Читать книгу Kappe und die verkohlte Leiche - Horst Bosetzky, Uwe Schimunek - Страница 7
DREI
Dienstag, 20. September 1910
ОглавлениеDIE FIRMA KUPFER & CO., zu deren Eigentümern auch der Großindustrielle und Zechenmagnat Hugo Stinnes gehörte, gab zu den Ereignissen auf ihrem Gelände eine knappe Erklärung ab, in der es unter anderem hieß:
Am 15. September bekamen wir von dem Deutschen Transportarbeiter-Verband ein Schreiben, in dem, ohne dass vorher von Seiten der Arbeiterschaft eine Andeutung gemacht war, eine Lohnerhöhung von 43 Pfennig auf 50 Pfennig für die Stunde für Arbeiter und auf 33 von 30 Mark pro Woche für Kutscher gefordert wurde. Der Stundenlohn von 43 Pfennigen ist höher als der, der in fast allen Berliner Kohlengeschäften gezahlt wird. Deshalb war von vornherein das Ansinnen des Transportarbeiter-Verbandes nicht diskutabel. Trotzdem sind wir dem Ersuchen nachgekommen und haben das Schreiben dem Verband der Kohlenhändler unterbreitet und dem Transportarbeiter-Verband einen Vorbescheid gegeben, dass wir auf die Sache zurückkommen würden. Am 18. September ist diese Antwort im Besitz des Transportarbeiter-Verbandes gewesen, aber am 19. September um sechs Uhr früh erklärten die Arbeiter, nicht mehr arbeiten zu wollen, weil wir die Forderung nicht bewilligt hätten. Der Streik ist danach völlig vom Zaune gebrochen. Wir beschäftigen 150 Arbeiter und haben die größten Kohlenplätze in Berlin, es steht für uns außer Frage, dass die Arbeiter bei uns eine Machtprobe machen wollten.
Und auf diese Machtprobe ließ man es gern ankommen. Einige willige Arbeiter fand man in der eigenen Firma, außerdem warb man über eine Hamburger Agentur fünfzig Kräfte an, sodass am Dienstagmorgen sechs Kohlenwagen den Platz in der Sickingenstraße verlassen konnten, eskortiert von fünfzig Berittenen und fünfzig Schutzleuten zu Fuß. Die wenigen Streikposten vermochten sie nicht aufzuhalten. Um fürderhin besser gewappnet zu sein, begannen diese, das Straßenpflaster aufzureißen.
Paul Tilkowski, der zwar in der Sickingenstraße wohnte, aber auf einem anderen Moabiter Kohlenplatz arbeitete, verfolgte dies alles mit Kopfschütteln. Er war durch und durch unpolitisch, und wenn ihn ein Funktionär ansprach, ob er in die Gewerkschaft eintreten wolle, warf er ihm das nächstbeste Brikett an den Kopf. Der Streik der Moabiter Kohlenarbeiter interessierte ihn einen feuchten Kehricht. Er war froh, dass er Arbeit hatte, und wollte nichts anderes als arbeiten. Ob er nun 43 oder 50 Pfennig in der Lohntüte hatte - das machte den Kohl auch nicht mehr fett.
Er war der Erste - und womöglich auch der Einzige –, der heute auf dem Kohlenplatz von Gottfried Kockanz in der Wiclefstraße zur Arbeit erschien. Kein Problem, er hatte einen Schlüssel. Bevor er die erste Tür aufschloss, riss er erst einmal die Zettel ab, die man an den kompakten hölzernen Zaun geklebt hatte, der den Platz wie eine Festungsmauer von der Straße trennte: Plumeyer’s Bartwuchsbeförderer. Garantiert unschädlich! Vom kaiserl. Patentamt gesetzl. geschützt. - Bügele Deinen Cylinderhut selbst auf mit Cylindrol!
Der Kohlenplatz war eingeklemmt zwischen den Mauern der beiden angrenzenden vierstöckigen Mietshäuser und erinnerte von weitem an einen ausgeschlagenen Zahn in einem sonst gleichmäßigen Gebiss. Paul Tilkowski hatte einige Mühe, das Tor aufzusperren, denn die beiden Flügel hingen schon so schief in den Angeln, dass die Bretter unten über das Pflaster schleiften. Da das Grundstück bald bebaut werden sollte, investierte Kockanz kaum noch etwas. Obwohl er keine eigenen Fuhrwerke hatte und seine Briketts und Steinkohlen mit Handkarren ausfahren ließ, musste die Einfahrt breit genug sein, damit die Wagen der Anlieferer hindurchpassten. Kockanz’ Kunden waren die Haushalte und kleinen Läden ringsum. Oft hatten die Leute so wenig Geld, dass sie mit einem Blecheimer kamen und sich fünf Presskohlen holten. Eine Goldgrube war diese Kohlenhandlung nicht, aber Kockanz besaß noch eine andere nebenan in Charlottenburg, die mehr einbrachte, und sollte, wie es hieß, auch noch über andere Einkünfte verfügen.
