschlussfahrt spurlos verschwunden« lautete die Schlagzeile. »Während eines Ausfluges in die Grampian Mountains wurde eine Schülerin entführt«, las sie in dem zweiten Artikel. Darunter ein Foto von ihrer Mutter. Dann folgte ein Bericht über das Verschwinden von Menschen; laut Statistik waren es landesweit jedes Jahr mehr als fünfzigtausend, von denen die meisten allerdings nach einigen Tagen wieder auftauchten. Je länger ein Mensch verschwunden blieb, desto weniger Chancen rechnete man sich aus, dass er noch am Leben war. Es gab noch weitere Artikel, die mit der Zeit kleiner wurden, bis andere Themen das Verschwinden ihrer Mutter verdrängten. Mrs. MacLish beobachtete Miriam aufmerksam. Ihre Neugier war geweckt.

»Wenn du etwas über das Verschwinden deiner Mutter weißt, würde ich mich freuen, wenn du es mir erzählst. Du kennst mich lange genug und weißt, dass du mir vertrauen kannst.«

»Meine Mutter hat mir einen Brief hinterlassen, doch er war nur für mich bestimmt und ich bin mir nicht sicher, ob sie damit einverstanden wäre, wenn ich darüber rede.« Miriam zögerte einen Moment. Hier in diesem nüchternen Büro, wo grelles Neonlicht das Tageslicht ersetzte, kam ihr der Inhalt des Briefes selbst unwirklich vor. Obwohl sie niemals die Glaubwürdigkeit ihrer Mutter in Frage stellen würde, schlichen sich leise Zweifel in ihre Gedanken. Vielleicht konnte Mrs. MacLish ihr einen Rat geben, sie war verschwiegen und würde das in sie gesetzte Vertrauen nicht missbrauchen. »Ich habe ihn erst gestern Abend gefunden, als ich den Nachlass meiner Mutter durchgesehen habe, und bin immer noch verwirrt von dem, was ich darin gelesen habe.« Sie öffnete ihre Handtasche, nahm den Brief heraus und reichte ihn Mrs. MacLish, die ihn gespannt entgegennahm. »Ich möchte, dass Sie ihn lesen.«

Gründlich, wie es ihre Art war, las die Schulleiterin den Brief zweimal hintereinander, um auch wirklich nichts zu übersehen.

Als sie fertig war, gab sie Miriam den Brief zurück und blickte nachdenklich aus dem Fenster. Sie wählte ihre Worte mit Bedacht.

»Das, was ich gerade gelesen habe, ist schwer zu glauben. Zeitreisen gehören für mich in das Reich der Fabeln. Ich weiß nicht, was ich dir dazu sagen soll. Vielleicht hatte deine Mutter so schreckliche Erlebnisse, dass sie die Realität verdrängt und sich diese Geschichte eingebildet hat, um darüber hinwegzukommen? Es gibt solche Fälle, bei denen manche Menschen, die Furchtbares durchlitten haben, nach einer gewissen Zeit so fest an ihre erfundene Geschichte glauben, als hätten sie diese tatsächlich erlebt.« Nachdenklich sah sie Miriam an, die überlegte, ob sie Mrs. MacLish von ihrem Traum erzählen sollte. Er war der Beweis, dass ihre Mutter die Wahrheit gesagt hatte. Woher sonst konnten die furchtbaren Bilder stammen, wenn sie diese nicht selbst erlebt hatte? Schockartig wurde ihr bewusst, dass auch sie selbst in der Vergangenheit gelebt hatte! So weit hatte sie gestern Abend noch nicht denken können, dafür hatte ihr der Kopf zu sehr geschwirrt. Sie musste einfach über diese Dinge reden, und Mrs. MacLish mit ihrer warmherzigen, mütterlichen Art war ein Mensch, dem man sich öffnen konnte.

»Es gibt da noch etwas, das ich Ihnen sagen möchte.« Sie erzählte der erstaunten Schulleiterin von dem grässlichen Traum, der sie seit ihrer Kindheit verfolgte und quälte. Mrs. MacLish war fassungslos, als Miriam mit ihrem Bericht fertig war. Eine Weile saßen die beiden unterschiedlichen Frauen schweigend da.

»Das ist wirklich unglaublich.« Mrs. MacLish schüttelte mehrmals den Kopf.

»Es mag sein, dass es Dinge zwischen Himmel und Erde gibt, die wir nicht begreifen können, und wenn ich dich nicht so gut kennen würde, dann würde ich mir auch weiter keine Gedanken darüber machen. Doch in diesem Fall glaube ich, dass an dieser fantastischen Geschichte sogar wider jegliche Vernunft etwas dran sein könnte.« Sie stand auf und legte tröstend einen Arm um Miriams Schulter.

»Du hast es nicht leicht gehabt in deinem Leben«, sagte sie mitleidig. »Jetzt weiß ich auch, warum du wissen möchtest, wohin deine Mutter damals gewandert ist. Du würdest dich gerne dorthin begeben, um eine Antwort auf deine Fragen zu erhalten und deine Wurzeln zu finden. Das kann ich gut verstehen und ich werde dir gerne dabei behilflich sein. Bitte versprich mir, dass du bei allen Unternehmungen sehr vorsichtig sein wirst. Und besuche mich wieder, wenn es dir gelingen sollte, irgendetwas in Erfahrung zu bringen.« Sie reichte Miriam einen der Zeitungsartikel.

»Hier kannst du genau nachlesen, wohin die Schulklasse damals gewandert ist, und auch, an welchem Ort deine Mutter wahrscheinlich verschwunden ist.« Die beiden Frauen sahen sich an. Das Geheimnis, das sie von nun an teilten, würde sie für immer verbinden. Miriam beugte sich zu der einen ganzen Kopf kleineren Schulleiterin hinunter und küsste sie liebevoll auf die Wange.

»Ich werde mich bei Ihnen melden, sobald ich von meinem Ausflug zurück bin«, versprach sie.

In der Türe drehte sie sich noch einmal um und winkte Mrs. MacLish zu, die gedankenverloren wieder hinter ihrem Schreibtisch Platz genommen hatte.

Erwartungsvolle Spannung breitete sich in ihr aus, als sie an den bevorstehenden Ausflug in die Grampian Mountains dachte. Rasch fuhr sie die wenigen Kilometer zu ihrem Haus zurück.

Unterwegs hielt sie noch an der kleinen Bücherei an, die allerdings geschlossen war. Miriam hatte nicht daran gedacht, dass sie nur zweimal in der Woche für Besucher geöffnet war. Kurz entschlossen steuerte sie das nächstgelegene Buchgeschäft an und kaufte einige Bücher von dem römischen Geschichtsschreiber Tacitus, der über die Überfälle der Römer auf Britannien berichtet hatte.

Sie war gerade zu Hause angekommen, als Malcolm anrief.

»Wie geht es dir heute? War dein Besuch in der Schule erfolgreich?«, fragte er.

Miriam erzählte ihm von ihrem Gespräch mit der Schulleiterin.

»Ich habe mit Willie wegen der Pferde gesprochen, er würde uns gerne begleiten, wenn du damit einverstanden bist.« Er verschwieg ihr, dass er über diesen Vorschlag nicht sehr begeistert war. Lieber wäre er mit Miriam alleine aufgebrochen, hatte es aber nicht gewagt, ihr Willies Vorschlag vorzuenthalten. »Natürlich habe ich ihm nichts über das Geheimnis deiner Mutter erzählt.«

»Warum nicht? Wenn Willie dabei ist, wird es sicherlich lustig.« Sie reagierte genau so, wie er es erwartet hatte, spontan und unbekümmert. Das lachende Gesicht Willies mit den vielen Sommersprossen tauchte vor ihren Augen auf. Sorglos und spöttelnd hatte er damals vor nichts und niemandem Respekt gehabt und sie oft mit seinen Späßen zum Lachen gebracht. Egal, was er auch tat, es hatte nie jemanden gegeben, der ihm ernsthaft böse gewesen war.

Die drei Tage bis zum Freitag verbrachte Miriam überwiegend mit Lesen. Immer tiefer tauchte sie in die ihr fremde Vergangenheit ein. Sie wollte alles über die Zeit wissen, in der ihr Vater, aber auch ihre Mutter gelebt hatten. Noch nie war Geschichte spannender und waren die Menschen dieser Zeit lebendiger für sie gewesen.

Endlich kam der Freitag. Miriam erwachte mit einer kribbelnden Erwartung im Bauch. Rasch stand sie auf, um zu duschen und ihren Rucksack zu packen. Das Wichtigste war warme, regenfeste Kleidung. Im Hochland konnte es im April noch empfindlich kalt werden und sie mussten mit scharfen Winden und Wolkenbrüchen rechnen. Als Miriam sich entschieden hatte, was sie alles mitnehmen wollte, war es schon fast Mittag. Nachdem sie noch eine Kleinigkeit gegessen hatte, fuhr Malcolm auch schon vor, um sie abzuholen. In der Jeans und der dunkelblauen Outdoorjacke sah er noch besser aus als im Anzug. Lächelnd begrüßte er sie.

»Ich freue mich richtig auf unseren Ausflug. Laut Wetterbericht wird es voraussichtlich nicht regnen, obwohl man das nie so genau sagen kann. Das Wetter im Hochland kann von einem Moment auf den anderen umschlagen.«

Sie tranken noch gemeinsam eine Tasse Tee, dann drängte Malcolm zum Aufbruch.

»Es wird eine Weile dauern, bis wir alles gepackt haben und auf den Pferden sitzen. Wenn du fertig bist, würde ich vorschlagen, dass wir jetzt fahren.«

Malcolm trug Miriams Rucksack zu seinem Wagen und sah ihr zu, wie sie sorgfältig die Haustüre verschloss. Dann nahm sie neben ihm auf dem Beifahrersitz Platz.

Die Pferdefarm lag außerhalb von Inverurie. Sie fuhren sanft ansteigende Alleen entlang, die an beiden Seiten von dünnen Kiefern gesäumt wurden.

