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Mit dem Spürsinn eines Bluthundes bricht er in mein zerfleddertes Leben. Sein Brief kommt an einem brühheißen Augustmorgen. Auf liederliche Weise mit libyschen Briefmarken vollgekleistert. Abgestempelt in Bengasi.

Brief in der Hand, lasse ich den täglichen Ekel über mich ergehen, der mit dem Aufenthalt in gerade dieser, in Panik und Umsichtslosigkeit gemieteten Wohnung zusammenhängt.

Die Seitenstraßen des Berliner Kurfürstendamms, entweder breit und sonnengebadet oder schmal und feuchtheiß – zu zweiter Kategorie gehört unmutstiftenderweise auch unsere –, sind mit einerVielfalt unterschiedlich großer Inseln von Hundescheiße gesäumt. Kein Fleck, kein Quader, selbst zwischen den hohen grämlichen Bäumen, bleibt von der Schmierage verschont.Ein jeder, ob mißtrauisch-achtsam oder tänzerisch-forsch, kommt, einem Auto entsteigend, nicht umhin, in die Kacke zu treten. Im Hof hackt ein morgendlicher Flaschendrescher seine Sekt- und Weinflaschen auf dem Rand der Mülltonnen zu Kleinstscherben: im Parterre des öden Hauses hatte ein Schneiderladen für Herrenbekleidung einem Nachtclub weichen müssen.

Ein schadhaftes rot-lila, nächtens zuweilen aufzuckendes Neonschild läßt wissen, daß dies der Atlas des städtischen Nachtlebens sei. Einige von Feuchtigkeit sich wölbende, damit den fotografierten Gegenstand entstellende Bilder hängen neben der Eingangstür: barbrüstige Damen mit aus den fünfziger Jahren übernommenen Heuhaufen-Frisuren zeigen sich in mehr oder weniger verrenkten Posen. Der Nachtclub, dem Flaschendrescher nach zu urteilen, scheint sich zu rentieren.

Beinah ans Herz gewachsen ist mir ein ältlicher, außerordentlich stämmig-behender Mann in grauem Kittel: der ›Hausmeister‹. Er steht, zu jeder Tag- und Nachtzeit eine Bierfahne um sich verbreitend, an die klotzschwere Haustür gelehnt, Flasche in der Linken, Faust in der Rechten seines Kittels, zeigt dauerblaugeschlagenes Auge vor, trägt Überbleibsel nächtlicher Heimsuchung gleich Kriegsauszeichnungen. Außer seiner würzigen Herzlichkeit verdanke ich ihm die Kenntnis um die auf den Fotos gezeigten Damen: sie seien allesamt geschlechtskrank. So sagt er. Unsere Wohnung, im dritten Stock, teils gen Norden, teils gen Osten gelegen, hat einen gassenlangen Korridor, von dem eine unübersichtliche Anzahl von Zimmern abgeht. Auch besitzt sie zwei Balkons, auf denen man von Schwindel geschüttelt, mit dem Rücken gegen die Hauswand gepreßt, in die Tiefe starrt. Sitzmöglichkeit oder andere Verwendbarkeiten sind nicht eingeplant.

Zurück zum Brief: Er ist an meinen noch nicht angetrauten Lebensgefährten Paul adressiert; jener wiederum hockt schlaftrunken auf einem wackligen Badehocker, betrachtet rammdösig eine Zimmerpalme. Der Brief bringt Leben in den Reglosen. Obwohl weder weit- noch kurzsichtig, liest er die verknautscht-knittrigen Blätter unter großer Anstrengung. Die Schrift kaum leserlich, ausflusend, schräg absackend und keineswegs auf das hindeutend, was der Schreiber war: kanadischer ehemaliger Dozent an einer Vielzahl von Universitäten.

In sich wiederholenden Formulierungen läßt er wissen, daß er pleite und arbeitslos in der Wüste Libyens sitze.

Er betont, daß seine Deutschkenntnisse recht brauchbar seien, er für jedwede Tätigkeit bereit, die Summe des erbetenen Flugtickets abzuarbeiten. Außerdem habe er durch Zufall vernommen, daß Freund Paul angeblich mit einer Schauspielerin, Chansonsängerin, Schriftstellerin liiert sein soll, ergo: wären seine außerordentlichen Fähigkeiten als ehemaliger Literaturdozent nur allzu nützlich.

Mein Herz schlägt jenen fatalen Salto, der zu einer nicht mehr nenn baren Reihe ›guter Taten‹ geführt.

Meine ehedem bedrohte finanzielle Lage mißachtend spreche ich: der Flugschein müsse selbstverständlich noch zu gleicher Stunde übersandt werden, er könne sich des vom Umzug hinterlassenen Postwustes annehmen.

Tatsächlich ist eines der Zimmer bis zur altmodisch hohen Decke mit halbgeöffneten Kartons verstopft, die ein bedrückendes Gewirr ungeöffneter Briefe in chaotischem Durcheinander enthalten.

Paul indessen gerät nach Beendigung des Gelesenen in eine Art freudvoller Rage, spricht von ›glücklicher Fügung‹, sei der in der Wüste Schmachtende ein ehemals außerordentlich geschätzter Lehrer gewesen. Er trage zwar eine professorale Würde zur Schau, sei dennoch von seinen Studenten als ›Hip‹ bezeichnet worden, da er in den sechziger Jahren an ungezählten Protestmärschen teilgenommen, unter anderen an jenem, der nach Moskau geführt und ihm seine fristlose Entlassung eingebracht. Obgleich er vor seiner Lehrtätigkeit Bombardier gewesen, sei er nunmehr leidenschaftlicher Pazifist, der selbst ›Tom Sawyer‹ und ›Huckleberry Finn‹ als rassistische Machwerke verbanne.

Er war zweimal verheiratet, hatte vier Kinder gezeugt – denen er nie begegnet – da sein gesamtes Streben der pazifistischen Aufgabe gewidmet, in der familiäre Angelegenheiten den global denkenden Menschen lediglich aufhalten. Seit seinem Rausschmiß streune er durch die Welt, ohne daß jemand eine Ahnung habe, womit er seine Exkursionen finanziert.

Ich selbst stecke in der auslaufenden Phase einer tiefen Depression, in der ich die Tage wie tote Elefanten vor mir her schiebe, ausgelöst durch eine vor wenigen Monaten stattgefundene Scheidung vom Vater meines Kindes, die mich zutiefst verstört, auch meine berufliche Schaffenskraft lahmgelegt.

Die Konzentration auf einen in Not geratenen Menschen, sowie die manuelle Betätigung, einen Raum einzurichten, ist allzu willkommen. Restbestände meiner Möbel – auf dem Speicher dämmernd – werden angekarrt; man gibt sich rundum Mühe, den aus der Wüste Kommenden auf das gastfreundlichste zu empfangen.

Vier Tage darauf: Ein Telegramm. Zwölf Stunden später: Maxwell Dawson.

Paul, meine Tochter Christina und ich lehnen schweißgebadet an den Rauhputzwänden des Flughafens.

»Da ist er«, ruft Paul, deutet auf einen schmalen Mann, der wirr um das Kofferlaufband herumwieselt, taub und in sich gekehrt unsere Rufe über die ehernen Zollbeamten hinweg überhört.

»Er gefällt mir«, sage ich, voreilig wie immer.

Er trägt eine altmodische Hornbrille, deren Außenwinkel schräg nach oben verlaufen, ein entsetzenverbreitendes Floridahemd, labbrige Khakihosen und drei Tennisschläger, die mich kurzfristig in Verwunderung setzen; doch schon beginnt die umständliche Begrüßung, und umständlich ist er: langanhaltend schüttelt er mit knorrig verarbeiteten Händen die unseren, wobei der imposant breite Schädel auf einer Schulter lagert, als könne der Nacken die Last nicht tragen. Sein Haar: eisengrau, sein – im Vergleich zur Kopfgröße – überraschend enges Gesicht ockerbraun, die grauen Augen von zahllosen Fältchen umgeben, die Nase kartoffelähnlich; der Mund jedoch flößt Bedenken ein: klein, von links nach rechts herabrutschend, gibt er dem scheinbar lustlos zusammengefügten Viereck ein hämisches Aussehen. Sein strenger Blick auf meine glimmende Zigarette läßt mich leicht erzittern, hatte Paul doch gewarnt, er sei Abstinenzler, trinke nicht, rauche nicht.

»Well, well, well ...« mümmelt er ungezählte Male und besteigt für sein Alter – ich schätze ihn auf Mitte Vierzig – mühselig und schweratmend den Wagen. Die Art, wie er Christina begrüßt, läßt mich befürchten, daß er Kinder verabscheut: ein herablassendes Nicken des Kopfes, abruptes Wegdrehen des Körpers, als sei er mit etwas Unreinlichem in Berührung gekommen. Doch da ich keine Komplikationen jedweder Art mehr zu tragen imstande, will ich das sich anbahnende Mißbehagen keinesfalls wahrhaben. Geradezu stoisch verdränge ich, was unübersehbar.

Doch Christina, siebenjährig, spricht, nur halbwegs gedämpft: »Ich kann ihn nicht ausstehen.«

»Laß uns abwarten«, flüstere ich flattrig, »man soll keine hastigen Urteile fällen.«

»Er ist ekelhaft«, beharrt sie.

Nachdem wir sein einziges Gepäckstück, einen Seesack, und die Tennisschläger in den Kofferraum verfrachtet, fahren wir los. Wir geben uns erhebliche Mühe, Umwege aufzutun, die erfreulichen Seiten Berlins vorzuzeigen, stolzgebläht auf Sehenswürdigkeiten weisend, als sei es Eigenbau. Unsere Anstrengungen scheinen ihn eher zu verdrießen. Er murmelt unaufhörlich, seinen Kopf stets seitwärts haltend, als leide er unter permanenter Schwerhörigkeit. Zu entnehmen ist die dauerhafte Klage über Jahre, die er mißachtet, mißhandelt, verfemt in mancherlei nicht näher benannten Ländern vertan. Doch Jordanien, Libanon, auch Israel scheinen ihm – obgleich er einst voll der Hoffnung auf friedbringendes Kibbuzleben dort – besonders zuwider, und Libyen hatte Maxwell Dawson nichts zu bieten als Sand. Einzelheiten versagt er uns. Selbst auf drängende Fragen hält er nurmehr wegwischende Bewegung parat, ausgeführt durch muskulöse Oberarme, die seltsam deplaciert an schmalen Schultern hängen, sowie kurze behaarte Unterarme und schinkenbrettgroße Hände mit schaufelförmigen Nägeln.

Meine deutsch eingeschleusten Testsätze prallen ungehört ab. Freudlose Stille macht sich breit. In unserer kotbedeckten Straße angelangt, entsteige ich als erste dem Wagen und somit als erste in einen der ungezählten Scheißhaufen, was ihm ein übermäßig lautes ›Ho ho‹ entlockt.

Er läßt Paul den Seesack schleppen, trägt lediglich seine drei Tennisschläger und schreitet, als seien ihm Gegend und Haus bekannt, voraus. Wir zwängen uns hitzeklebrig in den altersschwachen, quietschend-keuchenden Fahrstuhlkäfig. In der erzwungenen Nähe entpuppt sich der imposante Kopf als ein huschig zusammengesetztes Puzzle, dem einige Teile abhanden gekommen zu sein scheinen.

Das Vielfachschloß unserer Wohnung wird mit üblichmißmutigem Gemeckere geöffnet. Die überaus geräumige Altbauwohnung, just renoviert, macht keinerlei Eindruck, ebensowenig das vorgeführte Gastzimmer. Reaktionslos gibt er den Anschein, jenseits von Bequemlichkeit zu sein, ausschließlich dem Intellekt lebend, eben: bedürfnislos-asketisch. Lediglich das weltweite Friedensprogramm sprenkelt gleich dem ›Wort zum Sonntag‹ zwischen die Vorstellspiele: Molli, ›Seele‹ der Wohnung, wirft einen prüfenden Blick ihrer klitzekleinen Augen auf Maxwell Dawson, seufzt auf erbärmliche Weise, sieht mich mitleidsvoll an, zieht ihre Schultern empor, entschwindet in Richtung Küche. Kurz gefaßt: er war in ihren Augen gestorben, bevor er überhaupt geboren.

Maxwell hingegen läßt sich auf einen der Sessel im Wohnzimmer fallen, schlägt schwere Oberschenkel übereinander, streicht durch borstig-strubbliges Haar, macht sich in Windeseile daran, eine größere Pralinenschachtel, auch den Inhalt einer ausladenden Obstschüssel zu leeren; wortlos, weder auf Geräusche, Schmatzen, herabsickernden Saft Rücksicht nehmend. Verbissen reißt er Schalen herunter, stopft Bananen in sich hinein, würgt, schlingt, zerrt an Weintrauben, bis nurmehr das Gerippe übrig, schenkt uns weder Blick noch Wort, stopft – kaut, kaut – stopft, bis der gläserne Couchtisch einem Abfallhaufen gleicht.

Nun lehnt er sich zurück, sagt, erstmals laut und verständlich: »Ich brauche neue Kleidung.«

Der Satz steht als keinen Widerspruch erwartende Forderung im Raum. Wir nicken synchron, wenn auch betroffen; meine Tochter verläßt mit einem ›Na siehste‹-Blick das Zimmer.

»Wie steht es um Ihr Deutsch?« murmele ich.

»Kleinigkeit. Gibt’s hier eine Berlitz-School?«

»Großer Gott«, sage ich laut und stiere auf die geschlossene Doppeltür, hinter der Postgebirge lagern.

Gemächlich läßt er seine prallen Oberarme herab, fragt: »Wie steht es mit Tennisplätzen?«

Paul holt zu weitschweifigen Erklärungen aus: von geradezu prachtvollen Möglichkeiten, die Berlin einem Sportfreudigen zu bieten hat. Maxwell indessen entdeckt eine bislang unberührte Tafel Schokolade, steht blitzschnell auf, verschlingt sie ohne jedwedes Federlesen.

»Ich mag Süßigkeiten«, kaut er überflüssigerweise.

Seine hinter stark geschliffenen Gläsern nur schwerlich erkennbaren Augen flutschen eilends von einer Ecke zur anderen, Wert oder Unwert der Möbel, Vasen, Lampen, Aschbecher taxierend.

Noch ist es taghell. Das Abendessen bereit. Molli zieht vor, nicht zu speisen. Maxwells Hunger hingegen scheint unstillbar; auch hier schmatzt, mahlt, schlingt und würgt er wortlos, doch tonreich.

Erst nach lückenlos-gründlicher Vertilgung des Dargebotenen legt er, die Serviette übersehend, seine fettverschmierten Fäuste auf den Tisch, spricht,auf den öden Hinterhof blickend:»Jesus, Marx, Einstein waren die Größten.Veränderten die Welt.Alles Juden. Trotzdem: ich hasse Israel.« Mein »Weshalb?« verhallt. Er sitzt mit vorgeschobenem Unterkiefer, als erwarte er hitzigen Widerspruch.

Ich hingegen verharre in jenem gläsern-unbeholfenen Gefühl, das dem Scheidungsschock gefolgt und mich von anderen lichtjahreweit zu isolieren beginnt. Selbst meine Worte gleichen einem von mir nicht ausgelösten Echo.

Da Maxwell nur zu offensichtlich keine Lust verspürt, auf Jesus, Marx, Einstein, Israel einzugehen, versuche ich mit zugegebenermaßen stümperhaften Banalitäten die klebrige Einsilbigkeit zu untergraben, frage mit angestrengtem Interesse nach Geburtsort und -tag.

Seine Reaktion ist schlichtweg bestürzend; er zischt sein Geburtsdatum mit jenem Widerwillen hervor, der darauf schließen läßt, daß er Tag, Nacht oder Stunde verwünsche, auch die Tatsache seiner Existenz an sich mißbillige.

Die nunmehr heikle Frage nach seinen Kindern macht das Maß voll. »Nicht erwähnenswert«, schnarrt er. Stückweise hervorgestoßene Allgemeinheiten lassen wissen, daß er seine Vergangenheit nur spärlich, sozusagen krümelweise bekanntzugeben gewillt sei. Alsda – mit bockigem Zurückwerfen des ansonsten seitwärts geneigten Hauptes:

»Meine Jugend gleicht dem Leben eines Hemingway.«

Nach einer trächtigen Pause:

»Früh von zu Hause abgehauen.«

Frage nach ›zu Hause‹ bleibt ungewürdigt. Sein Leben mit herumziehendem Cowboy, der sich seiner angenommen hatte, läßt die wie durch einen Papierwolf zerhackte Geschichte zu einem John-Wayne-Film werden: Saskatchewan – Alberta – Manitoba – Texas – Oklahoma – Utah – New Mexico – Arizona – Wyoming – Colorado blättern gleich einem Reiseprospekt an uns vorüber. ›Leben im Alten Westen‹ scheint ihn zu erhellen, läßt die klotzigen Bewegungen seiner Hände tänzerisch werden. ›Verkappter Homo?‹ klickert’s in einer Hirnspalte, wird sogleich zurückgepfiffen. Doch nun horche ich auf, werde rundum bestürzt, kann eins und eins zu keiner Zwei werden lassen, verspüre schweres Alpdrücken, auch hilflose Betrübnis, denn Maxwell kommt in Schwung: Waffen.

Da summt es von M-1, M-16, Remington Hunting Rifles, von 45er Pistolen mit der Schlagkraft einer Kanone, im spanisch-amerikanischen Krieg geradezu unvergessen erfolgreich ausprobiert; auch vom Colt sixshooter ist die euphorische Rede gespickt, jener – den Filmsüchtigen nahestehenden –Westernpistole, die durch sämtliche Saloons ballert, sekundenschnell aus Halftern gezogen, zahllose Kampfhähne gleichzeitig erledigend. Selbst jene Epoche, in der er als Bombardier tätig, treibt fiebrigflackriges Rot insWüsten-Gebräunte, obgleich just diese Tätigkeit Anlaß zum unerbittlichen, heftig verteidigten und alle Konsequenzen in Kauf nehmenden Pazifismus gewesen. Friedensstifter mit Flammenwerfer.

