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Spuren

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Heute ist der 1. Mai. Die Kommissarin wollte den Feiertag und das daran anschließende Wochenende nutzen, um an die Ostsee zu fahren. Drei Tage Erholung in der frischen Meeresluft würden ihr gut tun. Das kann sie nun vergessen.

Als Anna Klettner am Morgen das Rheinsberger Polizeirevier betritt, wird sie herzlich empfangen. Die Kollegen mögen ihre ruhige, aber bestimmte Art. Schon dreimal hat sie von hieraus in den zurückliegenden zwei Jahren die Ermittlungen geführt. In der Kleinstadt mit ihren rund 8000 Einwohnern gibt es keine eigene Abteilung für Kapitalverbrechen. Doch das Präsidium in der Kreisstadt Neuruppin, von wo aus Anna meistens ermittelt, liegt 30 Kilometer von der Rheinsberger Kernstadt entfernt. Bis nach Adamswalde, dem Tatort, sind es sogar fast 45 Kilometer. Die Kommissarin weiß, dass sie viel schneller zu guten Ergebnissen gelangt, wenn sie möglichst nahe am Tatort und an den Zeugen ist.

Dennis hängt bereits an der Strippe, als Anna gegen 8.30 Uhr das kleine Zimmer betritt, von wo aus sie ihre Ermittlungen führen werden. „Chefin, Wolfskenner Norden hätte Zeit, sich die Tote anzuschauen. Ich habe deshalb schon unsere Spurensicherer angerufen. Sie wissen nun, dass das Opfer auf keinen Fall abtransportiert werden darf, ehe auch Norden es sich vor Ort angesehen und seine Schlüsse gezogen hat.“

Anna klopft dem jungen Kollegen auf die Schulter: „Dennis, das hast du gut gemacht. Lass uns gleich auch nochmal hinfahren. Ich möchte den Tatort samt Leiche bei Tageslicht sehen. Du kannst fahren. Die kaputten Radlager an deinem alten Volvo klackern so schön monoton. Das ist der perfekte Hintergrund, um in Ruhe nachdenken zu können.“

Es sind nur noch wenige Kilometer bis nach Adamswalde. Kurz vor Großzerlang zweigt der holprige Waldweg von der schmalen Landstraße ab. Überall Wald. nd Sand.

Ein paarmal setzt der alte Wagen auf, obwohl Dennis sehr langsam fährt. Er nimmt es mit Humor und beginnt zu singen „Märkische Heide, märkischer Sand, sind des Märkers Freu-eu-de.“

Anna sieht ein ganz klein wenig genervt aus: „Na, sing schon weiter, Caruso. Ich werde es überleben. Wir sind sowieso gleich da.“

In der Nacht hatte Anna nur erahnen können, wie es am Tatort aussieht. Jetzt bemerkt sie, dass es hier tatsächlich schön ist. Der kleine Rastplatz liegt nahe einer Badestelle mit Liegewiese am See. Vorige Nacht hatten die Hobby-Hexen auf den beiden Bänken gesessen. Jetzt zwitschern die Vögel. Die Sonne scheint. Ein Wildkaninchen hoppelt über die Wiese. Zitronenfalter flattern. Der Mord passt nicht ins Bild dieser scheinbar so heilen Welt.

Bis zum Tatort im Gebüsch am Waldrand sind es vielleicht hundert Meter. Olaf Norden kommt den beiden Ermittlern entgegen. Er hat sich die Leiche bereits angeschaut. Der Wolfsfachmann, von Hause aus Biologielehrer an einem Neuruppiner Gymnasium, fuchtelt mit den Armen. Das rundliche Gesicht des fülligen Mittfünfzigers ist hochrot. Hastig gibt er Anna und Dennis die Hand. Gleich darauf bricht es aus ihm heraus: „Niemals war das ein Wolf. Diese Tote ist mit einer Vielzahl von Bissen übersät. So wie es aussieht, waren das zwei Hunde. Ein sehr großer und ein etwas kleinerer. Ein Wolf würde zielgerichtet zubeißen und sein Opfer mit wenigen Bissen erlegen. Dass Wölfe Menschen umbringen, das gibt es nur im Märchen. Wild, Schafe, Ziegen, sicher doch. Aber das hier war kein Wolf. Außerdem sind die Bissspuren viel zu breit. Wölfe haben einen schmalen Unterkiefer. Hier hat jemand seine Hunde auf die arme Naturschützerin gehetzt. Die konnte keiner Fliege etwas zu leide tun. Und nun musste sie auf derart bestialische Weise sterben.“