Zehn Minuten später erreichten sie die Highland-Farm von Willies Eltern, auf der sie beide als Kinder reiten gelernt hatten. Malcolm parkte den Wagen im Hof und winkte Willie zu, der schon damit beschäftigt war, die Pferde zu satteln. Die drei Tiere standen festgebunden neben dem verwitterten Gatter, das dringend einen Anstrich benötigte. Überhaupt wirkte die Farm etwas verwahrlost. Das wild wuchernde Unkraut anstelle der früher so liebevoll gepflanzten Blumen in der langen Einfahrt verstärkte diesen Eindruck noch.

Miriam stieg aus und begrüßte gemeinsam mit Malcolm ihren alten Schulfreund. Er hatte sich kaum verändert. Grinsend ließ er zu, dass Miriam ihn auf beide Wangen küsste.

»Schön, dich zu sehen, liebste Miriam. Ich habe gehört, du hast Kunst studiert? Hoffentlich hast du das Reiten nicht verlernt. Nach acht Stunden auf dem Pferd wirst du dir deinen hübschen Hintern wund geritten haben«, sagte er und betrachtete sie grinsend von oben bis unten. Miriam ging auf sein Geplänkel ein.

»Ich habe mir ein Kissen eingesteckt, falls es zu schlimm wird«, lachte sie und streichelte dem Pferd, das ihr am nächsten stand, zärtlich über die weichen Nüstern. Es war ein gut gebauter, kräftiger Rappe, mit einem sichelförmigen Mal auf der Stirn. Aus großen, sanftmütigen Augen sah das Tier auf sie herab.

»Kann ich den hier reiten?«, fragte sie. »Er ist wunderschön.«

Willie grinste. »Er heißt Moonlight, doch der Name täuscht. Er ist ein Teufel und hat richtig Pfeffer im Hintern. Sein Blick ist jedoch so sanft wie sein Name. Wäre er ein Mensch, würde er den perfekten Schauspieler abgeben. Ich denke, Malcolm sollte ihn reiten, man braucht sehr viel Kraft für ihn. Für dich habe ich Milkshake vorgesehen.« Er wies auf eine karamellfarbene Stute, die nicht ganz so groß war und geduldig wartend dastand.

Lachend und plaudernd verstauten sie ihre Vorräte und das Zelt mit seinem Zubehör in den Satteltaschen und hinter den Sätteln. Willie gab seinem Knecht noch einige Anweisungen, dann bestiegen sie die Pferde und ritten hintereinander durch das schief in den Angeln hängende Gatter, über dem ein ausgeblichenes Schild mit dem Namen des Gestüts sich knarrend im Wind hin und her bewegte.

Miriam hatte den Zeitungsartikel, den Mrs. MacLish ihr gegeben hatte, in ihre Jackentasche gesteckt. Eine Weile ritten sie die schmale Straße entlang und bogen dann in einen kleinen Feldweg, der sich durch frühlingshafte Wiesen auf die blaugrün schimmernden Hügel zuschlängelte. Dicke, weiße Wolken trieben vom Wind gepeitscht am Himmel und ließen nur für kurze Momente die Strahlen der Sonne durch. Miriam genoss den frischen Wind, der mit ihren Haaren spielte und auch den letzten trüben Gedanken aus ihrem Kopf blies. Sie fühlte sich so frei wie schon lange nicht mehr. Die Pferde schienen sich genau wie sie über den Ritt zu freuen. Mit geblähten Nüstern warfen sie übermütig ihre Köpfe hoch und schnaubten erwartungsvoll.

Willie erzählte Malcolm, wie es ihm in den letzten Jahren ergangen war. Seine Frau hatte ihn vor einiger Zeit verlassen und er hatte große Probleme, die Farm alleine zu führen. Seine ganze Hoffnung lag in der Pferdezucht, doch dann war sein bester Hengst an einer Kolik gestorben und ihm fehlte das Geld für ein neues Pferd mit ähnlich guter Abstammung.

Miriam hörte dem Gespräch der Männer kaum zu. Sie hing ihren Gedanken nach, die sich um ihre geliebte Mutter drehten und um ihren Vater, den sie so gerne kennen gelernt hätte.

Moonlight tänzelte ungeduldig hin und her und Malcolm hatte Mühe, ihn zu halten.

»Was haltet ihr von einem kleinen Galopp?«, fragte er. »Moonlight scheint ein wenig Bewegung nötig zu haben.«

Willie drehte sich fröhlich grinsend zu Miriam um. Man konnte ihm ansehen, wie sehr er den Ausflug mit seinen Freunden genoss. Es war für ihn die Gelegenheit, seine Probleme eine Zeit lang hinter sich zu lassen.

»Bist du bereit zu galoppieren?«

Miriam nickte glücklich. Moonlight schoss los wie eine Rakete, als Malcolm die Zügel lockerte. Milkshake und Fire, Willies rotbraune Stute, die gut zu seinen Haaren passte, folgten ihm. Sie flogen über den Boden hinweg auf die grünen Hügel zu.

Der Ausflug war genauso, wie sie es sich erträumt hatte. Schwer atmend parierten sie nach einer Weile die schwitzenden Pferde wieder zum Schritt durch. Miriams Wangen hatten sich von der Anstrengung gerötet und ihre weit geöffneten Augen sogen die Landschaft in sich auf, als wolle sie diesen Augenblick für immer bewahren. Sie war nie schöner gewesen. Immer wieder warf Malcolm ihr sehnsuchtsvolle Blicke zu. Was würde er dafür geben, sie in seinen zu Armen halten und ihren schönen Körper mit seinen Händen zu erforschen und mit Küssen zu bedecken. Doch er schob seine Gedanken rasch wieder beiseite. Miriam hatte gerade erst eine große Enttäuschung hinter sich und so, wie er sie kannte, würde sie noch eine ganze Weile brauchen, um damit fertig zu werden. Er durfte nichts überstürzen, indem er sie jetzt bedrängte. Es blieb ihm also nichts anderes übrig, als sich in Geduld zu üben.

Die drei Freunde waren überwältigt von der rauen Schönheit der Landschaft, deren Farbe von sattem Grün in Gelb und dann wieder in tiefes Braun wechselte. Sie ritten an kleinen Seen und Bächen vorbei, in denen sich die Wolken spiegelten. Immer wieder entdeckten sie alte Mauersteine und verfallene Gemäuer, welche die geschichtsträchtige Vergangenheit Schottlands bezeugten. Nach einer Weile tauchte ein größerer See vor ihnen auf, der wie ein eingefasster Edelstein zwischen Bergen schimmerte, deren Spitzen durch dichte Nebel verhüllt wurden. Schattenlichter tanzten auf der silbernen Oberfläche des Sees, als sie langsam den nächsten Hügel hinunterritten. Sie näherten sich dem Ufer, an dessen Böschung die Rhododendren erste Knospen zeigten. Gut gelaunt sprangen sie von ihren Pferden und nahmen ihnen die Sättel ab.

Während die Pferde sich sofort über das kurze, würzige Gras hermachten, ließen sich die drei Freunde auf dem warmen Ufersand nieder. Malcolm nahm eine Thermoskanne mit Tee und ein paar Sandwiches aus seinem Rucksack, die sie hungrig verzehrten. Er sah Miriam an, die mit glänzenden Augen neben ihm saß.

»Es wird schnell dunkel hier oben und ich denke, es ist besser, wenn wir bald weiterreiten und uns nach einem Schlafplatz umsehen, solange es noch hell ist. Es ist schon eine Weile her, seitdem ich das letzte Mal ein Zelt aufgestellt habe. Ich werde sicher einige Zeit dafür benötigen.« Malcolm plante wie immer alles ganz genau.

»Wenn ich mich nicht täusche, befindet sich nicht weit von hier entfernt eine alte Burg, von der noch einige Mauern erhalten sind. Wir hätten Schutz vor dem Wind und auch vor Regen, falls das Wetter umschlagen sollte.« Willie warf einen misstrauischen Blick auf die schweren Wolken über ihnen, die nicht mehr so strahlend weiß waren wie zu Beginn ihres Ausfluges.

Miriam war mit allem einverstanden. Sie befand sich in einem wahren Euphorietaumel. Das Kribbeln in ihrer Magengegend hatte sich verstärkt und sie fühlte, dass etwas auf sie zukam, das sie ihrem Ziel näher bringen würde. Ob sie weitergeritten wäre, wenn sie geahnt hätte, welche Abenteuer ihnen noch bevorstanden?

Immer wieder schweiften ihre Gedanken zu ihrer Mutter, der sie sich nahe fühlte wie lange nicht mehr.

Die Farben am Himmel schienen förmlich zu explodieren, als die Sonne glutrot hinter den düster aufragenden Bergen versank. Rasch wurde es dunkel und Miriam spürte schmerzhaft einige Muskeln, von denen sie vergessen hatte, dass es sie gab. In dem vorherrschenden Zwielicht tauchten schemenhaft einige Mauerreste vor ihnen auf. Sie hatten die Burg erreicht, von dem Willie gesprochen hatte. Das Haupttor und ein großer Teil des ehemaligen Wohntrakts waren noch gut erhalten. Bei der Errichtung der Burg hatte man geschickt die vorhandenen Gegebenheiten genutzt und sie so nah an die abfallenden Steilwände gebaut, dass zwei Seiten der Burg unangreifbar waren. Von vorne war sie durch eine hohe Mauer und zwei Türme geschützt, von denen allerdings nur noch der rechte stand. Die Mauern verströmten feuchte Kälte, als Miriam, Malcolm und Willie durch das Tor in den weiträumigen Innenhof ritten.

»Wir sind da.« Willie stieg vom Pferd, Malcolm tat es ihm nach. Grinsend beobachtete er, wie Miriam sich langsam von ihrem Pferd gleiten ließ.

»Am besten, du schläfst heute Nacht auf dem Bauch, das tut weniger weh«, spöttelte er.

Malcolm beschloss, das Zelt in einem der ehemaligen Stallgebäude aufzuschlagen. Sie würden dort von drei Seiten Schutz haben, falls es regnete oder der Ostwind schärfer werden sollte.