Tilkowski stampfte durch den schwarzgrauen Kohlengrus, als wäre es feiner, weißer Sand am Ostseestrand. Links stand die mit Karbolineum gestrichene Baracke, die Kockanz als Büro diente, und rechts gab es einige windschiefe Unterstände, um die Kohlenvorräte und das aufgestapelte Brennholz vor Regen zu schützen. Groß umzuziehen hatte er sich nicht, und so wollte Tilkowski, wie immer in der wärmeren Jahreszeit, seine abgewetzte Tasche mit der Stullenbüchse und der Flasche mit Muckefuck auf das Fensterbrett legen und dann mit der Arbeit beginnen, als er bemerkte, dass eine Scheibe des Kontors eingeschlagen war und das Fenster offenstand. Wieder einmal ein Einbruch. Er fluchte vor sich hin. Als ob hier etwas zu holen wäre! Vielleicht lag der Einbrecher noch auf Kockanz’ Couch und schlief.
Tilkowski griff sich sicherheitshalber eine Schaufel, ehe er rief, ob da jemand sei. Keine Antwort. Vorsichtig schloss er nun auf und machte sich daran, die einzelnen Räume zu durchsuchen. Die Schreib- und die Rechenmaschine sowie ein paar Groschen waren geklaut worden. Das Telefon stand noch auf dem Schreibtisch und funktionierte auch, sodass sich Tilkowski vom Amt mit seinem Chef verbinden lassen konnte. Die Polizei sollte Kockanz lieber selber anrufen.
«Mache ich», sagte Kockanz, nachdem er ausgiebig über die herrschenden Verhältnisse geschimpft hatte. «Der Mob darf ja heute machen, was er will. Nun gut. Ich komme nachher vorbei.»
Tilkowski hängte den Hörer wieder auf. Endlich konnte er anfangen. Er arbeitete gern. Es machte ihn stolz und glücklich, wenn er mit seiner Kraft und seiner Geschicklichkeit Güter und Lasten bewegen konnte. Je mehr und je schwerer, desto besser. Jeden Tag musste er sich beweisen. Wenn ihn jemand einen Kraftprotz nannte, empfand er das als Auszeichnung.
Paul Tilkowski hatte etwas Animalisches an sich, wie er mit nacktem Oberkörper in der milden Septembersonne stand und Koks in Jutesäcke schippte. So edel sein Körper auch gebaut war - für sein Gesicht hatte die Natur nur wenig übriggehabt. Wenn ihm die Spielkameraden in der Ackerstraße den Spitznamen «Neandertaler» verpasst hatten, dann sprach das für deren ausgezeichnete Beobachtungsgabe. Auch überragende Intelligenz war Tilkowski schwer nachzusagen. Sein Spieß bei den «Stoppelhopsern» hatte es ganz passend auf den Punkt gebracht: «Du kannst wirklich nicht weiter denken als wie ein Bulle scheißt.» Zwei Dinge aber konnte Paule wunderbar: tanzen und die Mädchenherzen entflammen. Man erzählte sich von ihm, dass er einige Zeit in Paris gelebt und dort als Aufpasser in einem Bordell gearbeitet habe. «Da hatta ooch seine Liebeskünste her, von die Damen da.» Vorstrafen hatte er auch schon einige auf dem Konto, die meisten wegen Körperverletzung. War er betrunken und kam ihm dann einer dumm und dämlich, schlug er auf der Stelle zu - und er war jedes Wochenende betrunken.
Hermann Kappe war nun schon seit drei Wochen in Berlin, aber noch immer kam er sich in der Hauptstadt irgendwie verloren vor. So zuckte er unwillkürlich zusammen, als sein Vorgesetzter ihm sagte, er möge sich nach Moabit in Marsch setzen, von der Kohlenhandlung Kockanz in der Wiclefstraße sei ein Einbruch gemeldet worden und die dortige Wache habe wegen der Streikunruhen keine freien Kapazitäten. «Und die wissen, dass wir Sie hier am Alexanderplatz als Supernumerar zur freien Verfügung haben.»
