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Vater Goriot

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Frau Vauquer, geborene von Conflans, ist eine alte Frau, die seit vierzig Jahren in Paris in der Rue Neuve-Sainte-Geneviève zwischen dem Quartier Latin und dem Faubourg Saint-Marcel eine gutbürgerliche Pension führt. Diese Pension, die unter dem Namen ›Haus Vauquer‹ bekannt ist, nimmt Männer und Frauen, junge und alte Leute auf, ohne daß jemals die Moral jenes achtbaren Hauses angezweifelt worden wäre. Aber man hatte auch seit dreißig Jahren kein junges Mädchen dort erblickt, und wenn sich ein junger Mann da einmietete, so mußte er schon einen recht mageren Wechsel haben. Dennoch befand sich im Jahre 1819, zu der Zeit, als das Drama begann, das ich hier erzählen will, ein armes junges Mädchen dort.

Wie verrufen das Wort ›Drama‹ infolge seiner mißbräuchlichen Anwendung in unserer Zeit der sentimentalen Literatur auch sein mag, so muß es doch hier Anwendung finden: nicht etwa, weil diese Erzählung im eigentlichen Sinne dramatisch ist, sondern weil der Leser sicherlich nicht umhin kann, an ihrem Schlusse – intra muros et extra – ein paar Tränen zu vergießen. Wird man meiner Erzählung auch außerhalb von Paris Verständnis entgegenbringen? Die Frage ist berechtigt; denn diese Szenen sind so lokal gefärbt, daß sie nur zwischen den Höhen von Montmartre und Montrouge Würdigung finden können, in jener berüchtigten Talsenkung, wo zwischen unglaublich baufälligen Häusern ekle Gossenrinnsale sich hinziehen. Dort ist das Tal der wahren Leiden, der oft trügerischen Freuden und der immerwährenden Aufregungen, so daß nur das Unerhörteste imstande ist, die Gemüter längere Zeit zu fesseln. Doch begegnet man auch da dann und wann einem Menschen, dessen Leid erhaben ist durch das an ihm begangene Unrecht. Bei seinem Anblick verstummt der Eigennutz und verwandelt sich in Mitleid. Aber der Eindruck, den der einzelne empfängt, ist ihm nicht mehr als eine saftige, schnell verzehrte Frucht. Der Triumphwagen der Zivilisation ist grausam, wie jener des Götzenbildes von Jaggernat. Begegnet er auch manchmal einem Herzen, das weniger leicht zu zermalmen ist, so ist das Hemmnis doch bald überwunden, und weiter geht der große Siegeszug. So werdet auch ihr es machen, die ihr dieses Buch in eurer weißen Hand haltet, euch im behaglichen Sessel zurücklehnt und bei euch denkt: ›Hoffentlich ist die Geschichte unterhaltend!‹ Nachdem ihr das heimliche Elend des Vaters Goriot gelesen habt, werdet ihr mit Appetit zu Mittag speisen und eure Gefühllosigkeit auf Rechnung des Autors setzen, werdet ihn der Übertreibung, der Phantasterei bezichtigen. O wißt es nur: dieses Drama ist weder eine Erfindung noch ein Roman, ›All is true‹; es ist so wahr, daß jeder bei sich selbst, in seinem eigenen Herzen vielleicht, die Grundelemente findet, aus denen es entstanden ist.

Das Haus, in dem sich die Familienpension befindet, gehört Frau Vauquer. Es liegt am Ende der Rue Neuve-Sainte-Geneviève, dort, wo das Gelände sich so plötzlich und steil nach der Rue de l'Arbalète hinuntersenkt, daß Pferde da nur selten zu sehen sind. Dieser Umstand begünstigt die Ruhe, die dort in den zwischen dem Dom vom Val-de-Grâce und dem Panthéon eng zusammengedrängten Straßen herrscht, wo jene zwei gewaltigen Bauten mit den düsteren Farben ihrer Kuppeln die Luft verdunkeln und einen gelben Schein verbreiten. Dort ist das Pflaster trocken, die Rinnsteine haben weder Schlamm noch Wasser, am Rande der Mauern wächst Gras. Der sorgloseste Mensch setzt gleich den anderen Passanten eine trübe Miene auf, wenn er da vorbeikommt, wo das Wagengerassel zum Ereignis wird und die Häuser grau und verdrießlich blicken wie Gefängnismauern.

Wenn sich ein Pariser in dieses Viertel verirrt, so wird er nichts anderes gewahren als Familienpensionen und sonstige Herbergen des Elends und der Langenweile, des Alters, das hinstirbt, und der frohen Jugend, die gezwungen ist zu Knechtschaft und Arbeit. Kein Viertel von Paris ist entsetzlicher als dieses, aber auch keins unbekannter. Besonders die Rue Neuve-Saint-Geneviève ist wie ein Bronzerahmen für die Bilder von Not und Trübsinn, die ich hier aufrollen will und auf die eure Seele nicht genug durch dunkle Töne und traurige Gedanken vorbereitet werden kann. Dunkel und Trauer, wie sie den Besucher der Katakomben umfangen, wenn ihm von Stufe zu Stufe das Tageslicht und der Lärm der Straßen ferner rücken. Ein wahrer Vergleich! Wer möchte wohl entscheiden, was schrecklicher zu schauen ist, verdorrte Herzen oder hohle Schädel?

Die Vorderseite des Hauses, in dem sich die Pension befindet, geht nach einem Gärtchen; das Haus steht also rechtwinklig zur Rue Neuve-Saint-Geneviève. An der Längsseite des Hauses, zwischen diesem und dem Gärtchen, zieht sich eine mit Kieselsteinen gepflasterte Abflußrinne von einem Klafter Breite hin; davor ist ein kiesbestreuter Weg, der von Geranium, Oleander und Granatbäumen eingefaßt wird, die in großen blau und weißen Steingutkübeln stehen. Nach der Straße zu befindet sich ein Tor, das die Aufschrift trägt: ›Haus Vauquer‹, und darunter: ›Bürgerliche Pension für Familien und andere‹. Das Tor ist mit einer lärmenden Glocke versehen, und bei Tage kann man durch das Gitter den Kiesweg entlang blicken, an dessen Ende, also der Straße gegenüber, die Mauer mit einer Malerei geschmückt ist, die einen Bogengang aus grünlichem Marmor darstellt und von einem Künstler desselben Stadtviertels ausgeführt wurde. Vor der Nische, die diese Malerei vortäuscht, steht eine Amorstatue. Mit ihrer abbröckelnden Tünche mag sie den Symbolikern ein Sinnbild der Pariser Liebe sein, der man nur wenige Schritte von dort eine Heilstätte errichtet hat. Der Sockel trägt eine Inschrift, die von der Begeisterung zeugt, mit der man Voltaire 1777 nach seiner Rückkehr nach Paris feierte, und die somit auch auf die Entstehungszeit der Statue hinweist:

Der Meister aller Herzen auf Erden;

Er ists – er wars – oder wird es werden.

Zur Nachtzeit wird vor das Gitter noch ein festes Eisentor gelegt. Das Gärtchen, dessen Tiefe der Frontseite des Hauses entspricht, liegt zwischen der Straßenmauer und der Mauer des Nachbarhauses eingeschlossen, die ganz von altem Efeu überwuchert ist und dem Vorübergehenden einen malerischen Anblick bietet. An beiden Mauern befinden sich Obstspaliere und Rebstöcke, deren armselige staubige Früchte Frau Vauquers ewige Sorge und den Gesprächsstoff ihrer Pensionäre bilden. An jeder Mauer führt ein Weg zu einer Lindenlaube, die Frau Vauquer, ob gleich eine geborene von Conflans, eigensinnig Lindienlaube nannte, allen Belehrungsversuchen ihrer Gäste zum Trotz. Zwischen den beiden Seitenwegen liegt ein von Obstbäumen umstandenes, von Sauerampfer, Lattich und Petersilie eingefaßtes Artischockenbeet. Unter den Linden steht ein in die Erde eingerammter runder Tisch, von Stühlen umgeben. In den Hundstagen nehmen die Gäste – das heißt jene, die reich genug sind, sich den Luxus eines Nachmittagskaffees zu gestatten, – dort ihren Kaffee ein.

Die Front des Hauses, das über seinen drei Stockwerken noch Mansarden trägt, ist aus Sandstein aufgeführt und mit jener gelben Tünche überstrichen, die fast allen Pariser Häusern ein häßliches Aussehen verleiht. Die in jedes Stockwerk eingepreßten fünf Fenster sind aus kleinen Scheiben zusammengesetzt und mit Jalousieen geschmückt, die alle verschieden hoch aufgezogen sind, so daß nicht eine mit der anderen auf gleicher Linie steht. Auf der Schmalseite hat das Haus in jedem Stockwerk zwei Fenster; die im Erdgeschoß sind mit schmiedeeisernem Gitterwerk versehen. Hinter dem Gebäude liegt ein Hof von ungefähr zwanzig Fuß Breite, wo Schweine, Hühner und Kaninchen einträchtig beisammen wohnen; am Ende des Hofes steht ein Holzschuppen. Zwischen diesem Holzschuppen und dem Küchenfenster hängt der umfangreiche Speiseschrank, unter dem das fettige Spülwasser der Küche seinen Abfluß hat. Dieser Hof hat nach der Rue Neuve-Sainte-Geneviève hin eine schmale Tür, durch die die Köchin den Unrat mit Hilfe eines kräftigen Wasserstrahls hinausspült.

Im Erdgeschoß, das selbstredend den Pensionszwecken dient, befindet sich zunächst ein Salon, der sein Licht von den beiden nach der Straße gelegenen Fenstern erhält und den man durch eine Glastür betritt. Aus diesem Salon gelangt man in den Speisesaal, der von der Küche durch den Treppenflur getrennt ist. Der Flur ist parkettiert und blank gebohnt.

Nichts ist trauriger anzusehen als jener Salon mit seinen Lehnsesseln und Stühlen, die alle in gestreiften Roßhaarüberzügen stecken. In der Mitte des Zimmers steht ein runder Tisch mit einer Marmorplatte und auf dieser ein Kaffeegeschirr aus weißem Porzellan mit halb verwischten Goldrändern, wie man es jetzt allenthalben sieht. Der Boden ist schlecht gedielt, und die Wände sind bis in Mannshöhe getäfelt. Über der Täfelung zieht sich ein Tapetenfries hin, der in bunten Farben die Hauptszenen aus ›Telemach‹ darstellt. Die Wand zwischen den beiden vergitterten Fenstern zeigt den Pensionsgästen das Bild des Festmahls, das Kalypso dem Sohne des Odysseus spendete. Seit vierzig Jahren erweckt dieses Bild die Heiterkeit der jüngeren Pensionäre, die gern des kargen Mahles spotten, zu dem ihre mißliche Lage sie verdammt. Der steinerne Kamin, dessen stets saubere Feuerstelle beweist, daß hier höchstens bei ganz besonderen Gelegenheiten ein Feuer brennt, ist mit zwei Vasen geschmückt, deren jede einen vollen Strauß verblaßter und verstaubter Papierblumen trägt; zwischen den beiden Vasen steht eine gräßlich geschmacklose Uhr aus blauem Marmor. Dieses erste Zimmer hat einen Geruch an sich, für den die Sprache keinen Ausdruck findet und den man Pensionsgeruch nennen müßte. Es riecht nach allem, was staubig, dumpfig und ranzig ist. Es ist ein Geruch, der frösteln macht, der feucht und scharf die Kleider durchdringt; ein Geruch nach kalten Speisen, nach Dienstboten und Armenhaus. Vielleicht ließe er sich beschreiben, wenn man ein Verfahren entdeckte, die katarrhalische Atmosphäre eines jeden Pensionärs – er sei alt oder jung – in ihre widerlichen elementaren Bestandteile zu zerlegen. Und dennoch, verglichen mit dem Speisesaal, der an den Salon anschließt, ist dieser vornehm und lieblich duftend wie das Zimmer einer schönen Frau.

Der Speisesaal ist ganz getäfelt und mit einer jetzt nicht mehr erkennbaren Farbe gestrichen. Auf diesen Hintergrund hat der Schmutz der Jahrzehnte seltsame Gestalten gezeichnet. An den Wänden stehen mehrere Anrichtetische und Schränke, die eine klebrige Kruste angesetzt haben. Sie sind mit geschweiften staubigen Karaffen und Gläsern und mit Stößen dicker weißer, mit blauem Rande gezierter Teller aus den Fabriken von Tournai geschmückt. In einer Ecke steht ein Schrank mit numerierten Fächern, der zur Aufbewahrung der meist sehr schmutzigen und fleckigen Servietten der Pensionäre dient. In diesem Saal kann man längst abgetane Dinge sehen, die alle hier ein unverwüstliches Leben führen. Da ist ein Wetterhäuschen, aus dem bei Regenwetter ein Kapuzinermönch heraustritt; da gibt es schauderhafte Kupferstiche, alle in schwarzen, goldumrandeten Holzrahmen, eine Uhr in kupferbeschlagenem Gehäuse, einen grünen Ofen, öltriefende und staubbedeckte Lampen, einen langen Speisetisch mit einer so fettigen Wachstuchdecke, daß ein witziger Gast mit dem Fingernagel seinen Namen hineinkritzeln könnte, krüppelhafte Stühle, jämmerliche kleine Strohmatten, die sich beständig aufrollen, ohne doch jemals ganz unbrauchbar zu werden, wacklige Kohlenbecken mit Löchern und Beulen und zerbrochenen Scharnieren. Um darzutun, wie alt, morsch, moderig, wacklig, verstümmelt, elend und abgenutzt diese ganze Einrichtung ist, müßte man eine umständliche Beschreibung liefern, die mir der nach Ereignissen verlangende Leser nicht verzeihen würde. Der rote Steinfußboden hat vom Scheuern und Anstreichen allerlei tiefe Höhlungen bekommen. Kurz, es herrscht hier ein Elend ohne jede Poesie. Ist es noch nicht in Schmutz begraben, so hat es doch schon Flecke; fehlen ihm auch noch Löcher und Lumpen, so ist es doch schon erbärmlich abgeschabt.

In seinem ganzen Glanze zeigt sich dieses Gemach, wenn morgens gegen sieben Uhr die Katze der Frau Vauquer auf die Anrichtetische springt, die Milch beschnuppert, die dort in zugedeckten Schüsselchen steht, und ihr Morgenschnurren anhebt. Nun erscheint auch bald die Witwe in ihrer Tüllhaube, unter der sich die schlecht sitzende Perücke vordrängt. Sie schlurft in ausgetretenen Pantoffeln daher. Ihr alterndes, schwammiges Gesicht, aus dem die Nase wie ein Papageienschnabel heraussticht, ihre kleinen fetten Hände, ihre fleischige Gestalt passen ganz zu diesem Zimmer, wo aus tausend Winkeln das Elend grinst und die Gewinnsucht lauert und dessen warme, dumpfe Luft Frau Vauquer atmet, ohne davon angeekelt zu werden. Ihr Gesicht, das kalt ist wie ein erster Herbstfrost, ihre verkniffenen Augen, deren Ausdruck vom Balletteusenlächeln bis zur sauren Miene des Maklers beständig wechselt, ihr ganzes Äußeres paßt zu dieser Pension, wie die Pension zu ihr paßt. Zum Gefängnis gehört auch der Wärter; eins ohne das andere ist undenkbar. Die aufgeschwemmte Gestalt der kleinen Frau ist die Folge ihrer dumpfen Lebensweise, wie der Typhus die Folge der Ausdünstungen des Krankenhauses ist. Unter ihrem Hausrock, der aus einem alten Straßenkleide gefertigt ist und dessen Wattefutter aus dem zerschlissenen Oberstoff hervorquillt, schaut ein gestrickter wollener Unterrock hervor, der prophetisch alles verrät: in ihm spiegelt sich der Salon, der Speisesaal, das Gärtchen, in ihm ahnt man die Küche und die Pensionäre.

Ungefähr fünfzig Jahre alt, gleicht Frau Vauquer allen den Frauen, ›die Unglück gehabt haben‹. Ihr gläserner Blick hat den unschuldigen Ausdruck einer Kupplerin, die sich entrüstet stellt, um sich desto teurer bezahlen zu lassen, die jedoch aus Eigennutz zu allem bereit ist, bereit, Georges oder Pichegru preiszugeben, falls Georges oder Pichegru noch preisgegeben werden könnten. Trotz alledem ist sie ›im Grunde eine gute Frau‹, sagen die Pensionäre, die sie, weil sie gleich ihnen klagt und stöhnt, für vermögenslos halten. Was ist Herr Vauquer gewesen? Sie äußerte sich niemals über den Dahingeschiedenen. Auf welche Weise hatte er sein Vermögen verloren? ›Durch Unglücksfälle‹, erwiderte sie. Er hatte sich schlecht gegen sie benommen, ihr nichts hinterlassen als die Augen zum Weinen, als dieses Haus und das Recht, mit keinem Unglücklichen Mitleid zu empfinden, da sie, wie sie sagte, selbst alles gelitten habe, was nur irgend zu erleiden möglich sei.

Als die Köchin, die dicke Sylvia, den Schritt der Herrin hörte, beeilte sie sich, für die im Hause wohnenden Pensionäre das Frühstück aufzutragen. Die auswärts wohnenden Kostgänger pflegten nur das Mittagessen zu abonnieren, das monatlich dreißig Franken kostete.

Zu der Zeit, da meine Erzählung beginnt, betrug die Zahl der Vollpensionäre sieben. Im ersten Stock befanden sich die beiden besten Wohnungen des Hauses. Frau Vauquer bewohnte die unansehnlichere, und die andere gehörte einer Frau Couture, der Witwe eines Beamten der Republik. Sie hatte ein sehr junges Mädchen bei sich, Viktorine Taillefer, an der sie Mutterstelle vertrat. Die beiden Damen bezahlten zusammen achtzehnhundert Franken für ihre Pension. Der zweite Stock enthielt ebenfalls zwei Wohnungen, deren eine einem alten Manne namens Poiret gehörte; in der anderen wohnte ein etwa vierzigjähriger Mann, der eine schwarze Perücke trug, seinen Backenbart färbte, angab, früher Kaufmann gewesen zu sein, und sich Vautrin nannte. Das dritte Stockwerk bestand aus vier Zimmern, von denen zwei dauernd vermietet waren: das eine an ein altes Fräulein Michonneau, das andere an einen ehemaligen Nudel-, Makkaroni- und Mehlfabrikanten, der sich Vater Goriot nennen ließ. Die beiden anderen Zimmer waren für Zugvögel bestimmt, für jene armen Studenten, die wie der Vater Goriot und Fräulein Michonneau für Wohnung und Essen zusammen nicht mehr als fünfundvierzig Franken im Monat ausgeben konnten. Aber Frau Vauquer schätzte solche junge Leute wenig und nahm sie nur auf, wenn sich kein besserer Mieter fand: sie aßen zuviel Brot. Gegenwärtig gehörte eins der Zimmer einem jungen Manne, der aus der Gegend von Angoulême nach Paris gekommen war, um hier die Rechte zu studieren, und dessen zahlreiche Familie sich die größten Entbehrungen auferlegte, um ihm jährlich zwölfhundert Franken schicken zu können. Eugen von Rastignac, so nannte er sich, war einer von denen, die wissen, daß es ihre Bestimmung ist, zu arbeiten, die schon im jugendlichen Alter begreifen, welche Hoffnungen die Eltern auf sie setzen, und die sich eine schöne Zukunft zu verschaffen verstehen, indem sie ihre Studien von vornherein der zukünftigen politischen Richtung anzupassen suchen, um später einmal ihre Zeit und die Gesellschaft zu beherrschen. Ohne sein neugieriges Beobachten und die Sicherheit, mit der er sich zu den Pariser Salons Zutritt zu verschaffen wußte, würden dieser Erzählung die Farben der Wahrheit mangeln, die sie zweifellos seiner Klugheit und seinem Scharfsinn verdankt und seinem Bemühen, in ein trauriges Geheimnis einzudringen, das sowohl von denen, die es geschaffen, als auch von dem, der es erduldete, sorgsam gehütet wurde.