Während Malcolm mit dem Aufbau des Zeltes beschäftigt war, suchte Willie unter den kargen caledonischen Kiefern, die sich in der Nähe der Burg befanden, nach Feuerholz. Miriam kümmerte sich währenddessen um die Pferde und führte sie zu einem nahe gelegenen Bach, dessen Uferrand von saftigem Gras gesäumt war. Sie wusch sich Gesicht und Hände in dem kalten klaren Wasser und beobachtete die Pferde, die friedlich grasten.

Unmerklich war es fast dunkel geworden. Als Miriam sich wenig später auf den Rückweg machte, ließ die Dämmerung die Ruine noch düsterer erscheinen. Ein Schauer lief ihr über den Rücken, als sie mit den Pferden durch das große Tor schritt. Das Klappern der Hufe auf dem mit Gras überwucherten Kopfsteinpflaster unterbrach die tiefe Stille, die über der Burg lag. Willie kam ihr entgegen und übernahm die Pferde, um sie festzubinden.

Malcolm war es gelungen, das Zelt aufzubauen, und so hatte er schon damit begonnen, das Abendessen vorzubereiten, als Miriam zu ihm trat. Sie setzte sich neben das gemütlich flackernde Feuer und sah ihm zu, wie er einen Topf an einem kleinen Eisengestell befestigte.

»Es ist unheimlich hier.« Ehrfürchtig betrachtete sie die verwitterten, alten Steine, die aus einer längst vergangenen Zeit stammten. Wer hier wohl einmal gelebt hatte? Ob Malcolm etwas darüber wusste? Sie beschloss, ihn später danach zu fragen.

Abgesehen von dem leisen Schnauben der Pferde und dem Knistern des Feuers war es still. Ein großer dunkler Schatten flog lautlos über sie hinweg. Miriam sprang erschrocken auf.

»Die Fledermäuse tun dir nichts und werden dich auch nicht überfallen, um dein Blut zu trinken«, bemerkte Malcolm, der ihrem Blick gefolgt war.

»Am besten, du bleibst so nahe wie möglich bei mir, dann kann ich dich beschützen.« Ein sehnsuchtsvoller Klang begleitete seine Worte.

Er liebt mich immer noch, schoss es Miriam durch den Kopf. Unwillkürlich musste sie an Brian denken. Die Enttäuschung über sein Verhalten saß tief. Sie würde sich auf jeden Fall Zeit lassen, bevor sie eine neue Beziehung einging.

Malcolm hatte eine Dose mit Bohnen und Würstchen in den Topf gegeben, die er unter Rühren erhitzte. Hungrig sog Miriam den aufsteigenden Duft ein.

Endlich war das Essen fertig. Malcolm packte noch etwas Brot und einige Dosen Starkbier aus und reichte jedem einen Teller. Es schmeckte herrlich, Miriam hatte lange nicht mehr mit so großem Appetit gegessen. Sie nahm einen großen Schluck von dem Bier. Wohlige Wärme breitete sich in ihr aus. Satt und zufrieden beobachtete sie die beiden Männer, die jetzt ebenfalls mit dem Essen fertig waren.

Die knisternden Flammen warfen tanzende Schatten auf die alten Gemäuer.

»Bist du zufrieden mit meinen Kochkünsten?«, fragte Malcolm freundlich. Es war ihm nicht entgangen, mit welchem Appetit sie sich über das Essen hergemacht hatte. Endlich einmal eine Frau, die nicht ständig auf Diät war.

Miriam lächelte ihn an. »Vielen Dank, es hat sehr gut geschmeckt.«

Feuchte Kälte zog vom Boden hoch und Miriam begann zu frösteln. Malcolm, der bemerkte, wie Miriam zitterte, stand auf und legte ihr eine warme Decke über die Schulter. Miriam bedankte sich höflich. Malcolm war wirklich ein Traummann. Er war charmant und zuvorkommend und konnte auch noch kochen. Die Frau, die ihn bekam, konnte sich wirklich glücklich schätzen.

»So lässt es sich leben.« Willie nahm sich noch eine Dose Bier und lehnte sich zufrieden zurück.

Miriam war so entspannt wie lange nicht mehr. Die funkelnden Sterne über ihr, das knisternde Feuer und die herrliche würzige Luft waren einfach überwältigend. »Morgen suchen wir nach der Quelle, wenn wir die Richtung nicht verfehlt haben, kann sie nicht sehr weit von hier entfernt sein.«

»Was für eine Quelle?« Willie war neugierig geworden. Miriam und Malcolm warfen sich einen bedeutungsvollen Blick zu. Dann atmete Miriam tief ein und beschloss, ihrem alten Schulfreund Willie von dem Brief und auch von ihrem Traum zu erzählen.

Umgeben von der düsteren Atmosphäre der alten Burg, rückte die Vergangenheit näher und selbst die fantastischsten Geschichten erschienen in diesem Moment glaubwürdig. Willie fühlte, wie sich seine Nackenhaare sträubten. Er war noch nie sehr mutig gewesen.

»Vorausgesetzt, es war wirklich so, wie deine Mutter geschrieben hat, und wir finden diese Quelle. Was wollt ihr denn dann unternehmen? Ihr spielt doch nicht etwa mit dem Gedanken, in die Vergangenheit zurückzugehen? Ach, was rede ich da. Zeitreisen sind doch gar nicht möglich.« Er trank sein Bier in einem Zug leer und öffnete sofort eine neue Dose. »Interessant wäre der goldene Halsreif. Wenn wir den finden, haben wir ausgesorgt. Er muss ein Vermögen wert sein.« Er sah Miriam an. »Du würdest uns doch an dem Fund beteiligen, oder? Hat deine Mutter auch etwas über seine Größe und sein Gewicht geschrieben?« Neugierig beugte er sich nach vorn und wartete auf ihre Antwort.

Miriam setzte sich auf und strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht.

»Über die Größe und das Gewicht hat sie nichts geschrieben, weil es nicht wichtig ist. Ich weiß nicht, was uns morgen erwartet, aber ich habe den ganzen Tag über schon so ein seltsames Gefühl.«

Malcolm strich ihr freundschaftlich über den Arm.

»Wir werden schon auf dich aufpassen. Solange ich bei dir bin, wird dir jedenfalls nichts geschehen.«

Der goldene Halsreif ging Willie nicht mehr aus dem Kopf und er beschloss, alles zu unternehmen, um ihn zu finden. Wenn er ihn verkaufen könnte, wären seine finanziellen Probleme gelöst und er könnte sich endlich einen neuen Zuchthengst kaufen. Vielleicht sogar noch einige Stuten? Gut gelaunt erzählte er noch einige Anekdoten aus der Schulzeit und Miriams helles Lachen klang durch die alten Gemäuer. Bis tief in die Nacht saßen sie um das Feuer herum und ließen ihre Jugendzeit wieder aufleben.

»Wisst ihr eigentlich etwas über diese Burg?«, fragte Miriam unvermittelt. »Es würde mich schon interessieren, wer sie bewohnt hat, bevor ich hier übernachte.«

Malcolm starrte ins Feuer. Sein Gesicht verdüsterte sich.

»Die meisten dieser Burgen stammen aus einer Zeit, die alle Schotten am liebsten vergessen würden. Damals hat sich eine der schlimmsten Geschichten innerhalb des eigenen Volkes ereignet.« Trauer schwang in seiner Stimme mit, als er fortfuhr.

»Es war im Jahre 1692, als die Campbells achtunddreißig Mitglieder des MacDonalds-Clans ermordeten. Der Rest des Clans ist auf der Flucht erfroren. Fehden zwischen den einzelnen Clans waren nichts Besonderes in den weitgehend gesetzlosen Highlands, doch die heiligste Ehre der Kelten, ihre Gastfreundschaft, war in einem Maße verletzt worden, die es bis dahin nicht gegeben hatte. König William der Dritte hatte die alte Feindschaft, die zwischen den Clans herrschte, ausgenutzt und die Campbells zu dieser schandvollen Tat angestachelt. Er konnte es nicht verschmerzen, dass die MacDonalds ihm den Treueid auf die Krone verweigerten. Diese heimtückische und feige Bluttat hat der Clan-Ehre den Todesstoß versetzt. Eigentlich müsstet ihr diese Geschichte doch noch aus dem Geschichtsunterricht kennen. Mir hat sie sich fest ins Herz gebrannt.«

Miriam war bei seiner Erzählung ein Schauer über den Rücken gelaufen. Die Geschichte war genauso grausam wie ihr Traum. Sie stand auf.

»Es ist schon spät. Ich bin müde und werde schlafen gehen.« Sie wünschte Malcolm und Willie eine gute Nacht und begab sich in das Zelt. Malcolm brachte ihr eine kleine Campingtaschenlampe, damit sie etwas sehen konnte. Wieder war Miriam gerührt von seiner unaufdringlichen Aufmerksamkeit. Die leisen Stimmen der Männer gaben ihr ein Gefühl von Geborgenheit. Müde von dem langen Ritt und der kräftigen Luft, schlief sie fast sofort ein. Sie träumte von niedergemetzelten Schotten und einem grausamen König, der ein riesiges, blutüberströmtes Schwert in der erhobenen Hand hielt und aus kalten, grauen Augen auf sie herabsah.

Als Miriam am nächsten Morgen erwachte, spürte sie schmerzhaft jeden ihrer Muskeln abwärts der Taille. Vorsichtig stand sie auf und trat aus dem Zelt. Die Sonne war gerade aufgegangen. Ein riesiger, leuchtender Feuerball, der ein warmes, rot schimmerndes Licht auf die noch dunklen Hügel warf und schwerelos den Himmel hinaufstieg, wie er es seit ewigen Zeiten tat. Kein Wunder, dass die Menschen früher die Sonne angebetet haben, dachte Miriam. Hier in dieser faszinierenden Einsamkeit der Highlands konnte man die geballte Macht der Elemente spüren, gegen die die hoch entwickelte Technik der Zivilisation keine Chance hatte. Sie war überwältigt von der Farbenpracht, mit der die Sonne nach und nach die Schatten der Nacht vor sich herschob, um sie schließlich ganz zu verdrängen.

Sie lief zum Bach und schaufelte sich mit den Händen das eiskalte Wasser ins Gesicht. Das Geschrei der Vögel, von denen man nicht einen entdecken konnte, begleitete sie zurück ins Castle.