Kappe schaute nicht eben intelligent drein, weil er keine Ahnung hatte, was das war, ein Supernu. .. Eigentlich ein Überzähliger, genauer gesagt, eine Dienstkraft, die im Stellenplan nicht vorgesehen war, aber aus den verschiedensten Gründen beschäftigt wurde. Bei Kappe hieß der Grund Ferdinand von Vielitz. Nachdem ihm Kappe das Leben gerettet hatte, war der Major nach Berlin gefahren und hatte seine Verbindungen spielen lassen. Schließlich war Kappe nach Berlin versetzt worden und sollte sich nun in der täglichen Kleinarbeit als Kriminalwachtmeister bewähren.
«Und vergessen Sie nicht, sich Ihr Schild in die Brusttasche zu stecken», sagte der Vorgesetzte.
«Sehr wohl.» Kappe machte eine leichte Verbeugung und ignorierte den leisen Spott in der Stimme des anderen. Er wusste sehr wohl, dass die Berliner Kollegen dazu neigten, alle, die aus der Mark Brandenburg oder anderen preußischen Provinzen kamen, von vornherein als Hinterwäldler und Dorftrottel zu betrachten. Einige mochten neidisch auf ihn sein, war er doch von den Zeitungen als Held von Storkow ausgiebig gefeiert worden. Wie er sich dem Einbrecher todesmutig entgegengestellt hatte. Dessen Kugel wäre ihm auch wirklich ins Herz gedrungen, wenn sie nicht von dem abgeschraubten Schild in seiner Brusttasche abgefangen worden wäre. So hatten ihn nur die Wucht des Geschosses und der Schock zu Boden stürzen lassen, doch verletzt worden war er nicht im Geringsten. Im Glauben, ihn getötet zu haben, hatte der Schütze von seinem Opfer abgelassen und war ins Freie gestürzt. Der Major hatte ihn nicht weit verfolgen können, denn sich um Kappe zu kümmern war ihm wichtiger erschienen. «Kappe, das werde ich dir nie vergessen!» Und sein Dank hatte darin bestanden, dafür zu sorgen, dass sich Kappes Herzenswunsch, als Kriminalwachtmeister nach Berlin zu gehen, endlich erfüllte. «Nun danket alle Gott!», hatten sie in der Storkower Kirche gesungen. Dass es so hart sein würde, sich hier in der Hauptstadt durchzubeißen, hätte er sich allerdings nicht träumen lassen.
Hermann Kappe machte sich auf den Weg nach Moabit. Zur Stadtbahn war es nicht weit. Er ging gern über den Alexanderplatz. Wo anders als hier konnte er üben, Berliner zu werden? Unübersichtlich war es hier, von allen Seiten kamen Straßenbahnen und Automobile wie Geschosse auf ihn zu, er musste Kraft- und Pferdedroschken, Fahrrädern, Handkarren und eiligen Fußgängern ausweichen. Dazu kam der Lärm. Und immer wieder irritierten ihn die eleganten Damen, die an ihm vorüberrauschten. Wie glücklich mussten die Männer sein, die so ein Weib besaßen! Klein und unscheinbar kam er sich da vor, und am meisterten schüchterte ihn die Berolina ein, deren Standbild nun schon seit fünfzehn Jahren den Alexanderplatz beherrschte. «Frau Bürgermeisterin» hatte der Volkswitz sie getauft. Ihre ausgestreckte linke Hand gab den Berlinern Anlass zu mancherlei spöttischen Betrachtungen. Während die einen meinten, die Berolina strecke die Hand nach neuen Steuern aus, fanden die anderen, sie weise den Besuchern der benachbarten städtischen Wärmehalle den Weg zur «Palme», dem Asyl für Obdachlose.
Kappe hielt es fast für ein Wunder, dass er den Stadtbahnhof erreichte, ohne überfahren oder wenigstens umgerannt worden zu sein. Sicherlich war es kein Abenteuer für ihn, mit der Eisenbahn zu fahren, das kannte er von Wendisch Rietz und Storkow her, aber ein wenig Höhenangst überkam ihn doch, wenn es über die Viaduktbögen ging. Wenn da mal ein Zug entgleiste. .. Erst zwei Jahre war es her, dass es am Gleisdreieck ein Zugunglück mit achtzehn Toten gegeben hatte. Nun gut, das war die Hoch- und nicht die Eisenbahn gewesen, aber dennoch. ..