Über diesem dritten Stock befanden sich ein Trockenboden und zwei Mansarden, in denen Christoph, der Hausknecht, und die dicke Sylvia, die Köchin, schliefen. Außer den sieben Vollpensionären hatte Frau Vauquer noch durchschnittlich acht Studenten der Rechte oder der Medizin und zwei oder drei andere Stammgäste, die alle in diesem Viertel wohnten und lediglich das Mittagessen bei ihr einnahmen. Die Mittagstafel wurde für achtzehn Personen gedeckt und konnte auf zwanzig erweitert werden. Am Frühstückstisch jedoch fanden sich nur die sieben Mieter ein, die fast den Anblick einer einzigen Familie boten. Ein jeder erschien in Pantoffeln und erlaubte sich vertrauliche Bemerkungen über Kleidung oder Gebaren der Kostgänger und über die kleinen Ereignisse des Vorabends. Diese sieben Pensionäre waren die verzogenen Lieblinge Frau Vauquers, die ihnen Sorgfalt und Rücksichtnahme mit mathematischer Genauigkeit je nach der Höhe ihres Pensionspreises zumaß. Das gleiche traurige Geschick verband sie, diese Leute, die der Zufall hier in dieser Pension zusammengeführt hatte. Die beiden Mieter des zweiten Stockwerks bezahlten jeder zweiundsiebzig Franken im Monat. Diese billige Unterkunft, die man nur im Faubourg Saint-Marcel zwischen der Bourbe und der Salpêtrière findet und auf die sie alle mit Ausnahme der Frau Couture angewiesen waren, beweist, daß alle Pensionäre unter der Last des Elends schmachteten, das bald mehr, bald weniger klar zutage trat. Auch konnte man die ganze Trostlosigkeit der vorhin beschriebenen Einrichtung des Hauses in der ebenso abgenutzten Kleidung seiner Bewohner wiederfinden. Die Männer trugen Überröcke von rätselhafter Farbe, Schuhwerk, das man in den besseren Stadtteilen als abgetragen verwerfen würde, fadenscheinige Wäsche und geflickte Hosen. Die Frauen trugen alte, wieder und wieder gefärbte Kleider, morsche, ausgebesserte Spitzen, vergilbte Kragen, mehrfach gewendete Brusttücher und Handschuhe, die vom langen Tragen glänzend geworden waren. Trotz ihrer abgenutzten Kleidung aber hatten alle kräftige Gestalten, Körper, die den Stürmen des Lebens zu trotzen gewußt, harte, kalte Gesichter, verwischt wie das Gepräge abgegriffener Taler. Hinter den welken Lippen schimmerten starke gelbe Zähne. Beim Anblick dieser Leute ahnte man etwas von verklungenen oder noch in Gang befindlichen Dramen: Dramen, die nicht bei Lampenlicht und bemalter Leinwand vor sich gehen, sondern lebendige und stumme Dramen, die das nun starre Herz einst heiß bewegten, endlose Dramen.

Das alte Fräulein Michonneau trug über ihren müden Augen einen schmierigen Schirm aus grünem Taft, mit Messingdraht umwunden, bei dessen Anblick selbst der Engel des Mitleids sich abgewendet hätte. Ihr mit dünnen, weinerlichen Fransen geschmückter Schal schien ein Skelett zu umhüllen, so eckig traten ihre Formen unter dem Tuch hervor. Welche Säure hatte dieses Geschöpf seiner weiblichen Formen beraubt? Sie mußte einst hübsch und wohlgestalt gewesen sein. War es das Laster, der Kummer, die Begierde? Hatte sie zuviel geliebt? War sie Putzmacherin gewesen oder Kurtisane? Büßte sie Triumphe einer kecken Jugend, die alle Freuden genossen, durch ein Alter, vor dem ein jeder entsetzt zurückwich? Ihr matter Blick machte frösteln, ihre verkümmerte Gestalt drohte. Sie hatte die schrille Stimme der Grille, die im Gestrüpp dem Winter entgegenzirpt. Angeblich hatte sie einen an Blasenkatarrh leidenden alten Herrn gepflegt, den seine Kinder für mittellos gehalten und daher verlassen hatten. Dieser Greis hatte ihr eine Leibrente von tausend Franken vermacht, die von Zeit zu Zeit von den Erben angefochten wurde. Obgleich das Spiel der Leidenschaften ihr Gesicht entstellt hatte, zeigte es doch die Spuren einstiger Zartheit und lieblicher Formen, die vermuten ließen, daß auch der Körper sich noch einige Reste von Schönheit bewahrt habe.

Herr Poiret glich mehr einer seltsamen Maschine als einem Menschen. Wenn man ihn wie einen grauen Schatten eine Allee des Botanischen Gartens entlanggleiten sah, auf dem Kopf eine alte, eingedrückte Mütze, einen Stock mit gelber Elfenbeinkrücke in der zitternden Hand, mit flatternden Rockschößen, die nur schlecht seine fast leeren Beinkleider bedecken konnten, die Waden in blauen Strümpfen, wankend wie ein Betrunkener, dazu mit schmutziger weißer Weste und zerknittertem Vorhemdchen aus grobem Musselin, das niemals den Anschluß an die Krawatte zu finden vermochte, die seinen Truthahnhals umwand, so fragte man sich wohl, ob dieses Schattenbild der kecken Rasse der Söhne Japhets angehöre, die auf dem Boulevard des Italiens dahergaukeln. Welch eine Last hatte ihn so zusammenschrumpfen lassen, welche Leidenschaft sein aufgedunsenes Gesicht gezeichnet, das man bei einer Karikatur für Übertreibung gehalten hätte? Was war er gewesen? Vielleicht hatte er im Justizministerium gearbeitet, in den Büros, wo man die Kostenrechnungen der Scharfrichter nachzuprüfen hat, die Rechnungen über schwarze Augenbinden für die Hinzurichtenden, über Kleie für die Körbe und Schnur für das Fallbeil? Vielleicht war er Geldeinnehmer beim Schlachthaus oder Unterinspektor beim Gesundheitsamt gewesen? Kurz, dieser Mann schien einer der Esel an der großen sozialen Mühle gewesen zu sein, ein Lastträger, der seinen Herrn nicht einmal kannte, ein Zapfen, um den das öffentliche Elend, der öffentliche Unrat sich gedreht, einer der Menschen, bei deren Anblick wir uns sagen: ›Es muß auch solche Käuze geben.‹ Das schöne Paris verleugnet solche von geistigen oder körperlichen Leiden verblaßte Gestalten. Aber Paris ist ein wahrer Ozean. Werft das Senkblei hinein, ihr werdet seine Tiefe nie ermessen! Durchreist es, beschreibt es: wieviel Sorgfalt ihr auch anwendet, es zu durchreisen, zu beschreiben, wie zahlreich und eifrig auch die Erforscher dieses Meeres sein mögen, – man wird darin noch immer eine jungfräuliche Stelle, einen unbekannten Winkel, Blumen, Perlen, Ungeheuer, irgend etwas Unerhörtes, von den literarischen Tauchern Vergessenes finden. Das Haus Vauquer ist eine dieser seltsamen Ungeheuerlichkeiten.

Zwei Gestalten nun waren es, die in auffallendem Gegensatz zu der Masse der Pensionäre und Kostgänger standen. Die eine war Fräulein Viktorine Taillefer. Obgleich sie die krankhafte Blässe der Bleichsüchtigen hatte und sich dem allseitigen Elend, das den Hintergrund dieses Bildes abgibt, durch eine zur Gewohnheit gewordene Traurigkeit, ein bedrücktes Wesen und ärmliches Äußeres anschloß, so war ihr Gesicht dennoch jung, ihre Bewegungen waren rasch und ihre Stimme hell. Ihr junges Elend glich einem in falsches Erdreich eingesetzten Strauch, der seine Blätter gelb und kraftlos hängen läßt. Ihr zartes Gesicht, ihr mattblondes Haar, ihre überschlanke Gestalt zeigten jene Anmut, die unsere Dichter von heute in den Bildwerken des Mittelalters finden. Ihre grau und schwarzen Augen hatten einen sanften Ausdruck und spiegelten christliche Entsagung. Ihre Kleidung, die einfach und billig war, umhüllte jugendliche Formen. Sie war hübsch. Im Glück wäre sie entzückend gewesen, denn das Glück ist die Poesie der Frauen. Wenn die Freude eines Ballfestes auf dieses bleiche Gesicht seinen rosigen Schimmer geworfen, wenn die Annehmlichkeit eines behaglichen Lebens diese schon leicht eingesunkenen Wangen gerundet und erfrischt und wenn die Liebe diese traurigen Augen belebt hätte, so hätte Viktorine mit den schönsten jungen Mädchen wetteifern können. Es fehlte ihr das, was der Frau zum zweiten Mal Leben schenkt: Schleier und Spitzen – und Liebesbriefe. Ihre Geschichte könnte Stoff für einen ganzen Roman abgeben. Ihr Vater glaubte berechtigte Gründe zu haben, sie nicht anzuerkennen; er weigerte sich, sie bei sich aufzunehmen, bewilligte ihr jährlich nur sechshundert Franken und beabsichtigte, sein ganzes Vermögen seinem Sohne zuzuwenden. Frau Couture, eine entfernte Verwandte der Mutter Viktorines, die seinerzeit in Verzweiflung zu ihr geflüchtet und dort gestorben war, sorgte für die Waise wie für ihr eigenes Kind. Leider besaß die Beamtenwitwe nichts auf der Welt als ihre Witwenschaft und ihre Pension; sie würde das arme junge Mädchen eines Tages ohne Hoffnung und ohne alle Mittel der Gnade der Welt überlassen müssen. Die gute Frau führte Viktorine jeden Sonntag zur Messe und alle vierzehn Tage zur Beichte, um sie wenigstens zur Frömmigkeit zu erziehen. Sie tat recht daran; denn einzig die religiösen Gefühle boten diesem verleugneten Kinde eine Zukunft; dem armen Kinde, das seinen Vater liebte und alle Jahre zu ihm ging, um ihm die Verzeihung der Mutter zu bringen, das aber Jahr für Jahr vor unerbittlich verschlossene Türen kam. Ihr Bruder, ihr einziger Vermittler, hatte sie in vier Jahren nicht ein einziges Mal besucht und sandte ihr keinerlei Unterstützung. Sie flehte Gott an, ihrem Vater die Binde von den Augen zu nehmen, das Herz ihres Bruders zu erweichen; und sie betete für beide, ohne sie anzuklagen. Frau Couture und Frau Vauquer fanden nicht Worte, die stark genug waren, um die rohe Handlungsweise jener Männer zu bezeichnen. Wenn sie den schändlichen Millionär verfluchten, so ließ Viktorine hingegen sanfte Worte vernehmen, gleich der verwundeten Taube, deren Schmerzensschrei noch immer Liebe atmet.

Eugen von Rastignac hatte ganz das Gesicht eines Südländers: einen weißen Teint, schwarzes Haar und blaue Augen. In Wuchs und Manieren, in Haltung und Auftreten erkannte man den Sohn aus adligem Hause, wo schon die erste Erziehung auf Tradition des guten Geschmacks aufgebaut wird. Obgleich er seine Kleider schonen mußte und an gewöhnlichen Tagen die Anzüge vom Vorjahr aufzutragen pflegte, so konnte er doch manchmal in eleganter Kleidung ausgehen. Gewöhnlich trug er einen alten Gehrock, eine schlechte Weste, eine abgenutzte, schlecht gebundene Studentenkrawatte, dementsprechende Beinkleider und geflickte Stiefel.

Zwischen diesen beiden jungen Menschen und den anderen Pensionären bildete Vautrin, der Vierzigjährige mit dem gefärbten Bart, den Übergang. Er war einer jener Leute, von denen es im Volksmunde heißt: ›Ein prächtiger Kerl!‹ Er hatte breite Schultern, eine gewölbte Brust, harte Muskeln und dicke, viereckige, brennend rote Hände, die an jedem Fingerglied ein dickes Haarbüschel aufwiesen. Sein tief gefurchtes Gesicht trug den Stempel der Härte und strafte sein freundliches, schmiegsames Benehmen Lügen. Seine tiefe Stimme, die gut zu seiner plumpen Munterkeit paßte, war nicht unsympathisch. Er war ein Spaßmacher und immer bemüht, sich nützlich zu erweisen. Wollte irgendein Schloß nicht schließen, so hatte er es alsbald abgeschraubt, gereinigt, geölt, gefeilt und wieder angeschraubt, wobei er sagte: »Darauf verstehe ich mich.« Er verstand sich übrigens auf alles: auf Schiffahrt, Meereskunde, Frankreich, das Ausland, auf Geschäfte, Menschen und Ereignisse, auf die Gesetze, die Gasthöfe und die Gefängnisse. Wenn jemand stöhnte und klagte, so fragte er ihn aus und erbot sich, ihm zu helfen. Er hatte Frau Vauquer und einigen anderen Pensionären mehrmals Geld geliehen; aber seine Schuldner wären lieber gestorben, als daß sie diese Schuld nicht so schnell wie möglich wieder abgetragen hätten, so sehr flößte sein durchdringender und entschlossener Blick den Leuten Angst ein. Durch die Art, wie er ausspuckte, bewies er eine unerschütterliche Kaltblütigkeit, die zeigte, daß er selbst ein Verbrechen wagen würde, wenn es gälte, aus einer mißlichen Lage herauszukommen. Wie ein strenger Richter ging sein Auge allen Dingen auf den Grund, allen Fragen, allen Gewissen, allen Empfindungen. Er pflegte nach dem Frühstück auszugehen, zum Mittagessen heimzukommen und den Abend wieder draußen zu verbringen; erst gegen Mitternacht kam er zurück und verschaffte sich mit Hilfe eines Hausschlüssels Eingang, den Frau Vauquer ihm anvertraut hatte. Er allein genoß diesen Vorzug. Aber er stand sich auch am besten mit der Witwe, die er um die Taille faßte und ›Mama‹ nannte, eine Schmeichelei, die sie gar nicht zu würdigen wußte; denn die gute Frau hielt dies offenbar noch für leicht, wohingegen Vautrin der einzige war, dessen Arme lang genug waren, um den gewaltigen Umfang dieser Frau zu umspannen. Ein großmütiger Zug von ihm war es, fünfzehn Franken im Monat für den Gloria1 zu bezahlen, den er beim Nachtisch einzunehmen pflegte. Weniger oberflächliche Leute als diese vom Strudel des Pariser Lebens mitgerissenen jungen Männer und diese gegen alles, was sie nicht schmerzte, gleichgültigen Greise hätten sich über den zweifelhaften Charakter Vautrins ihre Gedanken gemacht. Er kannte oder erriet alles, was seine Umgebung betraf, er wußte ihrer aller Geschichte, während sie weder von seinem Denken noch von seinem Tun eine Ahnung hatten. Obgleich er seine anscheinende Gutmütigkeit, seine beständige Liebenswürdigkeit und Heiterkeit wie eine Schutzwehr zwischen sich und den anderen aufgerichtet hatte, ließ er doch oft den fürchterlichen Abgrund in seinem Charakter ahnen. Er hatte einen beißenden Witz, der des Juvenals würdig gewesen wäre, und gefiel sich darin, die Gesetze zu schmähen, die oberen Klassen zu geißeln und sie der Inkonsequenz gegen sich selbst zu überführen; alles dies verriet, daß er auf die gesellschaftlichen Zustände einen Haß hatte und daß es in seinem Leben irgendein sorgsam gehütetes böses Geheimnis gab.

Wohl unbewußt von der Kraft des einen und der Schönheit des anderen angezogen, teilte Fräulein Taillefer ihre verstohlenen Blicke und heimlichen Gedanken zwischen diesem Vierzigjährigen und dem jungen Studenten; aber keiner von ihnen schien an sie zu denken, obwohl der Zufall von einem Tage zum anderen ihre Lage ändern und sie zu einer reichen Partie machen konnte. Im übrigen gab sich keiner der Leute hier die Mühe, nachzuforschen, ob das vorgebliche Unglück der anderen wahr oder unwahr sei. Alle hatten füreinander nur Gleichgültigkeit und Mißtrauen, eine Folge ihrer eigenen mißlichen Lage. Sie sahen sich machtlos, einander ihre Bürde zu erleichtern, und alle hatten schon längst zu den Klagen der anderen den Becher des Beileids geleert. Gleich alten Eheleuten hatten sie einander nichts mehr zu sagen. Es verband sie also nur die Gemeinsamkeit der äußeren Lebensbedingungen, – ein ungeöltes Räderwerk. Alle mußten sie dem blinden Bettler auf der Straße ausweichen, traurige Schicksalsschläge ungerührt mit ansehen und in jedem Todesfall die Lösung eines Problems erblicken, das sie gefühllos gemacht und sogar dem Todeskampf seine Schrecken genommen hatte. Die glücklichste unter diesen trostlosen Seelen war Frau Vauquer, die freie Herrin jenes Armenhauses. Für sie allein war der kleine Garten, den Hitze und Kälte, Trockenheit und Nässe in eine öde Steppe verwandelt hatten, ein blühendes Gehege. Für sie allein besaß das gelbe und düstere Haus mit seinem widerlichen Geruch einen Reiz. Seine Gefängniszellen gehörten ihr; sie nährte die armen Sklaven, die das Leid ihr zugeführt hatte und die sich ihrer Oberhoheit demütig unterwarfen. Wo hätten die armen Wesen in ganz Paris zu ebenso mäßigem Preise gesunde, zureichende Lebensbedingungen gefunden und einen Raum, den sie sich, wenn auch nicht elegant und behaglich, so doch sauber einrichten durften? Selbst wenn sie sich irgendeine schreiende Ungerechtigkeit erlaubt hätte, so würden ihre Opfer das ohne Klage hingenommen haben.

Mußte nicht das Leben in einer solchen Pension ein kleines Spiegelbild der großen menschlichen Gesellschaft sein? – So war es auch.

Unter den achtzehn Tischgenossen fand sich, wie in der Schule, wie in der großen Welt, ein armes ausgestoßenes Geschöpf, ein Sündenbock, auf den Neckerei und Bosheit niederregneten. Zu Beginn des zweiten Jahres, das Eugen von Rastignac hier zubrachte, wurde jene Gestalt für ihn die bedeutsamste von allen, in deren Mitte er noch zwei Jahre zuzubringen verurteilt war. Dieser Sündenbock war der alte Nudelfabrikant, der Vater Goriot, auf dessen Kopf ein Maler alles Licht seines Gemäldes vereinigt hätte. Durch welchen Zufall hatte diese halb gehässige Verachtung, diese halb mitleidige Niedertracht gerade den ältesten, ehrwürdigsten der Pensionäre getroffen? Hatte er durch irgendwelche Lächerlichkeiten oder Absonderlichkeiten, gegen die man unduldsamer ist als gegen das Laster, Veranlassung dazu gegeben? Diese Fragen streifen an gar manche Ungerechtigkeit der Welt. Vielleicht liegt es in der Natur des Menschen, dem alles aufzubürden, der alles erträgt, sei es nun aus wahrer Demut, aus Schwachheit oder Gleichgültigkeit. Lieben wir nicht alle, auf Kosten irgendeines anderen unsere eigene Stärke darzutun? Das schwächste Geschöpf, der Gassenjunge, erdreistet sich, an allen Haustüren die Glocke zu ziehen, oder er klettert an einem neuen Denkmal empor, um seinen Namen daranzuschreiben.