Willie war gerade dabei, das Feuer zu entfachen. Er konnte es kaum erwarten, loszureiten und das Gold zu finden. Malcolm trat auf sie zu.

»Ich hoffe, du hast gut geschlafen?« Lächelnd sah er sie an. Das kalte Wasser hatte ihr Gesicht durchblutet und ließ ihre Wangen rosig schimmern. Ihre tiefblauen Augen leuchteten. Malcolm musste sich beherrschen, um sie nicht in seine Arme zu reißen. Doch er wollte nichts überstürzen. Er musste warten, bis sie sich von den Schatten der Vergangenheit befreit hatte.

Miriam gab das Lächeln zurück.

»Danke der Nachfrage, ich habe tief und fest geschlafen.« Sie sah die Sehnsucht in seinen Augen und senkte rasch den Blick. Dann drehte sie sich um und lief zu den Pferden. Zärtlich streichelte sie Milkshake über die weichen Nüstern. Sie führte die drei Pferde zum Bach und ließ sie trinken und eine Weile grasen.

Ihr Blick schweifte über die grünen Hügel. Wie schön es hier war. Sie waren die einzigen Menschen weit und breit in dieser Einsamkeit. Kaum zu glauben, dass Millionen Menschen diesen Planeten bevölkerten und nicht das geringste Geräusch von ihnen bis hierher drang.

Tief sog Miriam die würzige Luft in ihre Lungen und war einfach nur glücklich. Der Duft von gebratenem Schinken zog in ihre Nase und erinnerte sie daran, dass sie noch nicht gefrühstückt hatte. Die Pferde folgten ihr bereitwillig zum Lager zurück. Es gab Eier mit Schinken, Toast und Tee. Sie ließen sich Zeit mit dem Frühstück und saßen entspannt auf dem weichen Boden und tranken ihren Tee.

Man sollte öfter in die Highlands reiten, dachte Malcolm. Hier oben besinnt man sich wieder auf die wichtigen Dinge des Lebens und jedes noch so große Problem schrumpft auf die Größe eines Sandkorns zusammen. Ein Satz fiel ihm ein, den sein Vater vor langer Zeit gesagt hatte. »Menschen, die um das Überleben kämpfen, haben keine Zeit, über den Sinn des Lebens nachzudenken.« Der erste Teil des Satzes bezog sich auf die Freiheitskämpfer, die sich todesmutig gegen die verhassten Engländer erhoben hatten, der zweite auf die jungen Leute von heute, die alles hatten und doch nie zufrieden waren. Hektisch jagten sie durch das Leben, auf der Suche nach ihrem persönlichen Glück.

Willie war ebenfalls still geworden. Nachdenklich starrte er auf die Berge, die als dunkle Silhouetten in den Himmel ragten. Er war froh darüber, dass er mitgeritten war. Hier konnte man endlich einmal in Ruhe nachdenken. Seine Gläubiger waren weit entfernt. Niemand belästigte ihn oder versuchte ihn unter Druck zu setzen. Der Goldreif trat wieder in den Vordergrund seiner Gedanken.

Er sprang auf und sah auffordernd auf Miriam und Malcolm hinunter.

»Was ist, wollt ihr ewig hier sitzen bleiben? Lasst uns weiterreiten, oder haben sich deine Muskeln noch nicht von gestern erholt?« Er grinste Miriam ins Gesicht.

»Noch nicht ganz, ehrlich gesagt.« Miriam erwiderte gut gelaunt seinen Blick. »Doch das wird mich nicht daran hindern weiterzureiten, wenn ihr so weit seid.«

Der rothaarige Willie sah aus wie ein übermütiger, großer Junge. Man konnte ihm einfach nicht böse sein.

Hier in dieser melancholischen Einsamkeit rückte man schneller zusammen und es herrschte eine Vertrautheit zwischen den drei Freunden, als wären sie nie getrennt gewesen.

Gemeinsam bauten sie das Zelt ab und packten alles auf die Pferde. Miriam konnte mit ihrem Muskelkater kaum laufen und Malcolm half ihr bereitwillig auf ihr Pferd.

Die Pferde tänzelten übermütig und fielen rasch in einen scharfen Galopp. Wieder flogen sie über die kahlen Hügel, die von weitem grünblau schimmerten. Der Himmel veränderte sich ständig und schien das einzig Lebendige in der eher trostlosen Gegend zu sein. Sie ritten durch die endlose Heide, die nur von Schafen mit schwarzen Gesichtern, Hasen und Moorhühnern bewohnt war. Dann kamen sie in einen Kiefernwald, dessen Boden mit überdimensionalen Buckeln aus Heide und anderem Kraut übersät war. Miriam ließ ihren Gedanken wieder freien Lauf. Der Boden wirkte feminin und mystisch und die Buckel erinnerten Miriam an wogende Busen. Die Erde, über die sie ritten, hatte das Leben, das vor Urzeiten an Land gespült worden war, aufgenommen und es genährt, wie eine Mutter ihre Kinder.

Eine mächtige Drillingskiefer, deren Stämme fest ineinander verschlungen waren, erhob sich wie ein Wächter über dem fruchtbaren Boden. Die Stämme waren von hellen Flechten überzogen, Parasiten, die dem Baum seine Kraft raubten. Seine Erhabenheit wird nicht mehr lange dauern, dachte Miriam versonnen. Die schimmelähnlichen Flechten waren der Beginn von Verwesung und Tod. Abgebrochene Äste, ebenfalls von weißen Flechten überzogen, lagen wie bleichende Knochen unter dem Baum.

Gegen Mittag erreichten sie ein blühendes Tal. Ein breiter Bach floss durch die Wiesen, die mit Büschen und Bäumen besetzt waren. Wilde Rhododendren leuchteten pinkfarben zwischen caledonischen Kiefern und Fichten und bildeten einen erfrischenden Kontrast zu dem matten Grün der Hügel. Ein mächtiger Steinadler zog langsam seine Kreise über ihnen, auf der Suche nach Beute.

Die wildromantische Schönheit dieses verlassenen Tals verschlug Miriam den Atem. Sie sah Malcolm an und spürte, dass er das Gleiche dachte wie sie.

Es schien, als wäre die Zeit hier stehen geblieben, zumindest folgte sie anderen Gesetzen als in der Zivilisation mit ihrer grellen Hektik. Hier leben zu dürfen wäre ein Traum.

Sie stiegen von ihren Pferden und ließen sie von dem glitzernden, klaren Wasser trinken. Miriam lief zu einem der moosüberzogenen Findlinge, die wie durch Riesenhände verstreut überall herumlagen oder standen. Sie ließ sich in das weiche Gras sinken und lehnte ihren Kopf an einen der grauen Steine, die seit Jahrtausenden hier lagen und wahrscheinlich mit der letzten Eiszeit hierher gekommen waren. Sie genoss die warmen Sonnenstrahlen, die auf ihr Gesicht fielen. Ihre Augenlider wurden schwer. Ohne es zu bemerken, sank sie in einen tiefen Schlaf.

Ein alter Mann stand wenige Meter von ihr entfernt, gestützt auf einen seltsam gedrehten Stock. Er trug einen waidblau gefärbten Umhang über einem weißen Gewand, das ihm fast bis zu den Füßen reichte. Sein langer Bart hing ihm bis auf die Brust. Aus funkelnden, wässrigblauen Augen sah er sie an. In diesen Augen lag so viel Weisheit, dass Miriam vor Ehrfurcht erzitterte.

Nach einer Weile drehte er sich um und starrte hinunter auf das tosende, schäumende Meer, dessen Wellen an dem harten Felsgestein brachen, um sich zischend und spritzend wieder mit dem übrigen Meerwasser zu vereinen.

Sie befanden sich auf felsigen Klippen, hoch über dem Meer. Wie war sie hierher gekommen? Miriam konnte sich nicht daran erinnern. Es war auch nicht wichtig. Sie spürte, dass es keine Rolle spielte. Nichts spielte mehr eine Rolle, es kam ihr vor, als wäre die Zeit stehen geblieben.

Der Wind blies ihr mit aller Kraft die salzige, feuchte Luft ins Gesicht und bog die wenigen Gräser, die auf den Klippen unter ihren Füßen wuchsen, bis sie fast auf dem steinigen Boden lagen. Das Meeresrauschen war so laut, dass Miriam ihr eigenes Wort nicht verstehen konnte und doch nahm sie den Lärm kaum wahr. Sie hörte ihr Herz pochen. Gleichmäßig und dumpf.

Langsam, einen Fuß vor den anderen setzend, schritt Miriam auf den alten Mann zu. Etwas zog sie magisch zu ihm hin. Sie musste unbedingt mit ihm sprechen. Als sie ihn beinahe erreicht hatte, verschwand seine Gestalt vor ihren Augen. Er löste sich geradezu in Nichts auf, wie Nebelfetzen in der Sonne.

Verwirrt schlug sie die Augen auf. Sie war offensichtlich eingeschlafen. Ob der Traum irgendetwas zu bedeuten hatte? Er war genauso real gewesen wie der Stein in ihrem Rücken. Sie blieb noch einen Moment sitzen und starrte auf das schimmernde Wasser, das ruhig und gleichmäßig durch das Tal plätscherte, sich an manchen Stellen wirbelnd drehte, um dann wieder seinen gewohnten Lauf zu nehmen.

Als sie zurückkam, reichte Malcolm ihr einige Biskuits, die sie hungrig verzehrte.

»Du hast so tief und fest geschlafen wie ein Baby; das Reiten und die frische Luft sind anstrengend, nicht wahr? Man muss sich erst wieder daran gewöhnen.« Er zog die Thermoskanne, die sie nach dem Frühstück noch einmal mit heißem Tee gefüllt hatten, aus der Satteltasche und reichte ihr einen Becher, den sie dankbar entgegennahm.

Miriam zog den Zeitungsartikel aus ihrer Jacke und studierte ihn, obwohl sie ihn längst auswendig kannte.