Gelähmt von Hitze, auch trübseliger Erkenntnis, erscheint mir das rosa-güldene Bild des Pazifisten schäbige Camouflage; wähne dahinter verkappten Schläger, Jäger, Schützen, glaube hinter weichwabernder Stimme Ächzen geknebelter Gewalttätigkeit zu vernehmen.

Männerfreundschaften aus glorreichen Cowboyzeiten scheinen geradezu heilig. »Frauen«, so sagt er mit meckerndem Gelächter, »sind zumeist brauchbare Ware, leider unumgängliche Notwendigkeit des kosmischen Rhythmus.« Intellektuelle Bestrebungen des niederen Geschlechts werden rundweg verpönt; keinesfalls stößt er sich daran, daß zwei weibliche Wesen am Tische sitzen. Feinfühligkeit ist wahrlich nicht seine Domäne; Humor töricht. Lachen hatte ich ihn während der nunmehr sieben Stunden unserer Bekanntschaft nur einmal gesehen: als ich in die unumgängliche Hundescheiße getreten. Ja: und lächeln, schief-hintergründig, beim Aufzählen seiner Waffensammlung, die auf einem Speicher eines ungenannten Staates ruht.

Besorgt – und zumeist schlaflos – verbringe ich die lähmend-feuchte Nacht. Der Morgen ist kochend heiß. Um fünf Uhr früh beginnt der Flaschendrescher auf dem Rand der Abfalltonnen sein täglich Werk, gleichzeitig vernehme ich heftiges Gurgeln, Rumoren, Türenknarzen. Bedusselt torkele ich auf den Flur: Maxwell steht in Unterhemd und Khakihose, ruft: »Bin Frühaufsteher«, vollführt Kniebeugen, läßt melonendicke Oberarmmuskeln springen.

Molli, an Flaschendrescher gewöhnt, jedoch von dazugewonnenem Lärm geweckt, stößt in großblumigem Morgenrock hinzu, fragt: »Was ist denn hier ausgebrochen?« Christina folgt auf dem Fuße, sieht hilflos verschreckt zu mir auf.

Maxwell hatte es vollbracht, die Lebensgewohnheiten der Vierergruppe – innerhalb von nicht einmal vierundzwanzig Stunden – aus kaum eingelaufenen Gleisen zu werfen.

Es ist an der Zeit, die Beziehung der ›Vierergruppe‹ klarzustellen. Alsda: Paul: Er hatte, durch Freunde vermittelt, meinen der Scheidung folgenden Umzug überwacht, blieb auf mein Bitten länger als geplant, ließ sich endlich gänzlich nieder: jung, halbwegs unbeschwert, von edler Familie, cholerisch, zuweilen naiv, rastlos.

Molli: seit zwei Jahren das sich überstürzende Drama einer sich anbahnenden und dann auch stattfindenden, in Zeitungen breitgetretenen Scheidung miterlebend, mitleidend. Stämmig-unbeirrbar auf das leibliche Wohl – auch in selbstmörderischen Stunden – bedacht; der Tochter zutiefst verbunden. Großmutterersatz im glückhaften Sinne.

Christina: siebenjährig. Spielerisch das Drama umgehend, lediglich der Umschulung mißtrauend, sie fürchtend; zuweilen still, zumeist gesprächig, anlehnungsbedürftig und von jener Schönheit, die Hamilton-Bilder aufweisen und – Gott sei’s gepriesen: außerordentlich muttergebunden. Ich: zerzaust, unfähig, den abgebrochenen Lebensweg aufzufangen, hilfesuchend, ungewohnt schlafbedürftig, mutlos, keinesfalls beneidenswert, da voll Schuldgefühle der geliebten Tochter gegenüber, war es mir mißlungen, Christina den leiblichen Vater zu erhalten, das Schicksal des ›geschiedenen‹ Kindes zu meiden. Von vorangegangenen Krankheiten benagt, entscheidungsgehemmt, genügsam, zuweilen selbstmitleidig-verzagt, mich hinter einer Vielzahl von Masken verbergend.

Da ohnehin aus dem Schlaf gerissen, trollt Molli gen Küche, macht sich daran, das Frühstück zu bereiten.

Es ist einer jener seltenen Berliner Sommermonate, in denen regenlos eine Dauersonne auf Dächer prallt, morsche Häuser zu versengen scheint, Tier wie Mensch in Zeitlupentempo einherschleichen läßt, Geranien, Petunien entblättert. Ein Ehepaar im Hochparterre liegt reglos seit Wochen, die Oberkörper aus dem Fenster hängend. Stund um Stund auf ankommende – abfahrende Autos starrend, alten Frauen mit Einkaufsrollwägelchen träge nachblickend. Ausschließlich der ›Hausmeister‹ steht stramm mit dauerblauem Auge.

Meine Tochter labert mit kalt-nassem Tuch über Gesicht und Nacken, murmelt hoffnungsfroh: »Bestimmt ist heute hitzefrei ...«

Spärlich bekleidet hocken wir um den Küchentisch herum, eßunlustig Tee oder Milch schlürfend; nur Maxwell greift zu, haut rein, verlangt mehr, zermanscht drei Spiegeleier, Speck, löffelt gierig Marmelade, sucht und findet Wurst. Molli lehnt zuversichtslos am Herd, wischt in gleichmäßigen Abständen die überraschend jugendlich-glatte Stirn, kramt in ihrem Dutt.

»Woll’n wir?« sagt Paul zur Tochter und meint Aufbruch per Auto schulwärts.

»Habt Ihr keinen Chauffeur?« fragt Maxwell mit erhobenen Brauen, überläßt es uns, die Frage für einen mageren Witz zu halten. Ich, zur Morgenstunde außerstande, Humor aufzuweisen, spreche:

»Ich bin nicht reich.«

»Ho, ho«, dröhnt Maxwell und kratzt den letzten Rest Leberwurst aus der Pelle.

»Chauffeur, Chauffeur«, mümmeln wir kanonhaft sinnierend; doch Maxwell unterbricht, spricht zu Paul:

»Du also bringst das Kind ...« er vermeidet es, seinen Namen zu nennen »... zur Schule?«

»Ja.«

»Well, well«, murmelt er, als handele es sich um eine ordenswürdige Tat; und mit dem Kopf auf mich deutend:

»Ist sie nun ein Star oder nicht?«

Paul verfärbt sich stehenden Fußes, dreht sich einmal um eigene Achse, schluckt cholerisches Wüten hinunter, stürzt hinaus.

Ich hingegen höre mich sagen: »Das steht hier nicht zur Debatte. Ich verdiene, verliere, zahle Steuer, zahle Haushalt, Flugreisen (das kann ich mir nicht verkneifen) und was weiß ich ...«

Weitere Klagen spare ich auf. Mein gebremster Zorn überrascht mich; seit langem meiner Glashülle nicht entronnen, bin ich kurzum in einer Verfassung, die bestenfalls mit ›verdrießlich‹ zu bezeichnen wäre. Umgehend versucht Maxwell einzulenken; um Verzeihung heischend, flüstert er mit einem Versuch, meine Hand zu tätscheln:

»Nun ja, nun ja, kein Grund zur Aufregung. Übrigens: Ich brauche Taschengeld, für Kleidung und so.«

Er grapscht nach dem Scheck mit der gleichen Blitzesschnelle, die er beim Essen zutage legt, und entschwindet.

Am späten Nachmittag kommt er mit Plastikbeuteln behangen zurück, geht schnurstracks in sein Gemach, tritt nach geraumer Zeit in den Flur, watschelt mit Robert-Mitchum-Gang ins Wohnzimmer, trägt tatsächlich Krawatte, Blazer, rotes Baumwollhemd; ist an Geschmacklosigkeit nicht zu schlagen, paradiert gleich aufgeplustertem Feuerstorch auf und ab.

Endlich nimmt er Platz, legt mit größter Vorsicht die schweren Oberschenkel übereinander, sagt:

»Und nun zum Büro. Ich brauche umgehend ein gut ausgerüstetes Office.«

Die darauffolgenden Tage vergehen mit Umlagern von Kisten und Kartons, dem Durchstreichen seiner umfangreichen Vorschläge, auf Listen in Druckschrift verfaßt, die auf das Direktorenzimmer eines IBM-Bosses schließen lassen.

Von nun an sitzt er zumeist auf einem kippbaren Schreibtisch-Stuhl, seine Beine auf den vor dem Fenster stehenden Tisch gelagert, sinnlos Briefe öffnend, die er ohnehin nicht lesen kann, oder die gegenüberliegenden Balkons anstarrend. Zwischenzeitlich döst er vor sich hin, bleibt unerschrocken, auch wenn bei festem Schlaf ertappt.

Während es mir überlassen, die Post zu bearbeiten, fläzt er auf kleinem Ledersofa und raucht; neuerdings hatte er seine Abstinenz aufgegeben, ist auf die ›Einstiegsdroge‹ Nikotin verfallen, pafft lange Zigarillos oder güldene ›Benson & Hedges‹. Spricht von Brecht, über den er ein Buch zu schreiben gedenke – und nunmehr am Platze des Dichters schöpferischen Seins auf B. B.s Spuren zu wandeln plant. Dieses sind die Augenblicke, in denen er anstrebt, als der ›Feingeistige‹ zu gelten.

Viermal wöchentlich fährt er zur Berlitz-School, was jedoch auf seine Deutschkenntnisse keinerlei Eindruck macht.

Besuchen mich Freunde, Bekannte, Theater- oder Filmagenten, auch Journalisten, sitzt er weintraubenknatschend oder kefirschlürfend im Hintergrund; kommentarlos, gelangweilt-unscheinbar; nur seine umherflitzenden Pupillen verraten brennendes Interesse. Ansonsten zeigt er sich überaus, geradezu beschämend devot. Er dienert, nennt einen jeden ›Herr Direktor‹, ›Herr Professor‹, ›Herr Baron‹, parodiert, was er für europäische Etiquette hält, so daß fast ein jeder beim Weggehen: »Wer um alles in der Welt ist das?« fragt. Mit einem lahmen: »Ein andermal ...« schiebe ich Erklärungen hinaus.

An einem seiner Berlitz-School-Tage kommt der Anruf: die Schule läßt anfragen, ob Herr Dawson seinen Kursus nach nur einmalig besuchter Stunde weiterzuführen gedenke ...

Seufzend kommt Maxwell heim, versucht ein deutsches: »Guten Abend.« Frostiges Schweigen läßt ihn ahnen, daß etwas im Gange. Zur Rede gestellt, grient er frohsinnig, spricht:

»Ein Mann braucht schließlich Frauen.«

Er scheint übermäßigen Wert auf den Plural zu legen, blickt umher, als erwarte er stehende Ovationen.

Wie Schuppen fällt’s von Augen: Maxwell hatte sich von dem ›Idealmann Dawson‹ einen staunenswürdigen Macho-Wanderpreis zurechtgezimmert: körperlich fit, geistig top, sexuell unersättlich, dennoch oder gerade deshalb frei von gefühlvollen Bindungen.

Diskussionen kommen kaum zustande, verlaufen zumeist trostlos: beharrlich umschleicht er Dichter, Dramatiker, Schriftsteller, so daß ich Paul ernsthaft befrage, ob der ›Dozent‹ eine Fata Morgana. Paul zeigt sich trotzig. Er hatte Einsicht in seine Papiere genommen: da stand schwarz auf weiß, daß Maxwell Dawson nach kurzem Zwischenspiel während des Korea-Kriegs studiert habe, auch daß er eine Ein-Mann-Protest-Kundgebung gegen den Vietnam-Krieg an einer Straßenkreuzung in Spokane, Washington, vorgenommen, die ihm vierundzwanzig Stunden Gefängnis und die Aufnahme in FBI-Listen eingebracht.

Am ersten regnerischen Tag schlägt er ein Pokerspiel vor. Ich, ahnungslos und mäßig interessiert, nehme halbherzig teil, verwechsele Karten, mache für den gewieften Spieler schier triefend-blöde Fehler, die Maxwell ein fuchtig gezischtes: »Dafür würde man dir im Westen die Handgelenke brechen«, entlockt. Sein zorniges Gehabe legt bloß: spornstreichs kommt der Sanftlächelnde abhanden, macht lungerndem Querulanten Platz, Galle spuckendem Wüterich, der an eklatanter Intoleranz krankt, obenauf fern von Güte, Selbstironie, Duldsamkeit, auch Nachsicht ist. Sogleich heulen sämtliche Sirenen: Vorsicht ist geboten, Argwohn zieht ein. Verbiestert beobachte ich den ›Friedensstifter‹. Doch wie gekommen, so verflogen: unnachtragend, Ärgernisse umgeisternd, kampfunfreudig, ja, nachlässig in alltäglichen Ansprüchen, Erfordernissen, Notwendigkeiten, Stellungnahmen; schlichthin beutebereit, weil trantütigschlapp nach erbittert verzweifelten Scheidungswochen.

Abends prasselt ein Gewitter auf die vergammelte Straße nieder, läßt kriegserprobte Bäume ächzen, Äste krachen, Fenster und Türen schlagen. Blitz auf Blitz faucht, scheinbar einzig und allein auf unser klappriges Haus gerichtet. All dies veranlaßt Maxwell, eine Feuerwehrübung zu veranstalten. Begonnen hatte es mit:

»Wo ist der Hinterausgang der Wohnung?«

»Gibt’s nicht«, spricht der Chor.

»Gibt’s nicht?« dröhnt Maxwell ungläubig-vorwurfsvoll. Nach lähmender Pause, in der nurmehr das Gewitter tobt:

»Irgendwo starke Seile?«

»Seile?« Besengtes Umhergeblicke, als könnten sie, bisher übersehen, von Leuchter oder Decke baumeln.

Mein zögerndes: »Vielleicht Wäscheleine?« läßt den zur Schiefe neigenden Mund vollends herabsacken: dennoch greift er zu den mißmutig angeschleppten rot-grün-blauen Nylonstrippen, schlingt sie fachmännisch um Oberschenkel, auch Taille, teilt im Generalston mit, wie wir uns aus dem dritten Stockwerk, vom morschen Balkon abstoßend, ausgestreckte Beine an Hausmauer stemmend, abzuseilen hätten.

Keineswegs schwindelfrei, sehe ich uns kreischend, in hilfloser Panik um uns schlagend, auf Asphalt, parkende Autos zurasen. Ich umklammere meine Tochter, die zunehmend verängstigt den Anordnungen folgt – bebend an Fingernägeln knabbert, als stünde Haus und Flur bereits in hellen Flammen.

»Es langt«, sage ich nunmehr laut und bestimmt.

Maxwell, taub: »Ich seile mich zuerst ab, dann Paul mit Kind auf dem Rücken, dann Hildi, dann Molli.«

Molli steht, die prallen Arme auf ihrem fülligen Busen verschränkt, und beobachtet die Übung gleich einem schwer entschlüsselbaren Fernsehkrimi, verläßt kopfschüttelnd das Zimmer, knallt sogar, gänzlich gegen ihre sanftmütig-duldsame Natur, die zweieinhalb Meter hohe Wohnzimmertür.

Maxwell fummelt verbissen, wütet rotwangig mit beschlagener Brille, pfadfinderbedusselt, auch an ›leatherneck‹-Elitetruppen-Einsatz gemahnend. Dann wogt er im Schaukeltrab in sein Zimmer, kehrt mit zwei Flaschen Eierlikör zurück, fläzt sich auf die Couch, spricht gleich einer Hinterhof-Hellseherin, die unabwendbar Grauenerregendes vor Augen führt: »Ihr werdet schon sehen und mir noch dankbar sein ...«, kippt Eierlikör in Whiskyglas, leert es auf einen Zug, auch hier seine Abstinenz allzu plötzlich fallenlassend.

»Wir haben vier Feuerlöscher in der Wohnung.«

»Na und?«, schnöselt Maxwell hochnäsig.

»Außerdem gibt’s tatsächlich eine Feuerwehr«, stoße ich nach.

»Ich habe Brände gesehen...« Maxwell schlürft genüßlich seinen zweiten. »Ich auch«, brülle ich, Berlins Kriegsende vor Augen, nehme Kind, gehe über die Maßen gereizt ins Schlafzimmer, glotze nichtssehend in die Röhre, streichele der Tochter Kopf, die umgehend in tiefen Schlaf fällt.

Der nächste Morgen ist sengend, der Flaschendrescher drischt, Straße und Hof geben stoßweise entmutigende Dämpfe ab. Wie immer sitze ich morgen-griesgrämig am Küchentisch; Paul und Christina bereits auf dem Schulweg. Molli wütet mit dem panzerschloßähnlichen Vorbau, der unsere Wohnungstür einbruchssicher gestalten soll: Netz, Beutel, Portemonnaie in der Hand. Im Hof blökt eine heisere Männerstimme: »Tür zu«, jemand klimpert außerordentlich unbefriedigend auf einer Gitarre herum, dazwischen Radiogeschnatter.

Maxwell labert Kefir, scheint nicht nur sprechunfreudig, auch bewegungsgestört, was wiederum in Verwunderung setzt, hatte er sich doch als ›Morgenmensch‹ ausgerufen.