Anderes beschäftigte ihn jedoch mehr, als er auf dem verqualmten Bahnsteig stand und auf den nächsten Zug Richtung Charlottenburg wartete: die Suche nach dem Mann, der versucht hatte, ihn zu erschießen. In Gesprächen mit seinen Freunden nannte er ihn stets seinen Mörder. Auch ein Vierteljahr nach der Tat hatte man seiner noch nicht habhaft werden können. Was auch daran liegen mochte, dass er so aussah wie Hunderttausende anderer Männer auch. Das schlechte Licht und ein tief über das Gesicht gezogener Hut hatten verhindert, in seinem Gesicht besondere Merkmale zu entdecken. «Vielleicht wie ein Baby mit Bart», hatte Kappe gesagt. «Sehr weiche Züge also.» Alter: Mitte dreißig, Figur: eher schlank. Der Major meinte, von der Sprache her könne es nur ein Berliner gewesen sein. Und da man davon ausgehen konnte, dass der Verbrecher in seine Heimatstadt zurückgekehrt war, hielt Kappe Tag für Tag die Augen offen. Das Argument von der Nadel im Heuhaufen schreckte ihn nicht. Es galt nur, an der richtigen Stelle hineinzugreifen.
Der Zug kam in den Bahnhof gerollt und hielt mit quietschenden Bremsen. Die Abteiltüren wurden aufgerissen und krachten gegen ihre Anschläge. Kappe zuckte zusammen. So viel Lärm hatte es in Wendisch Rietz nicht einmal Silvester gegeben. Er lief die Waggons entlang und suchte nach einem freien Platz. In der dritten Klasse schien alles besetzt zu sein. Schon wurde «Zurückbleiben!» geschrien und wie wild gepfiffen, da schwang er sich aufs Trittbrett und enterte ein Abteil, in dem vier Herren und eine Dame saßen. Die Herren lasen allesamt den Berliner Lokal-Anzeiger, die Dame blickte pikiert. «Pardon», murmelte er denn auch, als er sich in die Lücke quetschte, die zwischen ihr und einem besonders dicken Mitreisenden verblieben war. Anders als in Storkow war es hier üblich, sich zu ignorieren. Der Zug setzte sich ruckend in Bewegung. Die Auspuffschläge der Lok ließen ihn um sein Gehör fürchten.
Kappe nahm die Fahrt als Stadtbesichtigung. Er saß in Fahrtrichtung. Der erste Bahnhof hieß Börse, was er noch immer komisch fand. Wie Geldbörse. Immerhin wusste er schon, dass das Gotteshaus am Vorplatz die Garnisonkirche war. Folgten die Museumsinsel und die Universität. Bahnhof Friedrichstraße. Kappe staunte über die Menschenmenge, die sich hier versammelt hatte. Viele kamen nicht mit und schimpften fürchterlich. Der Zug war derart überfüllt, dass er Angst hatte, die Brücke über die Spree würde unter ihrer Last zusammenbrechen und sie allesamt würden in den Fluss stürzen und ertrinken. Gott sei Dank, alles war stabil genug. Als sie am Reichstag vorbeifuhren, ergriff ihn so etwas wie ein heiliger Schauder. Hier hatte Bismarck gestanden und geredet. Lange konnte er sich diesen hehren Gefühlen nicht hingeben, denn nun ging es über den Humboldt-Hafen hinweg. Er atmete auf, als sie im Lehrter Stadtbahnhof hielten und sozusagen wieder Boden unter den Füßen hatten.