Vater Goriot, ein Greis von etwa zweiundsechzig Jahren, hatte sich im Jahre 1813 von den Geschäften zurückgezogen und bei Frau Vauquer eingemietet. Er nahm damals die jetzt von Frau Couture bewohnten Zimmer ein und zahlte zwölfhundert Franken Pension, als ein Mann, dem es auf fünf Louis mehr oder weniger nicht ankam. Frau Vauquer hatte die Zimmer für eine im voraus bezahlte Summe neu eingerichtet und ihr Geschäft dabei gemacht; die Neueinrichtung bestand aus gelben Kalikovorhängen, lackierten, mit Utrechter Samt bezogenen Lehnstühlen, einigen Öldrucken und einer Tapete, wie sie schlechter kaum in der simpelsten Vorstadtschenke gefunden werden könnte. Vielleicht war es gerade die sorglose Freigebigkeit Vater Goriots, der damals noch achtungsvoll Herr Goriot genannt wurde, was ihn in den Augen der anderen zu einem Dummkopf machte, der von Geschäften nichts verstehe.

Goriot kam und brachte eine reiche Garderobe mit, die glänzende Ausstattung eines Geschäftsmannes, der sich nichts zu versagen braucht. Frau Vauquer hatte achtzehn Hemden aus holländischer Leinwand bewundert, deren Feinheit noch durch zwei von einem goldenen Kettchen zusammengehaltenen Brillantnadeln erhöht wurde, mit denen der Nudelfabrikant sein Vorhemd schmückte. Er trug für gewöhnlich einen blauen Anzug und legte jeden Tag eine weiße Pikeeweste an, unter der sein birnenförmiger Bauch behaglich schaukelte und eine schwere goldene, mit Verlocken behangene Uhrkette in Schwingungen setzte. Seine ebenfalls goldene Tabaksdose enthielt ein Medaillon voller Haarlocken, was ihm das Ansehen eines vom Glück begünstigten Mannes verlieh. Als seine Wirtin ihn vertraulich einen ›galanten Gecken‹ nannte, huschte über sein Gesicht das vergnügte Lächeln des Spießbürgers, dem man sein Steckenpferd tätschelt. In seinen Schränken und Kommoden verwahrte er Silberzeug. Die Augen der Wirtin leuchteten, als sie ihm liebenswürdig behilflich war, die Sachen auszupacken und einzuräumen. Da gab es Vorlegelöffel, Bestecke, Essig-und-Öl-Gestelle, Saucenschüsseln, Fisch- und Kuchenplatten, vergoldetes Frühstücksgeschirr, kurz, eine Menge mehr oder weniger schöner Dinge, die viele Pfund wogen und von denen er sich nicht trennen wollte, denn es waren Geschenke, die ihn an die Feierstunden seines Ehelebens erinnerten.

»Dies hier«, sagte er zu Frau Vauquer und legte die Hand zärtlich auf eine Platte und ein kleines Kännchen, dessen Deckel von zwei sich schnäbelnden Tauben gebildet wurde, »ist das erste Geschenk meiner Frau; sie gab es mir am Jahrestag unserer Hochzeit. Arme Kleine! Sie hatte ihre ganzen Mädchenersparnisse dafür hingegeben. Sehen Sie, liebe Frau, ich möchte lieber die Erde mit meinen Nägeln aufkratzen, als mich hiervon trennen. Gott sei Dank, ich werde bis ans Ende meiner Tage meinen Kaffee aus diesem Kännchen genießen können! Ich bin nicht zu beklagen, ich habe für lange Zeit Brot im Kasten.«

Schließlich hatte Frau Vauquers spähender Elsternblick auch noch in Goriots Hauptbuch ein paar Zahlen entdeckt, die, flüchtig zusammengerechnet, ergaben, daß der treffliche Alte eine Jahreseinnahme von acht- bis zehntausend Franken haben mußte. Von da an nährte Frau Vauquer, geborene von Conflans, die damals achtundvierzig Jahre zählte, aber neununddreißig zugestand, einen gewissen Gedanken. Obgleich Goriots Augen rot und geschwollen waren, weshalb er sie oft trocknen mußte, fand sie ihn von angenehmem und stattlichem Äußeren. Überdies ließ seine kräftige, schön geschwungene Wade und seine lange, breite Nase auf gewisse moralische Eigenschaften schließen, auf die die Witwe Wert zu legen und die das einfältige Vollmondgesicht des Biedermannes noch zu bestätigen schien. Das mußte ein kräftig gebauter Mann sein, fähig, all seinen Geist in Gefühle umzusetzen. Seine taubengrauen Haare, die der Friseur des Polytechnikums ihm jeden Morgen ordnete und puderte, zeichneten fünf Löckchen auf seine niedrige Stirn und standen ihm gut zu Gesicht. War er auch etwas plump, so kleidete er sich doch stets so sorgfältig, schnupfte so reichlich und streute dabei so viel Tabak um sich, daß er ganz den Eindruck eines Mannes machte, der sicher ist, seine Tabaksdose zeitlebens voll Makuba zu sehen. So kam es, daß am Tage seines Einzuges Frau Vauquer, als sie sich abends schlafen legte, im Feuer ihres glühenden Wunsches schmorte wie das Rebhuhn in seiner Speckschwarte; ihre Wünsche aber gingen dahin, das Leichentuch Vauquer abzulegen und als Goriot wieder aufzuerstehen. Sich verheiraten, ihre Pension verkaufen, diesem feinen Bürger die Hand reichen, in ihrem Viertel eine angesehene Dame werden, sich durch Mildtätigkeit angenehm auszeichnen, des Sonntags kleine Ausflüge machen nach Choisy, Soissy, Gentilly, nach Gefallen ins Theater gehen, in die Loge, ohne auf die Freibillette warten zu müssen, die ihr einige ihrer Pensionäre im Sommer zukommen ließen, – sie träumte sich das ganze Dorado eines kleinen Pariser Haushalts zusammen. Übrigens besaß sie, was sie niemandem verraten hatte, ein Sou für Sou zusammengespartes Vermögen von vierzigtausend Franken. Ja, was das Geld anlangte, hielt sie sich mit Recht für eine gute Partie.

›Und im übrigen bin ich dem guten Manne durchaus ebenbürtig‹, sagte sie sich und drehte sich im Bett herum, wie um sich selbst die Formenreize zu vergegenwärtigen, die die dicke Sylvia jeden Morgen im Bett eingedrückt fand.

Von jenem Tage an benutzte die Witwe Vauquer den Friseur des Herrn Goriot und gab etwas mehr für ihre Kleidung aus, was sie mit der Notwendigkeit entschuldigte, ihrem Hause einen gewissen Glanz zu verleihen, damit es der ehrenwerten Gäste würdig sei. Sie strengte sich sehr an, ihre bisherigen Pensionäre aus dem Hause zu bekommen, unter dem Vorgeben, von nun an nur in jeder Hinsicht angesehene Leute aufnehmen zu wollen. Zeigte sich ein Fremder, so rühmte sie sich der Ehre, die Herr Goriot, einer der geachtetsten Geschäftsleute von Paris, ihrem Hause erwiesen habe. Sie versandte Prospekte, auf denen zu lesen stand: ›Haus Vauquer‹. Es sei, sagte sie, eine der ältesten und berühmtesten Familienpensionen des Quartiers Latin. Man genieße von hier eine prächtige Aussicht auf das Val des Gobelins – vom dritten Stock aus war es sichtbar – und habe dicht beim Hause einen ›hübschen‹ Garten, an dessen Ende eine ›Lindenallee‹ sich ›erstrecke‹. Sie redete ferner von guter Luft und idyllischer Ruhe. Dieser Prospekt führte ihr die Gräfin de l'Ambermesnil zu, eine Frau von sechsunddreißig Jahren, die auf Regelung und Erledigung einer Pension wartete, die man ihr als der Witwe eines ›auf den Schlachtfeldern‹ gefallenen Generals schuldete. Frau Vauquer sorgte für bessere Kost, heizte fast sechs Wochen lang die Wohnräume und hielt die Versprechungen ihres Prospekts gut inne, da sie auch so noch ihren Schnitt dabei machte. Die Gräfin verkündete daraufhin Frau Vauquer, die sie ›liebe Freundin‹ nannte, daß sie ihr die Frau Baronin Vaumerland und die Witwe des Obersten und Grafen Picquoiseau zuführen wolle, zwei ihrer Freundinnen, die vorläufig noch im Marais2 in einer weit teureren Pension eingemietet seien. Sobald die Bureaus des Kriegsministeriums mit ihrer Abrechnung fertig wären, würden diese Damen, wie auch sie selbst, sehr gut gestellt sein.

»Aber«, sagte sie, »die Bureaus werden nie fertig.«

Die beiden Witwen stiegen nach Tisch hinauf in das Zimmer der Frau Vauquer und machten ein kleines Schwätzchen, wobei sie Johannisbeerlikör tranken und Süßigkeiten naschten. Frau de l'Ambermesnil billigte vollständig die Absichten ihrer Wirtin auf Goriot: vortreffliche Absichten, die sie übrigens vom ersten Tage an geahnt habe; sie hielt ihn für einen prächtigen Mann.

»Ah, meine liebe Dame, ein Mann – gesund wie mein Auge!« sagte die Witwe Vauquer, »ein vortrefflich konservierter Mann, der einer Frau noch viel Vergnügen bereiten kann.«

Die Gräfin ließ sich herab, Frau Vauquer ein paar Worte über ihre Kleidung zu sagen, die mit ihrem Vorhaben nicht in Einklang stände.

»Sie müssen sich auf den Kriegsfuß stellen«, sagte sie zu ihr.

Nach langem Überlegen gingen die beiden Witwen gemeinsam zum Magasin du Palais-Royal, wo sie einen Federhut und eine Haube kauften. Die Gräfin schleppte ihre Freundin zum Magasin de la Petite Jeannette, wo sie ein Kleid und eine Schärpe auswählten. Als die Witwe so unter den Waffen stand, hatte sie alle Ähnlichkeit mit einem Pfingstochsen. Nichtsdestoweniger glaubte sie sich so sehr zu ihrem Vorteil verändert, daß sie sich in der Schuld der Gräfin fühlte und sie – allerdings schweren Herzens – bat, einen Hut zu zwanzig Franken von ihr anzunehmen. In Wahrheit rechnete sie damit, sie um den Dienst zu bitten, Goriot auszuhorchen und sie bei ihm herauszustreichen. Frau de l'Ambermesnil widmete sich sehr eifrig diesem Freundschaftsdienst und stellte dem alten Nudelfabrikanten nach, und schließlich gelang es ihr, eine Unterredung mit ihm zu erreichen. Aber da sie ihn den Versuchungen gegenüber, denen sie ihn in ihrem eigenen Interesse aussetzte, zurückhaltend, um nicht zu sagen widerstrebend fand, verließ sie ihn, empört über seine Plumpheit.

»Mein Engel,« sagte sie zu ihrer lieben Freundin, »aus diesem Manne werden Sie nie etwas herausholen! Er ist lächerlich mißtrauisch, ein Geizhals, ein Tölpel, ein Dummkopf, der Ihnen nur Unannehmlichkeiten bereiten wird.«

Zwischen Herrn Goriot und Frau de l'Ambermesnil hatten sich derartige Dinge ereignet, daß die Gräfin nicht mehr mit ihm zusammenzutreffen wünschte. Sie verschwand daher anderntags, wobei sie vergaß, die Rechnung zu bezahlen, die sich auf sechs Monate Kost und Wohnung belief. Ein abgelegtes Kleid im Werte von etwa fünf Franken war das einzige, was sie zurückließ. Mit wieviel Eifer auch Frau Vauquer die Nachforschungen betrieb, sie konnte in ganz Paris keine Auskunft über die Gräfin de l'Ambermesnil erhalten. Sie sprach oft von diesem schweren Schlag, der sie betroffen hatte, und beklagte ihre allzu große Vertrauensseligkeit, und doch war sie mißtrauischer als eine Katze. Aber sie glich sehr jenen Leuten, die den Nahestehenden mißtrauen und sich dem ersten besten Fremden ausliefern; eine seltsame, aber oft beobachtete Tatsache, deren Wurzel im Menschenherzen leicht zu finden ist. Vielleicht haben solche Seelen bei ihrer nächsten Umgebung nichts mehr zu gewinnen; sie haben ihr die Leere ihrer Seele aufgedeckt und fühlen sich mit verdienter Härte von ihr verurteilt. Da sie aber ein unbezwingliches Bedürfnis haben, sich umschmeichelt zu sehen, oder gern Eigenschaften vortäuschen möchten, die sie nicht besitzen, so hoffen sie die Achtung oder die Liebe eines Fremden zu erringen, selbst auf die Gefahr hin, sich eines Tages betrogen zu sehen. Endlich gibt es auch geborene Mietlinge, die ihren Freunden oder Angehörigen nicht den kleinsten Dienst erweisen, weil er hier selbstverständlich wäre, wohingegen, wenn sie sich einem Fremden widmen, ihre Eigenliebe einen Gewinn davonträgt. Je näher ihnen jemand steht, um so weniger lieben sie ihn; je ferner er steht, um so ergebener sind sie. Frau Vauquer gehörte sicherlich zu diesen beiden Arten in hohem Maße kleinlicher, falscher und widerwärtiger Naturen.

»Wenn ich hier gewesen wäre,« sagte Vautrin zu ihr, »so wäre Ihnen das Unglück nicht zugestoßen. Ich hätte Ihnen die Schurkin schon entlarvt. Ich verstehe mich auf solche Fratzen.«

Wie alle beschränkten Geister hatte Frau Vauquer die Gewohnheit, aus dem engen Kreise der Ereignisse nicht herauszutreten und nicht nach ihren Ursachen zu forschen. Sie liebte es, für ihre eigenen Fehler andere verantwortlich zu machen. Als dieser Verlust sie traf, betrachtete sie den biederen Nudelfabrikanten als die Ursache ihres Unglücks und begann von da an, wie sie sagte, sich an ihm ›schadlos zu halten‹. Als sie die Nutzlosigkeit ihrer Verführungskünste und Putzsucht eingesehen hatte, zögerte sie nicht, einen Grund für die Zurückhaltung des Alten aufzustellen. Sie sagte sich also, daß ihr Pensionär wahrscheinlich schon ›seine Schliche‹ habe. Sie gewann die Überzeugung, daß ihre so zärtlich genährten Hoffnungen nichts als Luftschlösser waren und daß sie, wie die Gräfin, die ihr nun wie eine Kennerin schien, so richtig gesagt hatte, ›aus dem Manne da niemals etwas herausholen würde‹. Naturgemäß ging sie in ihrer Abneigung weiter, als sie in ihrer Freundschaft gegangen war. Ihr Haß entsprang nicht enttäuschter Liebe, sondern enttäuschter Erwartung. Wenn das menschliche Herz Ruhe findet, sobald es den Gipfel der Zuneigung erklommen hat, so hält es doch selten im steilen Abstieg des Hasses inne. Aber Herr Goriot war ihr Pensionär; die Witwe sah sich also genötigt, die Ausbrüche verwundeter Eigenliebe zu ersticken, die Seufzer der Enttäuschung zurückzuhalten und ihre Rachegefühle zu bezähmen, wie ein Mönch, den sein Prior geärgert hat. Kleine Geister befriedigen ihre Gefühle, seien sie gut oder schlecht, durch endlose Kleinlichkeiten. Die Witwe entfaltete die ganze Bosheit ihrer Frauenseele, um gegen ihr Opfer geheime Ränke zu spinnen. Sie begann damit, den in letzter Zeit eingeführten Überfluß in der Beköstigung der Pensionäre wieder abzuschaffen.

»Keine Gurken mehr, keine Sardellen; das sind Dummheiten«, sagte sie zu Sylvia an dem Morgen, da sie ihr ehemaliges Programm wieder aufnahm.

Herr Goriot war ein einfacher Mann, dem die Sparsamkeit eines Menschen, der sich mühsam hatte emporarbeiten müssen, zur Gewohnheit geworden war. Suppe, gekochtes Fleisch und Gemüse, mehr beanspruchte er nicht. Es war also für Frau Vauquer nicht leicht, ihren Pensionär zu quälen, da sie ihm mit ihrem vereinfachten Küchenzettel nichts anhaben konnte. Sie beschloß daher, ihm auf andere Weise zu schaden: sie behandelte ihn verächtlich und suchte ihn in den Augen seiner Mitpensionäre herabzusetzen, sie verstand es, eine allgemeine Abneigung gegen Goriot zu erwecken und sich auf diesem Umweg an ihm zu rächen. Gegen Ende des ersten Jahres war das Mißtrauen der Witwe so groß geworden, daß sie sich fragte, weshalb der Kaufmann, der sieben- bis achttausend Franken Rente, einen kostbaren Silberschatz und Schmuck und Wertsachen besaß wie eine Buhlerin, sich bei ihr eingemietet habe und ihr nur ein zu seinem Vermögen in gar keinem Verhältnis stehendes bescheidenes Pensionsgeld bezahle. Während des größten Teiles dieses ersten Jahres hatte Goriot häufig ein- oder zweimal wöchentlich außerhalb gespeist; dann war es allmählich dahin gekommen, daß er höchstens zweimal im Monat in der Stadt speiste. Die kleinen Vergnügungsfahrten Goriots waren für Frau Vauquer viel zu einträglich, als daß sie nicht über die zunehmende Regelmäßigkeit, mit der ihr Pensionär die Mahlzeiten im Hause einnahm, unzufrieden gewesen wäre. Sie schrieb diese Veränderung sowohl einer langsamen Abnahme seines Vermögens als auch seiner Absicht zu, seine Wirtin zu ärgern. Eine der widerlichsten Eigenschaften der kleinen Seelen ist es, ihre eigene Kleinlichkeit bei den anderen vorauszusetzen. Unglücklicherweise rechtfertigte Goriot gegen Ende des zweiten Jahres die Verdächtigungen, die man über ihn äußerte, indem er Frau Vauquer ersuchte, seine Wohnung in den zweiten Stock zu verlegen und seine Pension auf neunhundert Franken herabzusetzen. Er mußte sogar so sparsam sein, sich während des Winters die Heizung zu versagen. Die Witwe Vauquer wünschte Vorauszahlung, womit Herr Goriot, den sie von nun an ›Vater Goriot‹ nannte, einverstanden war. Wo lag nun die Ursache dieses Niederganges? Das war schwer herauszubekommen; denn wie die falsche Gräfin gesagt hatte, so war es: Vater Goriot war ein Duckmäuser, ein Schweiger. Nach der Logik der Hohlköpfe, die alle Schwätzer sind, weil sie nichts zu sagen haben, müssen alle, die nicht von ihren Geschäften sprechen, schlechte Geschäfte machen. Der früher so geschätzte Kaufmann wurde also ein Schurke, der ›galante Geck‹ ein alter Narr. Bald galt Vater Goriot nach Vautrins Ansicht, der sich zu jener Zeit im Hause Vauquer einmietete, als ein Mann, der an der Börse spekulierte. Bald hieß es, er sei ein Spieler, einer von den kleinen, die am Abend nicht mehr als zehn Franken verlieren oder gewinnen. Bald machte man ihn zu einem Polizeispion; aber Vautrin behauptete, daß er dazu nicht schlau genug sei. Auch für einen Wucherer hielt man den Vater Goriot und sagte, er leihe kleine Summen für hohe Zinsen aus, und ganz gewiß gehöre er zu jenen Leuten, die ihr Leben lang auf eine Lotterienummer setzen. Man traute ihm jede Schwäche und jedes Laster zu. Dennoch, wie empörend man sein Betragen und seine Lasterhaftigkeit auch fand, ging die Abneigung gegen ihn nicht so weit, ihn zu verbannen; er bezahlte ja immerhin seine Pension. Und dann war er ja auch dazu brauchbar, daß jeder seine gute oder schlechte Laune an ihm auslassen konnte, sei es durch leichten Witz oder bissigen Spott. Die einzig richtige Ansicht über ihn schien Frau Vauquer sich gebildet zu haben, und die wurde dann auch allgemein angenommen. Wenn man sie hörte, so war dieser wohlerhaltene und gesunde Mann – ›gesund wie mein Auge, ein Mann, an dem man noch viel Freude haben könnte‹ – ein lockerer Vogel, der gar seltsame Neigungen hatte. Auf welche Tatsachen stützte die Witwe Vauquer ihre Verleumdungen? Einige Monate nach dem Weggang jener niederträchtigen Gräfin, die sechs Monate auf ihre Kosten gelebt hatte, hörte sie eines Morgens vor dem Aufstehen das Rascheln eines Seidenkleides und den zierlichen Schritt einer jungen und zarten Frau, die zu Goriot hineinschlüpfte, dessen Tür sich verständnisvoll geöffnet hatte. Gleich darauf kam die dicke Sylvia, um ihrer Herrin zu melden, daß ein Mädchen, viel zu hübsch, um anständig zu sein, und gekleidet wie eine Fee, mit entzückenden hellen Stiefelchen, die nicht den geringsten Schmutzfleck aufwiesen, wie ein Aal ins Haus und an die Küchentür geschlüpft sei und sich nach der Wohnung des Herrn Goriot erkundigt habe. Frau Vauquer und ihre Köchin verlegten sich aufs Horchen und fingen einige zärtlich betonte Worte auf. Der Besuch währte geraume Zeit. Als Herr Goriot ›seine Dame‹ hinausgeleitete, nahm die dicke Sylvia sogleich ihren Korb und tat, als ginge sie zum Markt; sie folgte dem Liebespaar.