Er sitzt, starrt auf eine mit Erdbeermarmelade bekleckerte Semmelhälfte, seine dicht behaarten Handgelenke, die knorrigen Hände beidseitig neben Tellerrand gelagert, und schweigt. Meine Sonnenbrille rutscht in gleichmäßigen Abständen von schweißperlendem Nasenrücken. Plötzlich zieht Maxwell ein orangefarbenes Tuch aus der Hosentasche, trompetet gleich Leit-Elefanten einer aufgebrachten Herde, flüstert atemlos: »Du wirst bemerkt haben, daß meine Beziehung zu Frauen ...« er würgt, »gestört ist. Meine Mutter ...« er läßt eine minutenlange Pause, in der er gedankenvoll sein Gesicht wischt: »meine Mutter starb bei meiner Geburt. Vater war hoffnungsloser Alkoholiker. Mit vierzehn haute ich ab.« Zutiefst betroffen, Teetasse in der Hand, bitte ich lautlos den Mißverstandenen um Verzeihung, teile Lebensleid, sehe den bisher störrisch-prahlerischen Besserwisser in jeder Hinsicht unverstanden-mißhandelt, höre: »Und nun geschieht das Sonderbare: vor nicht allzu langer Zeit lerne ich eine Frau kennen. Eine Frau, die ich auf Anhieb liebte. Ich meine: wirklich ...« ›Wirklich‹ hallt wie ein Geschoß durch die verkachelte Küche. »Sie hat zwar Kinder ...«, das wiederum läßt sie im Wert sinken, »... trotzdem: ich kann und will mir nichts vormachen ...« Der Satz vergurgelt, endet mit Räuspern. Mühsam hebt er an: »Sie ist Jüdin, lebt in Philadelphia. Geschieden, wunderschön, zart, liebenswert, gütig; alles, was sich ein Mann erträumen kann ...«

Noch immer sitzt er bewegungslos, Kinn auf der Brust.

»Die anderen ... Wie nennt ihr das? ... ›Ersatz‹.« Und wegwerfend, wobei er fast den Teller vom Tisch fegt:

»Nicht einmal das ...« Er tastet mit der Rechten nach meiner Linken, zieht sie geniert zurück. Im Handumdrehen schlägt meine täglich zunehmende Ablehnung ins Gegenteil um; ich verspüre verheerendes Kribbeln in der Nase, das zumeist Niesen – in diesem Fall Tränen vorauseilt, gestatte mir ein, wenn auch unterdrücktes Schnüffeln, fälle sogleich den Schuldspruch über mich: schuldig, weil oberflächlich mißachtet, schuldig, weil voreilig Urteile gefällt; versuche ich nunmehr, jedweden fiesen Gedanken auszulöschen, weiß nicht, wie ablehnende Gesten wiedergutzumachen – steht der Preis eines lapidaren Flugtickets in keinem Verhältnis zu der Gefühlsarmut, die ich ihm entgegengebracht.

»Ich hatte keine Ahnung«, sage ich lahm-steinern, auch ungewiß, wie am feinfühligsten seinem flehentlichen »Hildi, Hildi, ich brauche deine Hilfe« zu begegnen. Ich nicke unablässig gleich einem der dümmlichen Tiere mit Spiral-Hälsen, die im Rückfenster mancher Autos wippen.

»Du kannst dich verlassen ...« murmele ich, nicht wissend, auf was. Dennoch: wir hocken gleich zwei Verschworenen in der dröhnend-heißen Küche, überwältigt vom Gleichklang unserer Gefühle.

Unvermittelt sagt er: »Esther heißt sie. Ich habe sie seit eineinhalb Jahren nicht mehr gesehen.«

Er lächelt geniert. »Ich muß sie wiedersehen. Muß.«

Übergangslos glaube ich ihn in einer Chirico-ähnlichen Wüstenlandschaft zu sehen, kauernd, verdörrt, der Leblosigkeit seiner Umgebung angepaßt. Das Bild entrückt, macht Naheliegenderem Platz: »Welche göttliche Fügung könnte es ermöglichen, sie wiederzusehen?« flüstert er, und: »Hoffnungslos ... Ich kann und werde dich nicht um einen zweiten Flugschein bitten. Obgleich – es gibt Charterflüge, die nicht allzu ... Ich könnte die Summe abarbeiten, werd’ mein Bestes tun, bin sprachbegabt, mein Deutsch ...« Er schnippt ungelenk mit Daumen und Mittelfinger: »Eine Frage der Zeit. Könnte dir zum Beispiel beim Abtippen deiner Arbeiten behilflich sein, beim Lesen, Beurteilen von Manuskripten ... Ich habe einen Führerschein. Wenn du mir Christina anvertrauen würdest ...« zum ersten Mal nennt er ihren Namen »... könnte ich sie in Museen, botanischen Garten fahren, Interesse wecken, Anstöße geben. Schließlich war ich Lehrer«, flüstert er, fast schon bettelnd.

»Schon gut«, sage ich so sanft wie möglich, »irgendwie werden wir Esther nach Berlin holen. Platz genug haben wir ja.«

Ungläubig sieht er auf, legt seine Hand in meinen Nacken, die unrasierte Wange an mein Gesicht, murmelt: »Danke. Nochmals danke.«

Zum ersten Mal wird mir bewußt, daß er Zähne hat. Die lange Oberlippe – die vorgestreckte Unterlippe verdecken das Gebiß; plötzlich zieht er die Facial-Muskeln à la Bogart, legt eine Reihe prachtvoll-weißer Unterzähne und kaffeebraune Oberzähne frei.

Molli kommt beladen zurück, sieht uns erstaunt in trautem Beieinander, sagt nichts. Wir mümmeln Sinnloses, als habe man uns auf frischer Tat ertappt, ziehen ab. Im Flur flüstert er noch: »Esther könnte vielleicht Ordnung in deine Plattensammlung bringen ...« Daß Philadelphia entschieden zu weit für einen Plattenordner ist, nimmt er in seinem Enthusiasmus offensichtlich nicht wahr.

Nach kurzem Anruf und der Zusage Esthers lebt er von nun an im Zustand der Ekstase: er schiebt/hebt, wienert, staubsaugt, ist bestürzend dankerfüllt. Rennt flattrig-erregt, um ein Doppelbett zu erstehen, das einen Tag darauf hochkant durch die Wohnungstür geschoben wird: ein Ausbund an supermoderner Häßlichkeit – SA-Braun, auf dem planlos rosarote Kleckse kleben. Er begibt sich daran, einen der zur Straße liegenden Räume zu besetzen und somit die Wohnung vollends zu verstellen.

Am Nachmittag erhält Paul die Nachricht: sein in München lebender greiser Vater sei erkrankt. Seine Anwesenheit erwünscht. Am Abend des Abreisetages gehen Molli, Christina und ich nach einem sanft-erlösenden Sprenkelregen spazieren. Zurückgekehrt finden wir die Wohnung im Dunkeln, machen Licht, entdecken in der Ecke des geräumigen Eingangsflures Maxwell mit einer mickrigen Wasserstoffblondine. Knutschend.

Eilends schiebe ich Christina in eines der Zimmer.

Die Blondine nölt Unverständliches, und nachdem sie mich ausgiebig wie einen Stadtplan studiert, geht sie, ein lahmes »’n Abend« murmelnd, ohne Eile von dannen. Maxwell hingegen stiert mich kampfeslustig, auch siegessicher an.

Ich beginne meinen puritanischen Vers: »Das bitte nicht noch einmal«, ende mit: »Immerhin ist hier ein Kind im Haus.«

Maxwell – klapperschlangenrasant – schnellt seinen Kopf hervor, zischt: »Du und Paul seid schließlich nicht verheiratet. Könnte doch noch immer Schwierigkeiten mit dem Sorgerecht einbringen.«

Ich stehe vom Donner gerührt, benommen-sprachlos. Er verläßt die Wohnung, das Schloß leise einklinken lassend.

Zwei Tage umschleiche ich ihn mit abhanden gekommener Selbstachtung, hatte ich doch nicht beim Schopf gefaßt, was beim Schopf gefaßt werden sollte, hatte die hinterhältige Erpressung feige hingenommen, brauchte von nun an nurmehr auf die Abrechnung zu warten.

Ein Telegramm, an Maxwell adressiert, legt Molli mit spitzen Fingern und geschürzten Lippen auf sein Kopfkissen. Einen Tag darauf, sieben Uhr abends – die Hitze wabert beharrlich zwischen Hauswänden , klopft es. Kurz. Zaghaft.

»Ich heiße Esther«, sagt eine weinerliche Stimme. Sie lehnt an der Wand, schwer atmend, drei Koffer neben sich. Und ohne sich zu bewegen: »Ich dachte. Maxi würde mich abholen.«

Das Drei-Minuten-Licht war dank der Sparsamkeit des Hausbesitzers zum Ein-Minuten-Licht reduziert. Die mickrige 25-Watt-Birne zeigt einen Madonnenscheitel, dann umfängt uns Finsternis. Erst einmal drücke ich idiotischerweise den Knopf zum Treppenlicht, um nach hirnlosem Geflatter den Schalter unserer Diele zu suchen und endlich zu finden.

Ein erbärmlicher Auftritt: Esther steht mit tomatenrotem Schminkköfferchen und Strandtasche, als hätte sie sich in Erdteil, Land, Stadt, Straße, Wohnung geirrt. Der ›culture-shock‹, wie ihn amerikanische Psychiater zu nennen pflegen, steht ihr quer übers schöne Gesicht geschrieben. Und schön ist sie, wenn man ein perfektes Oval, langlidrig braun-schwarze Augen und einen zugegebenermaßen kleinen Mund mit sanft-geschwungener Oberlippe als schön empfindet. Eine Strähne der Madonnenfrisur hat sich gelöst, baumelt vor rechtem Auge.

Endlich werde ich mobil, zerre Koffer in die Diele, während sie unablässig: »No, no, let me do it« flüstert, als sei eine Tonband-Kassette verhakt.

Obgleich sie versichert. Antialkoholikerin zu sein, trinkt sie den gereichten Whisky, schlürft zittrig, Tränen hoffnungslos unterdrückend, während sie in Panik geratend mit Eiswürfeln klickt.

»Meine Töchter habe ich bei einer Cousine untergebracht, neun und elf ...« schluchzt sie nunmehr freizügig, »habe jetzt schon Sehnsucht nach ihnen ... Was ist mit Maxi?«

Gretchenfrage, die, wenn auch nicht unvorbereitet, so doch bitter trifft. »Maxi war so gut zu mir ...« ertrinkt in einem Tränenstrom.

Christina kommt ins Zimmer, Katze im Arm, sieht eine verheulte Fremde, dreht schnurstracks um, sagt:

»Ich seh mit Molli fern ...«

Leid ist nicht Sache der Kinder.

Esthers Enttäuschung öffnet die Schleusen des Scheidungsschocks. Noch immer krächzt Buchstabe um Buchstabe, auch das Bild des Geschiedenen scheint beharrlich auf der Erinnerungsprojektion zu verweilen. Noch immer kann ich nicht begreifen, warum, weshalb eine beinahe siebzehnjährige Bindung mit Haß, Pressekrawall, Rechtsanwälten, sich angiftenden, ehemals so harmonischen Partnern ein Ende nehmen konnte. Die letzten drei Jahre und vier Monate hatte ich mit offensichtlich erfolglosen Mitteln um die Rettung einer Ehe gekämpft, die längst keine mehr war, was ich jedoch zähverbissen nicht eingestehen wollte, bis ich endlich die lahmgewordenen Flügel faltete und Vergangenheit adieu sagte. Jahre zerrten an mir wie Steigbügel eines abgeworfenen Reiters, der nicht imstande, sich freizureißen.

Da sitzen wir also, Esther schneuzend, plärrend, ächzend, und da allzusehr mit mir beschäftigt, fällt mir keinerlei brauchbare Ausrede für Maxwells Abwesenheit ein.

»Ich wurde vor der Haustür fotografiert«, flüstert Esther. Tatsächlich streunen um das klapprige Haus Reporter wie Hühner um den verschlossenen Stall. Jede Schulfahrt Christinas wird sorgfältig vermerkt, selbst Mollis Einkaufsgänge.

Den Höhepunkt hat das allgemeine Interesse erreicht, als sich herausstellt, daß vor unserem Einzug die Wohnung ein in Berlin bestbekanntes Bordell gewesen, dessem Puffvater ein grauenerregendes Mord-Ende beschert war.

Daher also im Wohnungsnot-Berlin die plötzlich Freistehende; das höhnische Gejohle der Presse hilft mir keineswegs, den in meinen Tag- und Nachtträumen verhakten Caspar-David-Friedrich-Bildern: Nußbaum, Brunnen, Birken, Bach, Wetterhahn, geranienprallen Galerien, die kurz zuvor mein Eigentum gewesen, zu entrinnen.

»Ich arbeite halbtags in einer Bibliothek«, flüstert Esther. »Mir gefallen Ihre Bücher. Lieben Sie auch Salinger?«

Mein Herz, oder was immer für Gefühlsregungen in Frage kommt, ist gewonnen. Wir starren die vollgepfropften Regale an. Einem verschüchterten: »Man müßte sie mal ordnen«, kann ich nur beipflichten.

»Haben Sie Hunger?« Esther schüttelt den Kopf. Die Strähne schaukelt noch immer vorm rechten Auge. Doch wäre sie glücklich, einen ›powder room‹ aufzusuchen: die recht benagte Umschreibung der Amerikanerinnen für Toilette.

Ohne Frohsinn verläuft das Abendessen. Esther stochert im Kartoffelsalat mit Äpfeln und sämtlichen – nur Molli vertrauten – Zutaten, selbst die Erdbeertorte plus Vanilleeis verschmäht sie, nunmehr von einem milden Schluckauf behindert, dennoch unentwegt zittrige Entschuldigungen stotternd.

Dann bittet sie, ins Bett gehen zu dürfen.

Sie darf.

Von Maxwell keine Spur.

Ich lümmle mit Christina und Molli auf hitzefeuchtem Bett: Im Fernsehen läuft wieder einmal eine der hilflos-besorgten Talk-Shows, bei denen sich der Talkmaster außerordentlich unmasterhart gebärdet, abiturbeflissen Fremdwörter einschleust, um den Intendanten zu beeindrucken, auch in der Hoffnung, die Opfer zu verstören. Obenauf zupft er ohn’ Unterlaß an einer fernsehgerecht-bunten Krawatte.

Hitze, Gitarrengeklimper im Hof, plus lustloses Gequassel verknäulen sich zu einem surrealen Gespinst.

Zurück wandert der gequälte Blick zur Talk-Show. Ein Dreiergespräch quillt vor sich hin gleich sämig-soßigen Löffelerbsen. Ein jeder scheint von seiner Verbalakrobatik beeindruckt.

Weder Frager noch Befragte hören je dem anderen zu, sie mauscheln aneinander vorbei, als säßen sie in verschiedenen Studios, durch ein technisches Versehen zusammengeschaltet. Ohne den Anflug eines Lächelns schlabbern Wörter einher. Ein Zwischenruf aus enger Zuschauertribüne reißt die drei aus Nabelschau-Trance, läßt Kamera 1 oder 3 eiligst umschwenken, um nunmehr den bisher Unbekannten Millionen Fernsehsüchtigen vorzustellen. Schon ist er in sämtliche Wohn- und Schlafzimmer geschleust, seine Frage bleibt unbeantwortet, dennoch ist im Zeitalter der ›Sekundenstars‹ ein Star geboren, der in seinem Heimatdorf von nun an Autogramme verteilen, die komplizierte Technik des Live-Fernsehens erklären und auf die unumgängliche Selbstsicherheit vor dem unbestechlichen Einauge der Kamera hinweisen würde.

Christina dreht mit der anbetungswürdigen Konsequenz der Jugend den Ton ab.

Der Stimmen beraubt, wird das Dargebotene bestußter denn zuvor, der Talkmaster trägt seine inzwischen zerknirscht-besserwisserische Miene gleich einem geblähten Segel. Flüchtig denke ich: es ist die Zeit der Rücksichtnahme auf Rücksichtslose, des Verzeihens des Unverzeihlichen – auch: nach unten gibt es keine Grenzen –, habe dabei sogleich Maxwell im Sinne, bin damit keinesfalls zufrieden, gehe mit Tochter, Hand in Hand, schlafen.

Esther ist wach. Sie hatte ihre Lieblingsplatte ›Königin der Nacht‹ mit Edda Moser entdeckt; kauert – wie vor Jahrzehnten an krächzende Lautsprecher geklemmt – vor dem Verstärker, als entziffere sie Morsezeichen. Es ist Sonntag. Die Hitze zu lähmend, um auch nur eine Fahrt an den Wannsee zu planen. Den Wagen hat ohnehin Maxwell. Da rattert’s am Panzerschrankverschluß der Wohnungstür.

Maxwell Dawson tritt auf. Hut in der Rechten. Hut mit Regenschutzhülle. Die Wasserstoff-Mickrige zur Linken. Da Maxwell Musik-allergisch, reicht er den Hut der Gebleichten, um seine Ohren zuzuhalten. Mein Ausdruck muß der eines verendenden Karpfens gewesen sein. Sorglos stapft er auf Esther zu, läßt eine Hand vom Ohr fallen, begrüßt sie mit jener Nachlässigkeit, mit der man Eilboten zu ungebetener Stunde zu empfangen pflegt.

Ich biete der Wasserstofftante weder Platz noch Trunk an. Bei Tageslicht ist sie schier erschütternd vergammelt und transvestitenhaft geschminkt. Die Hoffnung, meine überaus mangelnde Höflichkeit als Abschiedssignal zu begreifen, bleibt erfolglos. Sie plauzt in einen Sessel, spricht: »Ick wollte Se schon imma ma kennenlern. Hab ooch ne Platte von Se.«

Esther steht salzsäulig, kommt dann urplötzlich in Bewegung, dreht sich um eigene Achse, rennt wie verfolgt ins Bad. Ich vernehme Geräusche, die mit heftigem Erbrechen in Zusammenhang gebracht werden können. Ich eile hinterdrein: da liegt sie geisterbleich neben Wannenrand, qualvoll keuchend.

»So helft doch«, brülle ich. Maxwell wirft einen zutiefst angewiderten Blick um die Ecke, spricht: »Ich kann mit Kranken nicht umgehen.«

»Es stinkt zum Himmel, wie du dich benimmst«, kläffe ich hinternach, schleppe Esther mit Hilfe der stämmigen Molli auf mein Bett. Kalte Tücher, warmer Tee, Thermometer: 39,4.

»Daß mich Maxi gerade so wiedersehen muß«, schluchzt sie. »Scheiß auf Maxi«, sage ich barsch.

»Dürfte ich einen Spiegel ...« haucht Esther fiebrig.