»Ich glaube, dies hier ist das Tal, das in dem Artikel beschrieben worden ist. Wir sind endlich da und können uns auf die Suche nach der Quelle begeben.«

Malcolm begann das Zelt aufzubauen, während Miriam und Willie Feuerholz sammelten. Willies Augen bekamen einen gierigen Glanz, als er an das Gold dachte. Er musste die Quelle als Erster finden – vielleicht könnte er dann den Reif ganz für sich allein beanspruchen. Sobald er wieder Geld hatte, konnte er sich endlich die Frauen leisten, die er begehrte. Der Whisky und das viele Pech, das er in den letzten Jahren gehabt hatte, hatten ihn verändert. Er war unbarmherzig geworden. Nur sein Äußeres erinnerte an den fröhlichen, unbekümmerten Jungen, der er früher einmal gewesen war. In der Gesellschaft seiner früheren Freunde fiel es ihm jedoch nicht schwer, die Rolle des früheren Willie zu spielen. Doch genau genommen hatte er sein Leben lang Malcolm um dessen Aussehen beneidet und die ganzen Jahre über in seinem Schatten gestanden. Das Leben war einfach ungerecht. Malcolm waren die Mädchen seit der Schulzeit nachgelaufen, egal, wo er auftauchte. Er hatte es nicht einmal bemerkt, weil er immer nur Augen für Miriam gehabt hatte. Auch Willie war in sie verliebt gewesen, aber Frauen wie Miriam verliebten sich nicht in kleine rothaarige Männer wie ihn.

Rasch entfernte er sich von dem Lager. Er würde sich am besten jetzt gleich auf die Suche nach der Quelle begeben. Das Feuerholz konnte er später immer noch sammeln.

Miriam hatte sich auf der Suche nach trockenen Ästen immer weiter vom Lager entfernt und dabei eine halbverfallene Hütte entdeckt, die sich eng an den Felsen schmiegte, der den hinteren Teil des Tales umgab. Neugierig trat sie näher. Die Hütte sah aus, als wäre sie mindestens hundert Jahre alt und aus dem Holz der Umgebung gebaut. Das überhängende Dach war mit Gras gedeckt und reichte fast bis zum Boden. Die grob zusammengehauene, schief in den Angeln hängende Holztüre stand halb offen. Beim Eintreten musste Miriam sich bücken, um sich nicht den Kopf zu stoßen.

Nachdem ihre Augen sich an das Halbdunkel im Inneren der Hütte gewöhnt hatten, stellte sie enttäuscht fest, dass die Hütte, abgesehen von dem trockenen Stroh, das einen Teil des festgestampften Lehmbodens bedeckte, leer war. Trotzdem konnte sie den Hauch vergangener Zeiten, der in diesem Raum hing, fast körperlich fühlen.

Ein heftiger Windstoß fuhr plötzlich durch die Hütte und setzte die Holztüre knarrend in Bewegung. Mit ihm kam der Geruch von Blut und Tod durch die Ritzen und breitete sich langsam in dem niedrigen Raum aus.

Es war unheimlich. Miriam lief ein eiskalter Schauer über den Rücken. Ihre Nackenhaare stellten sich auf. Ohne nachzudenken drehte sie sich um und rannte so schnell sie konnte aus der Hütte. In ihrer Panik vergaß sie, sich zu bücken und stieß mit der Stirn an die Türschwelle. Sie ignorierte den dumpfen Schmerz, der sich wellenförmig in ihrem Kopf ausbreitete, und rannte noch ein ganzes Stück weiter.

Schwer atmend blieb sie schließlich stehen und starrte aus sicherer Entfernung auf die verfallene Hütte, die jetzt harmlos in dem hellen Sonnenlicht lag. Sie rieb sich die schmerzende Stirn, auf der eine walnussgroße Beule hervorgetreten war. War es ihre Einbildung, die ihr einen Streich gespielt hatte?

Aber abgesehen von dem Geruch, war noch etwas seltsam gewesen: kurz bevor sie aus der Hütte gestürmt war, hatte sie das Gefühl gehabt, nicht alleine gewesen zu sein.

Nachdenklich lief sie zum Lager zurück. Was hatte das zu bedeuten? Oder hatte sie sich alles nur eingebildet? In dieser Einsamkeit liefen einem die verrücktesten Gedanken durch den Kopf. Sie verspürte das Bedürfnis, Malcolm von ihren Erlebnissen zu erzählen, doch als sie zum Lager kam, war es Willie, dem sie zuerst begegnete. Sein Blick fiel auf ihre Beule und sein Gesicht verzog sich zu einem breiten Grinsen. Ein harter Glanz war in seine Augen getreten, die spöttisch funkelten.

Er war zum Lager zurückgekehrt, nachdem er festgestellt hatte, dass das Tal wesentlich größer war, als er ursprünglich angenommen hatte. Er brauchte sein Pferd, denn reitend würde es leichter sein, die Gegend zu erkunden, als zu Fuß.

»Was ist denn mit dir passiert? Hast du einen Baum übersehen oder dich mit einem Hirsch angelegt? Du siehst aus, als wärst du einem Gespenst begegnet.«

»Lass Miriam in Ruhe, sie sieht ganz blass aus«, unterbrach Malcolm ihn. Seine Stimme wurde tröstend, als er sich ihr zuwandte.

»Du solltest deine Stirn kühlen.«

Er stand auf und zog ein Taschentuch aus seiner Hosentasche und lief zum nahen Bach, wo er es in das kalte Wasser tauchte und ausdrückte. Er trat zu Miriam und legte ihr das zusammengefaltete Taschentuch sanft auf die Beule.

»Möchtest du darüber reden, was geschehen ist?« Aufmerksam sah er ihr in die Augen. Er fühlte sich verantwortlich für Miriam und konnte den Gedanken, dass ihr etwas zustoßen könnte, nicht ertragen.

Willie beobachtete die beiden mit einem schiefen Grinsen. Warum machte Malcolm so ein Aufsehen um eine kleine Beule? Das war doch lächerlich. Immerhin war Miriam erwachsen und kein kleines Mädchen mehr. Eine bekannte Eifersucht stieg in ihm hoch, als er die Vertrautheit bemerkte, die zwischen den beiden herrschte.

»Ich habe mich nur gestoßen, weiter nichts.« Sie verspürte nicht das geringste Bedürfnis, sich von Willie verspotten zu lassen.

Auch Malcolm war der Blick, mit dem Willie sie bedachte, nicht entgangen. Er legte einen Arm um sie und sah Willie herausfordernd an.

»Du wolltest doch das Tal erkunden. Bei der Gelegenheit kannst du noch etwas Holz mitbringen. Wir werden es brauchen, wenn wir das Feuer die ganze Nacht brennen lassen wollen.«

»Ist gut, ich habe schon verstanden.« Er war mal wieder entlassen, ausgeschlossen aus der trauten Zweisamkeit. Willie schwang sich wütend auf sein Pferd. Was würde er dafür geben, einmal an Malcolms Stelle zu sein. Missmutig drückte er seinem Pferd die Fersen in die Seite, um es anzutreiben.

Miriam fühlte sich sicher und geborgen in Malcolms Arm, der freundschaftlich um ihre Schulter lag, und genoss die Wärme, die von ihm ausstrahlte.

Doch dieser Moment der Nähe war rasch vorüber. Malcolm schob sie ein Stück von sich fort, um ihr in die Augen zu sehen.

»Möchtest du mir nicht sagen, was dich so erschreckt hat?«, fragte er besorgt.

Er sah sie so liebevoll an, als wäre sie für ihn der wichtigste Mensch auf der Welt. Sie wusste, dass er sie nicht auslachen würde.

»Ich habe dort, wo die Felsen stehen, eine alte Hütte entdeckt und bin hineingegangen, um zu sehen, was sich im Inneren befindet. Plötzlich fuhr ein Windstoß durch die Hütte und brachte einen Geruch nach Blut und Tod mit sich, den ich aus meinem Traum kenne. Es war irgendwie unheimlich. Ich hatte das Gefühl, als würde sich außer mir noch jemand in der Hütte befinden, und bekam panische Angst. Als ich aus der Hütte gerannt bin, habe ich mir den Kopf an dem Balken über der Türe gestoßen. Wahrscheinlich habe ich mir das alles nur eingebildet. Als ich vorhin am Bach eingeschlafen bin, hatte ich einen seltsamen Traum.«

Malcolm, der ihr aufmerksam zugehört hatte, sah sie auffordernd an. Und Miriam erzählte ihm von dem alten Mann mit dem gedrehten Stock.

»Ich hoffe, du hältst mich nicht für überspannt?«, fragte sie etwas unsicher.

Malcolms Blick schweifte nachdenklich über ihren Kopf hinweg, auf einen Punkt hinter ihr.

»Vergiss nicht, dass wir Schotten sind. Wir sind mit den alten Sagen und Legenden aufgewachsen und glauben an sie. Sie sind auch jetzt noch im dritten Jahrtausend nach Christus real für uns, weil sie unsere Geschichte erzählen.«

Miriam nickte. Diese Geschichten waren sehr alt und reichten zurück bis zur ersten Besiedelung Schottlands. Sie berichteten von Helden, Göttern und mystischen Dingen, für die es in der heutigen Zeit kaum noch Platz gab. So wie die uralten Druiden ihr Wissen einst nur mündlich weitergegeben haben, gaben auch heute noch die Eltern und Großeltern ihre Geschichten weiter. Mittlerweile gab es eine Menge Leute, die die Sagen und Legenden niederschreiben, doch es war nicht dasselbe.

Eine Weile hingen beide ihren Gedanken nach.

»Ich fände es schön, wenn es etwas geben würde, das noch nicht erforscht und von der Wissenschaft in Einzelteile zerlegt worden ist. Irgendetwas, ein Geheimnis, dem man auf die Spur kommen und von dem man träumen kann.«

»Es gibt viele Geheimnisse, wie das deiner Mutter zum Beispiel, doch nicht jeder Mensch ist offen dafür. Wir denken nicht nur mit unserem Verstand, sondern lassen Platz für Gefühle, auch wenn wir das nach außen hin nicht zeigen.«

Malcolm genoss es, mit Miriam offen über seine Gedanken reden zu können, die er bisher für sich behalten hatte.

Vielleicht weil sie anders ist, dachte er. Sie hatte etwas an sich, das er sich nicht erklären konnte und das ihn früher bereits zu ihr hingezogen hatte. Ihre Seelen waren verwandt. Er spürte es ganz deutlich.