Dann kam Bellevue. Fast hätte Kappe das Aussteigen vergessen. Als er das Bahnhofsgebäude verlassen hatte, sah er sich erst einmal so hilflos um, wie es für einen Kriminalwachtmeister eigentlich beschämend war. In dieser Gegend war er noch nie gewesen, und er musste sich erst anhand der Sonne orientieren, wo denn Süden, Norden, Osten und Westen lagen. Moabit, das hatte er sich vorhin auf dem Stadtplan eingeprägt, musste im Nordwesten liegen, aber die Straße, auf der er stand, führte nach Nordosten. Jemanden nach dem Weg zu fragen widerstrebte ihm. Also ging er erst einmal Richtung Westen. Ein Schild verriet ihm, dass er sich auf der Flensburger Straße befand. Die war sehr schön, hatte aber den Nachteil, dass sie sozusagen im Nichts endete, das heißt am Ufer der Spree. Kappe wandte sich instinktiv nach rechts und kam zur Lessingbrücke und zur Stromstraße. Die grauen Wasser der Spree erinnerten ihn ein wenig an den Storkower Kanal, und er fragte sich, ob es hier in der Stadt noch Fische gab. Die Stromstraße fuhr eine Straßenbahn entlang, die ihn hoffen ließ, dass auf ihrem Zielschild der Name «Moabit» stehen würde, doch es war die Linie 3, und da hieß es nur «Großer Ring». Pech gehabt. Dann aber konnte er aufatmen, denn der breite Straßenzug, auf den er als Nächstes stieß, trug den Namen Alt-Moabit. Jetzt konnte er sich auch wieder daran erinnern, was er sich im Bureau eingeprägt hatte: Alt-Moabit, Thurm-, Bredow-, Wiclefstraße. Eine Viertelstunde später stand er auf dem Kohlenplatz von Gottfried Kockanz. Nirgends eine Menschenseele.
«Ist hier niemand?», rief Kappe. Keine Antwort. Komisch. Wahrscheinlich streikten die Arbeiter auch hier. Nein, dann würde es einen Streikposten geben. Er schaute auf den Boden. Da fanden sich im schwarzgrauen Staub genügend Fußspuren. Er beugte sich etwas nach unten. Die Ränder waren noch ziemlich scharfkantig, also mussten es frische Spuren sein. Er wiederholte seine Frage, diesmal noch um einiges lauter. «Hallo, ist hier wer?» Wieder blieb das Echo aus. Gewarnt durch das, was in Storkow geschehen war, ging Kappe vorsichtig auf die Baracke zu. Diesmal hatte er kein Emailleschild in der Brusttasche stecken.
Die Tür des Toilettenhäuschens in der hinteren rechten Ecke des Platzes wurde geräuschvoll aufgestoßen, und Kappe sah einen Mann herauskommen, der ganz offensichtlich nicht der Besitzer des Platzes war, sondern ein Kohlenträger. Er stutzte, denn von irgendwoher kannte er den Mann. Nein, nicht aus Storkow, sondern. .. Er kam nicht darauf. Sein Gedächtnis für Namen und Gesichter war nicht eben gut. Pech für einen Kriminalbeamten.
«Sie arbeiten hier?», fragte er den Mann. Nicht eben intelligent, aber irgendwie musste das Gespräch ja eröffnet werden.
«Ja», kam es lakonisch zurück.
«Und heißen?»
«Sie müssten mir doch kennen.»
Kappe wollte seine Autorität nicht in Frage stellen lassen und versuchte es mit einem kleinen Wortspiel. «Wenn Sie mir nicht richtig antworten, werden Sie mich mal kennenlernen.»
«Tilkowski, Paul Tilkowski. Wir hatten schon mal die Ehre. Die Schlägerei vor Kroll. Da haben Sie mir verhaftet.»
«Ah ja, richtig.» Endlich konnte sich Kappe erinnern. «Und jetzt soll hier auf dem Kohlenplatz eingebrochen worden sein?»
«Ja, kommen Se, ick zeige Ihnen allet mal.»
«Sehr schön, ja. ..» Während er dem Kohlenarbeiter folgte, zog Kappe eine kleine Bleistiftzeichnung aus der Tasche, die ein Freund nach seinen Angaben angefertigt hatte. Sie zeigte das Gesicht des Mannes, der in Storkow auf ihn geschossen hatte. «Hier.» Er hielt Tilkowski die Zeichnung hin. «Sie kennen sich doch da aus. ..» Damit meinte er das Verbrechermilieu und die Gefängnisse und Zuchthäuser. «Ist Ihnen dieser Herr schon mal begegnet?»
Tilkowski nahm das Porträt und studierte es sorgfältig. «Ja, könnte sein.»
Kappes Herz machte einen gewaltigen Satz. «Wenn es Ihnen einfallen sollte, dann. ..» Er wusste, dass man mit Ganoven durchaus Geschäfte machen konnte. Halfen sie einem, einen Hai zur Strecke zu bringen, konnte man ihnen auch mal die kleinen Fische lassen.