Die Kommissarin schaut den Experten fragend an: „Ach, Sie wissen, wer die Frau ist?“

Olaf Norden nickt mehrfach und so sehr, dass ihm die Brille tief nach vorn und fast von der Nase rutscht: „Das ist Beatrice Donner. Ich kenne sie vor allem als Naturschützerin. Erst letztens hat sie doch in Rheinsberg im Wolfskostüm demonstriert, nachdem der Wolf wegen der gerissenen Schafe eine schlechte Presse hatte. Soweit ich weiß, war sie so um die Sechzig und lebte schon seit Jahren in der Nähe von Adamswalde. Ohne fließendes Wasser, ohne Strom. Sie konnte sehr gut zeichnen und hat ihre Tier- und Landschaftsbilder unter einem Pseudonym über eine Galerie in Potsdam verkauft.“

Die Kommissarin schüttelt unwillkürlich den Kopf: „Weshalb sollte so eine Frau Feinde gehabt haben? Können Sie sich irgendeinen Reim darauf machen, was da passiert ist?“

Nein, Olaf Norden hat auch keine Erklärung für das Geschehene: „Sie hat eigentlich niemanden gestört. Ich weiß nur, dass sie vom Verkauf ihrer Bilder für ihre Verhältnisse gut leben konnte. Sie hatte allerdings auch kaum Ansprüche. Manche Leute hielten sie für eine Hexe. Der einzige kleine Luxus, den sie sich in ihrer selbst gewählten Wildnis wählte, war ein Zugang zum Internet per Surfstick. So hielt sie den Kontakt mit anderen Naturschützern. Auch mir hat sie etliche Mails geschrieben. Sie hatte seit einiger Zeit Angst, dass jemand den Wölfen etwas antun könnte, die in unsere Wälder zurückkehren. Ich habe ihr geantwortet, dass zwar nicht alle Menschen begeistert von diesen prächtigen Tieren sind, doch es wohl niemanden gebe, der ihnen etwas antun würde.“

Olaf Norden kann die Tränen jetzt nicht mehr zurückhalten. Er schluchzt: „Und nun. Welche menschliche Bestie hat das getan? Fassen Sie den Täter und bringen sie ihn lebenslänglich hinter Gitter!“

Dennis blickt dem Wolfskenner sehr ruhig in die Augen: „Herr Norden, wir sind noch ganz am Anfang unserer Ermittlungen. Sollte es sich um einen vorsätzlichen Mord handeln, dann können Sie sicher sein, dass Täter oder Täterin für sehr lange Zeit hinter Gitter gehen.“

Auch Anna Klettner versucht, den Naturschützer zu beruhigen. Sie legt ihren rechten Arm auf seine Schulter: „Vielen Dank, Sie haben uns wirklich sehr geholfen. Wir werden alles tun, um den Fall schnell aufzuklären.“

Olaf Norden trocknet die Tränen mit einem Taschentuch. Offenbar hat er sich etwas gefasst und schaut nun herausfordernd, fast ein wenig grimmig: „Und sorgen Sie dafür, dass es in den Zeitungen keine Schlagzeilen über Mörderwölfe gibt. Das wäre blanker Unsinn.“

Die Ermittlerin kann ihm das nicht versprechen: „Soweit es in unserem Ermessen liegt, werden wir versuchen, die Presse positiv zu beeinflussen. Falsche Schuldzuweisungen können wir aber nicht ausschließen.“ Norden schaut auf seine Armbanduhr: „Schon gut, ich verstehe Sie. Ich muss nun aber schnell los, denn in 90 Minuten beginnt meine nächste Unterrichtsstunde.“