Willie kam zurück. Man sah ihm an, dass er schlechte Laune hatte. Er hatte das ganze Tal untersucht, soweit es ihm mit dem Pferd möglich gewesen war, und nicht die kleinste Spur einer Quelle entdeckt.

»Ich habe Hunger, wann gibt es endlich etwas zu essen?« Er bückte sich und zog eine Dose Bier aus einer der Satteltaschen.

»Möchte jemand ein Bier?«, fragte er. Miriam schüttelte den Kopf.

»In London trinkt man erst, wenn es bereits dunkel ist«, lachte sie. Die Schmerzen in ihrem Kopf hatten nachgelassen und sie genoss es, in diesem wunderschönen Tal zu sitzen und mit Malcolm über das Leben zu philosophieren.

»Wir sind aber in Schottland und hier trinkt man Bier, wann immer man Lust darauf bekommt«, gab Willie grinsend zurück und warf Malcolm eine Dose zu. Seine schlechte Laune schien vergessen. Doch das konnte sich schnell wieder ändern. Seit seine Geldsorgen immer drückender wurden, wechselte seine Stimmung so schnell wie das Wetter in den Highlands.

»Wenn das so ist, dann nehme ich auch eins.« Miriam sah ihn auffordernd an.

Sie prosteten sich zu, tranken jeder eine Dose Bier und bereiteten vergnügt und flachsend das Essen vor. Es gab Eintopf mit Fleisch und Brot, dazu Käse und luftgetrockneten Schinken. Hungrig machten sie sich über das Essen her und spülten alles mit einigen Dosen Bier herunter. Sie waren fröhlich wie Kinder und genauso albern.

Später, als der Mond sein fahles Licht über das Tal warf, erzählte Malcolm eine der alten Sagen, die er schon als Kind gehört hatte. Das Feuer warf flackernde Schatten auf die Umgebung und Miriam rutschte unwillkürlich ein wenig näher an Malcolm heran, um seiner warmen Stimme besser lauschen zu können.

»Meine Geschichte passt zu dem Traum, den du heute gehabt hast«, begann er. »Sie handelt von den Druiden. Das wichtigste und heiligste Symbol der Druiden war das kosmische Ei, aus dem alles Leben und auch die Erde und der Himmel entstanden sind. Es konnte nur unter größten Mühen in den Besitz eines Volkes gebracht werden und auch dann nur, wenn die Sterne in einer bestimmten Konstellation zum vollen Mond standen. Der Stamm, dessen Priester es gelänge, sich in den Besitz des Eis zu bringen, wäre allen anderen Stämmen überlegen. In diesem Volk würde Einigkeit herrschen und die Ernte würde so ertragreich sein, dass es Essen im Überfluss gab. Dem Stamm, der das Ei besäße, wären die Götter wohlgesinnt. Doch der Versuch, an dieses Ei zu gelangen, war sehr gefährlich und hat viele Helden bereits das Leben gekostet.

Die Legende sagt, dass Schlangen sich in großer Zahl zu einer kunstvollen Verschlingung zusammenballen müssen, um das kosmische Ei mit dem Speichel ihrer Schlünde und dem Schaum ihrer Leiber entstehen zu lassen. Doch dieses Ereignis geschieht nur alle dreihundert Jahre einmal. In dem Moment, in dem die Schlangen das Ei zischend in die Höhe schleudern, muss jemand, der sehr wagemutig ist, es blitzschnell mit einem Umhang auffangen, denn das Ei darf den Boden nicht berühren.

Wenn es einem weisen und mutigen Mann tatsächlich gelänge, das Ei unbeschadet aufzufangen, wäre er gut beraten, so schnell wie möglich mit seinem Pferd zu fliehen, da die Schlangen ihn so lange verfolgen werden, bis sie durch das Wasser eines Flusses aufgehalten werden.

Das Ei hingegen wird immer gegen den Strom schwimmen, auch wenn dieser noch so stark ist. Es ist das Zeichen dafür, dass es sich um das echte Ei handelt. Es darf nur an einem heiligen Ort aufbewahrt werden und wird nur einmal im Jahr bei den großen Versammlungen hervorgeholt, um den Priestern Weisheit bei ihren Entscheidungen zu verleihen. Viele Geschichten ranken sich um dieses Weltenei. Die einen behaupten, es wäre bis heute niemandem gelungen, es den Schlangen zu nehmen. Andere sagen, dass es sich viele Jahrhunderte im Besitz der Kelten befunden hat und durch einen Verrat gestohlen wurde. Nur deshalb ist es den Sachsen damals gelungen, unser Volk zu besiegen. Das Volk nämlich, welches das kosmische Ei besitzt, ist unbesiegbar.«

»Wie sieht das Ei denn aus, wie groß ist es?«, fragte Miriam, die andächtig zugehört hatte.

»Das weiß niemand genau. Manche Leute sagen, es hätte die Größe eines Apfels und sei gekennzeichnet durch eine knorpelige Schale mit zahlreichen Saugnäpfen, wie Polypenarme, doch andere sind davon überzeugt, dass es glatt ist und aussieht wie flüssiges Gold.«

Sie redeten noch eine Weile und lauschten dann dem Rauschen der Bäume, die ihre eigenen Geschichten zu erzählen schienen. Eine eigenartige Stimmung hatte sich über die kleine Gruppe gelegt, die abwechselnd in das Feuer, dann wieder auf die funkelnden Sterne sah und sich wünschte, die Geheimnisse des Universums zu begreifen. Lange blieben sie an diesem Abend am Feuer sitzen und begaben sich erst weit nach Mitternacht in ihr Zelt.

Als Miriam am nächsten Morgen als Erste erwachte, war der Himmel verhangen und das schwache Sonnenlicht, das durch die dichte Wolkendecke brach, verlieh der Landschaft etwas Schwermütiges. Sie genoss die würzige, feuchte Morgenluft und machte sich auf den kurzen Weg zum Bach, um sich zu waschen.

Sie hatte gerade die Hände in das Wasser getaucht, als sie ein klägliches Krächzen hörte. Als sie aufsah, entdeckte sie einen Raben, dessen linker Flügel kraftlos herunterhing. Er schien gebrochen zu sein.

Mitleidig stand Miriam auf und lief auf den verletzten Vogel zu. Doch dieser hüpfte schimpfend fort. Miriam folgte ihm. Jedes Mal, wenn sie ihn beinahe erreicht hatte, setzte sich der Rabe wieder in Bewegung. Beruhigend sprach sie auf ihn ein.

»Ich möchte dir doch nur helfen, mit dem verletzten Flügel kannst du nicht fliegen.«

Ihre Worte interessierten den Raben nicht im Geringsten. Ängstlich hüpfte er weiter, bis er in dem dichten Strauchwerk neben dem Bach verschwand. Miriam schob die mannshohen Sträucher beiseite, um besser sehen zu können. Doch sie konnte den Vogel nirgends entdecken. Sie blieb stehen, in der Hoffnung, sein Krächzen würde ihn verraten, aber sie konnte nichts hören.

Suchend lief sie noch eine Weile weiter, bis sie auf einen schmalen Pfad kam, der sich durch die Büsche schlängelte. Sie war gerade im Begriff, ihre Suche aufzugeben, als sie ein leises Plätschern vernahm. Der Weg wurde jetzt breiter und führte auf eine Quelle zu, die von dem herabfließenden Wasser des hinter ihr liegenden Felsens gespeist wurde. Miriams Herz begann aufgeregt zu hämmern. Ob das die Quelle war, von der ihre Mutter geschrieben hatte? Sie lag so versteckt, dass man sie nur durch Zufall entdecken konnte. Wie hatte ihre Mutter sie damals gefunden? Vielleicht waren die Sträucher und Büsche vor dreißig Jahren nicht so dicht und hoch gewesen, das wäre eine Möglichkeit.

Der weiche, mit Flechten überzogene Boden verschluckte ihre Schritte, als sie näher an die Quelle herantrat, neben der drei riesige moosüberwachsene Menhire teilweise übereinander lagen, als hätte sie jemand umgeworfen. Mit klopfendem Herzen beugte Miriam sich über das silbrig schimmernde Wasser. Das Wasser bewegte sich mit einer schwachen Strömung; langsam trieben einige Blätter im Kreis.

Ein Schauer durchlief sie, als sie am Uferrand etwas aufblitzen sah. Miriam stockte der Atem. Dort lag ein goldener Halsreif – zum Greifen nah! Er war wunderschön gearbeitet und kunstvoll gedreht. Seine beiden Enden gingen in dicke verzierte Knäufe über, in deren Mitte sich jeweils ein Loch befand. Sie streckte ihre Hände aus, um nach dem Schmuckstück zu greifen, als eine Stimme in ihrem Inneren sie zögern ließ. Sei vorsichtig, mahnte sie. Gebannt starrte Miriam in das Wasser. Der Reif zog sie magisch an und sie konnte einfach nicht widerstehen. Kurz entschlossen griff sie nach dem kostbaren Schmuckstück und zog es aus dem Wasser. Es war schwerer als erwartet. Ihre Hände hielten das kalte Metall fest umschlossen, während sie die feinen Verzierungen bewunderte. Wie ihre Mutter sich wohl gefühlt hatte, als sie ihn vor dreißig Jahren in den Händen gehalten hatte? Fasziniert von seiner magischen Anziehungskraft, zweifelte Miriam nicht einen Moment daran, dass es sich um den Halsreif handelte, von dem ihre Mutter ihr berichtet hatte.

Ohne dass es ihr bewusst wurde, bewegten sich ihre Hände langsam nach oben und legten den schweren Reif um ihren Hals.

»Nein, das darfst du nicht!«, Malcolms verzweifelter Schrei hallte in ihren Ohren. Gefolgt von Willie stürmte er mit großen Schritten auf sie zu.

Als er aufgewacht war und festgestellt hatte, dass Miriam sich nicht im Lager befand, hatte er sich sofort mit Willie auf die Suche nach ihr begeben. Besorgt waren die beiden Männer Miriams Fußspuren gefolgt, die sich deutlich auf dem feuchten Boden abzeichneten. Doch sie waren zu spät gekommen.