»Frau Vauquer,« sagte sie nach ihrer Rückkehr, »Herr Goriot muß verteufelt reich sein, um sie so auszustatten. Stellen Sie sich vor, daß an der Ecke der Estrapade ein wundervoller Wagen hielt, in den sie eingestiegen ist.«

Während des Essens zog Frau Vauquer an einem der Fenster einen Vorhang zu, um Goriot vor der Sonne zu schützen, die ihm gerade in die Augen schien.

»Das Schöne liebt Sie, Herr Goriot, die Sonne geht Ihnen nach«, sagte sie mit Beziehung auf den Besuch, den er empfangen hatte. »Seht, seht! Sie haben einen guten Geschmack; sie war auffallend hübsch.« »Es war meine Tochter«, sagte er mit einem gewissen Stolz, – eine Äußerung, in der die Pensionäre nur ein greisenhaftes Bemühen, den Schein zu wahren, erblicken wollten.

Einen Monat nach diesem Besuch erhielt Herr Goriot wieder einen. Seine Tochter, die das erste Mal im Straßenkleid gekommen war, kam diesmal nach Tisch in Besuchstoilette. Die Pensionäre, die plaudernd im Salon saßen, konnten in ihr eine zarte, anmutige Blondine bewundern, viel zu vornehm, Vater Goriots Tochter zu sein.

»Da die zweite!« sagte die dicke Sylvia, die sie nicht wiedererkannte.

Einige Tage danach fragte wieder ein anderes Mädchen, groß und schön gewachsen, mit braunem Teint, schwarzen Haaren und lebhaften Augen, nach Herrn Goriot.

»Da die dritte!« sagte Sylvia.

Diese zweite Tochter, die ihren Vater das erste Mal ebenso des Morgens besucht hatte, kam einige Tage später am Abend in Balltoilette und zu Wagen.

»Da die vierte!« sagten Frau Vauquer und die dicke Sylvia, die in dieser strahlenden Dame keine Spur des einfach gekleideten Fräuleins wiedererkannten.

Goriot bezahlte damals noch zwölfhundert Franken Pension. Frau Vauquer fand es ganz natürlich, daß ein reicher Mann vier bis fünf Mätressen habe, und fand es sogar sehr korrekt, daß er sie als seine Töchter ausgab. Sie beklagte sich nicht einmal darüber, daß er sie in die Pension bestellte. Da aber diese Besuche ihr die Gleichgültigkeit ihres Pensionärs hinsichtlich ihrer eigenen Person erklärten, erlaubte sie sich zu Beginn des zweiten Jahres, ihn einen ›alten Kater‹ zu nennen. Dann aber, als ihr Pensionär auf neunhundert Franken herabstieg, fragte sie ihn unverfroren, als sie eine der Damen fortgehen sah, was er eigentlich von ihrem Hause denke. Vater Goriot erwiderte ihr, diese Dame sei seine älteste Tochter.

»Sie haben wohl sechsunddreißig solche Töchter?« versetzte Frau Vauquer mit saurer Miene. »Ich habe nicht mehr als zwei«, antwortete der Pensionär mit der Milde eines gebrochenen Mannes, den das Elend fügsam gemacht hat.

Gegen Ende des dritten Jahres schränkte Vater Goriot seine Ausgaben wiederum ein, indem er in den dritten Stock hinaufzog und seine Pension auf fünfundvierzig Franken im Monat herabsetzen ließ. Er verzichtete auf den Schnupftabak, verabschiedete seinen Friseur und trug das Haar ungepudert. Als Vater Goriot zum ersten Mal ungepudert erschien, konnte seine Wirtin einen erstaunten Ausruf nicht unterdrücken: sein Haar hatte eine schmutzige, grünlichgraue Farbe. Sein Gesicht, das geheime Kümmernisse von Tag zu Tag kaum wahrnehmbar trauriger gemacht hatten, schien jetzt das trostloseste von allen, die die Tafel umgaben. Nun gab es keinen Zweifel mehr: Vater Goriot war ein Wüstling, dessen Augen vor dem unheilvollen Einfluß der von seinen Krankheiten bedingten Medikamente lediglich durch die Geschicklichkeit eines Arztes behütet worden waren. Die widerliche Farbe seines Haares zeugte von seinen Ausschweifungen und den Arzneien, die er geschluckt hatte, um sie fortsetzen zu können. Der körperliche und geistige Zustand des Alten gab diesen Schwätzereien recht. Als sein Wäschevorrat aufgebraucht war, kaufte er sich Kattun zu vierzehn Sous die Elle als Ersatz für seine schöne Leinwand. Seine Diamanten, seine goldene Tabaksdose, seine Kette, seine Schmuckstücke verschwanden eins nach dem anderen. Er hatte seinen blauen Rock, seine ganze Kleidung abgelegt und trug Sommer wie Winter einen groben kastanienbraunen Tuchrock, eine ziegenlederne Weste und grauwollene Beinkleider. Er wurde nach und nach mager, seine Waden verschwanden, sein von spießbürgerlicher Behaglichkeit strotzendes Gesicht schrumpfte mehr und mehr zusammen, die Stirn furchte sich, das Kinn trat spitz hervor. Im vierten Jahre seines Aufenthaltes in der Rue Neuve-Sainte-Geneviève war er nicht mehr wiederzuerkennen. Der gute Nudelfabrikant von zweiundsechzig Jahren, der bisher wie ein Vierziger ausgesehen hatte, der breite, behäbige Bürder, dessen schalkhaftes, fast jugendliches Wesen und lustiger Gang auf der Straße Aufsehen erregt hatten, schien nun ein stumpfer Siebzigjähriger. Sein Gang war unsicher, seine einst so lebhaften blauen Augen wurden matt und grau und hatten keine Tränen mehr; nur schienen ihre roten Ränder Blut zu weinen. Den einen flößte er Entsetzen ein, den anderen Mitleid. Die jungen Studenten der Medizin, die das Senken seiner Unterlippe bemerkt und seinen Gesichtswinkel gemessen hatten, erklärten ihn vom Kretinismus befallen. Eines Abends nach Tisch hatte Frau Vauquer ihn spöttisch gefragt: »Na, Ihre Töchter kommen ja nicht mehr, Sie zu besuchen?« – denn sie zweifelte noch immer an seiner Vaterschaft. Goriot schrak zusammen, als habe man ihn mit glühendem Eisen gebrannt. »Sie kommen hie und da«, sagte er mit zitternder Stimme. »Ah, ah! Sie sehen sie noch manchmal?« riefen die Studenten. »Bravo, Vater Goriot!«

Aber der Greis hörte nicht die Scherzreden, die seine Antwort ihm eintrug. Er war wieder in Nachdenken verfallen, in einen Zustand, den oberflächliche Beobachter für Apathie, für eine Folge seiner Gehirnschwäche hielten. Wenn sie ihn recht gekannt hätten, so hätte gewiß das Problem seines geistigen und leiblichen Verfalls ihre Anteilnahme geweckt; aber der alte Mann war schwer zu durchschauen. Obgleich es leicht gewesen wäre, festzustellen, ob Goriot tatsächlich Nudelfabrikant gewesen war und auf welche Summe sich sein Vermögen belief, so nahm sich doch keiner die Mühe dazu. Die alten Pensionäre, deren Neugier er erweckt hatte, verließen nie das Viertel und klebten an der Pension wie Austern an ihrem Felsen. Die anderen aber hatten kaum die Rue Neuve-Sainte-Geneviève verlassen, so riß das Pariser Leben sie in seinen Strudel und ließ sie den armen Alten vergessen, über den sie sich lustig gemacht hatten. Für jene beschränkten Seelen wie auch für die sorglosen jungen Leute war Vater Goriots dürres Elend und blödes Benehmen unvereinbar mit Geldbesitz und irgendwelchen Geistesfähigkeiten. Was aber die Frauen anlangte, die er seine Töchter nannte, so teilte jeder die Anschauung der Frau Vauquer, die mit der strengen Logik alter Weiber, die ihre Abende mit Klatsch und Verdächtigungen verbringen, erklärte: »Wenn der Vater Goriot so reiche Töchter hätte, wie alle die Damen zu sein schienen, die ihn besucht haben, so wäre er hier nicht im Hause zu fünfundvierzig Franken im Monat und ginge nicht gekleidet wie ein Armenhäusler.«

Diese Folgerung war nicht zu widerlegen. So kam es, daß gegen Ende November 1819, zur Zeit, als unser Drama der Katastrophe entgegendrängte, jeder seine feste Meinung über den armen Alten hatte: er hatte niemals weder Frau noch Kind gehabt; leichtsinniger Lebenswandel hatte aus ihm eine Schnecke gemacht, eine anthropomorphe Molluske, einzureihen in die Klasse der Weichtiere, sagte ein Tischabonnent, ein Museumsbeamter. Poiret war ein Adler, ein Gentleman neben Goriot. Poiret sprach, widerlegte, scherzte. Allerdings waren seine Äußerungen ganz belanglos, denn er wiederholte immer nur mit anderen Worten, was die anderen schon gesagt hatten. Aber er trug doch zur Unterhaltung bei, er war lebhaft, schien gefühlvoll, wohingegen Vater Goriot – um nochmals den Museumsbeamten zu zitieren – stets auf dem Nullpunkt stand.

Eugen von Rastignac war aus den Ferien in einer Geistesverfassung zurückgekehrt, wie sie bedeutenden jungen Leuten oder solchen, denen eine schwierige Lage vorübergehend die Eigenschaften überlegener Männer verlieh, bekannt sein sollte. Im ersten Jahre seines Pariser Aufenthaltes hatte die Erwerbung der untersten Grade in der Fakultät keine große Arbeit von ihm verlangt und ihm reichlich Zeit gelassen, die Freuden der Großstadt zu kosten. Ein Student hat gar viel zu tun, wenn er das Repertoire eines jeden Theaters und alle Irrwege des Pariser Labyrinths kennen und sich an Brauch und Sprache und alle die eigenartigen Freuden der Hauptstadt gewöhnen will. Da gibt es gute und böse Orte zu besuchen und die Reichtümer zahlreicher Museen zu studieren. Man findet Nichtigkeiten erhaben und begeistert sich für sie; man hat seinen Großen, den man bewundert – irgendeinen Professor am Collège de France, der dafür bezahlt wird, daß er sich vor seinem Auditorium auf seiner Höhe behauptet; man rückt an seiner Halsbinde und gibt sich Haltung um der Damen willen, die im Ersten Rang der Opéra-Comique sitzen. Während man so allmählich in das Großstadtleben eingeweiht wird, häutet man sich gründlich, erweitert seinen Horizont und endet damit, die Stufenleiter der verschiedene Stände wahrzunehmen, aus denen sich die menschliche Gesellschaft zusammensetzt. Hat man anfangs an einem heiteren Tage den Wagenkorso in den Champs-Eylsées bewundert, so kommt man bald dahin, bei diesem Anblick Neid zu fühlen. Als Eugen in die Ferien reiste, nachdem er Bakkalaureus der freien Künste und der Rechte geworden war, hatte auch er diese Lehrzeit hinter sich. Seine Kindheitsträume, seine Provinzanschauungen waren verschwunden. Seine Einsicht, sein Ehrgeiz war geweckt und gewährten ihm einen klaren Einblick in das väterliche Haus und das Familienleben dort. Sein Vater, seine Mutter, seine beiden Brüder, seine beiden Schwestern und eine Tante, deren Vermögen in einer Witwenpension bestand, lebten alle auf dem kleinen Gute Rastignac. Die Besitzung erbrachte jährlich etwa dreitausend Franken, und auch diese Einnahme war nur unsicher, denn sie hing von dem Ertrag der Weingärten ab; dabei mußten jährlich für ihn allein zwölfhundert Franken aufgebracht werden. Der Anblick dieser fortwährenden Not, die Gegenüberstellung seiner Schwestern, die er als Kind so schön gefunden, mit den Frauen von Paris, deren Schönheit seine kühnsten Träume verwirklicht hatte, die unsichere Zukunft seiner ganz auf ihn angewiesenen Familie, die ängstliche Sparsamkeit, mit der die kleinsten Erträgnisse weggeschlossen wurden, das Getränk, das für die Familie nur aus Trebern bereitet wurde, kurz, eine Fülle von Umständen, auf die ich hier nicht näher einzugehen brauche, verzehnfachten sein Verlangen, in die Höhe zu kommen, und erweckten in ihm den Durst nach Erfolg. Gleich allen großen Seelen wollte er aus eigenen Kräften vorwärts kommen. Aber er war ein echter Südfranzose; so würde er wahrscheinlich nie sehr entschlußfähig werden und stets zögern, voller Bedenken, wie sie etwa den jungen Mann befallen, der sich auf offenem Meer befindet und nicht weiß, wohin er steuern und wie er die Segel stellen soll. Wenn er zunächst daran dachte, sich Hals über Kopf in die Arbeit zu stürzen, so fiel ihm doch bald ein, daß er vor allem Verbindungen suchen müsse, und er bemerkte, welch großen Einfluß die Frauen im gesellschaftlichen Leben haben; er faßte also plötzlich den Entschluß, sich in das Gesellschaftsgetriebe zu stürzen, um sich Gönnerinnen zu erobern. Könnte es einem feurigen, geistvollen jungen Manne daran fehlen? Einem jungen Manne, der neben diesen wertvollen Eigenschaften auch eine vornehme Gestalt und kraftvolle Schönheit besaß, der sich die Frauen gern hingeben? Diese Gedanken kamen ihm draußen auf dem Felde, bei den frohen Spaziergängen, die er mit seinen Schwestern, denen er sehr verändert vorkam, zu unternehmen pflegte. Seine Tante, Frau von Marcillac, war in ihren jungen Jahren bei Hofe vorgestellt worden und hatte dort die Spitzen der Aristokratie kennen gelernt. Sogleich erkannte der ehrgeizige junge Mann in den Erinnerungen, die er von seiner Tante so oft hatte anhören müssen, die Grundlage für mehrere Eroberungen, die ihm ebenso wichtig schienen wie die, denen er in den juristischen Hörsälen nachging. Er erkundigte sich bei der Tante nach den verwandtschaftlichen Beziehungen, die vielleicht wieder angeknüpft werden könnten. Nachdem sie die Zweige des Stammbaumes tüchtig geschüttelt hatte, kam die alte Dame zu der Ansicht, daß von der ganzen egoistischen Schar ihrer reichen Verwandten die Frau Vicomtesse von Beauséant wohl am wenigsten abweisend sein dürfte. An diese junge Frau schrieb sie einen Brief und übergab ihn Eugen mit dem Bemerken, daß die Vicomtesse, falls sie sich für ihn interessiere, ihn auch seinen anderen Verwandten zuführen werde. Einige Tage nach seinem Wiedereintreffen in Paris sandte Rastignac den Brief seiner Tante an Frau von Beauséant. Die Vicomtesse erwiderte mit einer Einladung zu einem an einem der nächsten Tage angesetzten Ball.

So also sah es Ende November 1819 in der Familienpension aus. Einige Tage später kehrte Eugen vom Ball der Frau von Beauséant gegen zwei Uhr nachts heim. Um die verlorene Zeit wieder einzubringen, hatte der tapfere Student sich vorgenommen, bis zum Morgen durchzuarbeiten. Das sollte die erste Nacht sein, die er hier im stillen Stadtviertel durchwachte. Er hatte am Abend bereits nicht mehr in der Pension gespeist; seine Hausgenossen konnten also annehmen, daß er erst bei Tagesgrauen heimkehre werde, wie er das einigemal nach den Festen im Prado oder den Bällen im Odéon getan hatte. Bevor Christoph den Riegel vor die Tür schob, hatte er sie noch einmal aufgemacht, um auf die Straße zu sehen. In diesem Augenblick erschien Rastignac und konnte geräuschlos in sein Zimmer hinaufsteigen; ihm folgte Christoph, der um so mehr Lärm machte. Eugen zog sich aus, nahm einen alten Überrock um, zog Pantoffeln an, heizte seinen Ofen mit Torf und nahm seine Arbeit zur Hand. Christophs derber Schritt übertönte die leisen Geräusche dieser Vorbereitungen. Eugen blieb ein paar Minuten gedankenvoll sitzen, ehe er sich in die Arbeit stürzte. Er hatte in der Frau Vicomtesse von Beauséant eine der Königinnen von Paris kennen gelernt, deren Haus als eins der liebenswürdigsten im Faubourg Saint-Germain galt. Ferner gehörte sie sowohl wegen ihres Namens wie auch wegen ihres Vermögens zur höchsten Aristokratie. Dank seiner Tante Marcillac hatte der arme Student in jenem Hause gute Aufnahme gefunden, ohne sich der Tragweite dieser Gunst bewußt zu sein. Wer in diese goldenen Salons zugelassen war, den hatte man in den hohen Adel aufgenommen. Da er sich hier in dem exklusivsten Zirkel von ganz Paris hatte zeigen dürfen, so hatte er das Recht erlangt, überall hinzugehen. Geblendet von der glänzenden Gesellschaft, hatte Eugen, der kaum ein paar Worte mit der Vicomtesse wechseln konnte, sich begnügt, unter der Menge der Göttinnen, die hier durch die Säle drängten, eine einzige Frau auszuzeichnen, eine jener Frauen, die junge Leute stets zur Anbetung hinreißen. Die Gräfin Anastasia von Restaud war groß und schön gewachsen und galt als eine der hübschesten Erscheinungen von Paris. Sie hatte große schwarze Augen, eine wunder volle Hand, einen feingeschnittenen Fuß und feurige Bewegungen. Der Marquis von Ronquerolles nannte sie ein Vollblutpferd. Die Feinheit ihrer Sehnen beraubte sie keines anderen Vorzugs; sie hatte volle, runde Formen, ohne doch üppig zu sein. ›Vollblutpferd‹, ›Rasseweib‹, diese Benennungen begannen die ›himmlischen Engel‹, die ›ossianischen Gestalten‹, die ganze abgelegte Liebesmythologie zu ersetzen. Für Rastignac aber war Frau Anastasia von Restaud das Weib seiner Sehnsucht. Er hatte sich in der Liste der Tänzer, die sie auf ihren Fächer schrieb, zwei Plätze gesichert und hatte während des ersten Kontertanzes mit ihr sprechen können.

