Читать книгу Rot war ihre Lieblingsfarbe - Holger Rudolph - Страница 3
1. Ein grausiger Fund
ОглавлениеFriedbert Hartig wollte nur noch vergessen. Die Frau, die ihn auf das Schlimmste gedemütigt hatte ebenso wie den Freund, dem er all die Jahre über vertraute. Doch es gelang ihm nicht, die stetig wiederkehrenden Gedanken aus seinem Hirn zu verdrängen.
Wenige Jahre bis zur Pensionierung. Dann hätte er es sich mit Cathy, die eigentlich Katharina hieß, gemütlich gemacht. Das Ferienhäuschen an der Ostsee hatten sie schon vor bald zwanzig Jahren gekauft. Es lag dicht am Strand. Früher genossen sie dort die gemeinsamen Urlaube. Inzwischen erschien ihm diese Zeit, als ob sie nicht zu seinem Leben, nicht einmal in dieses Universum gehörte.
Die Kollegen aus dem Kommissariat hatten lange auf ihn einreden müssen, ehe er schließlich doch noch für den Abend zusagte. Vielleicht würde es ihm gelingen abzuschalten, hoffte er schwach. Friedbert beschleunigte seinen Schritt, obwohl es nun etwas steiler bergan ging.
Es war kurz vor acht Uhr abends. Ab und an schaute er nach unten zurück, wo der weitgehend unzugängliche Nebenarm des einst für die Existenz der Stadt so bedeutenden Flusses lag. Ein paar Lichter, wohl von Taschenlampen, entdeckte er in der tiefen Ferne. Die dazugehörigen Menschen vermochte er nur zu erahnen. Ihre Stimmen klangen jung. Für ein paar Augenblicke erinnerte sich Hartig daran, dass auch er einmal so jung war. Vor mehr als vier Jahrzehnten hatte er selbst unten am Fluss Silvester gefeiert. Ein einziges Mal nur. Schon damals mochte er keine lauten Feste. Das Stimmengewirr hatte ihm nichts als Kopfschmerzen bereitet. Doch er wollte sich so normal wie möglich geben.
Ein sehr lautes Krachen holte den Kommissar zurück. Es musste wohl von den jungen Feiernden unten am Fluss gekommen sein. Wahrscheinlich ein Polen-Böller. Die Auftritte seiner Kollegen in Schulklassen brachten rein gar nichts. Sie konnten noch so sehr vor den gefährlichen Knallkörpern warnen. Wer jung ist, musste auf sich aufmerksam machen. Das war vor 40 Jahren schon so. Und es wird auch in nochmal 40 Jahren ebenso sein, dachte der grauhaarige großgewachsene Mann.
Bim, bam, bim, bam…
Weit oben begannen die Glocken des Domes zu läuten. Wie zum Ende jedes Jahres nahmen die Chöre im langen Schiff des wuchtigen romanischen Gemäuers Aufstellung zum Silvestersingen. Die Chöre reisten teils bald hundert Kilometer an, um die alte Tradition zu pflegen.
Nur noch ein kurzes Stück, dann würde sich der Wanderpfad verzweigen. Wer geradeaus weiterging, gelangte in Serpentinen zum Dom. Hartig würde nach rechts abbiegen, wo sich auf einem Felsplateau das Gasthaus „Zum alten Hanse-Wirt“ befand. Ihm gelang es für einen Moment, sich ein ganz klein wenig auf die bevorstehende Feier zu freuen, als er plötzlich auf dem nur schwach beleuchteten Weg über etwas stolperte. Fast wäre er der Länge nach hingefallen. Er hatte zu taumeln begonnen, war dann aber gerade noch dazu in der Lage, seinen Körper abzufangen. Verdammt, was war das?
Er zog eine Taschenlampe aus der rechten Manteltasche und leuchtete auf das, was sich ihm zu Füßen befand. Sein Herz hämmerte. Vor seinen Füßen lag eine junge Frau. Mittellange hellblonde Haare. Sehr jung, fast noch ein Kind. Der Mund weit aufgerissen, die Pupillen starr. Eigentlich überflüssig, noch den Puls zu fühlen. Er tat es trotzdem. Vielleicht lebte sie ja doch noch. Vielleicht hatte er sich geirrt. Nein, nun gab es keinen Zweifel mehr. Die Frau war tot. Statt zu feiern, würde er sich nun mit einem Mord zu beschäftigen haben.
Nur zu gern hätte der Kommissar sofort per Handy seine Kollegen informiert. Doch das Netz war wie an so vielen Stellen seiner Heimatstadt derart schwach, dass er bis zum Gasthaus weiterging. Dort feierte ohnehin das halbe Polizeipräsidium.
In seiner Halsschlagader hämmerte es viel zu schnell und unregelmäßig. Eine Tote. Wie oft hatte er in den zurückliegenden Jahrzehnten Leichen gesehen? So etwas dürfte ihn doch eigentlich nicht aufregen. Hartig schwitzte trotz der Kälte, als ob er eine immense Last hinter sich herzuziehen hätte. Seine Kleidung war durchnässt, als er das Gasthaus erreichte.
Tanja Dreilich stand allein vor der Tür der Gaststätte und sog an ihrer Zigarette. Hatte er es sich also doch noch überlegt. Eigentlich mochte ihr Chef keine Feiern. Erst recht jetzt, nachdem ihm seine Frau weggelaufen war, hätte sie nicht gedacht, dass Hartig hier auftauchen würde.