Der Nebel kam wie aus dem Nichts. Zähe gelbe Schwefelwolken schienen sie zu verschlingen und nahmen ihnen die Luft zum Atmen. Besinnungslos sanken sie zu Boden. Die Dunkelheit des Vergessens umhüllte sie wie ein Liebender seine Geliebte. Dann gab es nichts mehr.

Malcolm kam als Erster wieder zu sich. Sein Kopf dröhnte und sein Hals war so trocken, dass es schmerzte. Gierig sog er die feuchtkalte Luft in seine Lungen und schlug die Augen auf. Das grelle Sonnenlicht schnitt wie ein scharfes Messer in seine Augen. Die Lider fielen ihm zu. Er war zwar bei Bewusstsein, doch es gelang ihm nicht aufzustehen. Hilflos sank er zurück in einen tiefen Schlaf. Als er das nächste Mal erwachte, war es bereits dunkel. Mühsam richtete er sich auf und kroch auf Miriam zu, die leise stöhnend einige Meter von ihm entfernt lag. Behutsam strich er ihr eine feuchte Haarsträhne aus dem Gesicht und rüttelte sie sanft an der Schulter.

Er wollte etwas sagen, doch er brachte nur ein Krächzen hervor. Sein Hals war wie ausgedörrt. Er musste dringend etwas trinken und kroch weiter zu der Quelle, wo er sich das köstliche Nass die trockene Kehle herunterrinnen ließ. Gestärkt stand er auf und beugte sich über Miriam, die gerade ihre Augen geöffnet hatte und ihn verwirrt ansah.

»Ich habe solchen Durst«, flüsterte sie matt. Malcolm lief zur Quelle und schöpfte Wasser in seine Hände, das er anschließend vorsichtig in Miriams leicht geöffneten Mund laufen ließ.

Miriam glaubte, noch nie etwas Besseres getrunken zu haben. Malcolm holte noch mehrmals Wasser, bis Miriams Durst gestillt war. Sie hatte sich halb aufgerichtet und er setzte sich neben sie, um sie zu stützen.

»Was ist geschehen?« Hilflosigkeit klang aus ihrer Stimme. Malcolm nahm sie in den Arm und streichelte ihr sanft über das feuchte Haar.

»Ich weiß es nicht genau. Wir haben gesehen, wie du den Halsreif umgelegt hast, und dann war der Nebel um uns herum. Ich hoffe nur, dass sich meine Befürchtungen über das, was mit uns geschehen ist, nicht bestätigen. Kann ich dich für einen Moment allein lassen? Ich würde gerne nach Willie sehen.« Miriam nickte. Sie sah zu, wie Malcolm sich über Willie beugte, der wenige Meter von ihr auf dem Boden lag und gerade dabei war, zu sich zu kommen. Er half ihm beim Aufstehen und stützte ihn auf dem kurzen Weg zur Quelle, aus der Willie gierig trank, bis auch sein Durst gelöscht war.

Benommen saßen sie in der Nähe des Wassers und versuchten zu begreifen, was mit ihnen geschehen war. In dem schwachen Mondlicht konnten sie deutlich erkennen, dass sich die Umgebung verändert hatte. Der vorher lichte Wald war dicht und dunkel geworden. Mächtige Eichen umgaben die Quelle, die vorher nicht dort gestanden hatten. Durch das dichte Geäst wirkte das Nachtlicht seltsam gebrochen und das leise Rascheln der Blätter war unheimlich.

Die eben noch umgestürzten Menhire standen nun hoch aufgerichtet wie drohende Schatten hinter ihnen.

»Die Steine erinnern mich an eine Opferstätte, die ich in einem Film gesehen habe.« Willie hatte die Worte nur geflüstert, trotzdem konnte man die Angst in seiner Stimme deutlich hören.

»So wie es aussieht, hat deine Mutter die Wahrheit geschrieben. Ich kann mir zwar nicht vorstellen, dass wir tatsächlich durch die Zeit gereist sind, doch wenn ich mich hier so umsehe, spricht einiges dafür«, bemerkte Malcolm trocken. Willie sah ihn entsetzt an.

»Das meinst du doch nicht im Ernst?«, fragte er besorgt. Dann fiel sein Blick auf Miriam. »Warum, um Himmels willen, hast du das getan? Du hättest doch wissen müssen, was passiert«, fuhr er die verstörte junge Frau an. Miriam schwieg benommen.

»Jetzt beruhige dich erst einmal«, rief Malcolm. »Vielleicht irre ich mich ja auch. Der Gedanke, dass wir uns in einer anderen Zeit befinden könnten, ist eigentlich viel zu fantastisch, auch wenn ich mir das hier nicht erklären kann.« Er wies auf die Menhire. »Man braucht doch mindestens zwanzig starke Männer oder einen Kran, um solche Steine aufzurichten.«

»Der goldene Halsreif ist nicht mehr da.« Miriam fasste sich an den nackten Hals. »Eben hatte ich ihn noch um.«

»Nun sag schon, ist er wirklich so wertvoll, wie deine Mutter behauptet hat?«, wollte Willie wissen. Ein gieriger Glanz war in seine Augen getreten. Die Angst, die ihn eben noch beherrscht hatte, war für den Moment vergessen.

»Er ist wunderschön, doch er war auch sehr schwer, ich habe kaum noch Luft bekommen, als ich ihn umgelegt habe. Ich verstehe nicht, wo er geblieben ist. Wir brauchen ihn, um wieder nach Hause zu kommen.« Ihre Stimme war ganz dünn vor Angst und in ihrem Kopf wirbelten die Gedanken völlig durcheinander.

Hilflos sah sie Malcolm an.

»Ich habe Angst«, flüsterte sie ihm zu.

Malcolm nahm sie zärtlich in den Arm. Er spürte, wie sie zitterte, und streichelte ihr beruhigend über den Rücken.

»Wir sollten zurück zu unserem Lager gehen, und etwas schlafen. Morgen früh, wenn es hell ist, werden wir nach dem Halsreif suchen.«

Die drei Freunde erhoben sich und schlugen die Richtung ein, in der sie ihre Zelte vermuteten.

Es knackte und raschelte um sie herum und die ungewohnten Geräusche des Waldes waren furchterregend. Beim Schrei eines Käuzchens zuckten alle drei erschrocken zusammen und Miriam legte schutzsuchend ihre Hand in Malcolms. Sie liefen schneller und waren erleichtert, als sie endlich den Waldrand erreicht hatten und den vertrauten Bach vor sich sahen. Der abnehmende Mond spiegelte sich in dem dahinfließenden Wasser und verlieh ihm einen silbrig schimmernden Glanz. Willie war vorausgelaufen und blieb nach wenigen Metern stehen. Suchend sah er sich um. »Unser Lager ist verschwunden. Ich bin ganz sicher, dass es an dieser Stelle gestanden hat.« Er drehte sich um und wartete, bis Miriam und Malcolm bei ihm waren. Wo vorher Wiesen und Gräser gestanden hatten, waren jetzt riesige Weizenfelder angelegt, deren grüne Halme sich wellenförmig im Wind wiegten.

Von weitem konnten sie einen Palisadenzaun erkennen, hinter dem dunkle Schatten in den mondbeschienenen Himmel ragten.

Ein silberner Streifen erschien am Himmel und kündigte die herannahende Morgendämmerung an. Willie sah Malcolm auffordernd an. Doch dieser zuckte nur mit der Schulter. »Wenn du eine Erklärung von mir möchtest, muss ich dich leider enttäuschen.« Er wies auf die Weizenfelder. »Ich habe noch nie gehört, dass Kornfelder über Nacht entstehen, und genauso wenig, dass Pferde und Zelte verschwinden. Es sei denn, sie sind gestohlen worden.«

»Sie sind nicht gestohlen worden.« Miriam wirkte ruhig und gefasst. »Wir sollten uns an den Gedanken gewöhnen, dass wir uns in einer anderen Zeit befinden, wahrscheinlich im ersten Jahrhundert nach Christus. Auch wenn es unglaubwürdig klingt, finde ich keine andere Erklärung dafür. Ich habe nie an den Worten meiner Mutter gezweifelt.«

»Und was können wir deiner Meinung nach tun, um wieder zurückzukommen?« Willie sah Miriam ärgerlich an. Er verdrehte die Augen und schlug sich mit der Hand vor die Stirn. »Du machst mich noch ganz verrückt. Zeitreisen sind doch vollkommen unmöglich!«

Miriam schnitt ihm eine Grimasse. »Seht euch doch um! Alles sieht jetzt anders aus und die Pferde und das Lager sind auch verschwunden. Ich schlage vor, wir gehen zurück zur Quelle und suchen nach dem Halsreif. Wir müssen ihn unbedingt finden, weil er die einzige Möglichkeit für uns ist, um wieder zurückzukommen. Oder hat jemand von euch vielleicht eine bessere Idee?«

Malcolm warf noch einen Blick auf das Dorf, das die aufgehende Sonne in ein warmes Licht tauchte.

»Wenn ich mich darauf verlassen könnte, dass die Menschen, die dort leben, uns freundlich empfangen, würde ich vorschlagen, ihnen einen Besuch abzustatten. Ich habe so großen Hunger, dass ich ein ganzes Wildschwein verdrücken könnte.«

»Was ist, wenn irgendjemand uns zuvorkommt und den Halsreif vor uns findet? Wir sollten sofort zur Quelle gehen.« Miriams Stimme klang drängend.

»Du hast Recht, es wird das Beste sein, sofort aufzubrechen«, gab Malcolm nach.

In dem frühen Morgenlicht wirkte der Wald weniger bedrohlich. Als sie die Quelle erreicht hatten, suchten sie systematisch den Uferrand und den umliegenden Boden ab. Doch von dem Halsreif war nichts zu sehen.

Enttäuscht und mit blassen Gesichtern sahen die drei sich an. »Ich fühle mich wie in einem Albtraum und möchte nur noch schlafen.« Miriam ließ sich auf den weichen, von Flechten überzogenen Boden sinken und rollte sich wie eine Katze zusammen. Sekunden später war sie eingeschlafen. Malcolm und Willie blieb nichts anderes übrig, als es ihr gleich zu tun. Sie konnten Miriam unmöglich alleine lassen. Wenig später sanken auch sie erschöpft in einen tiefen Schlaf.