»Ein Arzt wäre sinnvoller«, sage ich sinnvoll.

Sie betrachtet sich eingehend, wobei sie den kleinen Mund zusammenzieht, als lutsche sie Eis, die Brauen voll des kindlichen Erstaunens hebt, die Wangenhaut zwischen die Backenzähne saugt, als sei sie urplötzlich gebißlos.

»Grauenvoll«, flüstert sie und schluchzt markerschütternd auf. Hermann, mein – von allen Schauspielern, Regisseuren, Schreiberlingen Berlins geliebter – Arzt, eilt herbei, konstatiert ohne Firlefanz: Darmgrippe.

Da liegt sie nun, von Maxi verstoßen, von Molli bemuttert, von mir als Übersetzer umflirrt.

Die Wasserstofftante hatte sich verflüchtigt. So auch Maxwell. Krankheit, Musik, Esther waren offensichtlich zu viel für den ›Macho‹-Herrlichen. Ich gedenke der flehentlichen Bitten, seine ›einzige Liebe‹ nach Berlin zu holen, komme zu der Erkenntnis, daß ich es mit einem handfesten Psychopathen zu tun habe.

Ich rufe Paul in München an, bitte um sofortige Rückehr. Am gleichen Abend kommt er mit Harriett, seiner mütterlichen, aus Studentenzeiten herrührenden, durch endlose Erzählungen längst bekannten Freundin. Durch meine Berichte aufgeschreckt, hatte er sie als Bollwerk gegen den Unbegreiflichen mitgeschleppt. Und ein Bollwerk ist sie: breit wie hoch und von jener vernichtenden Häßlichkeit, die selbst bissig-eifersüchtige Frauen pflaumenweich werden läßt. Da ist aber auch gar nichts, was man – wie oftmals bei sogenannt häßlichen Menschen – mit ›bizarr-reizvoll‹ bezeichnen könnte. Weil von niedrigem Wuchs, glaubt sie ›gestreckter‹ zu wirken, indem sie ihr schütteres schwarzgefärbtes Haar (Heimarbeit) rechtsseitig überm lappig-großen Ohr, mit Haarspray bis zur Stacheldrahtigkeit vernagelt, auftürmt. Da sie von übersprühendem Wesen, wackelt der kunstvolle Aufbau chronisch entgleisend, zieht somit jedwede Aufmerksamkeit von Gesprochenem ab, was wiederum tragisch, da das Gesagte oftmals hörenswert. Ihre Halslosigkeit läßt den quadratförmigen Körper noch breiter erscheinen, die Beine hingegen gleichen, wie Berliner sagen, ›umgedrehten Sektpullen‹ – nur die Füße sind winzig und scheinen ein vom Rest unabhängiges Dasein zu führen.

Ihre Kleidung ist wild-bunt, zu Lila neigend – doch was immer: kein noch so findig-genialer französischer Couturier hätte retten können, was die Natur unflätig zustande gebracht: der Mund, großlippig bis zur Clownerie, an zwei zusammengepreßte Würstchen gemahnend, das Gebiß reklameweiß klappernd; die winzigen schwarz-braunen Ösen als Augen erdacht, die Nase wiederum üppig-gurkenförmig. Seit etlichen Jahrzehnten ihrem Gesicht und Körperbau ausgeliefert, nimmt sie intensiv am Schicksal anderer teil, ergibt sich, was nur begreiflich, dem Fraß, dem Trunk (in Maßen), dem Nikotin (in Unmaßen). Sie hat jenen jüdisch-wachschnellen Witz, der mich aus lähmendster Weltzerfallenheit reißt. Ihr Schicksal waren: Cellisten. Zwei davon hatte sie geheiratet, war mit ihren symphonischen Orchestern um die Welt gerattert, hatte beide verloren, an Schönere, selbstredend. Der letzte Cellist blieb unverwunden, war er doch von hohem Wuchs, adonis-schön, auch von ähnlicher Herkunft: jüdisch, Bronx – New York, selbst von gleichem Humor. Dies jedoch kann auch derWeichzeichner-Rückblick der immer noch Liebenden sein.

Sie ist außerordentlich fähig, zuzuhören, was jährlich, beinahe monatlich mehr und mehr aus der Mode zu kommen scheint. Ungeteilt bleibt ihr Interesse beim Gesprächspartner, nur zeitweilig von jammervollem Emphysem-Husten unterbrochen, bis sich der Angehörte dank ihrer Hingabe zum Monolog steigert. Sie ist rundum gebildet, obgleich jenes – in unseren Landen unter ›Allgemeinbildung‹ Verstandene – mich stumpfzahnig macht.

Stolz auf ihr ›Volk der Bücher‹, wie sie es nennt, ist sie dennoch eine Agnostikerin, gleichzeitig Israel-euphorisch, ohne fähig zu sein, die Konsequenz zu ziehen: eben dort zu leben.

Eine weitere Schwäche: Akademiker. Sie arbeitet für die University of Maryland in München, ist die rechte, auch linke Hand des Dekans, ist Beichtmutter der Studenten wie der Dozenten, blüht, gedeiht in den Gefilden des Wissens. Tatsächlich liebt sie das Glück anderer. Ihr eigenes hat sie sich abgewöhnt. Psychiatrie ist ihr Hobby, angewandt an sämtlichen Leidtragenden, die sich vor ihrem Schreibtisch psychisch entblößen; außerdem ein Antiquitätennarr; eine Narretei, die sie sich kaum leisten kann, hatte doch ihr zweiter Cellist ihre Ersparnisse in südamerikanischen Investitionen für chirurgische Instrumente verjubelt. Dennoch ist ihre Kleinstwohnung zwischen öden Kasernenmauern der McGraw-Kaserne in München ein Biedermeierparadies, in dem man jedoch fürchtet, sie könne augenblicklich Möbel plus schimmelgrüne Wände einreißen, Stühle, Sofas wie Zahnstocher knicken lassen.

Sie korrigiert sämtliche Uni-Papiere, ist der Große Duden, den auch Dozenten schnöde benutzen. Geld, Besitz, Adel lassen sie kalt, doch Cellisten und Akademiker werden mit nie zu bremsendem Enthusiasmus ehrfürchtig bewundert. Vor Jahren war sie Maxwell in der Universität begegnet und hatte sich auch hier von seinem professoralen Gehabe einlullen lassen.

Natürlich war ein Koffer verlorengegangen. Harriett zieht Wirrnis, Tumult und Chaos an.

Erst einmal knuddelt sie mich, dann Christina, die dies unmißverständlich ablehnt. Kinder üben keine Nachsicht, wenn Häßlichkeit unappetitlich erscheint; und unappetitlich ist Harriett leider auch. Asche flattert auf Lila, Ungegessenes liegt ehern in Mundwinkeln, Speichel tropft zwischen losen Zähnen.

Es ist das erste Mal, daß sie mein Berliner Heim besucht. Das schäbigplärrige Nachtlokal, den knarzigen Fahrstuhlkäfig, die teppichlose Treppe, selbst das Ein-Minuten-Licht findet sie als Unterkunft unter aller Würde. Den ehemaligen Puff verschweige ich vorsichtshalber.

Der pralle Sack, der unermüdlich in Bewegung bleibt, schubbert auf das hohe Bücherregal zu. Ein Blick, und der Sack hüpft: da ist ihr schier vergötterter Henry David Thoreau, auch John Donne, Voltaire, Oscar Wilde und Shakespeare. Mehrere Ausgaben von Philosoph-Historiker Will Durant lassen die heisere Stimme um eine Oktave springen.

Unten eine Kleinstfabrik für Kittelschürzen, die nur tagsüber besetzt, über uns eine Rechtsanwaltskanzlei, ist ihrem Wunsch, Mahlers Erste durch die Räume zu donnern, nichts entgegenzusetzen. Den Kofferverlust gleichmütig ertragend, stürzt sie sich auf einen Whisky und mit geschlossenen Ösen auf Mahler.

Ich sehe nach Esther. Sie schläft trotz des ohrenbetäubenden Beginns des vierten Satzes. So überhören wir auch das Gewürge am Panzerschloß, das Maxwell einläßt. Mit einer neuen Brille ausgestattet, noch immer den Präservativhut auf dem Schädel, steht er, als sei er ein lang erwarteter und außerordentlich willkommener Gast. Mit qualvoller Miene auf die Lautsprecher weisend, brüllt er: »Weißgold«, tippt auf die Ränder seiner neuerstandenen Brille. Dann schaukelt er auf Harriett zu, versucht sie in den Ann zu nehmen, ruft schieflächelnd: »Welche Überraschung ...«

Wie er die Brille bezahlen will – hat er doch sein und Esthers Flugticket abzustottern und eine monatliche Minimum-Gage für nichtgetane Sekretariatsarbeit –, bleibt sein Geheimnis, das er jedoch spornstreichs lüftet, indem er: »Die Rechnung wird übersandt« brüllt.

Endlich würgt Harriett ihren Mahler ab. Maxwell entledigt sich des Präservativhuts, auch eines neuen Jacketts – Blazer –, nimmt Platz in buntem Hemd mit – wenn überhaupt – noch bunterer Krawatte, spricht leise-bettelnd: »Ich hatte mich im Tag geirrt ...«, deutet mit Daumen auf das Schlafzimmer, in dem Esther leidet. Und weiter: »Ich war mit ihr ...« offenbar meint er die Wasserstoffige »... im Dahlemer Museum.«

»Auch nachts?« zische ich.

Maxwell bleibt ungerührt: »Dann über Checkpoint Charlie bei Brecht; es war ...« er sucht offenbar das gültige Wort »... erhebend.« Tatsächlich sagt er ›erhebend‹.

»Ich werde ein Buch über ihn schreiben.« Und zu mir: »Hildi, wenn du mich einmal nicht mehr brauchst ...« (als ob ich ihn je gebraucht hätte) »... also wenn du mich nicht mehr brauchst, werde ich mir ein Zimmerchen in der DDR nehmen und auf Brechts Spuren wandeln.« Er palavert unverwandt vor sich hin, mein versteinertes Gesicht – oder was ich dafür halte – nicht wahrnehmen wollend.

Paul, von einer Bade-Neurose befallen, die ihn täglich an die fünf Mal unter die Dusche jagt, rennt triefend mit um die Taille gewickeltem Badelaken ins Zimmer, läuft beim Anblick Maxwells cholerisch-düsterrot an, faucht: »Was geht hier überhaupt vor sich. Du hast einen Charakter...« Der Zorn erstickt Vergleiche. Maxwell sieht ihm freundlich-mild entgegen, spricht: »Charakter ist Eigensinn.« Dies läßt Paul fast einen Salto schlagen, er krümmt sich vor stimmlos gewordener Wut, greift mit nasser, zittriger Hand zur ungewohnten Zigarette, zerknüllt sie, rennt auf und ab. Mollis zur Fülle neigende Figur, neben Harriett jedoch eher dürr anzusehen, erscheint auf dem Kampfplatz, fummelt am Dutt, spricht gleichmütig: »Essen ist fertig.«

Da das Eßzimmer mit Postbergen verstellt, auch kilometerweit von der Küche entfernt, schlurren wir mehr oder weniger wütig den Korridor entlang, nehmen in Mollis Reich Platz. Die Sitzverteilung bereitet Schwierigkeiten, hat Harriett doch die gesamte Wandbank eingenommen. Endlich kommt der Pulk zu körperlicher Ruhe.

Maxwell knatscht unbefangen an rohem Schinken mit Melone. Plötzlich erhebt er sich, steuert auf mich zu, ergreift meine Hand, neigt sich zum Kuß – ich ziehe runter, er rauf –, siegt schließlich, läßt einen Schmatzer erklingen, sagt nach dem insbesondere für Nordamerikaner ungewöhnlichen Gebaren:

»Hildi, ich habe meine Fehler.«

Er starrt mir ohne Plinkern der Lider ins Auge. Und weiter, mitten hinein in die sprachlose Gruppe: »Verzeih, wenn ich Unruhe in dein Heim brachte. Ich werde mich bessern ...«

Halbherzig nicke ich, finde mich selbst keinesfalls fehlerfrei, gestatte anderen selbige Unrechte, werde kurzum: beutebereit.

Maxwells geflüstertes: »Wie geht es meiner Esther?« ruft mich aus hypnotischer Verblödung.

»Du könntest dich um sie kümmern ...« sage ich lahm.

Er, zapplig-verängstigt: »Ist es ansteckend?«

»Und wenn ...« Das ist sengend. Hoffe ich.

Er schlurft hinaus.

Harriett bricht verbiestertes Schweigen, keucht hinter Zigarettenqualm: »Ihr seid allesamt meschugge.«

Meine Gutenachtgeschichte, für Christina erdacht, ist steifleinen-kümmerlich.

Brüllheiß der Morgen, der Gitarrenspieler spielt, der Flaschendrescher drischt. Esther am Frühstückstisch, bleichgesichtig, ungeschminkt, dunkelgrüne Ränder unter Augen. Die Nacht mit Maxi war zweifellos ein Fiasko.

»Sie sollten im Bett sein«, sage ich über ihre Schluchzer hinweg. »Ich bin doch nur eine Last ...«

Harriett rauscht herein, in rasend rosa-lila abgestuftem Morgengewand, der Haarbau gefahrvoll wankend, ergreift Esthers Kopf, quetscht ihn zwischen kürbisgroßen Busen, spricht streng: »Kein Mann ist es wert ...«, sprenkelt urplötzlich aus ihren Ösen. Aller Wahrscheinlichkeit nach war der zweite Cellist ins Bild gerückt.

Doch da tritt Maxwell auf.

Maxwell kommt nicht. Maxwell geht nicht. Maxwell trabt, tritt auf, geht ab, setzt sich in Szene.

Blitzeblank, feucht das eisengraue Haar, Karton unterm Arm. Maxwell weiß, wen einzufangen, um seine Stellung zu wahren.

»Für die intelligenteste Frau, die es je gab«, wiehert er und bringt einen Persianermantel in Sicht. In Anbetracht der Jahreszeit selten unpassend, setzt er auch noch das Lächeln des Weihnachtsmannes auf.

»Ein Geschenk«, säuselt er überflüssigerweise.

Auch hier bleibt Bezahlung nebulös.

Harrietts Achillesferse ist getroffen. Von Jugend an außer Konkurrenz, wird sie, auf Intellekt, Intelligenz, Bildung angesprochen, einfältig-beschränkt.

Während Harriett sich aus der Bank hervorquält und tatsächlich den unförmig Grau-Schwarzen übers Rosa-Lila zerrt, glaube ich einem französischen Lustspiel des vorigen Jahrhunderts beizuwohnen, finde mich jedoch weder als Mitspieler noch als Zuschauer am rechten Platze, nehme Tochter, schlage gegen besseres Wissen Spaziergang vor.

Reporter hin – Reporter her, nichts kann lähmender sein als der eskalierende Wahn in jener Wohnung, in der nichts anderes zustande gebracht wird als wirres Ringen um mäßige Ordnung.

Einzig Christina liebt sie. Großstädtisches Gehupe, Gerumpel der Müllwagen, Sirenen, Rufe, die im Hof echoen, selbst den dürftigen Gitarrenspieler, auch den Drescher. Auf dem Lande aufgewachsen, ist Großstadt: Disneyland mit Eisdielen, Kinos, Boutiquen, Rolltreppen, Schallplattenläden, gefahrvollen Straßenkreuzungen.

Unten steht der stramme Hauswart, das Auge nunmehr babyblau, ins Gelbliche sich verfärbend, dafür mit einer zerschrammten Kinnlade. »Na, wie jehts? Sieht ma Se ooch ma wieda, dachte schon, Se hättn sich abjeseilt uffn Hof runta«, brüllt er – läßt das im Parterrefenster liegende Ehepaar furchterregend nach vorn rutschen.

»Heute sind de Haifische wohl baden jejangn. Reporta ...« schreit er und verdreht die Augen.

»Wohl zu ville Hitze, wa?« Er greift meinen Ellbogen, zieht mich zu sich heran, flüstert verschwörerisch, Bierfahne ignorierend: »Imma so komische Typn fragen nach Se. Ick sach imma: keene Ahnung, bei mir Sense.« Stolz blinzelt er mir zu.

»Danke«, sage ich dankbar.

»Jeht ja hoch her bei Ihn. Wer issn de Dicke mit de komische Frisur, und der Irre mitn Plastikhut, hat wohln Hamma bei die Hitze. Mann, ich steh mir hier de Beene inne Schultan, kann ma nich setzn, nich liegn, habn Furunkel am Arsch.«

Erwartungsvoll sieht er mich an.

Ich, pflichtgemäß: »Haben Sie einen Arzt?«

Er wedelt mit beiden Armen, läßt Bierflasche überschwappen: »Halt nischt vonne Dokters. Meene Olle macht det, so mit Umschläje.«

Ich: »Heute Nachmittag kommt ’ne Fernsehtruppe. Können Sie durchlassen.«

Während der letzten Monate schien meine Arbeit hauptsächlich aus Interviews – unbezahlt, versteht sich – zu bestehen. Thema zumeist: Scheidung, Kinder, Politik, Geld. Eine Absage: und das gewaltige Netz der Sender hätte mich auf die klammheimlich schwarze Liste gepfercht. Nicht anstrebenswert, wenn man sein Geld als Chansonsänger, Schauspieler und Schreiber verdient.

»O Jott«, stöhnt mein Hauswart, »det wirdn Rummel, haun wieda alle Sicherungen durch. Ham die denn keen eijnen Strom?« Und ohne Antwort abzuwarten: »Heute Nacht wa wieda wat los, Keilerei, hia wejn die Zieje ...« Er weist auf eines der sich ständig mehr wölbenden NachtclubUralt-Fotos hin. »Die sind doch kirre, wejn soon Zahn.«

Seine Bezeichnung für Frauen finde ich etwas überaltert. Er, unermüdlich: »Und denn den janzen Kudamm ruft und runta die Drojenzähne ...« Ich glaube ›Zähne‹ als ›Szene‹ zu entschlüsseln. »Die Stricha und Puscha loofn hia jemächlich nun, un de Bulln penn. Bloß wenn eena falsch parkt, komm se anjedüst, oda wie seh ick det? Ick hol ma ’n Bier.«

Einmal um den Block reicht.