»Wo kann man Sie wiedersehen, gnädige Frau?« hatte er mit jener Leidenschaft gefragt, die den Frauen so gefällt, »Nun, überall,« erwiderte sie, »im Bois, im Bouffons, bei mir.«

Und der verwegene Südfranzose hatte sich beeilt, mit der entzückenden Gräfin in Beziehungen zu kommen, soweit dies während eines Kontertanzes und eines Walzers möglich sein konnte. Als er sich einen Vetter der Frau von Beauséant nannte, wurde er von seiner Dame, die er für eine der vornehmsten hielt, zu einem Besuch eingeladen. Nach dem letzten Lächeln, das sie ihm schenkte, empfand Rastignac seinen Besuch als notwendig. Dann hatte er das Glück gehabt, einem Manne zu begegnen, der sich nicht über seine Unkenntnis lustig machte, wie das wohl die vornehmen Spötter jener Zeit getan hätten: die Maulincour, Ronquerolles, Maxime von Trailles, von Marsay, Ajuda-Pinto, Vandenesse, die da in ihrem ganzen Glanz und Dünkel und im Kreise der vornehmsten Frauen auftraten: der Lady Brandon, der Herzogin von Langeais, der Gräfin von Kergarouet, der Frau von Sérizy, der Herzogin von Carigliano, der Gräfin Ferraud, der Frau von Lanty, der Marquise d'Aiglemont, der Frau Firmiani, der Marquise von Listomère und der Marquise d'Espard, der Herzogin von Maufrigneuse und der Grandlieu. Glücklicherweise geriet der naive Student an den Marquis von Montriveau, den Geliebten der Herzogin von Langeais, einen General mit der Geradheit eines Kindes, der ihm mitteilte, daß die Gräfin von Restaud in der Rue du Helder wohne. Jung sein und durstig nach dem Leben, hungrig nach einer Frau, und zwei Häuser für sich geöffnet sehen! Den Fuß in den Faubourg Saint-Germain zur Vicomtesse von Beauséant setzen und das Knie in der Chaussee d'Antin vor der Gräfin von Restaud beugen! Einen Blick in alle Pariser Salons werfen und sich für hübsch genug halten, im Herzen einer Frau Beistand und Förderung zu finden! Sich ehrgeizig genug fühlen, mit prächtigem Schwung das straff gespannte Seil zu betreten, auf dem man mit der Sicherheit des Berufsseiltänzers schreiten muß, und in einer reizenden Frau die beste Balancierstange gefunden haben! Mit solchen Gedanken und angesichts des Bildes jener Frau, das ihm da bei seinem Torffeuer zwischen dem Bürgerlichen Gesetzbuch und dem Elend der Mansarde umschwebte, – wer hätte nicht gleich Eugen der Zukunft nachgegrübelt, wer nicht sie mit Erfolgen ausgestattet? Seine schweifenden Gedanken rechneten so sicher auf zukünftige Freuden, daß er sich neben Frau von Restaud glaubte, als plötzlich ein Seufzer wie das Röcheln des heiligen Joseph das Schweigen der Nacht durchzitterte und im Herzen des jungen Mannes widerhallte. Er öffnete leise seine Tür, und als er auf den Gang hinaustrat, gewahrte er einen feinen Lichtstreifen, der unter Vater Goriots Tür hervorschimmerte. Eugen, der befürchtete, sein Nachbar könne sich unwohl befinden, brachte sein Auge ans Schlüsselloch, blickte ins Zimmer und sah den Greis bei einer Arbeit, die ihm zu verbrecherisch schien, als daß er nicht geglaubt hätte, der Menschheit einen Dienst zu erweisen, wenn er gut beobachtete, was der sogenannte Nudelfabrikant nächtlicherweile trieb. Vater Goriot, der irgendwie auf der Fläche eines umgelegten Tisches eine vergoldete Silberplatte und ein Kännchen zu befestigen gewußt hatte, wand um diese reich verzierten Gegenstände so etwas wie einen Draht und zog diesen mit solcher Gewalt an, daß er sie tatsächlich zusammendrückte und einen Klumpen daraus machte.

›Pest! Welch ein Mann!‹ sagte sich Rastignac, als er die sehnigen Arme des Greises erblickte, der da lautlos mit seinem Draht das Silber zu Blei preßte. ›Sollte er ein Dieb oder ein Hehler sein, der um seiner Sicherheit willen sich dumm und hilflos stellt und wie ein Bettler lebt?‹ dachte Eugen und richtete sich einen Augenblick auf.

Von neuem legte der Student das Auge ans Schlüsselloch. Vater Goriot, der seinen Draht abgewickelt hatte, nahm die Silbermasse, breitete die Tischdecke über den Tisch und rollte den Klumpen darauf hin und her, um ihn zu einem Barren abzurunden. Er tat seine Arbeit mit staunenswerter Leichtigkeit.

›So wäre er also ebenso stark wie König August von Polen?‹ fragte sich Eugen, als der runde Barren einigermaßen in Form gebracht war.

Vater Goriot sah sein Werk mit trauriger Miene an, Tränen rannen ihm aus den Augen, er löschte den Wachsstock, bei dessen Licht er das Silber zerdrückt hatte, und Eugen hörte, wie er sich mit einem Seufzer niederlegte.

›Er ist toll‹, dachte der Student.

»Armes Kind!« sagte Vater Goriot laut.

Auf diesen Ausruf hin hielt Rastignac es für klug, über das Gesehene Schweigen zu bewahren und seinen Nachbar nicht unbedachterweise zu verdächtigen. Er wollte in sein Zimmer zurückgehen, als er plötzlich ein schwer zu beschreibendes Geräusch vernahm, das von Menschen herrühren mußte, die auf Filzsohlen die Treppe heraufkamen. Eugen lehnte sich horchend hinunter und vernahm in der Tat das unregelmäßige Atmen zweier Männer. Ohne das Öffnen einer Tür oder Menschentritte deutlich gehört zu haben, sah er plötzlich im zweiten Stock bei Herrn Vautrin einen schwachen Lichtschein.

›Was für Geheimnisse in einer Familienpension!‹ sagte er sich.

Er ging ein paar Stufen hinunter und begann zu horchen: der Klang von Goldstücken drang an sein Ohr. Bald erlosch drunten das Licht, und das doppelte Atmen ließ sich wieder hören, ohne daß man das Geräusch einer Tür vernommen hätte. Die beiden Männer stiegen hinab, und alles wurde wieder still.

»Wer geht da draußen?« rief Frau Vauquer, die ihr Fenster geöffnet hatte. »Ich bin es, Mama Vauquer, ich komme soeben nach Hause«, sagte Vautrin mit seiner derben Stimme.

›Sonderbar! Christoph hatte doch das Tor verriegelt‹, sagte sich Eugen, als er wieder in sein Zimmer trat. ›In Paris muß man wachen, wenn man erfahren will, was die lieben Nachbarn treiben.‹

Von seinen ehrgeizigen Liebesgedanken durch diese kleinen Vorfälle abgelenkt, machte er sich an die Arbeit. Aber da er zerstreut war durch den Verdacht, den er gegen Vater Goriot hegte, und noch zerstreuter durch die Gestalt der Frau von Restaud, die ihm wie der Bote einer strahlenden Zukunft erschien, legte er sich schließlich nieder und schlief ein. Von zehn Nächten, die die jungen Leute der Arbeit opfern wollen, geben sie sieben dem Schlaf. Man muß älter als zwanzig Jahre sein, um wachen zu können.

Am anderen Morgen herrschte in Paris einer jener dichten Nebel, die alles so verhüllen und trüben, daß selbst die pünktlichsten Leute sich in der Zeit täuschen lassen. Geschäftliche Unterredungen werden versäumt. Jeder meint, es sei erst acht Uhr, wenn es Mittag schlägt. Es war halb zehn, und Frau Vauquer hatte sich noch nicht aus dem Bette gerührt. Christoph und die dicke Sylvia, die sich ebenfalls verspätet hatten, tranken still ihren Kaffee; den Rahm dazu entnahmen sie der für die Pensionäre bestimmten Milch, die Sylvia daraufhin recht lange kochen ließ, damit Frau Vauquer von diesem unrechtmäßig erhobenen Zehnten nichts merke.

»Sylvia,« sagte Christoph, seine Brotschnitte eintauchend, »Herr Vautrin, der trotzdem ein braver Kerl ist, hat heute nacht wieder zwei Leute bei sich gehabt. Unsere Frau hat vielleicht etwas gehört, Sie müssen ihr aber nichts sagen.« »Hat er Ihnen etwas gegeben?« »Er hat mir hundert Sous Trinkgeld für den Monat gegeben; das soll wohl soviel heißen wie: Halt den Mund!« »Außer ihm und Frau Couture, die beide nicht knauserig sind, möchten sie uns alle am liebsten mit der linken Hand nehmen, was sie uns am Neujahrstag mit der rechten geben«, sagte Sylvia. »Was geben sie denn überhaupt!« bemerkte Christoph; »einen abgelegten Anzug und hundert Sous. Der Vater Goriot aber putzt sich schon seit zwei Jahren die Schuhe selber. Der Poiret, dieser Knauser, besorgt mir keine Wichse und würde sie lieber selber fressen als auf seine Stiefel schmieren. Der Luftikus von Student gibt mir vierzig Sous. Da kosten mich ja schon die Bürsten mehr; und seine alten Anzüge verkauft er noch über dem Wert. So ein Pack!« »Pah!« machte Sylvia und nahm kleine Schlückchen von ihrem Kaffee, »unsere Stellen sind noch die besten hier im Viertel; man kann es aushalten. Übrigens … der dicke Papa Vautrin … hat man Ihnen etwas über ihn gesagt, Christoph?« »Ja. Vor ein paar Tagen begegnete mir ein Herr, der mich fragte: ›Wohnt nicht bei euch ein großer, starker Herr, der sich seinen Bart färbt?‹ Ich antwortete: ›Nein, Herr, er färbt ihn nicht. Ein so lebenslustiger Mann wie er hat dazu keine Zeit.‹ Ich habe das dann Herrn Vautrin erzählt, und der sagte: ›Gut gemacht, alter Junge; Antworte nur immer so! Nichts ist unangenehmer, als wenn unsere kleinen Schwächen bekannt werden. Das kann unter Umständen sogar eine Heirat zerschlagen.‹« »Also, mich hat man neulich auf dem Markt auch ausholen wollen. Man hat mich gefragt, ob ich ihn schon hätte sein Hemd wechseln sehn. Solche Dummheit! … Da,« unterbrach sie sich selbst, »schon schlägt es vom Val-de-Grâce drei Viertel zehn, und noch rührt sich keiner!« »Ach was! sie sind alle ausgegangen. Frau Couture und das Fräulein sind um acht Uhr nach Saint-Étienne zum heiligen Abendmahl. Der Vater Goriot ist mit einem Paket fortgegangen. Der Student kommt erst nach den Vorlesungen, um zehn. Ich habe sie alle gesehen, als ich die Treppe kehrte. Der Vater Goriot hat mir mit seinem Paket einen Stoß gegeben. Das Ding war hart wie Eisen. Was treibt er eigentlich, der Alte? Sie haben ihn alle zum Narren, die andern; aber er ist trotzdem ein guter Mann, der mehr wert ist als sie alle. Er gibt ja nicht viel, aber die Damen, zu denen er mich manchmal schickt, geben großartige Trinkgelder und sind immer prächtig angezogen.« »Die, die er seine Töchter nennt, was? Es ist ein ganzes Dutzend.« »Ich bin immer nur bei zweien gewesen, bei denselben, die ihn hier besucht haben.« »Da, die Frau rührt sich; sie wird Lärm schlagen. Ich muß hin. Geben Sie acht auf die Milch, Christoph, und auf die Katze!«

»Wie, Sylvia, es ist schon drei Viertel zehn? Du hast mich schlafen lassen wie ein Murmeltier. So etwas ist ja noch gar nicht vorgekommen!« »Das kommt von dem Nebel; man kann ihn mit Messern schneiden.« »Aber das Frühstück?« »Pah! Die Pensionäre haben den Teufel im Leib; sie sind alle schon frühmorgens auf und davon.« »Sprich doch anständig, Sylvia!« erwiderte Frau Vauquer. »Ja, ja, Madame, schon recht. Um zehn Uhr können Sie frühstücken. Die Michonnette und der Poiret haben sich noch nicht gerührt. Das sind die einzigen, die zu Hause sind, und sie schlafen wie die Klötze.« »Aber Sylvia, du tust die beiden zusammen, als ob … « »Als ob was?« erwiderte Sylvia mit dummem Lachen. »Die beiden geben ein Paar.« »Das ist doch merkwürdig, Sylvia: wie ist denn Herr Vautrin heute nacht hereingekommen? Christoph hatte doch den Riegel schon vorgeschoben?« »Im Gegenteil, Madame. Er hörte Herrn Vautrin kommen und ist hinuntergegangen, um ihm aufzumachen. Und da haben Sie nun gedacht … « »Gib mir meinen Morgenrock, und geh schnell das Frühstück besorgen! Trage den Rest vom Hammelbraten auf, mit Kartoffeln und Birnenkompott, von den Birnen, die zwei Centimes das Stück kosten.«

Ein paar Minuten später trat Frau Vauquer unten im Speisesaal ein, gerade als die Katze mit geschicktem Pfotenschlag den Deckel von einem Milchtopf heruntergeworfen hatte und eilig die Milch aufleckte.

»Mutzi, Mutzi!« rief die Witwe.

Die Katze entfloh mit einem Satz, kam aber bald zurück und rieb sich an den Beinen der Herrin.

»Ja, ja, mach deinen Buckel, alter Sünder!« sagte sie. »Sylvia! Sylvia!« »Was gibts, Madame?« »Sieh nur, was die Katze gesoffen hat!« »Daran ist dieser dumme Christoph schuld. Ich hatte ihm doch gesagt, er sollte die Schüsseln zudecken! Welches Näpfchen ist es denn? – Beruhigen Sie sich, Madame, das ist die Milch für Vater Goriots Kaffee. Ich werde ein wenig Wasser zusetzen, er wird es nicht merken. Er gibt auf gar nichts acht, nicht einmal auf das, was er ißt.« »Wohin ist er eigentlich gegangen, der alte Chinese?« fragte Frau Vauquer, die Teller verteilend. »Weiß man das denn? Der hat ja hundert Geschäftchen!« »Ich habe zu lange geschlafen«, sagte Frau Vauquer. »Aber dafür ist Madame auch frisch wie eine Rose … «

In diesem Augenblick ertönte die Torglocke, und Vautrin trat singend in den Salon:

»Ich hab mich weit umhergetrieben,

Um mir die Weiber zu beschaun …

Ah, ah! Guten Tag, Mama Vauquer!« sagte er, die Wirtin gewahrend, und küßte ihr galant die Hand. »Nun, nun, hören Sie endlich auf … « »Sagen Sie: frecher Kerl!« entgegnete er. »Nun, sagen Sie's doch! Wollen Sie's schleunigst sagen! Kommen Sie, ich werde Ihnen den Tisch decken helfen. Ach, ich bin liebenswürdig, nicht wahr?

Tät ich mich heut in Blond verlieben,

So tät ichs morgen schon in Braun.

Ich habe etwas Merkwürdiges gesehen … « »Was?« fragte die Witwe. »Vater Goriot war um halb neun in der Rue Dauphine beim Goldschmied, der alte Tafelgeschirre und Tressen kauft. Dem hat er für ein hübsches Sümmchen ein silbernes Tablett mit Kanne verkauft. Für einen, der nicht vom Handwerk ist, hatte er die Sachen recht tüchtig in Klumpen gedrückt.« »Ach, wahrhaftig?« »Ja. Ich hatte einen Freund, der ins Ausland reist, zum Postwagen gebracht und kehrte hierher zurück; da habe ich dann auf Vater Goriot gewartet, um ihn weiter zu beobachten. Es ist zum Lachen. Er ging hier ganz nahe in die Rue des Grès und trat dort in das Haus eines bekannten Wucherers namens Gobseck, eines üblen Kerls, der fähig ist, mit den Gebeinen seines Vaters Domino zu spielen; ein Jude, ein Araber, ein Grieche, ein Zigeuner, – ein Mann der nicht leicht einzuschätzen ist und seine Taler auf der Bank hat.« »Was tut denn dieser Vater Goriot?« »Gar nichts«, sagte Vautrin; »er vertut! Er ist ein Dummkopf, der sich aus Liebe zu den Mädchen ruiniert.« »Da kommt er«, sagte Sylvia.

»Christoph,« rief Vater Goriot, »komm, geh mit mir hinauf!« Christoph folgte dem Vater Goriot und kam bald wieder herunter.

»Wohin gehst du?« fragte Frau Vauquer ihren Hausknecht. »Eine Besorgung machen für Herrn Goriot.« »Was ist denn das da?« sagte Vautrin und riß Christoph einen Brief aus der Hand, dessen Aufschrift er laut vorlas: »›An die Frau Gräfin Anastasia von Restaud.‹ Und du gehst … ?« fragte er, Christoph den Brief zurückgebend. »In die Rue du Helder. Ich habe Auftrag, den Brief nur der Gräfin selbst auszuhändigen.« »Was mag drin sein?« sagte Vautrin, den Brief gegen das Licht haltend; »eine Banknote? Nein.« Er öffnete den Umschlag ein wenig. »Ein eingelöster Wechsel!« rief er. »Teufel, er ist galant, der Alte! Geh, du Schlingel,« sagte er, mit seiner großen Hand Christoph so derb in die Haare fahrend, daß sich dieser wie ein Kreisel drehte, »du wirst ein schönes Trinkgeld kriegen.«

Der Tisch war gedeckt. Sylvia ließ die Milch kochen. Frau Vauquer heizte den Ofen, und Vautrin half ihr dabei und summte:

»Ich hab mich weit umhergetrieben,

Um mir die Weiber zu beschaun … «

Als alles fertig war, kamen Frau Couture und Fräulein Taillefer nach Hause.

»Wo waren Sie denn schon so früh am Morgen, verehrte Dame?« wandte Frau Vauquer sich an Frau Couture. »Wir haben in Saint-Étienne du Mont unsere Andacht verrichtet, müssen wir doch heute zu Herrn Taillefer gehen. Die arme Kleine, sie zittert wie Espenlaub«, sagte Frau Couture und setzte sich an den Kamin, um ihre dampfenden Schuhe zu trocknen. »Wärmen Sie sich doch auch, Viktorine!« sagte Frau Vauquer. »Es ist recht, Fräulein, daß Sie Gott bitten, das Herz Ihres Vaters zu erweichen«, sagte Vautrin, der Waise einen Stuhl hinschiebend. »Aber das genügt nicht. Sie bedürfen eines Freundes, der es übernähme, diesem Schmutzian die Meinung zu sagen – diesem Geizkragen, der drei Millionen haben soll und Ihnen keine Mitgift gibt. Auch ein hübsches Mädchen braucht heutzutage eine Mitgift.« »Armes Kind!« sagte Frau Vauquer; »geben Sie acht, Kleine, Ihr Ungeheuer von Vater wird noch mit Absicht das Unglück auf sich herabrufen!« Bei diesen Worten füllten sich Viktorines Augen mit Tränen, und die Witwe hielt auf ein Zeichen Frau Coutures inne.