Gottfried Kockanz kam aus seinem Kontor und blinzelte in die Sonne, deren Licht so weich war, wie es sich für einen Altweibersommer gehörte. In einem Nebenraum hatte er ein Sofa stehen, das er gern für ein Mittagsschläfchen nutzte. Er hinkte etwas und hätte eigentlich einen Stock gebraucht, scheute sich aber, einen zu kaufen, weil er Angst hatte, dadurch großväterlich zu wirken. Die meisten Leute dachten automatisch, er habe im Krieg 1870 / 71 eine Verletzung davongetragen, doch wenn sie dann rechneten, kamen sie schnell dahinter, dass das unmöglich war. «Der kann doch nich als Dreijähriger Soldat jewesen sein.» Da man in Preußen war, konnte man sich schwer vorstellen, dass ein Mann anderswo als auf dem Schlachtfeld zum Invaliden geworden war, und tippte dann auf Kämpfe in den deutschen Kolonien - vielleicht hatte es ihn 1905 beim Herero-Aufstand in Deutsch-Südwestafrika erwischt. Da nickte er dann, denn das war recht ehrenvoll. Diejenigen, die ihn nicht mochten, lästerten, seine Hüfte sei ihm von einem Stapel umstürzender Briketts zerschmettert worden. In Wahrheit war er vor Jahren in der Thurmstraße unter eine Straßenbahn geraten.
Kockanz war in Oberschlesien aufgewachsen und hatte nach Besuch der Handelsschule in der «Berg- und Hüttenmännischen Vereinigung» in Kattowitz als Buchhalter gearbeitet. Insbesondere hatte er sich um die nahe gelegene «Deutschlandgrube» zu kümmern gehabt, deren Flöze neun bis zwölf Meter mächtig waren und viele Besucher anzogen. Zu diesen gehörte auch Emilie, die siebzehnjährige Tochter des Berliner Kohlenhändlers Friedrich Kraatz. Es war Liebe auf den ersten Blick, und nachdem Kockanz eine Weile mit Emilie korrespondiert hatte, ließ er sich von seiner Firma nach Berlin versetzen, um ihr nahe zu sein. Obwohl der alte Kraatz auf einen reichen Schwiegersohn gehofft hatte, stimmte er der Hochzeit schließlich zu. 1892 heirateten Gottfried und Emilie und bezogen eine schöne Wohnung in der Charlottenburger Schloßstraße. Bald war ein Kind unterwegs, und ihr Glück schien vollkommen. Doch Emilie starb bei der Geburt, und auch das Kind war nicht mehr zu retten. Kaum hatte Kockanz den ersten Schicksalsschlag überwunden, traf ihn der nächste: der Unfall mit der Straßenbahn. Danach verlor er seinen Arbeitsplatz in der Firma, hatte aber insofern Glück, als ihm sein Schwiegervater anbot, den Kohlenplatz in der Wiclefstraße zu verwalten. Nach dem Tod des Alten erbte er diesen.
Zwar besaß er die Wohnung in Charlottenburg noch immer, doch er fühlte sich nicht wohl, wenn er zu Hause war. Zu sehr erinnerte ihn alles an seine verstorbene Frau. Seine Freunde drängten ihn, sich doch wieder zu verheiraten, doch die Frauen, die er hätte haben können, wollte er nicht, und die, die er begehrte, wiesen ihn ab. «Ick will doch keenen Krüppel, ooch wenn er noch so ville Jeld hat.» Es gab eine, die hätte er schon gerne genommen, aber. .. Was blieb ihm da, als in die einschlägigen Etablissements zu gehen und nach einer Dame zu suchen, die diesem begehrenswerten Geschöpf möglichst ähnlich sah? Auch so kam er über die Runden.
Paul Tilkowski starrte auf seinen Chef wie ein Tiger im Zirkus auf seinen Dompteur. Jedes Mal, wenn er ihn sah, verspürte er den archaischen Impuls, sich auf ihn zu stürzen und ihn zu zerfleischen, doch aus Angst vor der Peitsche zuckte er immer wieder zurück. Peitsche, das hieß in diesem Fall Entlassung und Gefängnis. Und in einer engen Zelle eingesperrt zu sein, in einem Menschenkäfig, das war für einen Mann wie Tilkowski das Schlimmste. Schon der Besuch des Kriminalwachtmeisters hatte ihn zutiefst beunruhigt.
Kockanz kam dicht zu ihm heran und legte ihm den Arm um die Schultern. «Wenn ich dich nicht hätte, Paule.» Tilkowski war diese Berührung derart zuwider, dass er nun doch um ein Haar zugeschlagen hätte. Er schaffte es aber, unter Kockanz’ Arm hinwegzutauchen und dies als eine Geste der Demut erscheinen zu lassen. «Nich doch, ick. .. ick hasse Streiks und alle, die da in der Sickingenstraße. ..»