Die Hitze läßt selbst Christina jammern. Uns folgen zwei auffällig Unauffällige. Kripo, hoffe ich. Morddrohungen, mit aus Zeitungen geschnittenen Buchstaben, flattern beinahe wöchentlich ins Haus. Was ich verbrochen, um dem Allgemeinwohl zu schaden, bleibt rätselhaft, habe ich innerhalb meiner Berufe mehr oder weniger gut unterhalten, habe allerdings gewagt, einige kritische Gedichte zu schreiben, die jedoch mit Sicherheit kaum gelesen wurden. Ich glaube eher, das Opfer der ›yellow press‹-Laberei, zu deutsch: Hausfrauenblättchen, und fingierter Interviews zu sein. Ich sehe mich um, die beiden nicken unauffällig, ich nicke unauffällig zurück.

In der Wohnung geht’s hoch her. Zwischen Paul und Harriett fliegen die Fetzen. Thema: Roosevelt.

Paul, in Rage um eine Zimmerpalme kurvend: »Roosevelt hat die Mauer, die Luftbrücke, die Besetzung Ungarns, die Satellitenstaaten, Korea ausgelöst. Er war ohne Voraussicht, Stalin-verblödet, Vater-Image, hat sich schlichtweg einwickeln lassen wie eine ...« bei Vergleichen gerät er stets ins Schleudern – endlich: »... wie eine Roulade.«

Harriett, wie von Hornissen gestochen, zischt, daß Speichel sprüht: »Vielleicht machst du ihn noch für Vietnam verantwortlich.«

»Das tu ich.«

Schon hüpft sie gleich einem Känguruh, zündet neue Zigarette an, übersieht die glimmende auf dem Aschbecher, faucht:

»Für die Juden war er ein Held. Er war und bleibt die Demokratie schlechthin und basta.«

Paul: »Du wählst sowieso nur Partei. Nie den Mann.«

»So ist es. Welcher Republikaner wäre denn genehm, ha?«

Paul schnauft bedenklich, läßt sich nieder: »Dann laß dem Roosevelt-Fan mal erzählen, was aus Ungarn wurde ...«

Paul, Ungarnflüchtling, geschichtsbesessen, auch familiengebunden, setzt an zu ausführlichem Bericht; leider in emotionsgeschleuderter Hast, die manches Wissenswerte untergehen läßt.

»Ich bin Ungar. Was weißt du, was ›Flüchtling‹ bedeutet? Was weißt du über die Befreiung durch die Russen, die nur eine Erweiterung der Gefangenschaft war. Dank der genialen Aufteilung Europas durch deinen Roosevelt.«

Harriett gibt sich einem Emphysem-Husten hin.

1948 waren sie geflohen. Da war der Vater: zierlich, attraktiv, überaus höflich, mit einem nachsichtig-weltfremden Lächeln behaftet. Diplomat, Baron und Hauptmann der ungarischen Armee.

Mutter: Schwarzhaarig-blauäugige Schönheit. Herb, oftmals barsch, Gräfin und Nichte des Grafen Teleki, der einst Ministerpräsident Ungarns gewesen. Sein Selbstmord im April 1941 hatte die westliche Welt – Deutschland ausgenommen – zuriefst betroffen.

Obgleich kein Politiker, war er gewählt aus moralischem Respekt; ein zur Verträumtheit neigender Archäologe, dem man rundum vertraute. Klein, liebenswert und kindernärrisch, zog er regelmäßig mit Ungarns Boyscouts auf Zeltlagertouren.

Am 1. April des Jahres ’41 bat ein Abgesandter des deutschen Außenministeriums um eine Unterredung. Das private Dinner dauerte von 8 bis 11. Noch während der Vorspeisen fiel des Deutschen fatale Frage: »Was würden die Ungarn unternehmen, wenn wir über ihre Grenzen Jugoslawien angreifen?«

»Unternehmen könnten wir wenig«, sagte Teleki, »doch sind wir absolut dagegen, als Sprungbrett für eine Invasion zu dienen. Unsere Beziehungen zu Jugoslawien sind seit dem Ende der Habsburger Zeit exzellent.« Die Magyaren hatten sich einst keinesfalls rühmenswert den Kroaten gegenüber benommen. Schuldgefühle lummerten. Doch während des historischen Dinners rasselten bereits die deutschen Panzer über Ungarns Grenzen. Das erbetene Treffen mit Staatsoberhaupt Teleki war nichts als Ablenkungsmanöver gewesen.

Durch seinen Attaché in selbiger Nacht über den Verrat unterrichtet, zog sich Teleki in sein Schlafzimmer zurück, wo man ihn sieben Stunden darauf mit perfekt sauberem Loch in rechter Schläfe fand, den Kopf auf ein Kissen gebettet, die Boyscout-Uniform ordentlich über einen ›stummen Diener‹ gehängt, hatte er für jenen Tag, den 2. April, eine Zeltlagerfahrt geplant.

Noch immer hält sich die Behauptung mancher aufrecht, Teleki habe dem Anliegen zugestimmt; dennoch drei Tage darauf: Staatsbegräbnis in Budapest.

An die Viertelmillion Ungarn folgten dem Sarg. In erster Reihe: Admiral (aus Erstem Weltkrieg) Horthy – symbolischer Staatschef – und Pauls Mutter.

Ins Schweigen hinein: Sirenengeplärr. Die Menge stürzt auseinander, doch Horthy schreitet fürbaß. Rücken gerader als zuvor, bis sich die Masse aufs neue zusammenrottet. Dröhnen von oben. Drei Tiefflieger kreisen im Azurblauen, kreisen mit wippenden Flügeln über Prozession: RAF-Piloten erweisen letzte Ehre. Und Horthy, der Eherne, bricht in Tränen aus; mit ihm eine Viertelmillion Ungarn. Das war die Geschichte des Großonkels.

Maxwell hat während der Erzählung zwei Kefir geschlürft, scheint qualvoll gelangweilt, gähnt dreimal lauthals und verhält sich – für einen politisch Einsatzfrohen – geradewegs beklemmend zugeknöpft.

Hingegen Harriett, der – ohne Zweifel – die Geschichte bekannt, läßt Gefühlen freien Lauf, schnellt mit der immer wieder in Erstaunen versetzenden Behendigkeit der Dicken auf Paul zu, wickelt ihre prallen Arme um seinen runden Magyarenkopf.

Maxwell steuert auf die Weintrauben zu, berührt recht offensichtlich, auch anhaltend, Pauls Hand. Wie Schuppen fällt’s von Augen; sekundenlang verhaken Bild und Erkenntnis, daß Maxwell, der Macho-Mann, seit Wochen von mir als latenter Homo beargwöhnt, in Paul verliebt.

Nichts gegen jene, die frei-fröhlich und niemanden schädigend ausüben ..., doch furchtsam zucke ich zurück vor eben solchen, die nicht bekennen und zu erbost-reizbarer Heimtücke neigen. In meine Betrachtungen hinein schrillt die ohrenbetäubende Türglocke: der Fernsehtrupp rückt an.

Da ist der Produktionsleiter mit quietschfidelem Friseur plus traumschönem Freund, der als erstes: »Ich kann doch wohl ›du‹ sagn. Ick hab ooch deine Auto ... Auto ... Auto ...« die Platte rastet ein. Ich, hilfreich: »... biographie.«

Er: »also Autojrafie jelesn. Muß ma drüba redn, klarstelln, wa?« Die Schönheit ist schnurstracks verblichen, mein Friseur verfärbt sich regenbogenartig, schiebt den schönen Blöden zur Seite, der noch: »Also ick könnte keene Brille tragn. Meene Wimpan sind zu lang, wa?« tölt.

Der Produktionsleiter: ein gewaltiges Trumm, lautstark und Unruhe verbreitend; mein Gesprächspartner hingegen ist ein zur Kahlköpfigkeit neigender älterer Herr um die Dreißig. Sein Gebaren und greisenhafter Starrsinn untergräbt jedweden Humor. ›Immer Pausen lassen‹, hämmere ich mir ein. ›Schnelle Reaktion wird zumeist als maskuliner Vorwitz ausgelegt.‹

Er trägt eine ungeschliffene, dickrandige Brille, die sein ohnehin zentimeter-enges Gesicht vollends verdeckt, doch als Requisit des Intellektuellen unerläßlich, was mich wiederum kiesätig macht, gedenke ich der täglichen Brillensucherei, des Haftschalengefummels, des dösigen Getastes des wahrhaft Kurzsichtigen.

Der Kameramann, ein schweigsames Kerlchen in schmierigen Blue Jeans und ›I like New York‹-Jacke, knüllt sich hinter die Kamera, meckert über Lichtverhältnisse. Der Tonmeister, frohsinnig pfeifend, baut seine Mikrofone auf, während mein Befrager: »Ich werde dieses Interview ohne vorherige Absprache führen« mauschelt.

»Von mir aus ...« sage ich, ahnend, daß das auf seinen Schenkeln gelagerte Brett mit aufgeklammerten Bögen säuberlich getippte Fragen enthält, die ich sowieso auswendig kennen würde.

Maxwell tritt heran, läßt sich vorstellen, spricht von ›Manager‹.

»Was soll das?« frage ich. Er, wie zumeist überhörend, was ihm unbequem, zischt: »Wer sind diese gottverdammten Homos. Ich hasse das Pack.« Dies wiederum macht mich ungehalten, läßt mich in Schützengräben ziehen, die Homo-Front verteidigen. Dies alles in rasant gesprochenem Englisch, hoffend, daß die Truppe nicht allzuviel mitbekommt.

Dann läuft Maxwell federnden Schrittes hinter die Kamera, putzt ausgiebig die Brille, gibt sich als besorgter, doch fähiger ›Manager‹.

Die Kamera surrt, die Klappe ist geschlagen, das Haar gezupft, die Nase gepudert; die Frage: »Was verstehen Sie unter Glück?« läßt mich zusammensacken, hatte ich doch hoffnungslos-optimistisch einen originelleren Beginn erwartet. In Unlust verfallend sage ich ›in etwa‹: »Wir überschätzen, wir unterschätzen, doch schätzen wir nichts ...« Damit konnte er absolut nichts anfangen. Ich auch nicht.

Prompt hakt er ab, kommt zur nächsten: »Sie haben ein ›Image‹. Wie stehen Sie dazu?«

Mein: »Das überlaß ich anderen« läßt ihn tadelsüchtig blinzeln. Das abgelaberte: »Glauben Sie an Gott?« schusselt wie Staubwedel durchs Hirn; sekundenlang glaube ich niesen zu müssen. Dann lasse ich eine schwerwiegende Pause – unumgänglich, um ›Nachdenken‹ zu illustrieren –, und sage nach eben jener satten Pause ein artig-bedachtes: »Ja.«

Ein »Warum?« ist nicht auf der Liste.

Also weiter: »Was war ihr schönstes Erlebnis? Haben Sie Angst vor dem Altwerden?«

Mein: »Die Alternative finde ich unerfreulich« fliegt ungehört vorüber. Schon seiert es: »Wie möchten Sie sterben?«

»Gar nicht«, läßt ihn wütig von seinem Programm aufblicken. Nach mancherlei ähnlich gefälligem Geschwätz endet er mit: »Warum arbeiten Sie?«

Meine Gegenfrage: »Warum Sie?« wirft ihn aus der Bahn, bringt ihn zu eiligem Ende: »Was sind Ihre Pläne?«

Nachdem Scheinwerfer, Mikrofone, Kamera zusammengepackt – die Sicherungen waren tatsächlich zweimal herausgesprungen, wie mein Hausmeister geweissagt –, ziehen sie ab.

Christina, Molli, Harriett, Paul, Esther treten auf. Maxwell streckt die Beine, seufzt, genehmigt sich seinen Eierlikör, spricht mit einem Lächeln, das er offenbar für ›tiefsinnig‹ hält: »Hildi, du warst fabelhaft. Mein Kompliment, wie du das Medium beherrschst. Ein wahrer Star.« Er flattert mit den Händen, als müsse er eine Federboa zurechtrücken. Es ist das zweite Mal, daß ich ihn bei einer übertrieben femininen Geste ertappe, gleichzeitig fühle ich erbärmliche Dankbarkeit aufwallen, weiß zugleich, daß man den freundlichen Äußerungen eines Fieslings mehr Beachtung schenkt als denen eines ohnehin friedvollen Mitmenschen.

Schon kommt er zum Ziele, nicht ohne einen mißbilligenden Blick auf Christina zu werfen, die – ihre Perlmutter-Haut im Abendlicht glänzend – eingehend mit Barbie-Puppen spielt.

Er bellt: »Kinder machen mich bei wichtigen Gesprächen nervös.« »Dann bist du hier am falschen Platz.«

Schon duckt sich der Bravouröse, gibt sich kleinlaut, auch unterwürfig, versucht vergeblich mit einem: »Jeder hat seine Schwächen ...« Unverzeihliches abzutun. Mit dem Zeigefinger stochernd hebt er aufs neue an: »Ich habe einen Intelligenz-Quotienten von einhundertfünfzig. Das ist Genie«, und nicht ohne Tücke: »Was ist deiner?«

»Bin ungetestet«, sage ich angeödet.

»Was du brauchst, ist ein Manager. Ich werde dir mein Genie zur Verfügung stellen.«

Perplex starren wir in verschiedene Richtungen. Ratlosigkeit nimmt Platz. Selbstherrlichkeit verschlägt allseits Atem.

»Natürlich«, leiert er unbekümmert, »brauche ich ab sofort Generalvollmachten. Ich sehe als erstes eine Las-Vegas-Show, dann einen Film, müßte natürlich brillantes Manuskript sein. Könnte ich schreiben. Doch Voraussetzung ist und bleibt: Generalvollmacht.«

Mein: »Wozu?« bleibt unbeachtet, ebenso Pauls: »Du hast von Hildes Berufen so viel Ahnung wie ich.«

Er reibt seine Hände, geht in Kampfstellung, Oberkörper vorgestreckt: »Mit einem I. Q. von hundertfünfzig gebe ich einen besseren Manager ab als ein Beschränkter, der dreißig Jahre in deiner Branche arbeitet.« Gänzlich von der Hand zu weisen ist das Argument nicht. Dennoch, Paul nimmt’s mir aus dem Mund: »Erstens braucht Hilde keinen Manager, zweitens: hör bitte auf, Hilde ›Hildi‹ zu nennen, drittens hat sie einen Buchvertrag unterschrieben.«

Die einstige Freundschaft ist im Begriff, sich in beißwütige Irritation zu verkehren.

Maxwells: »Das war bereits ein Fehler, den sie unter meinem Management nicht gemacht hätte« läßt mich krötig werden. Hier wird einmal wieder mit meiner Existenz Murmeln gespielt. Nicht, daß mir dies allzu neu, hatten sich doch Zahllose im Laufe meiner verschiedenen ›Karrieren‹ an Geld und Gut, Zeit und Einsatz vergriffen; hatten intrigant ihr Schäfchen ins trockene gebracht, mich auf eben solchem sitzen lassen; hatten meine Arbeitszeit genutzt, um ihre Profite ins Unermeßliche zu fingieren, schnöde auf meinem Rücken eigene ›Karrieren‹ aufgebaut, mich stets gemahnend, daß dies zu meinem Wohle, auch, daß ich – trotz bezahlter Hilfestellung – zu überschäumendem Dank verpflichtet sei: Das elende ›wie weitblickend ... wie gütig ... ohne Sie hätte ich es nie geschaffte‹ -Verhältnis, das allzu oft als Schwäche ausgelegt wird, treibt Maulwürfe ins Rampenlicht. Nunmehr hat sich ein Kanadier eingefunden, der mit gleicher Stimmgabel arbeitet. Das übelkeitserregende ›Déjà vu‹ krabbelt gleich Vogelspinnen. Eine Meute geschwätziger Besserwisser formiert sich zu dissonantem Chor, der Vergangenheit wie Gegenwart zersägt. Durch die Hauptstadtlosigkeit Deutschlands zum Provinzialismus verdammt, scheint jener unbequem, der den getrampelten Pfad umwandert. Im Land, zum ›Ländle‹ geworden, Konglomerat von Ortschaften, die sich als Metropole einstufen, ist ehedem der Künstler suspekt, oftmals abwertend mit ›labil‹ eingestuft, der ein unbeamtetes, rentenloses Dasein fristet. ›Labilität‹ scheint zuoberst in der Kartei der Künstler; rundum mißbilligt, wird Labilität gleich unbesonnen-leichtfertigem Anliegen verachtet, dem man jedoch bereits wieder die heimliche Reverenz des Mutes erweist. Zurück zum großen niederträchtigen ›L‹: Das gerechte Wort wäre: ›Sensibilität‹; doch im Umgang mit derselben scheint ohnehin ein küchen-, bierstuben- und redaktionsgeheimes Verrißlexikon zu existieren, denn siehe: ohne ›L‹ wäre der Ausübende unfähig, seinen Beruf – soweit er heute noch im Ländle als ›Beruf‹ gewertet wird – zu betreiben, auch nicht ohne eine handfeste Neurose, vielleicht gar ein Neurosensträußchen, das zum Beispiel die oftmals Gequälte herzinfarktnah an Premierenabenden Selbstmord planend taumeln läßt, um eine – zuweilen gute – Zweieinhalb-Stunden-Show abzuliefern, deren Textumfang die Hälfte der Zeterer nicht einmal auswendiglernen könnte. Doch ›Kultur‹ trägt dunklen Anzug plus Krawatte, und ist vor allem: ernst.