Drei Spurensicherer sind seit Stunden vollauf damit beschäftigt, alles sauber einzupacken, was zu einem späteren Zeitpunkt noch von Bedeutung sein könnte. Die Kommissarin nähert sich den beiden Männern und der Frau, die in ihren Overalls auch Besucher aus dem Weltall sein könnten. Der Waldboden ist mit einer dicken Schicht aus Laub und Kiefernnadeln bedeckt. An einigen Stellen haben Wildschweine den Boden aufgewühlt, an anderen gehören dicke Moosschichten zu der vom Menschen weitgehend unberührten Natur. Es ist wie mit der sprichwörtlichen Stecknadel im Heuhaufen. Überall könnten Indizien versteckt sein.

Weil der nahe Rundweg um ein Moor auch von Wanderern genutzt wird, finden sich zudem ihre Hinterlassenschaften in der Nähe der Toten: Zigarettenkippen, ein Kaugummi, eine leere Bierflasche. Auch ein offenbar benutztes Kondom lag nur wenige Meter von der toten Beatrice Donner entfernt. Ob es etwas mit dem Fall zu tun hat, lässt sich noch nicht einschätzen. Klar ist aber bereits, dass die Frau in den Stunden vor ihrem Tod Geschlechtsverkehr hatte.

Und noch eines weiß Anna nun recht genau. Der Tod ist am Donnerstag, 30. April, zwischen 18 und 20 Uhr eingetreten. Also höchstens sechs Stunden, bevor sich die Hobby-Hexen an der abgelegenen Stelle trafen. Mehr als 50 Tierbisse und mindestens ebenso viele Hämatome könnten Beatrice Donner umgebracht haben. Es wäre aber auch möglich, dass es weitere Faktoren gab. Erst die gerichtsmedizinische Untersuchung wird letztlich Klarheit darüber bringen, woran sie starb. Es wird ein paar Tage dauern, bis das Ergebnis vorliegt.

Die Kriminalistin lächelt in sich hinein. Dennis fragt: „Was denken Sie denn nun schon wieder, Chefin?“

Sie sagt nichts, gibt ihm aber einen wohlwollenden Klaps etwas oberhalb vom Hintern.

Er grinst: „Chefin, habe ich jetzt einen Grund, die Gleichstellungsbeauftragte wegen, na Sie wissen schon, zu kontaktieren?“ Er meint es nicht ernst. Er mag sie.

Nun antwortet sie doch noch: „Ich musste lächeln, weil die Gerichtsmediziner im Fernsehen meistens schon nach ein paar Stunden alles wissen.“

Dennis grinst erneut: „Ach ja, das Leben ist nicht einfach.“

Anna hat Durst auf eine große Tasse mit frischem Kaffee. Warum nicht unterwegs kurz anhalten und Frühstück machen, zum Beispiel in der Marina Wolfsbruch? Sie will Dennis gerade einladen, da klingelt ihr Handy. Im Revier wartet eine Frau, die nur mit einem der Ermittler reden will.

Die Kommissarin guckt auf die Fahrerseite, von wo aus Dennis den Wagen durch die Unwägbarkeiten der nordbrandenburgischen Wildnis lenkt: „Eigentlich wollte ich dich zu einem guten Frühstück im Kleinzerlanger Nobel-Hotel einladen. Doch dort können wir zumindest heute Vormittag nicht einkehren. In der Wache sitzt eine Frau, die etwas Wichtiges beobachtet haben will. Ich bin gespannt.“

Als Anna und Dennis ihr zeitweiliges Büro betreten, sitzt am kleinen Gästetisch eine unscheinbare, sehr schlanke kleine Frau von vielleicht fünfzig Jahren und nippt Kaffee aus einer Tasse: „Guten Tag, ich bin Gerda Tagwerk.“

Die Kommissarin begrüßt die Zeugin mit einem freundlichen Händedruck: „Nun, was ist es, das sie uns so dringend mitteilen möchten?“