Längst versuchte die kleine Kriminaloberkommissarin nicht mehr, ihre allzu üppige Figur unter womöglich ein paar Vorteile verschaffender Kleidung zu verstecken. Erst recht nicht zu Silvester. Schwarzer Lack-Minirock, grellgelbes Shirt. Sie lief ihm entgegen und hätte ihm vor lauter Aufregung fast die Hand gegeben: „Schau mal, Chef. Heute bin ich eine flotte Biene. Summ, Summ, Summ.“ Sie fummelte nun mit einer großen Plastikblüte vor seinem Gesicht herum.
Hartig wich genervt zurück: „Ja, Tanja, nun werden wir mal wieder ernst. Tut mir leid, aber ein Stück weiter unten liegt eine Leiche. Es handelt sich um eine junge Frau. Ich brauche dich, ein paar Leute von der Spurensicherung und die Anna. Ohne sie geht gar nichts.“
Sie rollte mit den Augen und schüttelte heftig den Kopf: „Chef, du machst Witze. Kann man denn nicht mal vernünftig Silvester feiern?“
Er wollte etwas entgegnen, doch sie war schneller: „Schon gut, ich sage drinnen Bescheid. Es wird aber sicherlich ein bisschen dauern. Die müssen doch erst ihr Arbeitszeug holen. Ich hoffe, dass alle noch Auto fahren können. Naja, wahrscheinlich hat bislang niemand so viel getrunken, dass er nicht mehr hinters Steuer dürfte. Wir hatten ja gerade erst mit der Feier begonnen.“
Hartig kratzte nervös seinen Hinterkopf. Er traf dabei stets die kreisrunde Stelle, auf der schon seit einiger Zeit keine Haare mehr wuchsen. Plötzlich konnte er der neuen Situation etwas Positives abgewinnen. Ihm würde der Krach der lauten Kollegen erspart bleiben. Das Durcheinanderreden, die immer betrunkener werdenden Leute, während er selbst nüchtern bleiben würde. Alkohol hatte er noch nie vertragen. Er war früher stets depressiv geworden, wenn er etwas trank. Seit mehr als zehn Jahren rührte er nun schon keinen Tropfen mehr an.
„Tanja, ich geh dann mal zurück zu der Toten. Ihr erreicht die Stelle am schnellsten von der Gaststätte aus. Von ganz unten würde man zu Fuß bald eine Viertelstunde brauchen. Das ist nicht zu empfehlen.“
„Ist gut Chef, ich komme schnellstmöglich nach.“
Hartig ging den Weg zurück sehr langsam. Er überlegte. Es könnte auch eine natürliche Ursache für den Tod der jungen Frau geben. Sicherlich ist es alles andere als normal, mit vielleicht gerade mal 20 Jahren zu sterben. Doch er wollte das auch nicht gänzlich ausschließen. Was hatte sie, verdammt nochmal, zu dieser Zeit allein auf dem Wanderweg zu tun?
Jetzt lag sie wieder vor ihm. Als Leiter der Mordkommission hatte der Kriminalhauptkommissar schon viele Leichen gesehen. Doch der Anblick der hübschen jungen Frau war besonders anstrengend. Sie hätte fast ihr ganzes Leben noch vor sich gehabt.
Auf keinen Fall würde er der Spurensicherung oder Gerichtsmedizinerin Anna Kleinfeld vorgreifen. Bis zu ihrem Eintreffen durfte er die Leiche nicht berühren. Trotzdem würde ihm die Tote bei näherer Betrachtung sicherlich bereits einiges verraten. Klein war sie, die schlanke junge Frau. Vielleicht, wenn überhaupt, maß sie einen Meter fünfundsechzig. Der Reißverschluss der blaugrauen Winterjacke war etwas geöffnet. So konnte er erkennen, dass sie darunter ein schwarzes Partykleid trug. War sie auf dem Weg zu einer Silvesterfeier? Doch hier oben feierten an diesem Abend nur Polizei und Justiz. Oder gehörte sie einem der Chöre an, deren Konzert im Dom mittlerweile fast beendet sein musste?
Sie lag auf der rechten Körperseite, ihr linkes Bein leicht angewinkelt. Am Boden ihr zur Seite befand sich die geöffnete Handtasche. Sie hatte wohl darin nach etwas gesucht. Einen Augenblick später wurde dem Kommissar klar, was sie wollte. Den geschlossenen Lippenstift in ihrer rechten Hand hatte er bisher nicht bemerkt. Die Tote hielt den Stift eng umklammert. Offenbar hatte sie das dringende Bedürfnis gehabt, noch etwas mitzuteilen. Weil der Boden des Wanderweges nicht gefroren war, gelang es ihr offensichtlich, mit dem Stift etwas ins Erdreich zu schaben. Allerdings konnte sich der Kommissar noch keinen Reim darauf machen, was das bedeuten sollte. Der Form nach waren es zwei sich kreuzende Linien. Jede von ihnen war etwa fünf Zentimeter lang. Es gab zwei stumpfe und zwei spitze Winkel. Die Linien trafen sich weit entfernt von der Mitte. Das Kreuz hatte also eine kurze und eine lange Seite.
Äußere Verletzungen vermochte Hartig keine zu entdecken. Trotzdem schloss er mittlerweile einen natürlichen Tod aus. Mit diesem eigenartigen Kreuz hatte die junge Frau einen Hinweis auf den Täter geben wollen. Anders konnte er sich das nicht erklären.