«Danke.» Kockanz wandte sich zur Straße, wo gerade der Bollewagen aufgetaucht war und der Milchjunge bimmelte. «Zum nächsten 1. April gibt’s auch mehr Geld bei mir.»
Tilkowski sah, wie Kockanz mit dem Milchmädchen schäkerte. Er kannte sie von der Tanzdiele her. Sie hieß Frieda und war hässlich wie die Nacht. Offenbar wollte Kockanz dennoch etwas von ihr. Tilkowski verstand das nicht, denn sein Chef hatte doch Geld genug, sich was Besseres zu leisten. «So wat von Jeschmacksverirrung», murmelte er und widmete sich wieder seiner Arbeit. Die Briketts, die lose auf einem großen Haufen lagen, waren in rechteckige Hucken zu stecken, Kästen aus einem hölzernen Rahmen und einer Rückwand aus Blech, mit dem der Träger den Kunden die Briketts in die Wohnung bringen konnte. Knapp hundert gingen hinein. Es war Tilkowskis Meisterschaft, seine beiden Gurte in die Löcher hinten einzuhaken, die Hucke zu schultern und die Treppen hochzutragen. Keiner in Deutschland schaffte vier Stockwerke in so kurzer Zeit wie er. Ohne außer Puste zu geraten. Die anderen Kohlesorten, Anthrazit, Steinkohle und Koks, wurden in Säcken transportiert, und auch da war er allen anderen Kohlenträgern überlegen. Allerdings gingen diese Sorten hier recht selten. Nur Geschäftsleute hatten das Geld und die passenden Öfen dazu. Aber die kauften dann wiederum lieber bei Kupfer & Co., weil sie da höhere Rabatte bekamen als bei Kockanz. Braunkohle war am wenigsten wert, aber am billigsten. Anthrazit hatte am meisten Heizkraft, war aber auch am teuersten. Was die Leute noch kauften, waren Eierkohlen, die man in der Fabrik aus Kohlengrus geformt hatte, und Koks, der selber nicht viel Hitze entwickelte, aber gut war, um die Glut im Ofen lange zu halten. Wer klug war, wählte eine Mischung von allen Sorten. Tilkowski konnte die Kunden gut beraten und sich damit manches Trinkgeld verdienen.
Er war so in seine Arbeit vertieft, dass er seine Braut, Sophie Schünow, erst bemerkte, als sie hinter ihm stand.
«Bringen Sie die Kohlen auch zu mir nach oben?», fragte sie. Tilkowski fuhr herum. Er wusste, dass er auf der Hut sein musste, denn immer gab es einen, mit dem er in Händel verwickelt war und der ihm Rache geschworen hatte. Als er sie erkannt hatte, entspannte er sich. «Bei Ihnen geht’s auch hier im Büro. ..» Er küsste sie und wollte sie in die angegebene Richtung drängen.
Sie befreite sich. «Nee, heute nich und morgen ooch nich, erst übermorgen wieda. Ick hab dir nur dein Mittagessen bringen wollen. Kartoffelsalat mit Buletten. Ville Schrippe, wenig Fleisch, aber bessa als nischt.»
Tilkowski bedankte sich. «Wenn ick dich nich hätte. ..» Sophie Schünow brauchte nur hundert Meter weit die Straße entlangschlendern, schon folgten ihr die Männer mit wollüstigen Gedanken. «Die zieht die an wie det Licht die Motten», tuschelten die alten Jungfern. Stand sie mit vorn gestraffter weißer Schürze in ihrer Plätterei am Bügelbrett, drückten sich Heranwachsende wie Männer an der Schaufensterscheibe die Nase platt, sodass die Besitzerin schon auf die Idee gekommen war, Eintrittskarten zu verkaufen. Doch noch hatte Sophie Schünow nicht begriffen, dass ihr Körper ein großes Kapitel war, und alle gutsituierten Männer, die ihr Avancen machten, zurückgewiesen, noch ging sie mit Paul Tilkowski. Vielleicht lag das auch daran, dass ihre Eltern, ehrbare Gemüsekrämer, ziemlich frömmelten und sie als Kind immer in die Kirche mitgeschleppt hatten. «Ick bleibe Paule treu, und nächstet Jahr heiraten wa», erklärte sie allen, die es wissen wollten. «Wo die Liebe hinfällt. ..»