Die Angesprochene zittert jetzt etwas und verstammelt die ersten Wörter: „I-i-ich woh-o-ne in A-ha-damswalde. Die Frau Donner ist oft an meinem Haus vorbeigegangen. Sie bekam immer wieder mal Besuch von Frauen. Die meisten waren jünger als sie selbst. Manchmal blieben diese Frauen ein paar Tage bei ihr. Auch diese Woche hatte sie wieder Besuch. Seit Dienstag wurde sie täglich von einer sehr attraktiven dunkelhaarigen Frau besucht. Ich schätze mal, dass die so Mitte Dreißig sein muss. Immer am frühen Nachmittag kam sie im Taxi an meinem Haus vorbei. Dass das Taxi zu Beatrice Donner fuhr, kann ich deshalb so genau sagen, weil der Fahrer am Dienstag nicht sicher wusste, wo Frau Donner wohnt. Also klingelte er bei mir und fragte nach dem Weg. Dabei konnte ich die Frau im Auto ziemlich gut erkennen.“

Dennis hakt nach: „Wie lange war die Fremde denn jeweils bei Frau Donner?“

Gerda Tagwerk nickt: „Stimmt, es ist ganz sicher eine Fremde. Wenn diese Dame aus Rheinsberg wäre, hätte sie sich doch nicht mit dem Taxi bringen lassen und sie hätte gewusst, wo genau ihre Bekannte wohnt. Sie müssen mich verstehen, ich bin ganz bestimmt überhaupt nicht neugierig. Doch das alles kam mir sonderbar vor. Also habe ich natürlich darauf geachtet, wann der Taxifahrer sie wieder abholte. Das war jeweils gegen 16 Uhr.“

Nun braucht die Kommissarin von der fleißigen Beobachterin nur noch eine Angabe: „Sie haben doch bestimmt auch gesehen, welcher Taxibetrieb die Besucherin chauffierte!“

Gerda Tagwerk antwortet: „Sie müssen mir aber versprechen, dass Sie ganz bestimmt nicht glauben, dass ich neugierig sein könnte. Versprechen Sie das?“ Angestrengt versucht sie zu lächeln.

Anna schaut für den Bruchteil einer Sekunde nach unten. Die Gedanken sind frei. Sie blickt die Zeugin erwartungsvoll an: „Natürlich wissen wir, dass Sie eine aufmerksame Bürgerin, aber auf keinen Fall neugierig sind. Aber sagen Sie doch jetzt bitte, wer die Fremde gefahren hat!“

„Es war Ferdinand Fromm aus Rheinsberg. Der hat ja nur das eine Auto und macht alle seine Touren selbst. Ich kenne ihn noch aus unserer gemeinsamen Schulzeit. Beim letzten Klassentreffen vor zwei Jahren hatte er darüber geklagt, dass er sich keine Mitarbeiter mehr leisten kann. Er soll auch ein nicht besonders kleines Alkoholproblem haben. Aber das haben Sie bitte auf keinen Fall von mir.“

Die Kommissarin hat genug gehört: „Wir danken Ihnen für die Informationen. Sie können den Kaffee natürlich noch gern zu Ende trinken.“

Der frisch gebrühte Kaffee in den Tassen der beiden Kriminalisten ist heiß. So sehr, dass sie ihn nur in kleinen Schlucken trinken können.

„Da haben wir ja jetzt reichlich zu tun“, stellt Dennis fest. „Soll ich den Taxibetreiber befragen oder möchten Sie das tun?“

Anna antwortet schnell: „Nimm dir mal den Taxikutscher vor. Ich rufe derweil den Heiko Reimer von der Lokalzeitung an. Vielleicht weiß er mehr über Beatrice Donner und darüber, wer etwas gegen sie gehabt haben könnte.“

„Ist okay, Chefin. Ich bin schon unterwegs.“ Dennis ist in Eile. Die aufgerissene Haustür fällt hinter ihm hart ins Schloss.

Schock am Walpurgisfeuer

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