»Wenn wir ihn nur sehen könnten, wenn ich ihn sprechen, ihm den letzten Brief seiner Frau übergeben könnte!« erwiderte die Beamtenwitwe. »Ich habe nie gewagt, den Brief der Post anzuvertrauen; er kennt meine Handschrift … « »O Frauen, unschuldige, unglückliche und verfolgte Frauen!« fiel Vautrin ihr ins Wort; »so schlimm steht es mit euch? In einigen Tagen werde ich mich Ihrer Angelegenheit annehmen, und alles wird gut gehen.« »O mein Herr,« sagte Viktorine und warf Vautrin einen feuchten und doch brennenden Blick zu, »wenn Sie ein Mittel wüßten, zu meinem Vater zu gelangen, so sagen Sie ihm, daß seine Zuneigung und die Ehre meiner Mutter mir kostbarer sind als alle Reichtümer der Welt. Wenn Sie es erreichten, ihn ein wenig milder zu stimmen, – ich würde für Sie zu Gott beten. Seien Sie überzeugt, daß meine Dankbarkeit … «

»Ich hab mich weit umhergetrieben … «

sang Vautrin mit ironischem Tonfall.

Goriot, Fräulein Michonneau und Poiret traten jetzt ein, vermutlich von dem Duft der braunen Butter angelockt, mit der Sylvia den Rest des Hammelbratens anrichtete. Man begrüßte einander und setzte sich zu Tisch; es schlug zehn Uhr. Man hörte von der Straße her den Schritt des Studenten.

»Ah, guten Tag, Herr Eugen,« sagte Sylvia, »heute werden Sie ja mal mit allen andern frühstücken.«

Der Student begrüßte die Pensionäre und nahm neben Vater Goriot Platz.

»Ich habe soeben ein merkwürdiges Abenteuer erlebt«, sagte er, indem er sich ein kräftiges Stück Braten nahm und eine Scheibe Brot abschnitt, die Frau Vauquer wie immer mit entsetzten Blicken maß. »Ein Abenteuer?« fragte Poiret. »Weshalb sind Sie darüber verwundert, altes Haus?« sagte Vautrin zu Poiret; »der Herr sieht doch wohl danach aus, als könnte er Abenteuer haben.«

Fräulein Taillefer warf einen schüchternen Blick auf den jungen Studenten.

»Erzählen Sie uns Ihr Abenteuer!« bat Frau Vauquer.

»Ich war gestern auf dem Ball der Frau Vicomtesse von Beauséant, meiner Cousine, die ein prachtvolles Haus besitzt, Zimmer, die mit Seide tapeziert sind, – kurz, sie gab uns ein glänzendes Fest, und ich habe mich unterhalten wie ein König … « »Zaun … «, fiel Vautrin ihm ins Wort. »Mein Herr,« erwiderte Eugen heftig, »was wollen Sie damit sagen?« »Ich sage Zaun… , weil die Zaunkönige sich viel besser unterhalten als die Könige.« »Ja, das ist wahr, ich wäre lieber solch ein kleiner sorgloser Vogel als ein König, weil … «, sagte Poiret, der Jasager. »Also,« schnitt ihm der Student die Rede ab, »ich tanzte mit einer der schönsten Frauen, einer entzückenden Gräfin, dem herrlichsten Geschöpf, das ich je gesehen habe. Sie hatte ein Diadem von Pfirsichblüten und im Gürtel den allerschönsten Blumenstrauß, – lebende Blumen, die dufteten; aber ach, Sie hätten sie sehen sollen; es ist unmöglich, eine Frau zu schildern, die vom Tanzen angeregt ist! Also heute morgen bin ich der göttlichen Gräfin begegnet; es war neun Uhr, und sie ging zu Fuß durch die Rue des Grès. Oh, mein Herz schlug, ich stellte mir vor … « »Daß sie hierher käme«, sagte Vautrin, dem Studenten einen scharfen Blick zuwerfend; »sie ging wahrscheinlich zu Papa Gobseck, dem Wucherer. Wenn Sie jemals die Herzen der Pariserinnen durchforschen, so werden Sie darin zunächst den Wucherer und dann erst den Geliebten finden. Ihre Gräfin heißt Anastasia von Restaud und wohnt Rue du Helder.«

Der Student sah Vautrin starr an. Vater Goriot hob hastig den Kopf und warf den beiden Sprechern einen hellen und beunruhigten Blick zu, der die Pensionäre erstaunte.

»Christoph wird zu spät kommen, sie ist also schon hingegangen!« rief Goriot schmerzlich aus.

»Ich habe es erraten«, sagte Vautrin leise zu Frau Vauquer.

Goriot aß mechanisch und ohne zu wissen, was. Nie hatte er dümmer und geistesabwesender ausgesehen als jetzt.

»Wer, zum Teufel, hat Ihnen ihren Namen sagen können, Herr Vautrin?« fragte Eugen. »Ja … « entgegnete Vautrin, »Vater Goriot wußte ihn … der! Weshalb hätte ich ihn nicht wissen sollen!« »Herr Goriot?« rief der Student. »Wie?« sagte der arme Alte! »sie war also sehr schön gestern?« »Wer?« »Frau von Restaud.« »Sehen Sie den alten Lump,« sagte Frau Vauquer zu Vautrin, »wie seine Augen sich beleben!« »Er hält sie also aus?« flüsterte Fräulein Michonneau dem Studenten zu. »O ja, sie war rasend schön!« erwiderte Eugen, den Vater Goriot begierig anblickte. »Wäre Frau von Beauséant nicht, meine göttliche Gräfin wäre die Königin des Festes gewesen; die jungen Leute hatten nur Augen für sie; ich war der zwölfte auf ihrer Tanzkarte, sie tanzte alle Kontertänze. Die andern Frauen ärgerten sich wütend. Wenn eine gestern glücklich gewesen ist, so war sie es. Man hat sehr recht, zu sagen, daß es nichts Schöneres gibt als ein Schiff unter Segel, ein Pferd im Galopp und ein Weib beim Tanz.« »Gestern hoch oben auf der Glücksleiter, bei einer Herzogin,« sagte Vautrin, »heute morgen tief unten, bei einem Wucherer: da hat man die Pariserin! Kann der Gemahl ihren zügellosen Luxus nicht bezahlen, so verkauft sie sich. Hat sie dazu Geschick, so raubt sie ihre Mutter bis auf die Eingeweide aus. Sie kennt hunderttausend Schliche!«

Vater Goriots Antlitz, das bei der Erzählung des Studenten aufgeleuchtet hatte, wurde bei der grausamen Bemerkung Vautrins wieder düster und traurig.

»Nun also,« sagte Frau Vauquer, »wo bleibt denn Ihr Abenteuer? Haben Sie sie gesprochen? Haben Sie sie gefragt, ob sie vielleicht die Rechte studieren wolle?« »Sie hat mich nicht gesehen«, sagte der Student. »Aber ist es nicht seltsam genug, morgens um neun Uhr in der Rue des Grès einer der schönsten Frauen von Paris zu begegnen, einer Frau, die erst um zwei Uhr vom Balle heimgekommen sein konnte? Solche Abenteuer sind nur in Paris möglich!« »Pah, es gibt noch ganz andere!« rief Vautrin.

Fräulein Taillefer hatte kaum zugehört, so sehr waren ihre Gedanken bei dem schweren Gang, den sie heute zu machen hatte. Frau Couture machte ihr ein Zeichen, aufzustehen, um sich anzukleiden. Als die beiden Damen hinausgingen, schloß Goriot sich ihnen an.

»Nun, haben Sie ihn gesehen?« sagte Frau Vauquer zu Vautrin und ihren Pensionären. »Es ist klar, daß er sich für seine Damen ruiniert hat.« »Niemals wird man mich glauben machen, daß die schöne Gräfin von Restaud dem Vater Goriot gehört!« rief der Student. »Aber«, unterbrach ihn Vautrin, »wir haben auch gar nicht die Absicht, Sie davon zu überzeugen. Sie sind noch zu jung, Paris gut zu kennen; später einmal werden Sie wissen, daß bei uns auch alte Leute ihre Leidenschaften haben.«

Fräulein Michonneau sah Vautrin verständnisvoll an, man hätte sagen können, wie ein Regimentspferd beim Klange des Trompetensignals aufschaut.

»Ha,« unterbrach sich Vautrin, um ihr einen tiefen Blick zuzuwerfen, »haben denn nicht auch wir unsere kleinen Leidenschaften gehabt?«

Die alte Jungfer senkte den Blick, wie eine Nonne vor antiken Statuen.

»Also,« fuhr er fort, »solche Leute setzen sich etwas in den Kopf und lassen nicht mehr davon ab. Sie haben Durst nur nach einem bestimmten Wasser aus einer bestimmten Quelle, die oft recht trübe ist; um davon zu trinken, würden sie ihre Frauen, ihre Kinder verkaufen; sie würden selbst ihre Seele dem Teufel verschreiben. Für die einen ist dieser Quell das Spiel, die Börse, eine Bilder- oder Insektensammlung, die Musik; für die andern ist es ein Weib, das ihnen besondere Genüsse zu reichen weiß. Ihnen könnten Sie alle Frauen der Erde bieten, sie würden sie verachten; sie wollen nur jene, die ihre Leidenschaft befriedigt. Oft mag das betreffende Weib sie gar nicht, behandelt sie hart, verkauft ihnen gar teuer die Brocken der Liebe; doch diese Narren lassen nicht ab und würden ihre letzte Decke zum Leihhaus tragen, um ihr den letzten Taler zu bringen. Der Vater Goriot ist einer jener Leute. Die Gräfin beutet ihn aus, weil er verschwiegen ist; und da haben wir das Elend! Der arme Alte denkt nur an sie. Abgesehen von dieser Leidenschaft ist er ein einfältiges Tier, – Sie sehen es ja. Bringen Sie ihn aber auf das betreffende Kapitel, so erhellt sich sein Gesicht wie ein Diamant. Es ist nicht schwer, hinter das Geheimnis zu kommen. Er hat heute Silbersachen zum Einschmelzen verkauft, und später habe ich ihn zu Papa Gobseck, Rue des Grès, hineingehen sehen. Merken Sie auf! Heimgekehrt, hat er den Esel, den Christoph, zur Gräfin Restaud geschickt; der hat uns die Aufschrift des Briefes, in dem sich ein eingelöster Wechsel befand, sehen lassen. Es ist klar, daß die Sache sehr dringend war, da die Gräfin ebenfalls den Wucherer aufgesucht hat. Vater Goriot hat galant für sie bezahlt. Man braucht nicht lange zu tüfteln, um hierin klar zu sehen. Das beweist Ihnen, mein junger Student, daß Ihre Gräfin, während sie lachte, tanzte, Grimassen schnitt, ihre Pfirsichblüten schwenkte und ihr Kleid raffte, recht arg der Schuh drückte, wie man sagt, im Gedanken an ihren fälligen Wechsel oder den ihres Liebhabers.« »Sie machen mich unglaublich begierig, die Wahrheit zu erfahren. Ich gehe morgen zu Frau von Restaud«, rief Eugen. »Ja,« sagte Poiret, »gehen Sie morgen zu Frau von Restaud!« »Sie treffen dort vielleicht Goriot, den Biedermann, der für seine Galanterie die Zinsen einzuheimsen sucht«, bemerkte Vautrin. »Aber«, fragte Eugen voller Ekel, »ist denn Ihr Paris ein Mistpfuhl?« »Und ein recht seltsamer dazu«, entgegnete Vautrin. »Die, die sich zu Wagen darin beschmutzen, sind geachtete Leute, aber die, die sich zu Fuß beschmutzen, sind Schurken. Haben Sie Unglück, bringen Sie irgendeine Kleinigkeit beiseite, so stellt man Sie vor dem Justizpalast zur Schau wie ein sehenswürdiges Ungeheuer. Stehlen Sie eine Million, so preist man Sie in den Salons als Tugendbold. Man zahlt dreißig Millionen an die Gendarmerie und Gerichtsbarkeit, um diese Moral aufrecht zu erhalten … Hübsch!« »Wie,« rief Frau Vauquer, »Vater Goriot sollte sein silbernes Service zum Einschmelzen gebracht haben?« »Sind nicht zwei Tauben auf dem Kannendeckel?« fragte Eugen. »Ja, ganz recht.« »Er muß sehr daran gehangen haben; er weinte, als er Kanne und Schüssel zusammendrückte. Ich sah es zufällig«, bemerkte Eugen. »Er hütete es wie seinen Augapfel«, erwiderte die Witwe. »Sehen Sie, wie er in seine Leidenschaft verrannt ist!« rief Vautrin. »Dieses Weib versteht es, ihm die Seele zu kitzeln.«

Der Student ging in sein Zimmer hinauf. Vautrin ging aus. Einige Augenblicke später stiegen Frau Couture und Viktorine in einen Wagen, den Sylvia ihnen geholt hatte. Poiret bot Fräulein Michonneau den Arm, und beide begaben sich für die zwei Sonnenstunden des Tages in den Botanischen Garten.

»Seht, seht, da hätten wir sie ja so gut wie verheiratet«, sagte die dicke Sylvia. »Sie gehen heute zum er sten Mal zusammen aus. Sie sind beide so dürr, daß sie sich nicht aneinander stoßen dürfen, sonst flammen sie auf wie Zunder.« »Fräulein Michonneaus Schal ist ja allein schon der reinste Zunder«, lachte Frau Vauquer.

Um vier Uhr nachmittags, als Goriot heimkehrte, gewahrte er beim Scheine zweier qualmender Lampen, daß Viktorines Augen gerötet waren. Frau Vauquer ließ sich den Hergang des dem Herrn Taillefer am Vormittag abgestatteten fruchtlosen Besuches berichten. Taillefer, den die Behaglichkeit der Frauen ärgerte, hatte sie endlich empfangen, um sich mit ihnen auseinanderzusetzen.

»Meine Liebe,« sagte Frau Couture zu Frau Vauquer, »stellen Sie sich vor, daß er Viktorine nicht einmal einen Stuhl anbot; sie mußte die ganze Zeit stehen. Mir sagte er ganz einfach, ohne sich im geringsten aufzuregen, wir möchten uns künftig doch die Mühe dieser Besuche sparen. Das Fräulein – so nannte er seine Tochter – schade sich nur in seinen Augen, wenn sie ihn so belästige (einmal im Jahr, so ein Ungeheuer!); sie habe übrigens gar nicht das Recht, Ansprüche zu stellen, da ihre Mutter bei der Heirat vermögenslos gewesen sei. Er sagte die härtesten Dinge, so daß die arme Kleine in Tränen hinschmolz. Sie hat sich ihm dann zu Füßen geworfen und mutig gesagt, daß sie nur um der Mutter willen darauf bestanden habe, ihn zu sprechen, daß sie seinen Befehlen widerstandslos gehorchen wolle, daß sie ihn aber anflehe, den letzten Willen der armen Verstorbenen zu lesen. Sie nahm den Brief und hielt ihn ihm hin und sagte die schönsten und gefühlvollsten Dinge von der Welt, – ich weiß nicht, wo sie sie hernahm, Gott hat sie ihr eingegeben, denn das arme Mädchen sprach so ergreifend, daß ich weinte wie ein Schloßhund, als ich sie hörte. Wissen Sie, was er tat, dieses Scheusal von Mann? Er beschnitt sich die Nägel! Er nahm den Brief, den die arme Frau Taillefer mit so viel Tränen getränkt hat, und warf ihn auf den Kaminsims. ›Es ist gut‹, sagte er und wollte seiner Tochter aufhelfen; sie griff nach seinen Händen, um sie zu küssen, aber er zog sie zurück. Ist das nicht eine Schurkerei? Der große Tölpel, sein Sohn, trat ein, ohne seine Schwester zu begrüßen.« »Sind das denn Ungeheuer?« rief Vater Goriot aus. »Und dann«, fuhr Frau Couture fort, ohne den Ausruf des Alten zu beachten, »sind Vater und Sohn gegangen, indem sie mich baten, sie zu entschuldigen; sie hätten eilige Geschäfte. Das war alles! Wenigstens hat er endlich seine Tochter gesehen. Ich begreife nicht, wie er sie verleugnen kann; sie gleicht ihm wie ein Wassertropfen dem anderen.«

Pensionäre und Kostgänger trafen jetzt nach und nach ein; sie begrüßten sich gegenseitig und sagten einander jene Nichtigkeiten, die in gewissen Pariser Gesellschaftsklassen den Humor vertreten, alberne Dummheiten, deren Wert lediglich auf einer Geste oder einer bestimmten Betonung beruht. Solche Scherzreden wechseln oft, leben kaum einen Monat lang. Ein politisches Ereignis, ein Skandalprozeß, ein Gassenhauer, das Witzwort eines Schauspielers, – alles liefert den Stoff zu diesem geistvollen Spiel, das hauptsächlich darin besteht, Äußerungen aufzufangen und weiterzugeben wie Federbälle. Die kürzlich erfolgte Erfindung des Dioramas, das in weit vollkommenerem Maße als das Panorama eine optische Täuschung hervorzubringen wußte, hatte in einigen Malerateliers den Spaß gezeitigt, von allem als ›-rama‹ zu sprechen, eine Redewendung, die ein junger Maler, der zu den Kostgängern des Hauses Vauquer gehörte, hier eingeführt hatte.

»Nun, verehrter Herr Poiret,« sagte der Museumsbeamte, »was macht unsere Gesundheitrama?« Ohne eine Antwort abzuwarten, begrüßte er Frau Couture und Viktorine: »Meine Damen, Sie haben Kummer?« »Wollen wir nicht ›mahlzeiten‹?« rief Horace Bianchon, Student der Medizin und Rastignacs Freund; »mein kleiner Magen ist heruntergerutscht usque ad talones.« »Heute ist eine fabelhafte Frierorama!« sagte Vautrin. »Machen Sie doch Platz, Vater Goriot! Zum Teufel! Ihr Fuß nimmt ja den ganzen Kamin für sich in Anspruch.« »Erhabener Herr Vautrin,« sagte Bianchon, »weshalb sagen Sie Frierorama? Das ist falsch, es heißt Frostorama.« »Nein,« sagte der Museumsbeamte, »es heißt Frierorama, nach der Regel: ›Ich friere an die Füße.‹« »Aha!« »Hier kommt Seine Exzellenz der Marquis von Rastignac, Doktor der Rechte und Pflichten«, rief Bianchon, faßte Eugen um den Hals und drückte ihn mit aller Gewalt an sich. »Hurra, da sind auch die andern!«

Fräulein Michonneau trat leise ein, grüßte stumm und setzte sich zu den drei Frauen.

»Sie macht mich immer schaudern, die alte Fledermaus«, sagte Bianchon leise zu Vautrin und zeigte auf Fräulein Michonneau. »Ich, der ich das Gallsche System studiere, entdecke an ihr die Stirnhöcker des Judas.« »Kennen Sie sie so genau?« fragte Vautrin. »Wer kennte sie nicht!« erwiderte Bianchon. »Mein Wort, diese alte, bleichsüchtige Jungfer kommt mir vor wie so ein langer Wurm, der nach und nach einen ganzen Balken zernagt.« »Ja, junger Mann, das ist nun so«, sagte der Vierzigjährige, seinen Backenbart kämmend.