In meine Trübsal hinein vernehme ich: »Was ist das Thema des Buches?« »Geht das Interview weiter?« höre ich mich sagen. »Doch wenn’s dich interessiert: Parapsychologie.«

Maxwell höhnt mit sich auflösendem Mosaik-Gesicht: »Allmächtiger.« Tatsächlich hatte ich mich entschlossen, Interviews – das erste Mal auf der anderen Seite der Stange – zu machen. Gegenstand: täglicher Mißbrauch parapsychologischer Wörter, alsda: ›Charisma‹ – der oder die ›hat was‹, ›da kommt was runter‹, ›Austrahlung‹, ›Persönlichkeit‹, ›Aura‹; heruntergelabert, ohne Begriffe auszuloten. Meine Opfer: Kardinal König in Wien, Henry Miller, Bundeskanzler Kreisky, Françoise Sagan, Niki Lauda, Reinhold Messner ... ein vielfältiges Durcheinander, von dem ich Aufschlußreiches erhoffte.

»Unverantwortlich, wie du mit deinen Talenten umgehst«, ölt Maxwell, »du gehörst auf die Bühne, die große Show-Scene ...« und Honig in die Eitelkeit plempernd: »Mit diesem Gesicht gehörst du vor die Kamera, vor die Menschenmenge, nicht hinter eine Schreibmaschine.«

Er steht wie ein Sprecher, der irrtümlich auf gegnerischer Wahlversammlung geifert.

Schon gieße ich Essig in sein Öl: »Wozu brauchst du eine Generalvollmacht?« frage ich so gelassen wie nur möglich, auch infantile Neugier vortäuschend; katapultierte ich mich doch seit Jahrzehnten mit gegebenen Vollmachten von einer Katastrophe zur nächsten.

Maxwell versucht eine ›Achtzehnhundertlangsam‹-Verbeugung, flüstert, ganz ergebener ›Fan‹: »Ich werde dir eine märchenhafte Karriere aufbauen.«

»Ich kann das nicht mehr hören«, spricht Harriett begreiflicherweise, »ich muß mich manuell betätigen. Ich werde Molli entlasten und einen Truthahn machen; einen Truthahn, daß euch die Augen übergehen.« Molli gibt Zeichen, die darauf hinweisen, daß sie keineswegs ›entlastet‹ sein will. Ergeben zucke ich die Achseln, während Harriett, ein Portemonnaie wedelnd, hinauswippt.

Sie hinterläßt eine übellaunig in Schweigen verfallende Gruppe, die an Schauspieler gemahnt, denen der Text entfallen. Maxwell leert die Eierlikörflasche, Paul knatscht auf dem Filterende einer unangezündeten Zigarette, Molli sitzt mit gefalteten Händen, Esther kauert von einer Zimmerpalme verdeckt, einzig Christina bleibt in Bewegung, zieht Puppen aus und an.

Da detoniert Harriett ins Verstummte, rennt wortlos die Gasse zur Küche entlang. Das Brüllen der Türglocke läßt die gelähmte Truppe zusammenzucken. Ein Bote bringt, Verwünschungen murmelnd, auch Trinkgeld danklos hinnehmend, eine sarggroße Kiste, mit parapsychologischen Büchern vollgestopft, die mir mein derzeitiger Verlag zur Unterstützung angekündigt. Seit Kindheit bücherfanatisch, packe ich mit sich zusammenkrampfenden Wadenmuskeln – ein unabwendbarer Zustand in Bibliotheken – die Kiste aus, stapele Bücher und Hefte mit jener pedantischen Sorgfalt, die mir keinesfalls angeboren, in mein miesepetriges, zum Hof gelegenes Büro, das zweifellos ehemals eine der Beischlafkojen für zahlungsschwache Klienten gewesen. Dann troddele ich, durch heftiges Keuchen aus meiner Stapelei gerissen, in die Küche.

Sie gleicht einem Erdbebenzentrum. Harriett manscht grimmig in einer rot-braunen Masse, die sie mit ›Füllung nach eigenem Rezept‹ bezeichnet und die absolut nichtsversprechend aussieht. Sie schiebt mit dicken Fingerchen in schubbrigem Brei, in den zuweilen die Asche ihrer Dauerzigarette plumpst.

Daß Harriett zur Dogmatik neigt, war mir durch Pauls Berichte bekannt; so nehme ich von einem Küchenstuhl aus das Schlamassel betrachtend hin, daß sie zwischen Rauchen, Husten und Manschen zu einer Stakkatorede anhebt, die mit: »Psychoanalytiker sind meine Religion« beginnt. Und, mit dem Handrücken ihren wankenden Haaraufbau befühlend, weiterführt: »Ich halte nichts von Emanzen. Der Mann ist der Boss. Frauen waren nie glücklich, wenn sie nicht aufsehen konnten, ja: es ist geradezu schädlich, wenn sie nicht ein wenig Angst vor ihm hat.

Und merke: Schon die Genitalien: der Mann extern, die Frau intern. Es gibt zu denken ...«

Da ich gerade eine Ehe hinter mich gebracht hatte, in der ich den Mann zum Kaiser gemacht und der mich eines Tages nicht mehr für hoffähig befand, versinke ich nach Harrietts Enthüllungen in Grübelei.

Doch Harriett schnauft weiter: »Deutschland ist künstler- und kinderfeindlich. Sie schlachten ihre ›heiligen Kühe‹, haben die niedrigste Geburtenrate, die höchste Säuglingssterblichkeit der gesamten westlichen Welt, ersetzen Kind mit Auto, sperren ihre Alten in Heime; ausschließlich dem Anpassungswahnwitzigen und Lebenstüchtigen gebührt Platz. Der Weg zur neuen Herrenrasse ist bereits geteert ...« Und, keine Widerrede duldend: »Ich muß mich jetzt konzentrieren.« Mit einem bewundernden Seitenblick aus ihren dunklen Ösen: »Bist du schmal« bin ich entlassen. Im Wohnzimmer hat sich Esther – auf Maxwells Geheiß – darangemacht, Schallplatten zu sortieren, was jenen Raum in den Zustand eines Speditionskellers versetzt. Harriett hetzt hinternach, überhört Esthers klägliches: »Ich fühl mich nicht wohl in meiner Haut ...«, ruft herb: »Dann laß dich wenden. Wo ist der Pfeffer?«

Molli zieht mich vor die Tür, flüstert: »Ich fahr wohl besser für ein paar Tage zu meiner Schwester.« Ich glaube, in einen Fahrstuhlschacht zu fallen. Molli mißbilligt. Mollis Küche außer Rand und Band mit fremden Truthähnen. Endloses Bitten läßt sie die Notwendigkeit ihres Verweilens einsehen. Diese Schlacht geschlagen, setze ich mich mit Christina aufs Bett, spiele drei Runden ›Schlümpfe‹, höre aus Maxwells Tagesschlafzimmer heftige Rufe.

Es findet, wie Maxwell es bezeichnet, eine ›Konferenz‹ statt: Maxwell lagert im Sessel, Beine auf leerem Schreibtisch, eine ›Benson & Hedges‹ wedelnd. Paul tigert. Ich nehme auf italienischem Ledersofa Platz. Natürlich geht’s um ›Vollmacht‹.

Zurück im Schlafzimmer, rufe ich meinen Anwalt an, der die liebenswerte Gewohnheit hat, sich stets mit ›Mahlzeit‹ zu melden. Seinem Steno-Stil angepaßt, spreche ich: »Dawson will Vollmacht.«

Er: »Entlassen. Gestorben. Mahlzeit.«

Nie hatte ich: »Sie sind entlassen« ausgesprochen.

Also übe ich die drei Wörter gleich einem Sternheimschen Text. Um festzustellen, daß der in der Wohnung herrschende Irrwitz sich nicht auf weitere Stadtgebiete ausgebreitet, rufe ich einige Freunde an. Bei allen anderen scheint alles in Ordnung. Es gibt kein Leid zu teilen.

In der vorderen Diele stoße ich auf einen wütig-bleichen Maxwell. Hastig setzt er seinen Präservativhut auf, verläßt uns grußlos-türschlagend.

Achtundvierzig Stunden lang zieht laue Lebensfreude ein. Nur Esther sortiert und weint.

Meine Abneigung gegen ›Frau zu Frau‹-Gespräche überwindend, schiebe ich sie ins Schlafzimmer, frage neben ihr auf dem Bettrand Platz nehmend:

»Was ist geschehen, um den Liebenden derart lieblos zu machen?« »Weiß nicht.«

»Liebst du ihn überhaupt?«

»Weiß nicht.«

»Hat er schon damals soviel getrunken?«

»Weiß nicht.«

»Willst du nicht ein einziges Mal diese Wohnung verlassen, die Stadt ansehen?«

»Weiß nicht.«

»Wenn du einen Vater für deine Kinder suchst, ist Maxwell der falsche.«

Ein fünftes »Weiß nicht« läßt mich zu der Überzeugung kommen, daß Esther nicht gerade mit ›ergiebig‹ zu bezeichnen ist.

Mein nunmehr rammdösiges: »Kann ich dir irgendwie behilflich sein?« hat verheerende Folgen: Esthers Knoten löst sich vollends, feuchte Haare liegen gleich Schnürsenkeln kreuz und quer über seit einigen Tagen ständig welkendem Gesicht, ein markerschütternder Schluchzer, eine vornüberkippende Esther, die noch: »Ich kann nicht mehr« keucht, und die Ohnmacht ist vollkommen. Da kein Riechsalz zur Hand, auch sonst keinerlei Kenntnisse, wie mit Ohnmächtigen umzugehen, wird Hermann herbeigerufen. Kopfschüttelnd zieht er eine Spritze auf, verkneift Kommentare. Wenige Minuten darauf: Esther tränenäugig, doch wach.

Harriett gibt sich beinhart, zischt: »Genug gelitten. Ich kann Selbstzerfleischung nicht ertragen.« Und: »Hat dich mein Truthahn nicht ein wenig aufgeheitert?« Die ratlose Truppe anpeilend: »Habt ihr schon mal einen solchen Truthahn erlebt?«

Wir hatten nicht. Wie Kiesel liegt er im Magen und anderswo. Christina hatte ihn schnöde abgelehnt und Kalbsleber verlangt. So leiden wir durch frischen, dann aufgewärmten, schließlich zu Gulasch geschnippelten Truthahn.

Am Nachmittag des dritten maxwellfreien Tages erscheint jener ausgelassen, rotfleckig, pralinenverteilend, einen Karton mit Eierlikörflaschen hinter sich her zerrend. Ihm nach: ein schwammig-labbriger Mensch mit pickliger Weißkäsehaut, düster-dichtem Brauenbusch, der ungeteilt über eine niedrige Stirn verläuft, auch blauschwarzem Toupet. Es liegt gleich verstorbener Katze auf kleinmündigem Vierkantkopf, läßt ihn schlichthin albern wirken. Christina kichert hemmungslos und rennt – die Neuigkeit vermeldend – zu Molli. DerWeißkäsige reicht wortlos eine Hand. Sie glibbert hering-gleich durch meine. Flugs ölt Maxwell, Flaschen aus dem Karton zerrend: »Das ist -« Pause – »Waldemar Wabe.« Er sagt ihn an wie der Kleinstadt-Conferencier die Lokalprominenz eines Betriebsfestes. »Parapsychologiestudent. War in Freiburg. Wird dir behilflich sein. Zur Seite stehn. War im Begriff, nach Afrika zu reisen. Konnte ihn überreden. Er stellt sich dir vollkommen zur Verfügung.«

Mit gerecktem Genick spreche ich präzis, auch höflich: »Ich bin bereits durch meinen Verlag mit Fachmaterial bestens eingedeckt.«

Maxwell, unbeirrt: »Bin ihm in chinesischem Restaurant begegnet. Verstanden uns auf Anhieb.«

Der erste Eierlikör ist geleert. »Waldemar zieht Weißwein vor«, läßt Maxwell wissen.

Waldemar Wabe hat nunmehr Platz genommen, vermittelt den Eindruck, ihn nie wieder aufzugeben. Seine Haut ist zweifellos für seinen geräumigen Körper zu weit geraten. Er wabbelt weiß-käsig, quärrt mit Eunuchenstimmchen: »Ein weites Feld. Ein weites Feld...« und läßt die Augenbrauenbürste wippen. Ausschließlich die ›tote Katze‹ liegt unbeweglich.

Für einen Studenten scheint er leicht überaltert; ich schätze ihn auf Ende Vierzig.

Doch nun zerrt Maxwell den Unwilligen aus seinem Sessel, führt ihn ins ehemalige Beischlafstübchen, fingert in meinen Büchern herum. Waldemar Wabe wedelt mit pfannengroßer Weißkäsehand, quäkt: »Unnützes Material«, trottet mißmutig-quabbelig zu Sessel und Weißwein zurück. Harriett, wild paffend und an einem letzten Truthahnknochen nagend, rauscht herein. Diesmal ganz Lila mit Rüschenkragen und damit vollends halslos. Aus mißtrauischen Ösen prüft sie den Weißkäsigen, befiehlt: »Ich brauch dich in der Küche.« In der Gasse umarmt sie mich; ihr Haarturm vor meinen Augen, flüstert sie beschwörend: »Werde den los. Max auch. Den Persianer geb ich sowieso zurück. Läuft alles auf deine Kosten.« »Bin unfähig, sie rauszuschmeißen, und um der Wahrheit die Ehre zu geben ...«

Da fetzt Harriett: »Ab einem bestimmten Alter schuldet man niemandem mehr die Wahrheit« und hetzt ins Wohnzimmer. Ich hinternach. Der Weißkäsige sitzt gleich einem Fels. Das einzige Lebenszeichen ist die Pfannenhand, die zum Glase greift.

»Ich bin sehr dankbar für Ihre Hilfsbereitschaft ...« beginne ich planlos, verstumme angesichts des vorwurfsvoll Schweigsamen, wende mich Maxwell zu: »Esther war ohnmächtig.« Er befühlt die flache Stirn, hebt Augen und Gesicht gen Zimmerdecke, blökt: »Auch das noch.«

Da tobt zetert schrillt kreischt die Türglocke. Harrietts verlorener Koffer hatte ungeklärten Umweg über Istanbul genommen. Sie befühlt den Verwitterten gleich einem Tiefseetaucher den versunkenen Schatz. Da erkenne ich in düsterer Dielenecke: Esther.

»Ich reise ab«, flüstert sie tapfer-aufgerichtet. Doch schon folgt tränen - nahes Bibbern: »Maxi hat sich so verändert ...« Worauf Harriett: »Das einzig Beständige im Leben ist die Veränderung« philosophiert.

Die offenstehende Wohnzimmertür gibt Maxwells Beine, auch Profil frei. Durch Getuschel in seinem – an den Weißkäsigen gerichteten – Monolog gestört, wendet er den Kopf. Der schiefe Mund wird senkrecht, ächzend erhebt er sich, trottet dröhnend in die Diele, räuspert sich ausgiebigst, puhlt in einem Vorderzahn, nuschelt, das Tapetenmuster anpeilend: »Gute Reise.« Kehrt um. Mein Wunsch, ihm das Hirn zu spalten, macht der Erkenntnis Platz, daß seit geraumer Zeit mein oftmals gefürchteter Jähzorn eingeschlummert; durch Monate der Wirrnis elegisch-entmutigt, ja sogar: duldsam, freudenleer, gebe ich den schlottrig gewordenen Versuch, die einstige wiederzuentdecken, beinahe gleichgültig auf.

Esther flüstert: »Ich muß meine Identität wiederfinden.«

Harriett: »Dann such mal schön«, umklammert sie gleichzeitig mit rüsseldicken Armen, schnieft: »Sie könnte meine Tochter sein ...«

Das Angebot, sie zum Flughafen zu begleiten, läßt Esther flattrig werden. Das leise Stimmchen wird schrill. Auf der Stelle will sie uns loswerden, in Bausch und Bogen.

Genickstarre setzt ein: mein Kopf bewegt sich zentimeterweise zuckend nach rechts, dann links, so also zucke ich ins Wohnzimmer. Maxwell lümmelt, suckelt am Eierlikör, grient: »Ein Irrtum.« Waldemar Wabe sitzt wie eingegipst.

›Ich brauche mir von mir nicht alles gefallen zu lassen‹, kaue ich in mich hinein, doch da grinst die als Höflichkeit getarnte, belämmerte Angst. Ich starre zu Boden, werde mir der glimmenden Zündschnur, die zur Bombe führt, bewußt.

Weißkäse hat die Augen geschlossen.

»Er meditiert«, spricht Maxwell, feilt mit Taschenfeile Daumennagel. »Ich brauche den Raum. Habe Fotografen für Titelbild zugesagt.« Ich spreche, wie ich zucke.

Maxwell, der ›Manager‹: »Welches Blatt?«

Mein: »Kennst du sowieso nicht« läßt ihn bremsig weiterfeilen.

Diesmal klopft es. Der ›Visagist‹ ist feinnervig, mein Bimmelhorror ist ihm bekannt. Raimond heißt er, legt Wert auf französisch gesprochenes ›Rämong‹. Er wedelt herein. Overall, Reißverschluß bis zum gebräunten Bauchnabel geöffnet, schleppt er zwei Krokodilledertaschen, in denen sich Schminktöpfe stapeln, fliegt, dennoch kaum den Boden berührend, ins Wohnzimmer, kreischt: »Hallo, hallo«, schiebt mich kurzerhand ins Bad, blickt strafend: »Du siehst aus wie Ida Putenschlund. Wer ist der Fette mit der Badematte aufm Dätz und die Eierlikörtucke?«

»Wieso Tucke?«

»Pah ... der kann mit der flachen Hand bügeln.«

›Rämong‹ entgeht wenig, bestätigt, was ich ahne.

Er krabbelt sein blondes Wuschelbärtchen, klappert mit langen Lidern, verschlingt die Hände vor dem Geschlechtsteil, als müse er dringlichst eine Toilette aufsuchen, spricht: »Nun werden wir mal einen Star aus dir machen«, und dreht die Handbrause auf.

