Читать книгу Tod im Thiergarten - Horst Bosetzky, Uwe Schimunek - Страница 7
Zwei
ОглавлениеDer Criminal-Commissarius Waldemar Werpel nutzte wie jeden Sonntag den Frühstückstisch, um seinen Kindern - acht waren es - einen der Höhepunkte preußischer Geschichte nahezubringen.
»Welchen Tag haben wir, Johannes?«
»Den 28. Juni des Jahres 1815, Vater.«
»Vorzüglich, wie aus der Pistole geschossen!« Werpel nahm seinen Kaffeetopf und setzte ihn in die Mitte des Tisches. »Dieses hier ist das kleine Städtchen Waterloo in der belgischen Provinz Brabant, fünfzehn Kilometer südöstlich von Brüssel. Folgt man in südlicher Richtung der Straße nach Charleroi, so trifft man wenige Kilometer von Waterloo entfernt auf zwei Höhenrücken. Hier …«, er markierte diese mit zwei Messern, »… zwischen diesen Erhebungen tobt dann die Schlacht, die das Ende von Napoleon Bonaparte mit sich bringt. Und wer hatte entscheidenden Anteil am Sieg der Verbündeten?«
»Der Rittmeister Waldemar Werpel!«, kam es im Chor.
»Und wo hat ihn die Kugel des Feindes getroffen?« Wilhelm glaubte es zu wissen. »In den Hintern.«
»Setzen! Unsinn! Beim Dorfe Plancenoit. Und was hat der englische Heerführer Wellington flehentlich gerufen?« Marie hatte gut aufgepasst. »Ich wollte, es wäre Nacht oder die Preußen kämen.«
»Sehr gut, meine Tochter. Und warum sprechen die Engländer von der Schlacht bei Waterloo, wir Preußen aber von der Schlacht bei Belle-Alliance?«
Emil, der Kleinste, wollte auch einmal belobigt werden und sagte, dies sei so, weil ihre Tante Auguste am Belle-Alliance-Platz wohne.
»Nein, mein Sohn, die Schlacht heißt so, weil …« Niemand wusste es, und so wurden alle belehrt, dass Wellington sein Hauptquartier bei Waterloo gehabt habe, während die Preußen dem Meierhof Belle-Alliance die größere Bedeutung beimaßen, weil sich dort das französische Zentrum befunden habe.
»Nun lass es einmal gut sein, Waldemar!«, sagte seine Frau.
»Wie du meinst, Minna.« Ein wenig verstimmt suchte Werpel nach anderen Gesprächsthemen. »Was habt ihr denn zuletzt in der Schule durchgenommen, Kinder?«
Der Große meldete sich und bekam das Wort erteilt.
»Da war einer beim König, einer aus Persien, und der will einen Garten bauen, wo auch im Winter was wächst.«
Werpel musste einen Augenblick lang überlegen, was gemeint war. »Ach, du meinst den Persius! Aber der kommt nicht aus Persien, sondern aus Potsdam, und der will am Thiergarten ein Treibhaus bauen, einen Wintergarten. Das ist ein Haus aus Glas, und das wird im Winter geheizt, so dass du drin sitzen kannst, ohne dass du dich tot frierst.«
Johannes lachte. »Kann sich auch einer lebendig frieren?«
Werpel hob die Hand. »Du kriegst gleich ’n paar hinter die Ohren!« In diesem Augenblick wurde heftig am Klingelzug gerissen. Werpel war so wütend über diese Störung, dass er ins Berlinische fiel. »Wat soll denn der Quatsch! Sonntagsruhe is wie Friedhofsruhe, und wer die stört, den bring ick in de Hausvogtei.«
Doch das konnte er mit dem Mann, der draußen stand, schlecht machen, denn das war der Constabler Krause, der in strammer Haltung Meldung machte.