»Und Rosa, sie lebte, wie Rosen es tun,

Einen einzigen Morgen nur.«

»Sieh da, eine herrliche Suppe mit Rama«, sagte Poiret, als Christoph feierlich mit der Suppenterrine eintrat. »Verzeihen Sie, mein Herr,« sagte Frau Vauquer, »es ist Suppe mit Kohl.«

Alle jungen Leute brachen in Lachen aus.

»Reingefallen, Poiret!« »Poirrrrette reingefallen!« »Zwei Points für Frau Vauquer«, sagte Vautrin. »Hat jemand heute den furchtbaren Nebel bemerkt?« fragte der Beamte. »Es war«, sagte Bianchon, »ein toller, trauriger, kläglicher, grüner, drückender Nebel, ein Goriotscher Nebel.« »Mehr noch, Goriotrama,« sagte der Maler, »denn man sah nicht einmal die Hand vor den Augen.« »He, Mylord Gaoriotte, es sein Rede von Sie.«

Vater Goriot, der am Ende der Tafel saß, nahe bei der Tür, durch die man die Speisen auftrug, hob den Kopf, während er an einem Stück Brot roch, das er unter der Serviette hielt, – eine ab und zu wieder auftauchende Gewohnheit aus seiner Berufszeit.

»Nun,« rief Frau Vauquer giftig, mit einer Stimme, die den Lärm der Tafelnden noch übertönte, »finden Sie etwa das Brot nicht gut?« »O nein, im Gegenteil,« erwiderte er, »es ist aus Mehl von Étampes bereitet, erste Qualität.« »Woran erkennen Sie das?«, fragte ihn Eugen. »An der Weiße und an dem Geschmack.« »Am Geschmack der Nase, da Sie daran riechen«, sagte Frau Vauquer. »Sie werden so sparsam, daß Sie noch ein Mittel ausfindig machen werden, sich vom Küchendunst zu nähren.« »Versäumen Sie nur ja nicht, sich diese Erfindung patentieren zu lassen«, rief der Museumsbeamte; »Sie können damit ein schönes Stück Geld verdienen.« »Still doch! Er will uns nur beweisen, daß er Nudelfabrikant gewesen ist«, sagte der Maler. »Ihre Nase ist also wohl eine Retorte?« ließ der Museumsbeamte nicht ab. »Re-was?« machte Bianchon. »Re-tusche.« »Re-doute.« »Re-klame.« »Re-vanche.« »Re-liquie.« »Re-mise.« »Re-norama.«

Diese acht Antworten schossen von allen Seiten herbei und erweckten um so stärkeres Gelächter, als der arme Vater Goriot die Tischgenossen mit blöder Miene anstarrte, wie einer, der sich müht, eine fremde Sprache zu verstehen.

»Re … ?« fragte er Vautrin, der neben ihm saß. »Realinjurie, mein Alter!« sagte Vautrin und versetzte dem Vater Goriot einen so kräftigen Schlag auf den Hut, daß dieser ihm bis über die Augen ins Gesicht hinabgetrieben wurde.

Der arme Greis, den der rohe Angriff erschreckt hatte, blieb einen Augenblick regungslos. Christoph nahm ihm den Teller weg in der Meinung, er sei mit der Suppe fertig, so daß Goriot, als er den Hut wieder emporgeschoben hatte und weiterlöffeln wollte, mit dem Löffel auf den Tisch aufschlug. Alles brach in Lachen aus.

»Herr,« sagte der Greis, »Sie sind ein übler Spaßmacher, und wenn Sie sich fernerhin derartige Angriffe gegen mich erlauben … « »Nun, was dann?« unterbrach ihn Vautrin. »So werden Sie das eines Tages schwer bezahlen müssen … « »In der Hölle, nicht wahr?« sagte der Maler, »in dem kleinen schwarzen Winkel, wohin die unartigen Kinder kommen.« »Nun, Fräulein,« sagte Vautrin zu Viktorine, »Sie essen nicht? Hat sich der Papa noch immer widerspenstig gezeigt?« »Oh, entsetzlich!« sagte Frau Couture. »Man muß ihm Vernunft beibringen«, sagte Vautrin. »Aber«, meinte Rastignac, der nahe bei Bianchon saß, »das Fräulein könnte doch einen Prozeß anstrengen auf Zahlung von Alimenten. – Hoho! Sehen Sie nur, wie Vater Goriot Fräulein Viktorine anstarrt!«

Der Greis vergaß zu essen, um das arme junge Mädchen zu betrachten, auf dessen Zügen ein wahrer Schmerz zu lesen war, der Schmerz des verkannten Kindes, das seinen Vater liebt.

»Lieber Freund,« sagte Eugen leise zu Bianchon, »wir haben uns in Vater Goriot geirrt. Er ist weder ein Dummkopf noch ein kraftloser Mann. Wende dein Gallsches System bei ihm an und sage mir, was du von ihm denkst. Ich habe ihn heute nacht eine Silberplatte wie Wachs zusammendrücken sehen, und jetzt eben prägt sich auf seinem Gesicht ein starkes Empfinden aus. Sein Leben erscheint mir geheimnisvoll genug, eines Studiums wert zu sein. Ja, Bianchon, lache nur, ich scherze nicht.« »Der Mann ist ein medizinischer Fall; abgemacht? Wenn er will, seziere ich ihn.« »Nein, vermiß ihm den Schädel!« »Werde mich hüten! Seine Dummheit könnte ansteckend sein.«

Am folgenden Tage kleidete Rastignac sich möglichst elegant und begab sich gegen drei Uhr nachmittags zu Frau von Restaud, indem er sich unterwegs all den tollen Hoffnungen hingab, die in das Leben eines jungen Mannes soviel köstliche Aufregung bringen Da sieht er denn weder Hindernisse noch Gefahren, sondern überall nichts als Erfolge, weiß sein Dasein durch das Spiel der Einbildungskraft zu erheben und ist unglücklich oder traurig, wenn seine Pläne zusammenstürzen, die doch nur in seinen zügellosen Wünschen lebten. Wäre solch junger Mann nicht unwissend und schüchtern, das soziale Leben würde unmöglich sein. Eugen nahm sich unglaublich in acht, um seine Schuhe nicht zu beschmutzen; aber er mußte nachsinnen über all das, was er Frau von Restaud sagen wollte; er stapelte Geist in sich auf, er erfand eine Unterhaltung, er legte sich sinnige Äußerungen zurecht, sammelte Redensarten à la Talleyrand und erhoffte tausend kleine günstige Gelegenheiten, um die Erklärung anzubringen, auf die er seine Zukunft gründete. Natürlich machte er sich arg schmutzig, der arme Student, und war genötigt, am Palais-Royal seine Schuhe putzen und seine Beinkleider bürsten zu lassen.

›Wenn ich reich wäre,‹ sagte er sich, als er ein Hundertsousstück wechselte, das er für den Notfall eingesteckt hatte, ›so hätte ich einen Wagen genommen; da hätte ich nach Herzenslust nachdenken können.‹

Endlich kam er also in der Rue du Helder an und fragte nach der Gräfin von Restaud. Mit der Beherrschung eines Mannes, der gewiß ist, eines Tages zu triumphieren, nahm er die verächtlichen Blicke der Bedienten hin, die ihn den Hof durchqueren sahen, ohne daß doch am Portal ein Wagen vorgefahren wäre. Diese Blicke trafen ihn um so empfindlicher, als er schon beim Betreten des Hofes seine eigene Armseligkeit erkannt hatte; denn hier stampfte ein prächtig aufgezäumtes Roß vor einem zierlichen Kabriolett, das von verschwenderischem Luxus und gewohnheitsgemäßem Genießen aller Pariser Glückseligkeiten zeugte. Er wurde übellaunig, grollte mit sich selbst. Die offenen Schubladen seines Hirnkastens, die er mit Geist angefüllt wähnte, schlossen sich, er fühlte sich dumm und unbeholfen. Während er im Vorzimmer die Antwort der Gräfin erwartete, der ein Kammerdiener die Namen der jeweiligen Besucher zu melden hatte, stellte Eugen sich an eines der Fenster, stützte den Ellbogen auf den Drehriegel und blickte gedankenlos in den Hof hinab. Die Zeit wurde ihm sehr lang, und er wäre weggegangen, hätte er nicht die Ausdauer des Südländers besessen, die Wunder hervorbringt, wenn sie ihren geraden Weg geht.

»Mein Herr,« sagte der Kammerdiener, »die gnädige Frau befindet sich in ihrem Boudoir und ist sehr beschäftigt, sie hat mir gar nicht geantwortet; wenn der Herr aber in den Salon gehen wollen … ? Dort wartet schon jemand.«

In stiller Bewunderung der furchtbaren Macht jener Leute, die mit einem einzigen Wort ihre Herrschaft anklagen oder richten, öffnete Rastignac entschlossen die Tür, durch die der Kammerdiener vorhin hinausgegangen war; er wollte den anmaßenden Bedientenseelen zeigen, daß er hier im Hause bekannt sei. Aber zu seiner großen Bestürzung geriet er in einen Raum, wo er nur ein paar Tische und Lampen, Wannen und Badetücher gewahrte und der geradeswegs auf einen dunklen Gang und eine Geheimtreppe führte. Das unterdrückte Gelächter, das aus dem Vorzimmer drang, steigerte seine Verwirrung aufs höchste.

»Mein Herr, der Salon ist hier«, sagte der Kammerdiener mit jener betonten Höflichkeit, die wie Spott wirkt.

Eugen kehrte so eilig um, daß er gegen eine Badewanne rannte; aber er hatte noch Zeit genug, seinen Hut festzuhalten, der ins Badewasser zu stürzen drohte. Im selben Augenblick öffnete sich am Ende des langen Ganges, den ein Lämpchen erhellte, eine Tür, und Rastignac vernahm die Stimme der Frau von Restaud und Vater Goriots und das Geräusch eines Kusses. Er folgte dem Kammerdiener durch den Speisesaal und kam in einen ersten Salon, wo er sofort ans Fenster trat, das auf den Hof führte. Er wollte sehen, ob dieser Vater Goriot wirklich und leibhaftig sein Vater Goriot sei. Sein Herz schlug wild, er entsann sich der gräßlichen Äußerungen Vautrins. Der Kammerdiener erwartete Eugen an der Tür des Salons; diese öffnete sich plötzlich, ein eleganter junger Mann trat heraus und sagte ungeduldig: »Ich gehe, Maurice. Sie werden der Frau Gräfin sagen, daß ich länger als eine halbe Stunde gewartet habe.«

Der Unverschämte, der zweifellos das Recht hatte, es zu sein, trällerte ein paar italienische Triller und begab sich an das Fenster, an dem Eugen stand, sowohl um dessen Gesicht zu sehen, wie auch um in den Hof hinabzublicken.

»Aber der Herr Graf täten besser, noch einen Augenblick zu warten; die gnädige Frau ist fertig«, sagte Maurice, ins Vorzimmer zurückkehrend.

Jetzt trat unten am Ausgang der kleinen Treppe Vater Goriot heraus. Der Alte hob seinen Regenschirm und machte sich daran, ihn aufzuspannen, ohne darauf zu achten, daß das große Tor geöffnet war, um einen ordengeschmückten jungen Mann einzulassen, der einen Tilbury lenkte. Vater Goriot hatte nur Zeit, sich zurückzuwerfen, um nicht überfahren zu werden. Der geöffnete Regenschirm hatte das Pferd erschreckt, das einen kleinen Satz nach der Freitreppe hin machte. Der junge Mann wendete zornig den Kopf, gewahrte Vater Goriot und grüßte ihn, ehe er draußen war. Es war ein Gruß voll erzwungener Achtung, wie man ihn etwa einem Wucherer bietet, dessen man bedarf, oder einem übel beleumundeten Manne, ein Gruß, über den man hinterher errötet. Vater Goriot dankte mit einem kleinen, freundschaftlichen, gutmütigen Nicken. Das ganze Ereignis hatte sich in wenigen Minuten abgespielt. Eugen, der aufmerksam hinabblickte und gar nicht gewahrte, daß er nicht allein war, vernahm plötzlich die Stimme der Gräfin.

»Ach, Maxime, Sie gehen?« sagte sie vorwurfsvoll und ein wenig ärgerlich.

Die Gräfin hatte das Einfahren des Tilburys nicht bemerkt. Rastignac drehte sich rasch um und erblickte Frau von Restaud. Sie hatte einen koketten Morgenrock aus weißem Kaschmir mit rosa Schleifen an. Die Haare waren, wie bei den Pariser Frauen des Morgens üblich, nur lose aufgesteckt. Sie strömte Wohlgerüche aus, sie hatte anscheinend ein Bad genommen, und ihre dadurch gewissermaßen geschmeidige Schönheit schien um so sinnlicher; ihre Augen waren feucht. Die Blicke junger Männer sehen alles: ihre Geisteskräfte entfalten sich in den Strahlen einer Frau wie eine Pflanze in Luft und Sonne. Eugen fühlte also, auch ohne sie zu berühren, wie köstlich frisch die Hände dieser Frau sein mußten. Er sah durch den leichten Kaschmir die rosigen Töne des Busens, den der offene Morgenrock zuweilen entblößte und auf den seine Blicke sich selig niederließen. Die Gräfin bedurfte keines Korsetts, der Gürtel allein bezeichnete ihre biegsame Taille, ihr Nacken verlockte zur Liebe, ihre Füße sahen in den zierlichen Pantoffeln allerliebst aus. Als Maxime nun jene schöne Hand ergriff, um sie zu küssen, wurde Eugen seiner gewahr, und gleichzeitig bemerkte die Gräfin Eugen.

»Ah, Sie sind es, Herr von Rastignac! Es freut mich, Sie zu sehen«, sagte sie mit einer Miene, der verständnisvolle Leute zu gehorchen wissen.

Maxime blickte abwechselnd auf Eugen und die Gräfin, mit einem Gesichtsausdruck, der bezeichnend genug war: ›Ah, zum Teufel, meine Liebe, ich hoffe, du setzt den kleinen Narren schleunigst vor die Tür!‹

Dieser Satz wäre eine klare und verständliche Übersetzung der Blicke des unverschämt anmaßenden jungen Mannes, den die Gräfin Anastasia Maxime genannt hatte und dessen Gesichtsausdruck sie mit einer unterwürfigen Aufmerksamkeit studierte, die alle Geheimnisse einer Frau verrät, ohne daß sie selbst es ahnt. Rastignac empfand einen wütenden Haß gegen diesen jungen Mann. Zunächst wies ihn das schöne, wohlgepflegte Blondhaar Maximes auf den schlechten Zustand seiner eigenen Frisur hin; ferner hatte Maxime feines und sauberes Schuhzeug, während seine Schuhe trotz aller darauf verwendeten Vorsicht eine leichte Staubschicht aufwiesen; und endlich trug dieser Maxime einen anliegenden Rock, der seine hübsche Gestalt eng umschloß, während Eugen jetzt, um halb drei, im einfachen schwarzen Anzug war. Das geistreiche Kind der Charente fühlte die Überlegenheit, die dem Dandy sein Äußeres gewährte, und er haßte diesen hohen, schlanken jungen Mann mit dem klaren Auge, dem blassen Teint und dem brutalen Gesichtsausdruck.

Ohne Eugens Antwort abzuwarten, enteilte Frau von Restaud in den benachbarten Salon. Die weiten Ärmel ihres Schlafrockes flatterten hinter ihr drein, schlugen sich auf und wieder zusammen wie Schmetterlingsflügel. Maxime folgte. Eugen, wütend, folgte Maxime und der Gräfin. Alle drei fanden sich also im großen Salon vor dem Kamin wieder zusammen. Der Student wußte wohl, daß er dem verhaßten Maxime im Wege war; aber selbst auf die Gefahr hin, Frau von Restaud zu mißfallen, wollte er dem Dandy im Wege sein. Plötzlich erinnerte er sich, den jungen Mann auf dem Ball der Frau von Beauséant gesehen zu haben, und erriet, was Maxime der Frau von Restaud bedeute; aber mit jener jugendlichen Kühnheit, die große Dummheiten begeht oder zu großen Erfolgen führt, sagte er sich: ›Da hätte ich also meinen Nebenbuhler, ich will ihn aus dem Felde schlagen!‹

Der Unkluge! Er wußte nicht, daß Graf Maxime von Trailles sich beleidigen ließ, um den ersten Schuß zu haben und seinen Mann zu töten. Eugen war ein gewandter Schütze, aber er hatte noch niemals bei zweiundzwanzig Schuß zwanzigmal ins Schwarze getroffen.

Der junge Graf warf sich neben dem Kamin in einen Sessel, nahm die Feuerzange und stocherte damit so heftig und ergrimmt in der Glut, daß das schöne Gesicht Anastasias einen bekümmerten Ausdruck annahm. Das junge Weib wendete sich zu Eugen und warf ihm einen jener kalten, fragenden Blicke zu, die so deutlich sagen: ›Warum gehen Sie nicht?‹, daß wohlerzogene Leute daraufhin sofort ein paar ›Abgangssätze‹ zu stammeln pflegen.

Eugen setzte eine liebenswürdige Miene auf und sagte: »Gnädige Frau, ich beeile mich, Sie zu besuchen, um … «

Er stockte. Eine Tür öffnete sich. Der Herr, der den Tilbury gelenkt hatte, zeigte sich plötzlich, ohne Hut, begrüßte die Gräfin nicht, blickte Eugen mißtrauisch an und reichte Maxime die Hand mit einem »Guten Tag«, das so brüderlich klang, daß Eugen sich höchlich darüber verwunderte. Die jungen Leute aus der Provinz wissen nicht, wie angenehm das Leben zu dritt ist.

»Herr von Restaud«, sagte die Gräfin, indem sie dem Studenten ihren Gatten vorstellte. Eugen verbeugte sich tief.

»Der Herr hier«, fuhr sie, auf Eugen zeigend, fort, »ist Herr von Rastignac, ein Verwandter der Vicomtesse von Beauséant durch die Marcillacs; ich hatte das Vergnügen, ihn auf ihrem letzten Balle kennen zu lernen.« ›Verwandter der Vicomtesse von Beauséant durch die Marcillacs‹, diese Worte, die die Gräfin mit einem gewissen Nachdruck sprach, denn sie war stolz, beweisen zu können, daß sie nur Leute von Rang bei sich empfange, waren von zauberhafter Wirkung: der Graf legte seine kalt-feierliche Miene ab und begrüßte den Studenten.

»Ich bin entzückt, mein Herr,« sagte er, »Ihre Bekanntschaft zu machen.«

Der Graf Maxime von Trailles warf Eugen einen unruhigen Blick zu und gab sein unverschämtes Gebaren auf. Die wunderbare Wirkung eines einflußreichen Namens öffnete im Hirnkasten des Südfranzosen dreißig Schubfächer und gab ihm die Geistesgegenwart zurück, die er sich unterwegs so eifrig eingeübt hatte. Ein Blitz erhellte ihm plötzlich das Wesen der höchsten Pariser Gesellschaft, das ihm bisher so dunkel gewesen war. Das Haus Vauquer und Vater Goriot waren seinen Gedanken jetzt weit entrückt.

