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Travenstedt

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Datum: April 2059

Ort: Travenstedt im Norden Deutschlands

Gerd Eriksen saß zusammen mit seiner Frau Lena und seinem Sohn Vincent im Wintergarten ihres kleinen Hauses, als erneut ein Eishagelsturm über die Stadt hinwegfegte. Seit ein paar Wochen war es immer wieder zu diesen verheerenden Stürmen gekommen. Es herrschten Extremwetterlagen, die Angst auslösen konnten und an die man sich nicht gewöhnte, so wie man es früher tat. Eriksen erinnerte sich an das angenehme Gefühl in Sicherheit zu sein, während draußen ein schwerer Sturm tobte. Er musste sich beeilen, um die Aluminiumplatten auf dem Glasdach zu befestigen, bevor noch weitere Glaselemente brachen. Vincent half ohne große Aufforderung. Es war gefährlich ohne Kopfschutz das Haus zu verlassen. Die Hagelkörner waren jetzt schon fast so groß wie Tennisbälle.

Das Haus der Eriksens lag am Rande der Stadt Travenstedt in einer Neubausiedlung. Vor 16 Jahren waren sie aus dem hohen Norden kommend hierher umgezogen. Gerd Eriksen hatte bei der ENV-Nord, dem norddeutschen Energieversorger, einen Job angenommen und sich hier schnell bewähren können. Nach kurzer Zeit wurde ihm die Aufgabe des Chief Operation angeboten und er nahm an. Damit war er dafür verantwortlich, die Energieversorgung der drei nördlichsten Bundesländer sicherzustellen. Lena arbeitete seit ein paar Jahren als Pädagogin bei der städtischen Produktionsschule und Vincent, der 17 Jahre alte Sohn, war wie die Kopie seines Vaters. Sie hatten die gleichen Interessen und sahen sich sehr ähnlich.

Eriksen musste schnell los. Sein Smartphone zeigte einen Alarm aus dem ENV-Kontrollraum an. Die Energieversorgung war in den letzten Wochen mehrfach ausgefallen. Die Ursache dafür waren Schäden an den der Sonne nachgeführten Photovoltaik-Türmen. Er würde erst spät wieder zurück sein.

In der gemäßigten nordeuropäischen Klimazone, in der die Familie lebte, war das Leben seit jeher unproblematisch. Die Jahreszeiten wechselten einander ab, selten kam es zu schweren Stürmen und den gefürchteten Sturmfluten an der Nordseeküste. Die Temperaturen variierten im Laufe des Jahres zwischen -10°C und +35° C. Abwechselnde Sonnen- und Regenperioden sorgten für eine stabile Vegetation und fruchtbares Ackerland. Der Mensch hatte sich gut an diese Verhältnisse anpassen können. Der Rückzug der Vegetation im Spätherbst und die jährliche Wiedergeburt im Frühjahr glich einem wahren, immer wiederkehrenden Wunder.

In der letzten Zeit wurden die Eriksens oft von Nachbarn und Freunden besucht. Die Wettereskapaden sorgten dafür, dass die Leute näher zusammenrückten. Die Wettervorhersagen mit anschließender Unwetterwarnung nahmen zu. In anderen Teilen der Welt waren die Auswirkungen des Klimawandels schon länger deutlich geworden, doch nun zeigten sich auch hier in Europa starke Veränderungen. Veränderungen, mit denen kein Klimaforscher so schnell gerechnet hatte. Expertenrunden im Fernsehen versuchten die Lage zu analysieren. Die Bürgermeister einiger Städte hatten bereits den Notstand ausgerufen.

Gerd Eriksen war mit seinen 44 Jahren wirklich fit, aber erst seitdem er regelmäßig seine Runden joggte. Das Laufen entspannte ihn und ließ seinen Kopf klar werden. Darüberhinaus hatte er ein kleines Gewichtsproblem damit lösen können.

Die Fahrt zum ENV-Nord dauerte meist 20 Minuten. Gerd nutzte diese Zeit um die Prioritäten der anliegenden Aufgaben festzulegen. Die berufliche Belastung hatte in den letzten Jahren stark zugenommen, seit das Energieministerium der EU ein Verbot für den Weiterbetrieb von Kernkraftwerken durchgesetzt hatte, die vor dem Jahr 2020 gebaut worden waren. Da die flächendeckende Energieversorgung der EU-Staaten dadurch bedroht war, wurde ein Plan erstellt, der vorsah, alle verfügbaren alternativen Energiequellen innerhalb kürzester Zeit anzuzapfen. Der Plan wurde in einer bis dahin nicht gekannten Gemeinschaftsaktion aller EU-Staaten umgesetzt. Die Politik war seinerzeit zu dieser Maßnahme gezwungen worden, nachdem bekannt wurde, dass die Strahlenbelastung älterer Kraftwerke im Umkreis von 5 Km für den Menschen deutlich gefährlicher war als damals angenommen wurde. Die Organisation Greenpeace-International hatte zusammen mit einigen Interessenverbänden gegen Atomkraft ein Gutachten von einem unabhängigen Institut in Auftrag gegeben. Die Ergebnisse waren von angesehenen ausländischen Nuklear-Forschungsinstituten bestätigt worden. Alle Menschen, die näher als 10 Km an einem Kernkraftwerk wohnten, wurden umgehend umgesiedelt. Ein Zutritt in die Sperrbereiche und zu den Kraftwerken war seitdem nur noch unter strengen Auflagen möglich.