Viel zu schnell musste sie wieder in ihre Plätterei zurück. Paul winkte ihr noch lange hinterher. Es kamen jetzt einige Kunden, die ein paar Briketts für ihre Kochmaschinen brauchten und allesamt anschreiben ließen. Tilkowski war das lieb, denn nur ungern kassierte er selber. Wie hatte schon sein Lehrer immer gesagt? «Kopfrechnen schwach, Religion sehr gut.»
Weil er noch immer allein war, musste er alle paar Minuten ins Büro laufen und das Telefon abnehmen. Anschließend arbeitete er umso eifriger. Gerade war er dabei, schwere Säcke mit Koks, die für den Bäcker Kötterheinrich bestimmt waren, auf einen Handkarren zu hieven, als er Gustav Dlugy auf den Kohlenplatz kommen sah.
Dieser verdammte Schwätzer von der Gewerkschaft! Großes Maul und nichts dahinter. Tilkowski hob den nächsten Sack hoch, als steckte er nicht voller Koks, sondern voller Bettfedern, und warf ihn auf den Karren.
«Du arbeitest?», fragte Dlugy.
«Nein, ich trainiere für Kraftsport Moabit.» Tilkowski sah keinen Grund, eine kleine Pause einzulegen.
Dlugy fixierte ihn. «Du weißt, dass wir Kohlenarbeiter alle streiken?»
«Alle nich, siehste ja.»
«Es geht auch um deine Rechte und um höhere Löhne für dich», begann Dlugy zu agitieren. «Nur gemeinsam sind wir stark. Ohne uns sind die Unternehmer am Ende.»
Tilkowski ließ einen weiteren prall gefüllten Jutesack auf die Landefläche krachen. «Ohne uns holen sie Arbeiter aus Hamburg oder aus Galizien nach Berlin. Die sitzen immer am längeren Hebel.»
«Keine Angst, wir lassen uns schon etwas einfallen, um den Streikbrechern das Handwerk zu legen.»
Tilkowski winkte ab. «Wenn die Schutzleute mit ihren Säbeln kommen und blankziehen.»
Dlugy ließ nicht locker. «Paule, du bist doch einer von uns. Komm, mach mit! Wir brauchen dich.»
«Hau ab!» Tilkowski griff nach einer Schippe.
Dlugy ignorierte es. Er war sich seiner Stärke bewusst, vor Männern wie Tilkowski brauchte er keine Angst zu haben. Aber er hielt nichts von Gewalt, wenn es darum ging, andere zu überzeugen. Das «Willst du nicht mein Bruder sein, so schlag ich dir den Schädel ein» war ihm zuwider. «Sieh mal, Paul, wenn ihr beide heiratet, Sophie und du, dann kommt ihr doch mit deinen paar Pfennigen nie und nimmer aus.»
«Womit wir auskommen oder nich, det jeht dir eenen Scheißdreck an. Los, verpiss dich, du Arschloch!» Tilkowski hob die Schippe und ging langsam auf Dlugy zu.
«Wenn schon, dann nur mit den Fäusten.» Dlugy krempelte sich die Ärmel hoch. «Aber es ist traurig, wenn Arbeiter auf Arbeiter einschlagen.»
«Du bist doch schon längst keen Arbeiter mehr», höhnte Tilkowski. «Du bist doch ’n Bonze und kriechst denen von der Gewerkschaft in ’n Arsch, damit se dir vom Kohlenplatz wegholen, und im Büro verdienst du dir dann dumm und dämlich. Du Drecksau, du! Du Verräter!» Wenn Tilkowski Menschen hasste, dann Partei- und Gewerkschaftsfunktionäre. Die benutzten solche wie ihn doch nur, um Karriere zu machen.
«Einer muss doch mit den Arbeitgebern verhandeln», sagte Dlugy. «Und wir können das nun mal am besten. ..»
Weiter kam er nicht, denn Tilkowski drang nun derart heftig auf ihn ein, dass er ein paar Schritte zurückweichen musste, um seine Fäuste hochzureißen und einen besseren Stand zu haben. Doch Dlugy hatte Pech, er blieb mit den Füßen an einem Wasserschlauch hängen und stürzte rückwärts zu Boden. Schon kniete Tilkowski auf ihm und machte sich daran, ihn fürchterlich zu verdreschen.
Als Dlugy endlich wieder auf den Beinen stand, war er im Gesicht fürchterlich zugerichtet.
«Das gibt Rache», murmelte er, als er auf die Straße hinkte.