»Ich glaubte die Marcillacs ausgestorben«, sagte der Graf von Restaud zu Eugen. »Ja, mein Herr,« erwiderte dieser, »mein Großonkel, der Chevalier von Rastignac, heiratete die letzte Erbin der Familie Marcillac. Er hatte nur eine Tochter, die mit dem Marschall von Clarimbault vermählt war, dem Großvater mütterlicherseits der Frau von Beauséant. Wir sind die jüngere Linie und um so ärmer, als mein Großonkel, der Vizeadmiral, alles im Dienste des Königs verlor. Die revolutionäre Regierung wollte bei der Abrechnung mit der Ostindischen Handelsgesellschaft unsere Forderungen nicht anerkennen.« »Befehligte Ihr Herr Großonkel nicht vor 1789 den ›Vengeur‹?« »Sehr richtig.« »Da kannte er also meinen Großvater, der den ›Warwick‹ führte.«

Maxime sah Frau von Restaud an und zuckte die Achseln. Seine Blicke sagten: ›Wenn er anfängt, sich mit ihm über die Marine zu unterhalten, sind wir verloren.‹

Anastasia verstand den Blick des Herrn von Trailles. Mit der bewunderungswürdigen Sicherheit, wie sie den Frauen eigen ist, sagte sie lächelnd: »Kommen Sie, Maxime, ich habe Sie etwas zu fragen. – Meine Herren, wir lassen Sie ein Weilchen mit dem ›Warwick‹ und dem ›Vengeur‹ umhersegeln.«

Sie erhob sich mit einem spöttischen Lächeln und winkte Maxime, ihr zu folgen. Kaum hatten die beiden die Tür des Boudoirs erreicht, als der Graf seine Unterhaltung mit Eugen unterbrach.

»Anastasia! Bleib doch hier!« rief er erregt; »du weißt wohl, daß … « »Ich komme sofort zurück, sofort«, fiel sie ihm ins Wort; »in einer Minute habe ich Maxime den Auftrag erteilt, mit dem ich ihn betrauen will.«

Sie kam in der Tat sogleich wieder. Wie alle Frauen, die gezwungen sind, den Charakter ihres Gatten zu studieren, um nach ihrer eigenen Laune leben zu können, wußte die Gräfin genau abzumessen, wie weit sie gehen dürfe, um nicht ein kostbares Vertrauen zu verlieren; am Tonfall des Grafen hatte sie erkannt, daß es unklug sei, jetzt im Boudoir zu bleiben. Diese Störung verdankte sie Eugen. Sie deutete jetzt verachtungsvoll auf den Studenten und blickte Maxime an, der, zu allen dreien gewendet, kurz angebunden sagte: »Sie sprechen von Familienangelegenheiten, ich will Sie nicht stören. Auf Wiedersehen.« Er ging.

»Bleiben Sie doch, Maxime!« rief der Graf. »Kommen Sie zum Essen!« sagte die Gräfin, die den Grafen und Eugen nochmals allein ließ, um Maxime in den ersten Salon zu folgen, wo beide sich längere Zeit unterhielten, in der Annahme, Herr von Restaud werde inzwischen Eugen verabschieden.

Rastignac hörte sie lachen, plaudern und – schweigen; aber der boshafte Student führte mit Herrn von Restaud geistvolle Gespräche, schmeichelte ihm und verwickelte ihn in allerlei Erörterungen, denn er wollte das Wiedereintreten der Gräfin abwarten und in Erfahrung bringen, welches ihre Beziehungen zu Vater Goriot waren. Diese Frau, die ersichtlich in Maxime verliebt war und ihren Gatten beherrschte, sollte Beziehungen zu dem alten Nudelfabrikanten haben? Es war ein Rätsel. Er wollte das Rätsel ergründen, denn er hoffte über diese Frau, die so ganz Pariserin war, eine gewisse Herrschaft zu gewinnen.

»Anastasia!« rief der Graf von neuem nach seiner Frau.

»Wir müssen uns fügen, mein armer Maxime«, sagte sie zu dem jungen Manne; »auf heute abend!« »Ich hoffe, Stasie,« sagte er ihr ins Ohr, »daß Sie diesen jungen Mann in Schranken halten werden; seine Augen glühten auf wie Kohlen, als Ihr Morgenrock sich öffnete. Er wird Ihnen Erklärungen machen, Sie kompromittieren, und Sie würden mich zwingen, ihn zu erschießen.« »Sind Sie toll, Maxime?« sagte sie. »Sind solch kleine Studenten nicht im Gegenteil prächtige Blitzableiter? Ich werde schon Restaud ein wenig gegen ihn aufzubringen wissen.«

Maxime brach in Lachen aus und ging; die Gräfin folgte ihm und stellte sich ans Fenster, um ihn seinen Wagen besteigen und das Pferd mit der Peitsche antreiben zu sehen. Sie kehrte erst zurück, als das Portal geschlossen wurde.

»Denk dir, meine Liebe,« rief ihr der Graf entgegen, »die Besitzung, auf der die Familie des Herrn von Rastignac wohnt, ist nicht weit von Verteuil an der Charente. Sein Großonkel und mein Großvater waren miteinander bekannt.« »Freut mich, daß wir gemeinsame Bekannte haben«, sagte die Gräfin zerstreut. »Mehr, als Sie glauben«, sagte Eugen mit leiser Stimme. »Wie meinen Sie das?« entgegnete sie lebhaft. »Ja,« erwiderte der Student, »ich sah vorhin einen Herrn aus dem Hause treten, mit dem ich Tür an Tür in derselben Pension wohne, – den Vater Goriot.«

Beim Nennen dieses durch den Zusatz ›Vater‹ verschönten Namens ließ der Graf die Feuerzange, mit der er die Glut geschürt hatte, hastig fallen, als habe sie ihm die Hände verbrannt, und erhob sich. »Mein Herr,« rief er aus, »Sie hätten wohl ›Herr‹ Goriot sagen können!«

Die Gräfin erbleichte, als sie die Empörung ihres Mannes gewahrte, dann errötete sie; sie war offenbar verlegen. Sie sagte in einem Tone, der unbefangen sein sollte: »Es gibt niemanden, dem wir mehr zugetan wären … «

Sie unterbrach sich, blickte auf das Klavier, als falle ihr irgendeine Melodie ein, und fragte: »Lieben Sie die Musik, mein Herr?« »Sehr«, erwiderte Eugen, der rot und unsicher geworden war bei dem Gedanken, irgendeine große Dummheit begangen zu haben.

»Singen Sie?« fuhr sie fort, ans Klavier tretend, dessen sämtliche Tasten sie mit einem Fingerzug hintereinander anschlug: Rrrrah! »Nein, gnädige Frau.«

Der Graf von Restaud ging auf und ab.

»Das ist schade, da fehlt Ihnen ein bedeutsames Mittel zum Erfolg. – Ca-a-ro, ca-a-a-ro, ca-a-a-a-ro, non du-bi-tare«, sang die Gräfin.

Als Eugen den Namen des Vaters Goriot ausgesprochen, hatte er eine zauberhafte Wirkung erzielt, nur daß diese im umgekehrten Verhältnis zu jener stand, die den Worten ›Verwandter der Frau von Beauséant‹ gefolgt war. Er befand sich etwa in der Lage eines Menschen, dem ein Liebhaber von Altertümern seine Schätze zeigt und der aus Unachtsamkeit an einen Schrank voll Statuetten stößt, so daß ein paar altersschwache Köpfe wanken und zu Boden stürzen. Er hätte in die Erde sinken mögen. Frau von Restauds Gesichtsausdruck war kalt und hart, und ihre gleichgültigen Blicke wichen denen des geschickten Studenten aus.

»Gnädige Frau,« sagte er, »Sie haben wohl mit Herrn von Restaud allerlei zu reden; seien Sie meiner tiefsten Ergebenheit versichert, und gestatten Sie … « »Wann immer Sie kommen werden«, fiel die Gräfin ihm eilig ins Wort, »können Sie versichert sein, Herrn von Restaud wie mir die größte Freude zu bereiten.«

Eugen verneigte sich tief vor dem Ehepaar und schritt hinaus, mit ihm Herr von Restaud, der es sich trotz Eugens Bitten nicht nehmen ließ, ihn bis ins Vorzimmer zu begleiten.

»Wann immer der Herr sich sehen lassen sollte,« sagte der Graf zu Maurice, »werden weder die gnädige Frau noch ich zu Hause sein.«

Als Eugen den Fuß auf die Freitreppe setzte, gewahrte er, daß es regnete.

›Teufel!‹ sagte er, ›ich habe eine Tölpelei begangen, deren Ursache und Tragweite ich nicht kenne, – soll mir der Handel auch noch Hut und Anzug verderben? Ich sollte im Winkel hocken und studieren und nach nichts weiter trachten, als ein blöder Beamter zu werden. Kann ich in Gesellschaft gehen, wenn man, um einigermaßen anständig aufzutreten, Wagen und Lackstiefel haben muß und goldene Uhrketten und von frühmorgens an weiße Wildlederhandschuhe zu sechs Franken das Paar? Und alle Abende gelbe Handschuhe? … Alter Narr Goriot, fahr hin!‹

Als er vor die Haustür trat, machte ihm der Kutscher eines Mietwagens, der anscheinend ein paar Neuvermählte in ihre Wohnung gefahren hatte und dem es gerade gelegen kam, sich eine kleine Nebeneinnahme zu verschaffen, ein Zeichen, denn Eugen schien in seinem schwarzen Anzug, weißer Weste, gelben Handschuhen und Lackstiefeln und ohne Schirm eines Wagens bedürftig zu sein. Eugen war in einer jener zornigen Stimmungen, die einen jungen Mann leicht veranlassen, tiefer und tiefer in den Abgrund hinunterzusteigen, in den er sich nun einmal hinabgewagt hat, als hoffe er dort unten noch auf einen glücklichen Ausgang. Er stieg in den Wagen, in dem einzelne Orangenblüten davon zeugten, daß er vorher von einem Brautpaar besetzt gewesen war.

»Wohin wünscht der Herr?« fragte der Kutscher, der seine weißen Handschuhe schon nicht mehr anhatte.

›Wetter!‹ sagte sich Eugen, ›wenn ich mich schon ruiniere, so soll es mir wenigstens zu etwas nützen!‹ »Fahren Sie zum Palais Beauséant«, fügte er laut hinzu. »Zu welchem?« fragte der Kutscher. Ein überlegenes Wort, das Eugen in Verlegenheit setzte. Der elegante Neuling wußte nicht, daß es zwei Palais Beauséant gab; er wußte nicht, wie reich er war an Verwandten, die sich nicht im geringsten um ihn kümmerten.

»Zum Vicomte von Beauséant, Rue … « »de Grenelle«, nickte der Kutscher. »Sehen Sie, da ist noch das Palais des Grafen und des Marquis von Beauséant, Rue Saint-Dominique«, fügte er hinzu. »Ich weiß«, erwiderte Eugen trocken. ›Alle Welt macht sich heute lustig über mich‹, dachte er und warf den Hut auf den Rücksitz; ›und ich leiste mir Dinge, die mich ein Heidengeld kosten werden. Aber wenigstens mache ich nun meiner sogenannten Cousine meinen Besuch auf höchst aristokratische Weise. Der Vater Goriot kostet mich schon mindestens zehn Franken, der Halunke! Meiner Treu, ich werde Frau von Beauséant mein Abenteuer berichten; vielleicht bringe ich sie zum Lachen. Sicherlich weiß sie Bescheid über das Geheimnis der verbrecherischen Beziehungen dieser alten, schwanzlosen Ratte zu jener schönen Frau. Es ist wichtiger, ich gefalle meiner Cousine, als daß ich mich jenem unmoralischen Weib aufdränge, was übrigens ein Vermögen kosten würde. Wenn schon der Name der schönen Vicomtesse so mächtig ist, wieviel einflußreicher muß ihre Persönlichkeit sein! Wenden wir uns nach oben! Will man etwas im Himmel erreichen, so muß man sich an Gott halten.‹

Das war der hauptsächliche Inhalt der tausendundein Gedanken, die ihn bewegten. Als er den Regen strömen sah, gewann er etwas Ruhe und Sicherheit zurück. Er sagte sich, daß die beiden Hundertsousstücke, die er jetzt opfern müsse, wenigstens gut angewendet seien, um Anzug, Hut und Schuhzeug zu schonen. Mit großer Befriedigung vernahm er des Kutschers befehlerisches »Das Tor auf, bitte!«. Ein Schweizer in rotgoldner Livree öffnete das knarrende Portal, und Rastignac sah mit süßer Freude seinen Wagen durch den Torweg rollen, im Hofe wenden und unter dem Schutzdach der Freitreppe anhalten; der Kutscher, im groben blauen, rot besetzten Mantel, kam und ließ das Trittbrett herunter. Als Eugen aus dem Wagen stieg, vernahm er von der Vorhalle her unterdrücktes Gelächter. Drei oder vier Bedienstete höhnten bereits über die spießbürgerliche Hochzeitskutsche. Im selben Augenblick fand der Student Gelegenheit, seinen Wagen mit einem der elegantesten Coupés von Paris zu vergleichen. Dieses Coupé war mit zwei stolzen Rossen bespannt, die an den Ohren mit Rosetten geschmückt waren und in den Gebissen schäumten; ein schön gekleideter Kutscher mit gepudertem Haar hielt sie am Zügel. In der Chaussée d'Antin hatte Frau von Restaud in ihrem Hofe das hübsche Kabriolett des jungen Mannes von sechsundzwanzig Jahren; im Faubourg Saint-Germain harrte im Hof der prächtige Wagen eines Grandseigneurs, ein Wagen, der mehr als dreißigtausend Franken kosten mußte.

›Wer mag hier sein?‹ fragte sich Eugen, der ein bißchen verspätet einsah, daß in Paris recht wenig Frauen zu treffen sein dürften, die nicht beschäftigt wären, und daß es zur Eroberung einer dieser Königinnen mehr bedürfe als Blut. ›Teufel! Meine Cousine hat sicherlich auch ihren Maxime!‹

Er erstieg die Freitreppe, – den Tod im Herzen. Bei seinem Erscheinen öffnete sich die Glastür; die Diener standen ernsthaft wie geprügelte Esel. Das Fest, dem er vor einigen Tagen beigewohnt, hatte in den im Erdgeschoß gelegenen Empfangsräumen stattgefunden. Da ihm zwischen der Einladung und dem Balle keine Zeit geblieben war, seiner Cousine einen Besuch abzustatten, war er in die Privatgemächer Frau von Beauséants noch nicht eingedrungen. Er sollte also zum ersten Male die Wunder eines persönlichen Geschmacks gewahren, den eine vornehme Frau in ihren Zimmern zum Ausdruck zu bringen weiß. Ein um so interessanteres Studium, als sich Vergleiche mit dem Salon der Frau von Restaud anstellen ließen. Von halb fünf Uhr an war die Vicomtesse zu sprechen. Fünf Minuten früher würde sie ihren Vetter nicht empfangen haben. Eugen, der noch nichts von den Pariser Formen und Gebräuchen ahnte, ließ sich auf einer blumengeschmückten prächtigen Treppe mit vergoldetem Geländer und roten Teppichen zu Frau von Beauséant geleiten, noch unbekannt mit deren Geschichte, – einem der vielen Histörchen, die man sich abends in den Salons von Ohr zu Ohr erzählte.

Die Vicomtesse unterhielt seit drei Jahren Beziehungen zu einem der berühmtesten und reichsten Edelleute Portugals, dem Marquis d'Ajuda-Pinto. Es war eines jener reinen Liebesverhältnisse, die so innig gestaltet sind, daß ein Dritter im Bunde unzulässig wäre. So hatte denn auch der Vicomte von Beauséant der Öffentlichkeit ein Beispiel gegeben, indem er wohl oder übel diese morganatische Verbindung achtete. Diejenigen, die in den ersten Tagen jenes Freundesbundes die Vicomtesse um zwei Uhr besuchen kamen, fanden stets den Marquis d'Ajuda-Pinto dort. Frau von Beauséant, die ihre Tür nicht verschließen konnte, was sehr unpassend gewesen wäre, empfing die Besucher so kalt und blickte so starr und gelangweilt zur Decke, daß jeder bald begriff, wie ungelegen er kam. Als Paris wußte, daß Besuche zwischen zwei und vier Uhr Frau von Beauséant störend seien, ließ man sie bald unbehelligt. Sie besuchte die Theater in Begleitung des Herrn von Beauséant und des Herrn d'Ajuda-Pinto; aber als ein Mann von Lebensart ließ Herr von Beauséant seine Frau und den Portugiesen allein, sobald er sie in der Loge untergebracht hatte.

Herr d'Ajuda aber wollte heiraten. Er bewarb sich um ein Fräulein von Rochefide. In der ganzen hohen Aristokratie gab es nur eine einzige Person, die noch nichts von der nahen Heirat wußte, – das war Frau von Beauséant. Wohl hatten einige ihrer Freundinnen andeutungsweise davon gesprochen; aber sie hatte nur gelacht, im Glauben, man wolle ihr viel beneidetes Glück trüben. Nun aber sollte das öffentliche Aufgebot erfolgen. Der Portugiese war gekommen, um der Vicomtesse von seinen Heiratsplänen Mitteilung zu machen; aber der schöne Mann hat nicht einmal eine Andeutung zu stammeln gewagt. Weshalb? Zweifellos ist eben nichts schwieriger, als einer Frau ein solches Ultimatum zu stellen. Gar mancher Mann findet es leichter, sich eines Gegners zu erwehren, der ihn mit der Spitze seines Degens bedroht, als einer Frau gegenüberzustehen, die zwei Stunden jammert und dann die Sterbende spielt und nach Riechsalz verlangt.

Gerade jetzt also stand Herr d'Ajuda-Pinto wie auf Nadeln und wollte gehen, er wollte Frau von Beauséant die Nachricht schriftlich zukommen lassen; denn es sei angenehmer, dachte er bei sich, diesen Liebesmord brieflich zu vollführen. Als daher der Kammerdiener Herrn Eugen von Rastignac meldete, erbebte der Marquis vor Freude. Ihr aber wißt: eine Frau, die liebt, ist noch erfinderischer in allem, was Eifersucht heißt, als sie geschickt ist, das Liebesspiel abwechslungsreich zu gestalten. Wenn sie fühlt, daß der Geliebte sie verlassen will, errät und empfindet sie den Sinn einer Geste. Frau von Beauséant bemerkte also das leichte, unwillkürliche, aber entsetzlich verräterische Zittern.

Eugen bedachte nicht, daß man sich in Paris bei niemandem, wer es auch sei, vorstellen sollte, ehe man sich nicht von Freunden des Hauses die Geschichte des Mannes, der Frau, der Kinder hat berichten lassen, um nicht eine jener Tölpeleien zu begehen, von denen man in Polen so schön und bildhaft sagt: ›Spann fünf Ochsen vor deinen Wagen!‹ – wahrscheinlich um dich aus dem Sumpf herauszuziehen, in den deine Dummheit dich gebracht hat. Nach einem so tölpelhaften Benehmen, wie er es bei Frau von Restaud an den Tag gelegt, die ihm nicht einmal Zeit gelassen hatte, besagte fünf Ochsen vorzuspannen, konnte kein anderer als Eugen so kühn sein, sein Ochsentreiberhandwerk bei Frau von Beauséant fortzusetzen. Wenn er aber dort Frau von Restaud und Herrn von Trailles äußerst lästig gewesen war, so zog er hier Herrn d'Ajuda aus der Verlegenheit.

»Auf Wiedersehen!« sagte der Portugiese und bemühte sich, die Tür zu gewinnen, als Eugen den kleinen, kokett in Grau und Rosa gehaltenen Salon betrat, wo aller Prunk so selbstverständlich schien.

Vater Goriot

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