Eriksen parkte nach erfolgreicher biometrischer Authentifizierung seiner Person durch Iris und Mittelfinger auf dem Parkplatz des ENV-Nord Betriebsgeländes und stieg aus. Es war dunkel geworden, die Gebäude waren in neongelbes Licht getaucht. Ein Lüftchen wehte so, als ob es nie einen Hagelsturm gegeben hätte. Die Bewölkung war teilweise aufgerissen und ein paar Sterne waren zu sehen. „Schön“, dachte er und öffnete die schwere Tür zum Gebäude A, in dem der Kontrollraum untergebracht war. Die Sicherheitsschleuse war leer. Magnus, der Sicherheitsbeamte, war nicht zu sehen. „Ich komme auch alleine klar“, dachte Eriksen und steckte seine Codecard in den Scanner der zweiten Tür, die sogleich aufsprang, und trat ein. Im Halbdunkel der Lobby stach ihm das orangerote Licht des Alarmmelders in die Augen.

„Gerd, bist du das? Gut, dass du kommst“, sprach eine Stimme seitlich aus dem Dunkel. „Ich bin es - Ryke!“

„Hallo Ryke, was genau ist kaputt?“

Ryke tauschte den Becher Kaffee gerade von der rechten in die linke Hand um Gerd die Hand zu reichen. Dabei lief ihm der heiße Kaffee über einen Finger und er murmelte etwas Böses.

„Gerd, hol’ dir auch einen Kaffee, der ist gerade frisch durchgelaufen und komm’ dann bitte gleich in das Büros des Schichtleiters.“

„Wer ist es?“

„Es ist Hark Simonsen.“

Gerd betrat das Büro des Schichtleiters eine Minute später. Er kannte Hark. Er war ein guter Mann, sehr zuverlässlich. Hark kam aus Norwegen und hatte die meisten modernen Wasserkraftwerke Norwegens mitgebaut.

„Hallo Gerd - schön, dass du gleich gekommen bist. Wir haben durch den letzten Hagelschauer ein paar wichtige Türme verloren. Ich möchte mit dir die Stromverteilung aus den Reserven abstimmen. Zwei Teams mit je fünf Mann und schwerem Gerät sind unterwegs um die Schäden zu beheben.“

Eriksen und Hark Simonsen traten im Kontrollraum vor einen riesigen Touchscreen und drückten einige Felder. Daraufhin wurden Zahlen und Grafiken sichtbar, die den aktuellen Energiebedarf übersichtlich darstellten. Eriksen drückte noch einige Felder und ermittelte so die Energiemenge, die aufgrund der Ausfälle der PV-Türme fehlte. Nach der Feststellung, welche Fremdressourcen ihm zur Verfügung standen, rief er die Einsatzleiter der beiden Reparaturtrupps an und ließ sich eine Einschätzung darüber geben, wann die Reparaturen fertiggestellt sein würden. Eriksen und Hark entschieden sich für die Aufschaltung einer Wasserkraft-Energiequelle in Norwegen für die nächsten fünf Stunden. Nach Eingang der Bestätigung des dortigen Schichtleiters erfolgten eine Synchronisierung und die Einspeisung in das Stromnetz der ENV-Nord. Nach etwa 15 Minuten hatten sich alle Werte wieder normalisiert. Eriksen bemerkte die Entspannung in Hark Simonsens Augen. Hark war ein schmaler Mann mittlerer Größe mit großen Augen. Er war unscheinbar und hatte rote Haare, die er sehr kurz hielt, damit sie nicht so sehr auffielen. Der Schichtleiter hatte die Befugnis und auch die Fähigkeit dazu, die eingeleiteten Maßnahmen selbstständig durchzuführen. Doch hatte es sich bewährt, derartige Tätigkeiten nach dem 4 Augen-Prinzip umzusetzen.

45 Minuten später verließ Eriksen wieder das Gebäude. Drei große Photovoltaik-Türme am Brennermoor waren komplett ausgefallen. Bei größeren Schäden schaltete das Diagnose-Programm einen Turm automatisch physikalisch vom Netz. Dies war hier geschehen. Die Wiederinbetriebnahme war dann nur noch vor Ort möglich. Eriksen wandte sich dem Parkplatz zu, auf dem die Poolwagen der Firma standen, und bemerkte ein Graviton-Fluggerät des ENV-Nord, an dessen Seite der Schriftzug „ENV-Nord Energie von morgen“ zu lesen war. Eriksen tippte die Home-Taste seines Smartphones und hatte Sekunden später seine Frau am Ohr.