Mein Kopf über der Wanne, vernehme ich Harrietts zappliges: »Können Sie etwas für mein Gesicht tun?«

»Enthauptungen sind nicht vorgesehen.« Für einen Witz verkauft er Großmütter. Harriett kichert anhaltend und keineswegs beleidigt. Mein Kopf, plötzlich losgelassen, rutscht in die Wanne; mich emporziehend, sehe ich zwischen nassen Haaren ›Rämong‹ an Harrietts Haarbau fummeln, höre ihn flöten: »Wieviel Eier wurden hier schon ausgebrütet?« Und mit einem »Einfach grauenvoll« planscht er Shampoo auf mein Haupt. Harriett hat sich auf den geschlossenen Klosettdeckel gezwängt, der prompt zerspringt.

Nachdem er mich wie einen Hund abgerubbelt, klappt er den Kragen seines Overalls hoch, zieht den Gürtel fester, hebt die Brauen, zeigt ein untadeliges Bild homosexueller Schönheit, sagt: »Bin ich nicht wahnsinnig? Natürlich viel zu teuer. Heute ist sowieso schwarzer Vorderzahn, Hängearsch, sechs Schmalz-Strähnen, Pickelhaut und unrasiert in. Aber ich war in Paris, am AAsch de Triomphe‹, Gott ...« ›Gott‹ donnert über den Hof, läßt selbst den Gitarrenspieler aufgeben, »war ich ein Erfolg. Da sieht man’s wieder. Bei uns bürgerlicher Muff. Bordsteine um acht hochgeklappt. Ich hasse bürgerliches Gefummel, insbesondere bürgerliche Tunten.« Er zupft sein hellblondes Haar, hält mit feingliedrigen Fingern die Nasenlöcher zu, spricht nasal: »Am schlimmsten ist es, wenn sie kocht und Gardinchen näht. O Gott.« Bei ›O Gott‹ bricht er auf dem Wannenrand zusammen, rafft sich wieder auf, spricht streng: »Zur Sache«, kleistert mir flugs eine Gesichtsmaske auf.

»Was ist mit deinem Freund?« frage ich unter dem Kleister. Harriett betrachtet ›Rämong‹ neugierig-japsend. »Freund Freund Freund.« Jedes ›Freund‹ wird einen halben Ton höher gesetzt. Und zu Harriett, sein schmerzverzerrtes Gesicht hinter einer Hand verschwinden lassend: »Ich hatte einen ›jogging-freak‹. Der joggte sich dumm und dösig. Abends joggten wir gemeinsam um den gesamten Schlachtensee herum. Was tut man nicht alles aus Liebe. Hab mir die Lunge ausgejoggt. Trinken durfte ich nicht. Rauchen sowieso nicht. Ausschließlich joggen. Zu was führt das: Soll er doch alleene joggen. Bitte.« ›Bitte‹ schmettert wiederum durch den Hof, läßt einige Rentnerköpfe pendeln.

Wir quetschen uns wie an Neckernanns Badestrand. Da das alte Berlin nicht viel vom Baden gehalten, haben riesige Wohnungen kümmerliche Badekämmerlein und eine nach Kriegsende hastig installierte Brause, deren Kacheln von den Wänden fallen.

›Rämong‹ wickelt meine Haare auf, kichert: »Seit meinem bestußten Jogger esse ich à la carte. Na bitte ...« Da steht Maxwell in der Tür, spricht, vom Eierlikör schwerzüngig: »Waldemar muß dich sprechen. Während der Meditation hatte er Eingebungen. Wichtige Kommentare zu deinem Unterfangen.«

»Jetzt nicht.«

»Er steht ganz zu deinerVerfügung.«

»Unnötig, daß sich jemand zu meiner ›Verfügung‹ stellt.«

Mit: »Wir meinen es nur gut«, schaukelt er von dannen.

Von einer meilenlangen Kette von ›Gutmeinern‹ ausgenommen, schlichtweg betrogen, pappen meine Lippen zusammen, Schneidezähne stumpf. Rundum sprechunfähig.

Ich höre ›Rämongs‹: »Wer ist denn diese Qualle?«

Ich nuschle einmal wieder: »Später« und lasse nur eine Wimper aufs linke Augenlid kleben.

›Rämong‹ zaubert aus zahllosen Näpfen, verweist mich, als ich: »Diese Hitze ...« stöhne, mit: »Eine schöne Frau schwitzt nicht, eine schöne Frau friert nicht, eine schöne Frau muß nie aufs Klo.«

Gleichzeitig Gekreisch, das die Fotografen ankündigt.

›Rämong‹ macht eine vollendete Ballettpose, flötet, mich abschätzend: »Na bitte. Der Neid soll sie fressen.«

Weißkäse meditiert nicht mehr, dafür leert er die zweite Flasche Wein. Seine Haltung ist die gleiche wie vor drei Stunden.

Bei Maxwells Anblick überfällt mich Beklommenheit.

»Gelöster«, sagt der Fotograf zu Recht. Er will Christina fotografieren. Sie will nicht. Ich auch nicht. Vermeckert zieht er von dannen, wird mit Sicherheit die miesesten Fotos aussuchen.

Waldemar Wabe quäkt: »Auf den Philippinen gibt es einen Wunderheiler. Er preßt seine Hände auf Wunden, die sich augenblicklich schließen.« Er legt die weißen Pfannen zusammen, als wolle er beten: »Sie müssen, um die rechte Einstellung zu haben, dorthin fliegen. Ebenso nach Katmandu. Maxwell und ich werden Sie begleiten. Ich könnte mit wenigen Mitteln einen Film über unsere Erfahrungen drehen. Habe bereits einige gemacht. Bin Jungfilmer. Nebenbei. Leider ungeschickt, ja geradezu hilflos im Umgang mit Geld.« Erschöpft von der Ansprache greift er zum Glase, leert es, sitzt eingegipst.

Die Katze ist aus dem Sack: Sie planen eine Weltreise plus rentennahem Jung-Filmchen, auf meine Kosten. Versteht sich. Maxwell grapscht eine Hand, hält sie fest im Griff, flüstert, mein linkes Ohr anpeilend: »Ist das nicht eine famose Idee?«

»Nein«, sage ich und versuche die Hand zurückzuerobern.

»Ich habe kein Interesse an derartigen Ausflügen. Ich plane, Prominente zu interviewen. Nicht mehr. Nicht weniger. Außerdem lasse ich Christina nicht allein.«

Maxwell, ganz Missionar, ölt: »Kurzsichtig, kurzsichtig, meine Liebste. Ein Weltprojekt liegt dir zu Füßen«, und auf einem Atem weiter ölend: »Um alles in die Wege zu leiten, brauche ich selbstverständlich eine Vollmacht. Das siehst du sicher ein.«

Stumm verlasse ich den Eingegipsten, der: »Man sieht sich ...« quäkt, auch Maxwell, der mit hüpfendem Adamsapfel Eierlikör leert. Keineswegs damenhaft: Himmel, Arsch und Zwirn – denke ich –, du hast den Krieg überlebt, Bomben, Hunger, Typhus, russische Kriegsgefangenschaft, Flucht. Hast den Nachkriegsfilm aus der Taufe gehoben, Barlogs Berliner Schloßpark-Theater eingeweiht, wurdest mit grandiosen Kritiken überschüttet, warst Idol und Schauspielerin zugleich. Hast Hollywood paß- und geldlos dreieinhalb Jahre abgesessen, als Deutsche etikettiert. Warst den Deutschen – kaum zurückgekehrt – in Melodrama-Film, ›Die Sünderin‹ betitelt, genehme Beute, die nach ›Sieg heil‹, Mutterkreuz, ›Wollt Ihr den totalen Krieg?‹ das Reinheitsgefühl der deutschen Frau beschmutzt. Hast danach als einzige Deutsche am Broadway gespielt, zwei Jahre lang allabendlich drei Stunden umjubelt gelitten. Warst, als du deinen noch verehelichten zweiten Mann kennengelernt, mit ihm zusammengelebt, auf heimlich schwarzer Liste der deutschen Filmindustrie gelandet. Konntest bierbäuchigen Puritaner-Schmäh in sogenannten ›Offenen Briefen‹ in zahllosen Zeitungen lesen, wiederum als ›Sünderin‹ abgestempelt. Hast dich freigestrampelt, Preise eingeheimst. Neues Metier des Chansons aufgetan, als erste eigene Lyrik gesungen, hast Millionen von Platten verkauft, Tourneen gemacht, die kaum ein Hochleistungssportler überstanden hätte. Hast einen weltweiten Bestseller geschrieben, ihm ein zweites – wiederum angegriffenes, zuweilen gelobtes – Buch folgen lassen. Hattest oder hast eine Krankheit, vor der Millionen bibbern; kennst Krankenhäuser wie Reisevertreter Hotels, hattest an die sechzig Operationen. Hast eine Tochter, die du liebst, die dich liebt und um die du nach durchlittener Scheidung gekämpft, mit Geld, Anwälten, Pfeil und Bogen, Tellerminen, Handgranaten. Selbst das Jugendamt hatten sie dir auf den Hals gehetzt: zwei mickrige Vögel – ein weiblicher Geier, ein männlicher Wellensittich – saßen da, im Hotel Kempinski – saßen und fragten zweieinhalb Stunden lang, ob das Kind genug Schlaf, genug Essen, genug Schule, Kleidung. Waren abgezogen, ohne sie jemals gesehen zu haben. Anschließend warst du der Länge nach hingefallen. Bundesverdienstkreuzträgerin Erster Klasse im Kreuzfeuer des Jugendamtes.

Ich hasse die Zahnstocher der Menschheit, die Neidvollen, die nicht einmal wis sen, auf was sie neidisch, jene Besserwisser ohne Wissen, die Sokrates für eine Eis diele halten, von seinem ›Ich weiß, daß ich nichts weiß‹ unbeleckt geblieben; hasse ihre giftigen Blicke, brägenklötrigen Fragen.

Nein: geändert habe ich mich nicht. Ich kann noch hassen. Und ich hasse, daß ich es kann.

Noch einmal lüpft der Scheidungsdrache sein Haupt: Schicksalsschläge – oder was man dafür hält – machen keinesfalls weise: nurmehr banal, trantütig-einsichtig, wo’s nichts einzusehen gibt. Haß wird zu mickrigem Rinnsal in der Jauchegrube voll des Selbstmitleids.

Wie immer stehe ich fassungslos vor der emsigen Betriebsamkeit, die Menschen seit Urzeiten entwickeln, um sich die ohnehin kurze Spanne ihres Lehens zu vergällen.

Ich geh ins Bad, wasche Flüssigkeit vom Gesicht. Tränen sind es nicht. Es läuft, als uriniere ich.

Ich zerfetze den lappigen Vorhang, sitze für den Rest der Nacht auf Bettkante und rauche.

Am nächsten Morgen ist Herbst.

Die Blätter abgefallen, weggeweht, der Himmel – soviel man von der Wohnung aus sehen kann – grau-braun. Der Wind läßt Fenster klappern, Türen schlagen.

Harrietts Urlaub ist vorüber. Koffer werden gepackt, Paß Brillen Haarspray gesucht. Der Persianer bleibt im Karton.

Sie nimmt die Frühmaschine. Ihr Abschied überfällt die schläfrige Truppe gleich einem Tornado: da wird geknüllt geknuddelt gemahnt gequetscht gelobt, während sie zum -zigsten Male: »Ich mach mir Sorgen« hämmert. Nun taucht Maxwell auf, läßt nicht locker, will Abschieds-Spalier in Tegel bilden, auch Zwiegespräch verhindern. Während Paul wütet, ihn in Wüste, Klapsmühle, Orkus verwünscht, steht jener bereits vor Haustor, Präservativhut in Händen.

Zwei Stunden später kehrt ein kalkweißer Paul minus Maxwell heim. Begonnen hatte es auf der Rückfahrt:

Erste Frage: »Wie kommst du dazu, Harriett einen Pelz zu schenken?« Maxwell: »Ich mache Freunden Freude.«

»Auf Freundes Kosten.«

Da klickt’s, schnappt über, rastet aus, dreht durch, rammt Schädel gegen Autodach, greift selbst ins Steuerrad, läßt Wagen gegen Leitplanke donnern.

Paul bremst, brüllt zwischen hupenden Wagen, fluchenden Fernfahrern: »Und was ist mit der brandneuen Rolex-Uhr? Der Weißgoldbrille? Waldemar Wabe? Vollmachten? Du treibst krumme Spiele. Dein Plan, mich zum Komplizen zu machen, schlägt fehl.«

Am nächsten Rotlicht stürzt Maxwell aus zerbeultem Wagen.

Ich rufe René an, Christinas Pate, Schweizer Bankier, vormals literarischer Agent, vormals Psychiater, vormals Gammler in Portugal. Reaktionsschnell, gleich ›Mahlzeit‹-Anwalt, unterbricht er meinen gehetzten Stuß, spricht: »Ich werde ihn auschecken lassen.«

Eine Woche darauf kommt die niederschmetternde Nachricht: Maxwell Dawson: Friedenskämpfer, brillanter Dozent, Referenzen unantastbar. Unsere Reaktionen sind mit ›zur Verzweiflung neigender Nachdenklichkeit‹ zu bezeichnen.

Der ›Friedensstifter‹ schmollt auswärts.

An einem nunmehr fast winterlichen Abend, an dem des klapprigen Hauses Heizung ausgesetzt, tritt er auf. Nagelneuer Wintermantel, Handschuhe und Schirm, Waldemar Wabe im Schlepptau. Er pafft, siegessicher um sich blickend, während sich Weißkäse plauzbäuchig in ›seinen‹ Sessel zwängt, gußeisern, die Pfannen zusammenlegt, Weißwein verlangt. Max-well hat bereits Eierlikör zur Hand. Ich glaube, eine unrentable Kneipe zu führen.

Waldemar quäkt,die ›tote Katze‹ nach hinten verschoben:»Ich habe mich entschlossen,dieAufstellung der Fragen Ihrer Interviews zu formulieren.« »Das ist meine Sache. Außerdem strebe ich kein Frage-Antwort-Spiel an.«

»Das Feld der Parapsychologie ist zu umfassend. Durch dürftige Literatur können Sie unmöglich die Ernsthaftigkeit und Bedeutung begreifen.« »Ich habe die ›Literatur‹ nicht einmal gelesen.«

Waldemar schnurrt selbstgefällig. »Nun ja ...« quäkt es aus Stummfilmkinomündchen.

Ich verlasse den Eingegipsten unter dem Vorwand, Christina baden zu müssen.

Eine Stunde darauf gehe ich in mein Kleinstbüro, suche Buch, Brille, Notizblock. Doch da sitzt Maxwell, weintraubenknatschend. Er rückt seinen Stuhl vor die Tür, sperrt mich ein, reißt Traube um Traube, seine Backen froschgleich aufgeblasen von Ungekautem, stiert mich an. Das Tempo der Traubenfresserei steigert sich angsterregend. Weingerippe liegen auf Boden und Tisch. Eins baumelt an Jackenärmel.

Furcht krabbelt hoch. Physische Bedrängnis drosselt Widerstand. Da greift er zielsicher zum Brieföffner, ritzt tiefe Kreuze in Tisch. »Laß das«, will ich sagen. Kann nicht. Sehe Brieföffner in meiner Brust. Ein autoritäres: »Ich möchte augenblicklich gehen« läßt ihn, soweit möglich bei unzermanschter Traubenzahl, schief-hämisch grinsen. »Nicht ohne Vollmacht.«

Er fletscht die Zähne, legt Grün-Rotes frei. Der irrstarre Blick weicht nicht von meinem Gesicht. Unvermutet springt gewürgter Zorn aus meiner Kehle: »Wenn ich nicht sofort hier rauskomme, schreie ich um Hilfe.«

Schon duckt sich der Friedensstifter, sammelt Weintraubengerippe auf, wirft sie säuberlich in Papierkorb, flüstert demütig: »Wir sind doch Freunde«, gibt Weg zur Tür frei.

In selber Nacht zieht er aus. Reißt Kartons von Schränken, wirft den erheblichen Zusatz des einstigen Wüstengepäcks hinein, knallt die Tür, nicht ohne Schlüssel mitgenommen zu haben.

Am nächsten Morgen wird das Schloß geändert.

Christina jubelt.

Rummelplatz hinter der Gedächtniskirche. Der Besitzer schenkt Christina einen Siamkater. Obwohl ihr Glück vollkommen, signalisiert mein Hirn Fieses.

Maxwell – so stellen wir fest – hat Adreßbuch, auch Scheckheft mitgehen lassen. Adressen, Telefonnummern von Bundespräsidenten, Bundeskanzlern, Verteidigungsminister, Bürgermeistern, Polizeipräsidenten, Verlegern, Schriftstellern, Schauspielern, Regisseuren, geschiedenem Ehemann, fast sämtlichen in- und ausländischen Chefredakteuren, Televisions- und Schallplattenbossen, Ärzten, Industriellen, Freunden, Nachrichtenagenturen.

Punkt sieben Uhr abends kommt der Anruf. Paul gibt Zeichen, den Mithörapparat aufzunehmen.

Maxwell, kühl-gelassen, »Hast du Papier und Stift? Ich diktiere: Erstens: Verlange eigene Wohnung, zweitens Sekretärin, drittens Gehalt zweier Semester eines Dozenten. Ergo: Einunddreißigtausendfünfhundert D-Mark plus prozentueller Beteiligung an Hildes Arbeiten. Natürlich Vollmacht. Ansonsten werde ich innerhalb achtundvierzig Stunden eine Pressekonferenz einberufen:

Trunkenheit am Steuer, Homosexuelle in Kindesnähe, unverehelichtes Zusammenleben, Sex-Orgien, Drogenmißbrauch ... Die deutsche Presse frißt alles. Beweisen könnt ihr nichts. Ich benötigte nicht lange, um herauszufinden, daß in diesem Land die ›öffentliche Person‹ von jedem Portier diffamiert werden kann. Ich hingegen bin Dozent, und mein demütiges Gesicht wird mir viel viel Geld einbringen.«

Ich höre Paul eine geschlagene Stunde lang brüllen. Während ich meine ansonsten ruhigen Hände im Zitterzustand betrachte, sehe ich mich in brodelnden Kratersee gleiten, höre noch: »Christinas Vater wird sich freuen. Ein neuer Prozeß ums Sorgerecht, das notwendige Geld, sie zu behalten, sollte Hilde nachdenklich machen. Steht doch in keinem Verhältnis zu dem, was ich verlange.« Er legt auf.