Nur Malcolm zuckte bei jedem Geräusch zusammen. Er konnte den Gedanken nicht ertragen, Miriam nicht beschützen zu können.

Malcolm erwachte mit einem unbestimmten Gefühl von Gefahr. Als er die Augen aufschlug, stand nur wenige Meter von ihrem Schlafplatz entfernt ein riesiger Elch und trank genüsslich von dem klaren Wasser der Quelle. Verblüfft rieb Malcolm sich die Augen. Seit wann gab es in Schottland Elche? In der Schule hatte er gelernt, dass sie seit langer Zeit in seinen heimatlichen Gefilden ausgestorben waren.

Als er sich so leise wie möglich erhob, drehte der Elch sich um und warf ihm einen misstrauischen Blick aus seinen großen, dunklen Augen zu. Dann setzte er sich in Bewegung und war wenige Sekunden später im Wald verschwunden. Während Malcolm ihm nachsah, fielen ihm die Ereignisse der letzten Nacht wieder ein, und ihm wurde schmerzlich bewusst, dass er sich das erste Mal in seinem Leben in einer Situation befand, die er nicht im Griff hatte.

Er weckte Miriam und Willie. Die morgendliche Feuchtigkeit war durch ihre Jeans gekrochen, aber zum Glück hatten alle drei wetterfeste Jacken an.

Willies Stimmung war auf den Nullpunkt gesunken. Schlecht gelaunt starrte er auf den Waldboden.

»Ich habe Hunger und möchte meine Pferde zurückhaben. Lass dir endlich etwas einfallen«, murrte er, an Miriam gewandt. Sein Gesicht war ein einziger Vorwurf.

»Wir dürfen nicht aufgeben. Der Halsreif kann sich doch nicht in Luft aufgelöst haben. Vielleicht sollten wir die Umgebung um die Quelle herum noch einmal gründlich untersuchen«, schlug Miriam vor.

»Wie oft sollen wir denn noch suchen?«, rief Willie vorwurfsvoll. »Wir haben doch schon alles abgegrast.« Mutlos ließen sich die drei Freunde auf dem weichen Waldboden nieder. Eine dunkle Wolke hatte sich vor die Sonne geschoben und den Himmel verdunkelt. Es würde gleich anfangen zu regnen.

Malcolm sah Miriam an.

»Erzähle mir noch einmal deinen Traum. Versuche, dich an jede Kleinigkeit zu erinnern. Hatte deine Mutter den Reif dabei, als ihr geflohen seid? Wenn nicht, würde das bedeuten, dass es noch eine andere Möglichkeit geben muss, von hier fortzukommen.«

Miriam schloss die Augen und rief sich den Traum in Erinnerung. Die beiden Männer beobachteten sie erwartungsvoll. Doch so viel Miriam auch nachdachte, von dem Reif war in ihrem Traum nichts zu sehen.

Sie öffnete die Augen wieder. »Ich habe hinter meiner Mutter auf dem Pferd gesessen. An den Halsreif kann ich mich nicht erinnern. Nur an den unheimlichen Nebel, der plötzlich überall um uns herum war. Ich glaube, meine Mutter ist in ihn hineingeritten, um unsere Verfolger abzuschütteln. Ich hatte große Angst gehabt und konnte kaum noch atmen. Dann ist der Traum vorbei und ich wache jedes Mal schweißgebadet auf.«

»Wenn das so ist, sollten wir uns auf keinen Fall zu weit von hier entfernen. Vielleicht taucht der Nebel zu bestimmten Zeiten von alleine auf und bringt uns wieder zurück?« Ratlosigkeit lag in Malcolms Stimme.

Doch sie kamen nicht mehr dazu, weiter über die Situation nachzudenken, in der sie sich befanden.

Der Waldboden begann zu beben. Wildes Geschrei übertönte das Trommeln der herannahenden Hufe. Ein verängstigter Hirsch rannte an ihnen vorbei, in seinen weit aufgerissenen Augen stand blanke Panik. Entsetzt starrten Malcolm, Willie und Miriam auf die Gestalten, die sich ihnen rasch näherten. Es war unverkennbar eine Horde schwer bewaffneter Krieger, die auf struppigen Pferden saßen und sie beinahe über den Haufen geritten hätten. Malcolm hatte sich schützend über Miriam gebeugt, die vor Angst erstarrt war. Der vorderste Reiter, Centurio Trebellius Bolanus, erhob den Arm, während er brutal sein Pferd zurückriss und einige Worte hinter sich brüllte, die sie nicht verstehen konnten. Er trug einen Kampfhelm mit Wangenklappen und ein Kettenhemd. An seiner rechten Seite hing ein mächtiges Schwert in einer mit Leder bezogenen Holzscheide, links ein Dolch. In seinen tief in den Höhlen liegenden Augen lag ein fiebriger Glanz. Sein Gesicht war schmutzig und von Schweiß überzogen. Er betrachtete die kleine Gruppe abschätzend. Gierig glitten seine fast schwarzen Augen über die zitternde Miriam. Trebellius Bolanus war mit seinen Männern als Patrouille ausgesandt worden und nutzte die Gelegenheit zum Jagen, um endlich an Fleisch zu kommen. Der tägliche Getreidebrei reichte einfach nicht aus, um einen richtigen Mann auf Dauer zufrieden zu stellen. Der Centurio entstammte einer verarmten Patrizierfamilie, die durch einen ungeschickten, politischen Schachzug seines Bruders Claudius bei Kaiser Domitian in Ungnade gefallen war. Wie es üblich war, wurde das gesamte Vermögen der Familie eingezogen und er konnte froh sein, das nackte Leben behalten zu haben. Es war ihm nichts anderes übrig geblieben, als sich zum Kriegsdienst zu melden.

Mit einem Blick hatte er erfasst, dass die beiden Männer unbewaffnet waren und keine Gefahr für ihn und seine Legionäre darstellten. Sie sahen aus, wie die verweichlichten Schreiberlinge, die Gnaeus Iulius Agricola in seinem Tross mit sich führte und deren Muskeln so schwach waren, dass sie gerade noch ihren Stilus halten konnten, mit dem sie auf teuren Pergamentrollen all das, was ihnen diktiert wurde, niederschrieben.

Er leckte sich genüsslich über die Lippen, während er breit grinsend vom Pferd sprang und auf Malcolm zulief. Mit einer blitzschnellen Bewegung packte er den überraschten Malcolm am Arm und schleuderte ihn brutal zur Seite. Auf seinen Wink hin sprangen vier der Männer von ihren Pferden und zerrten Malcolm und Willie zu den beiden nächsten Bäumen. Als Malcolm sich zur Wehr setzen wollte, schlug der Legionär, ein junger, dunkelhaariger Bursche, ihm brutal seinen Schwertgriff ins Gesicht. Malcolms Lippen platzten auf und Blut schoss ihm aus Nase und Mund. Der Legionär fesselte ihn an den Baum und versetzte ihm noch einige Schläge in die Magengegend. Spöttisch spuckte er auf den Boden und wandte sich dann mit einer verächtlichen Bewegung von ihm ab. Wenn alle Caledonier so waren wie dieser hier, hätten sie nichts zu befürchten. Der blonde Mann mit den gepflegten Händen hatte sich nicht einmal ernsthaft gewehrt, obwohl er ihn um einen ganzen Kopf überragte.

Halb besinnungslos vor Schmerz und Entsetzen musste Malcolm mit ansehen, wie Willie nicht weit von ihm an einen anderen Baum gebunden wurde und der offensichtliche Anführer der römischen Soldaten Miriam an den Haaren hochzog und ihr die Jacke vom Leib riss. Seine schmutzige, schwielige Hand griff nach Miriams Brust und drückte sie so fest, dass sie vor Schmerz aufschrie. Abgestandener Atem und ein widerlicher Geruch nach Schweiß schlugen ihr ins Gesicht, während sie verzweifelt versuchte, ihren Kopf abzuwenden. Doch der Centurio versetzte ihr eine Ohrfeige und drückte sie gewaltsam auf den Boden. Mit einer Hand zerrte er an ihrer Hose und zerriss sie, während er mit der anderen Hand sein Geschlechtsteil hervorholte. Die wilde Gier in seinen Augen machte Miriam Angst. Sie wehrte sich mit all ihrer Kraft und kratzte, trat und biss nach ihm.

Aber ihr nutzloser Versuch, sich zu wehren, schien den ekelhaften, nach Schweiß stinkenden Kerl noch mehr anzuheizen. Er zerrte an ihrem T-Shirt und schob es hoch. Dann begann er stöhnend ihre nackte Brust zu kneten und drückte brutal sein Knie zwischen ihre Beine, um sie auseinander zu zwingen.

Die anderen Legionäre sahen grinsend und etwas ungeduldig zu. Sie würden ebenfalls noch an die Reihe kommen. Die Frau war eine willkommene Abwechslung und würde ihnen für eine Weile Erleichterung verschaffen. Die Kurtisanen, die hinter ihrem Tross herliefen, waren so teuer, dass sie fast einen ganzen Monatslohn kosteten, und schließlich wollte man ja auch ab und zu Wein trinken und würfeln, um sich von dem tristen Lagerleben abzulenken.

Schnell waren die wenigen Sesterzen jedes Mal verbraucht und man musste lange Wochen warten, bis es den nächsten Lohn gab. Die verdammten Geldverleiher, die mit ihren Münzen winkten, erhöhten beinahe täglich die Zinsen. Befand man sich erst einmal in ihren gierigen Klauen, gab es kaum eine Chance, ihnen wieder zu entkommen.

Der junge Legionär, der Malcolm zusammengeschlagen hatte, rieb sich voller Erregung sein Glied, während seine Augen gierig an Miriams nackter Brust hingen. Ein grausamer Zug lag um seinen Mund.

Die Truppe war so auf das Geschehen vor sich fixiert, dass sie die herannahende Gefahr erst bemerkte, als es zu spät war.

Der goldene Reif

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