„Hallo meine Liebe. Ich muss noch mal zum Brennermoor. Die drei MegaSun-Anlagen sind ausgefallen. Ich denke, ich werde erst in ein bis zwei Stunden bei euch sein können. Bitte wartet nicht mit dem Essen.“

„Schade”, klang Lenas Stimme an sein Ohr. „Vincent ist schon weg und ich bin ganz alleine. Pass bitte auf dich auf. Bis später.“

Er steckte sein Smartphone weg. Es tat ihm leid. Etwas drückte in seinem Magen.

Eriksen besaß die Flugerlaubnis für das Graviton und die Genehmigung von der Geschäftsführung. Er spürte seine Begeisterung. Er trat an das Graviton heran und hielt seine CodeCard an den Türsensor. Augenblicklich öffnete sich die Tür sanft mit einem Summen der Servos. Ein rotes Licht füllte den Innenraum. Die Armaturen waren in blaues Licht getaucht und eine nette weibliche Stimme sprach unvermittelt:

„Guten Abend Herr Eriksen, bitte nehmen Sie Platz“.

„Unglaublich“,

dachte Eriksen und stieg ein. Die Tür schloss sich sofort, nachdem Eriksen saß.

„Sie werden jetzt angeschnallt“,

ertönte die Stimme erneut.

„Bitte bewegen Sie sich einen Moment nicht - danke. Bitte nennen Sie ihr Fahrtziel.“

Eriksen sprach bewusst deutlich,

„Brennermoor - Photovoltaik-Anlage“

„Danke, Ziel ist programmiert. Wir starten nun.“

Wie ein Fahrstuhl begann das Graviton nach oben zu steigen, der Höhenmesser blieb bei 80 Metern stehen. Nach einer Wende nahm es Fahrt auf in Richtung Brennermoor, ohne dass Eriksen einen Handschlag getan hätte. Auf dem Headup Navigations-Display war sein Graviton als blauer Pfeil dargestellt, der in Richtung West schwebte. GPS-Koordinaten, Ankunftszeit, Fluggeschwindigkeit und andere Flugobjekte wurden vor seinen Augen in einer virtuellen Karte eingeblendet.

Seit seiner Flugscheinprüfung war er nicht mehr geflogen. Es hatte sich dazu keine Gelegenheit ergeben. Er genoss den Flug und dachte dabei an den Entdecker des Gravitons. Im Jahr 2038 hatte Jens Herrschel, ein Teilchenphysiker und heutiger Nobelpreisträger aus Deutschland, das Graviton nachgewiesen. Bereits fünf Jahre später, im Jahr 2043, hatte ein Forscherteam aufgrund dieser Entdeckung ein Verfahren zur Manipulation der Gravitation entwickelt. Im gleichen Jahr brachten sie einen Salzkristall zum Schweben. Im Jahr 2048 flog das erste Graviton-Fluggerät. Vor ein paar Jahren war die Nutzung der Graviton-Fluggeräte auch für zivile Unternehmen und Privatpersonen erlaubt worden, nachdem die Infrastruktur dafür geschaffen war. Es dauerte eine Weile, bis Eriksen sich an den Autopiloten gewöhnt hatte. Auch dachte er daran, dass es verboten war, den Autopiloten auf öffentlichen Flugrouten auszuschalten. Schon aus der Ferne erkannte er helle Scheinwerfer in einer Gegend, in der sonst nie ein Licht brannte. Das Brennermoor war ein Naturschutzgebiet am Fluss der Trave und die MegaSun Solarzellentürme standen mitten in seinem Überschwemmungsgebiet. Die Reparaturen hätten im Falle einer Überschwemmung nicht stattfinden können, so aber waren die Arbeiten in vollem Gang. Eriksen erschrak, als er Details erkannte. Die Türme waren nicht wiederzuerkennen, jeder Turm hatte Solarzellen-Module auf einer rotierenden Fläche von 40x40 Metern getragen. Jetzt trugen sie fast nichts mehr. Die teuren Module lagen in Trümmern auf dem Boden. Nachdem sein Fahrstuhl sanft zur Erde zurückgekehrt war, stieg er aus und ging schnellen Schrittes zum Einsatzleiter Thomas Petzold, der gerade die kohlenstoffverstärkten Modulkäfige montierte, und schaute ihn fragend an.

„Wie ist das möglich?“

Thomas zeigte auf den Boden und Eriksen erkannte sofort die ballartigen Vertiefungen im Boden. Dicht an dicht waren kinderballgroße Löcher im Sumpf zu sehen.

„Das ist nicht dein Ernst“, gab er zurück.

„Doch“, erwiderte Thomas lächelnd.

„Als wir ankamen waren noch ein paar Reste der Hagelbrocken zu sehen, sonst hätten wir es auch nicht geglaubt. Unsere Messungen dieser Geschosse zeigten einen Durchmesser von 17cm.“

Um 0:30 Uhr war Eriksen wieder zu Hause. Die Reparaturen würden nicht weniger als 48 Stunden andauern, zu viele Solarzellen-Module waren zerstört. An zwei Türmen waren zusätzlich die Wechselrichter zur Spannungswandlung beschädigt worden und müssten ebenfalls ersetzt werden, spukte es in Eriksens Kopf und er vertrieb die Gedanken. Er fand seine Frau im Wohnzimmer und küsste sie liebevoll.


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