Wahnwitz kriecht aus Ecken, die Wand weist sich ständig erweiternde Risse auf. Mund trocken, Zunge am Gaumen klebend. ›Menschenkenntnis‹. Wer kennt wen? Wer kennt sich?

Die einst so bedingungslos Trauende traut niemandem, rutscht in den Reißwolf ohnmächtigen Zorns. Ich sitze angekleistert wie der ›Weißkäse‹. Mund offen. Zwei, drei Hunde geifern.

Ich verwähle mich mehrmals, erreiche endlich meinen ›Mahlzeit‹-Anwalt. Sätze purzeln, Wörter stolpern. Ein: »Der Reihe nach« macht mich halbwegs sprechfähig.

»Sofort Einstweilige Verfügung. Wahrscheinlich Vergleich.«

»Wofür?« kreische ich.

»Für einen Erpresser. Willst du noch mehr Skandale? Widerrufe unter ›Wellensittich entflogen‹? Einem ehemaligen Uni-Professor, noch dazu einem ausländischen, würde man sowieso mehr Glauben schenken als einer geschiedenen Frau, die der einheimischen Presse geldbringende Headlines präsentiert. Mies. Und noch mal: mies. Aber: Mahlzeit.«

Justitia, die Zerzauste, zuschelt zahnlos: »Pressefreiheit ist deren Freiheit. Doch Freiheit ohne Verantwortung ist keine. Ball der unantastbaren Schadenfreuden-Mannschaft.

Du bist suspekt. Du teilst nicht Auto-Mallorca-Rente-Ziele. Unsere Demokratie ist ein dreißigjähriger Embryo. Maßstäbe sind hauptstadtlos. Ein Phantom, das an jeder Leitplanke hochtrabende Sprüche kotzt. Kein Land druckt derart zahllose Wochenblättchen. Erziehungshefte für geifernde Zeterer und Neider. Zur Sache: Außer du kannst beweisen, daß ein bereits bestehender Vertrag eines negativen Artikels wegen gelöst wurde, bleibst du: Karnickel im Fangeisen.«

Um Mitternacht klingelt’s. Da steht Freund John. Erz-Amerikaner. Nur zu grauenhaften Zeiten sichtbar, dann wieder spurlos verschwindend. John war der erste amerikanische Journalist im 1945er Berlin gewesen. War ›Newsweek‹-Korrespondent, wurde Berlin-närrisch. Blieb. Schreibt Bücher. Artikel. Ist irischer Herkunft und erzkatholisch, ehrlich und einsam. Als ich zehn Monate im Krankenhaus lag, rief er mich jeden Tag an. Erst in Basel. Dann in Salzburg. Einmal waren wir in die DDR gefahren. Stundenlang hatten sie uns gefilzt. Als die Theatervorstellung, die wir besuchten, vorüber war, standen Tausende um mich herum, weinten, baten um Autogramme, umklammerten meine Hände. Die Vopos glotzten hilflos. John genoß von einem Mauervorsprung aus das staatliche Mißbehagen. Mindestens zweihundert Menschen brachten uns zum Bahnhof Friedrichstraße, als unsere zwölfstündige Aufenthaltsgenehmigung abgelaufen. Im Westen angelangt, sagte John: »Jetzt kann ich’s gestehen. Ich hatte die MP, den CIA und alles, was Beine hat, mobil gemacht. Wenn wir nicht mit dem Zug angekommen wären, hätte es ein Höllentheater gegeben.« Er hatte sich meinetwegen eine gute news-story vermasselt. Am liebsten sprach er über Mauersegler und Preußens irrwitzige Geschichte, die er besser kennt als sämtliche Preußen zusammen.

John trottet mit gebeugten Schultern, altmodisch glattgebürstetem Haar, Schlips, Kragen, dunklem Anzug auf die Couch zu; sein Gesicht in erbärmliche Falten gelegt, brabbelt er: »Ich brauch einen Whisky.«

John läßt sich Zeit, zündet eine Zigarette an, seufzt, reibt seine gutgeformte Nase, sieht mich endlich an, fragt:

»Kennst du einen Mann namens Dawson oder so?«

»Leider.«

»Ich traf ihn in meiner italienischen Pinte. Er quatschte mich an, als er hörte, daß ich mit einem Kollegen englisch sprach. Machte erst ganz vernünftigen Eindruck. Bißchen zu devot. Friedenssprüche leiernd. Nach fünf Eierlikören: ausgesprochen xanthippisch. Ist der schwul?« fragt John, ohne eine Antwort abzuwarten. »Plustert sich als dein Manager auf. Würde viel Geld an dir verdienen. Auf Goldgrube gestoßen. Heute kam er später als sonst. Sturzbetrunken. Eine billige Mieze am Arm. Verkündete, daß du jemanden suchst, der deinen geschiedenen Mann umbringen sollte.«

Wir sitzen, starren in verschiedene Richtungen wie Menschen, die sich in einer U-Bahn begegnen. Der beklemmende Wunsch, sofort auszusteigen, wird unerträglich. Aus dem Nachtlokal dröhnen die Verstärker der Bässe.

»Warum sollte ich ihn umbringen wollen. Ich habe ihn geliebt. Er ist der Vater meiner Tochter. Was um alles in der Welt ...« Ein Schluchzer scheint mich auseinanderreißen zu wollen. Er bebt von den Schultern bis zu den Beinen. John hält mir sein Glas an den Mund. Ich verschlucke mich. Aus Keuchzen wird Weinen. Es rüttelt unaufhörlich. Endlich gelingt es ihm, mir den Whisky einzuflößen. Er schüttelt seinen schmalen Kopf.

Augen, die nichts mehr überrascht. Augen, uralt, die zu viel gesehen; nachdenklich, müde, nicht geschaffen für die Computerkälte des neuen Journalismus.

Er wartet das langanhaltende Quietschen mehrerer Autobremsen ab, sagt mit dem Anflug eines Lächelns: »Deine Menschenkenntnis ist überwältigend. Dein Glück desgleichen. Wo und wie ist es dir gelungen, das Schwein aufzutreiben?«

»In der Wüste.«

Ich berichte hastig-ungenau, habe das Bedürfnis, mich aufzulösen.

Selbstmitleid krabbelt wie Wanzen.

»Ruf deinen Anwalt an. Sofort«, befiehlt John. »Ich bin dein Zeuge.« Mein ›Mahlzeit‹-Anwalt hat eine unruhige Nacht.

Bevor ich wähle, sage ich lahm: »Das Leben ist zu kurz, um mißtrauisch zu sein.«

»Das Leben ist zu lang, um nicht mißtrauisch zu sein«, sagt John. »Doch was ich nicht begreife, ist der eskalierende provinzweite Haß.« Er kratzt seinen Kopf, durchkämmt das schüttere Haar mit schmalen Fingern. »Was tust du ihnen an? Außer sie im Ausland beliebter zu machen, als sie es verdient hätten. Deine Berufe bestehen aus Unterhaltung. Oder? Du schreibst. Du spielst. Du singst. Schreibst eigene Texte. Bist vielseitig. Pünktlich. Professionell. Und sie behandeln dich, als hättest du ihren Krieg verloren. Du hast Millionen verdient, Millionen verloren. Dank deiner Gutgläubigkeit, um nicht zu sagen Dämlichkeit, und dank deiner Manager, Agenten oder wie immer sie sich nennen. Ich möchte nicht wissen, wie viele Familien von deinem Geld leben.« Er schwappt den Whisky ins Glas. Schüttet ihn pur. Nie zuvor hatte ich ihn zornig gesehen.

Ich sage: »Maxwell wittert, daß gerade jetzt meine Toleranz Gleichgültigkeit ist und meine Nachsicht Schwäche. Während ich arbeitete, hatten die Plünderer ausgiebig Zeit, sich auszudenken, wie das erarbeitete Geld in ihrer Tasche landen könnte. Es bedarf keines Genies, um zu erkennen, daß ich mit Geld nicht umgehen kann. Als ich mein erstes verdiente, konnte ich es an die Wand kleben. Rationsmarken waren wichtiger. Später: Zigarettenwährung. Und als ich nach Amerika kam, hatten wir gerade genug, um zu essen. Und als ich endlich Geld verdiente, kamen die emsigen Manager. Und die sagten: Du stehst morgens um vier Uhr dreißig auf, drehst einen Film nach dem anderen. Die Sonntage sind zum Ausschlafen da. Deine Geldangelegenheiten sind unsere Sache. Vertraue uns. Wir haben die besten Anlagen in der Schweiz. Sie wedelten mit Bündeln engbedruckter Papiere. Daß sie nicht meine waren, erfuhr ich später. Doch Vollmachten bleiben Vollmachten, und pleite, wie ich war, wußten sie nur zu genau, daß ich keinen langwierigen Prozeß beginnen konnte.

Jahrelang hatten sie keine Steuern bezahlt, hinterließen mir 250.000 Dollar Schulden. Als amerikanische Staatsangehörige, die ich war, keine empfehlenswerte Eintrittskarte. Beim nächsten hielt ich mich für überschlau: ich nahm einen Anwalt. Gute Firma, guter Name. Drei Jahre darauf: das gleiche. Heute lebt er in Venezuela. Die Aufzählung meiner Berater würde bis zum Morgengrauen andauern. Und Tonio konnte zwar sparen, aber von großen Anlagen, die er natürlich selbständig tätigen wollte, hatte er keine Ahnung.«

Ich finde es ekelhaft, daß ich weine. Die Tränen hopsen angestrengt wie in schlechten Filmszenen. Sie gelten kaum noch Dawson und seinen Vorgängern. Sie sind ein quälender Epilog und gelten einer siebzehnjährigen Geschichte, die Hilde und Tonio heißt.

Er war sechsundzwanzig.

Ich war dreiunddreißig.

Meine Mutter sagte, er sei zu schön und zu eitel.

Mein Bruder sagte, er sei unmännlich.

Da er verheiratet war, schrieben die Zeitungen, daß unser Zusammen - leben eine nationale Schande sei.

Es schien eine bemerkenswerte Vergeßlichkeit zu herrschen, insbesondere, wenn es sich um die Unlöblichkeit der deutschen Vergangenheit handelte. Ein Film, den ich sieben Jahre zuvor gedreht und in dem ich meinen nackten Körper sechs Sekunden als Malermodell bestaunen ließ, löste hysterisch-hemmungslose Proteste aus, was einigermaßen erstaunte, waren doch kaum fünf Jahre seit Maidanek, Auschwitz, Bergen-Belsen, Dachau, Treblinka vergangen. Pfarrer litten unter Herzinfarkten, Kinos brannten, von Kanzeln wurde ewige Hölle verordnet, sollte nur einer der Gemeinde wagen, sich dieses Machwerk undeutscher Kunst anzusehen. Stinkbomben prasselten gleich Hagelkörnern, Krawallmärsche waren Tagesordnung. Der Skandal machte den Produzenten reich und mich lächerlich. So tröteten sie wochen-, ja monatelang, daß ich der Ehre der deutschen Frau ins Gesicht geschlagen. Nazi-Vokabular stieg auf, gleich unverdauter Fischsuppe.

Nach dem Tonio-Aufruhr bekam ich keine Rolle mehr.

Ich stand auf der gefürchteten schwarzen Liste der allmächtigen Filmverleiher.

Wir waren pleite.

Es war uns egal – nicht ganz – doch beinahe.

Er kam aus Londons East End. Kannte sich in Armut aus; mit jener verglichen, lebten wir im Luxus. Er hatte in der Provinz gespielt und einmal in London. Er lernte rasch und viel. Auch Deutsch. Er sagte, ich sei begabter als er. Er würde mich führen. Stücke aussuchen. Auf Tourneen gehen.

Wir bauten aus Schutt ein ansehnliches, wenn auch anstrengendes Leben. Es war das erste Mal, daß ich eine Ahnung von dem bekam, was andere mit ›Glück‹ bezeichnen. Er vermittelte mir das kuschlig-geborgene Gefühl, auf seinem Schoß zu sitzen. Ein Freund sagte, ich müsse früher als Tonio sterben. Ich würde seinen Tod nicht ertragen. Ich gab ihm recht. Tonio lächelte. Er lächelte fast immer. Sprach wenig. Lachte nie. Ich apportierte Erfolge wie der Hund den Knochen.

Meine Mutter starb.

Ein halbes Jahr später willigte seine Frau in die Scheidung ein. Wir heirateten.

Mein Bruder kam nicht.

Wir lebten bei München. Am Starnberger See. Ich drehte wieder Filme, machte Schallplatten, Fernsehshows. Er stand in den Studios, höflich, zurückgezogen, unauffällig, obgleich zwei Meter lang. Wir hatten unsere Zeichen, wann ich gut, wann ich schlecht gewesen war. Ich schrieb Texte. Texte für ihn. Er machte Mut

Er wurde mein Regisseur, obgleich er nie zuvor Regie geführt hatte. Er wurde mein Schallplattenproduzent, obwohl er auch davon keine Ahnung hatte. Seine Selbstsicherheit flößte allseits unumschränktes Vertrauen ein. Man hörte auf, ihn ›Herr Knef‹ zu nennen.

Wir hatten Erfolg. Ich schrieb meine erste Langspielplatte. Sie wurde gelobt.

Wir trennten uns nie.

Er wußte, daß Cardin die besten Anzüge für ihn machte und Balmain die besten Kleider für mich. Wir gehörten zur Schickeria. Zum Jet-set. Wir kannten die ›richtigen‹ Leute. Wir waren auf den ›richtigen‹ Parties. Wir waren das ›schöne Paar‹. Frauen himmelten ihn an. Männer neideten ohne Gehässigkeit. Seine zur Apathie neigende Ruhe glättete Emotionen.

Die Erfolge überstürzten sich. Mit jedem neuen begann er sich zu langweilen. Er machte Verträge, führte Konten, doch je mehr Erfolge, um so mehr Langeweile, wiederholt versicherte er, ohne Ehrgeiz zu sein. Erreichtes lähmte ihn, während ich rastlos-ungestüm neuen Prüfsteinen nachjagte. Ich hatte sieben Jahre lang keine Ferien gehabt, war überarbeitet, verkrampft, verängstigt, einem Zusammenbruch nahe. Mein grauenvolles Lampenfieber war ihm zuwider.

Im November 1967 wurde ich schwanger.

Wir waren in London. Ich drehte einen Film. Wir lebten in der Mountstreet. Er kam seltener ins Studio, aß ausgiebigst in den besten Restaurants, las viel.

Eines Abends kam ich ins Kaminzimmer, sagte: »Ich bekomme ein Kind.« »Ausgerechnet jetzt, wo unsere Ehe in einer Krise steckt, bekommst du ein Kind.« Er äffte meinen Freudenausbruch nach.

Ich hatte die Krise nicht wahrgenommen.

Unsere Gemeinsamkeit war unantastbar.

Ich begriff nichts.

Zwischen Text lernen, Text schreiben, Interviews, Fotosessions, Bühnen-, TV- und Filmarbeit, Schallplattenaufnahmen trabte ich auf einem Laufband, das mich weder rechts noch links sehen ließ. Scheuklappenblöde. »Ich will das Kind.«

Ich war zweiundvierzig.

Ich sah, daß er mich haßte.

Er schwieg mich in den Wahnsinn.

Das Kind kam sechs Wochen zu früh.

Kaiserschnitt. Komplikationen. Daß sie und ich die Geburt überlebten, bleibt ein Rätsel.

Tonio, manuell begabt, richtete ein Kinderzimmer ein.

Glückliches Paar mit Säugling. Titelseiten strahlten von sämtlichen Litfaßsäulen und Zeitungskiosken ...

Er sagte, die Taufe seiner Tochter sei der schönste Tag seines Lebens gewesen.

Ich glaubte ihm nicht.

Flatterhaft zerfahrene Verfremdung machte sich breit.

Ich suchte Gründe, suchte Gespräche. Er schwieg. Lächelte wie Eisschollen. »Ich liebe sie, aber ich mag sie nicht«, sagte er zu einem Freund, oder zu einem, den er für einen Freund hielt. Ich schrieb ein Buch. Er beschloß, in die Schweiz zu ziehen.

Widerspruch gab’s nicht. Von nun an brach Nomadenleben aus: Möblierte Häuser, Speicher, Zuzugsgenehmigungen. So zogen wir mit Kind, Schreibmaschine und einem im Genick sitzenden Ablieferungstermin von Haus zu Haus. Noch immer hielt ich es für undenkbar, daß wir nicht das gleiche zur gleichen Zeit empfanden. Noch immer hielt ich den Erdrutsch für Maulwurfshügel, die anrollende Lawine für Schneegestöber. Brav unterdrückte ich Schmerzen. Dann barst der Damm. Jahrelang übersehene Krankheit. Kaum noch reparabel. Hysterektomie. Ileus. Krebs.

Ich sah, daß sie ihn irritierten, verärgerten, später langweilten. Er entschloß sich, sie zu ignorieren oder sie mit ›psychosomatisch‹ abzutun. Trauerstunden vor leeren Särgen. Wörter wie Würmer. Auf einem Bein stehen.

Lebensläufe sind Lügen. Vorsätzliche. Ein Dschungel wird gerodet. Ein Park entsteht. Verbotstafeln. Papierkörbe. Überschaubare Wege. Auch nachts beleuchtet.

Neue Freunde tauchten auf, gaben Urteile ab, bösartig-einsamer Abfall, der Zwietracht wie Grassamen sät.

Nach jahrelangem Ringen, Hoffen, Verzweifeln, Wahnwitz, pingeliger Streiterei, selbstmörderischem Kampf, wurde im österreichischen Wels, Gerichtssaal 2, um 10 Uhr morgens, eine Hälfte von mir eingeäschert.

So nicht

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