»Im Thiergarten hat sich eena uffjehängt, und Sie sollen bei ihm komm’!«
»Beim Erhängen tritt der Tod durch plötzliche Unterbrechung beziehungsweise starke Drosselung der Blutzufuhr zum Gehirn ein«, erklärte der Arzt Dr. Friedrich Kußmaul den Umstehenden. »Der Körper hängt frei, die Fußspitzen befinden sich etwa fünf Zoll über dem Boden. Es ist davon auszugehen, dass der Selbstmörder auf diesen Baumstumpf hier geklettert ist. Danach hat er seinen Strick mit einer Schlaufe um den Ast geworfen, der schräg über ihm hängt, und festgezogen, um sich eine Schlinge um den Hals zu legen, den Strick fest zu verknoten und schlussendlich in den Tod zu springen. Sie sehen hier an den Beugeseiten seiner Finger noch Fasern. Das kommt vom Festziehen des Strickes.«
Werpel dankte dem Mediziner und wandte sich an einen der herbeigeeilten Constabler. »Abschneiden und dann ins Leichenschauhaus. Der Wagner soll sich darum kümmern.«
Das erste Berliner Leichenschauhaus für die Stadtphysici, wie die Rechtsmediziner anfangs hießen, war 1811 errichtet worden. Wegen der unzumutbaren Bedingungen dort wurden ab 1839 Räume des Leichen- und Sektionshauses der Charité für diesen Zweck genutzt. 1833 war an der Friedrich-Wilhelms-Universität die »praktische Unterrichtsanstalt für die Staatsarzneikunde« gegründet worden, wobei unter dieser Bezeichnung die Gerichtliche Medizin und die Medizinalpolizei zusammengefasst waren. Erster Lehrstuhlinhaber war der gerichtliche Stadtphysicus Wilhelm Wagner, der die Staatsarzneikunde auch als akademisches Fach etablierte.
Nachdem man den Toten abgeschnitten und auf den Wagen gelegt hatte, wandte sich Werpel an die Umstehenden und fragte sie, ob einer da sei, der den Selbstmörder kennen würde. Zuerst verneinten alle, dann trat aber Dr. Danewitz vor.
»Mir scheint, dass ich den Mann schon einmal gesehen habe, und zwar beim Schneidermeister Hoppe in der Mittelstraße. Er hat dort auf einem Tisch gesessen und Knöpfe an einen Rock genäht.«
Werpel bedankte sich und machte sich in seiner mitgebrachten Kladde weitere Notizen. Die Herren Dove und Dr. Danewitz baten schließlich, sich entfernen zu dürfen.
»Ja, selbstredend. Sie haben es gut, auf mich wartet noch einiges an Arbeit. Aber wie heißt es doch so schön: Ein immer helles Licht beleuchte deinen Weg - die Pflicht.«
Als sich alles entfernt hatte, die Zeugen, der Arzt und der Wagen mit dem Toten, schnappte sich Werpel den Constabler Krause und marschierte mit ihm Richtung Mittelstraße. Das war zu Fuß ein ganzes Stück: zuerst durch den Thiergarten hindurch zum Brandenburger Thor und dann Unter den Linden entlang bis zur Schadowstraße.
Krause murrte über den langen Marsch. »So wat müsste eijentlich vaboten werden, weil et schlimma is als det Turnen beim alten Vata Jahn.«
Streng sah Werpel ihn an, denn er wollte keine Scherereien mit seinen Oberen. »Den Namen möchte ich nicht gehört haben!« Im Zuge der Karlsbader Beschlüsse war der Turnvater und Burschenschafter Friedrich Ludwig Jahn als Demagoge verfolgt worden und hatte fünf Jahre in preußischen Gefängnissen absitzen müssen. Das Turnen war in Preußen und anderen deutschen Staaten verboten worden.
Bei Hoppe saß man gerade beim Mittagessen und war über die Störung durch die beiden Polizeibeamten nicht gerade erfreut. Schlurfend kam Hoppe die Stiege herunter und öffnete die Haustür.
»Haben Sie einen Gesellen, der abgängig ist?«, fragte Werpel ohne lange Vorrede.
Hoppe, der so beleibt war, wie es ein Schneider eigentlich niemals hätte sein dürfen, erklärte, zwar einen Gesellen zu haben, aber der schliefe sicherlich noch oben in seiner Kammer über der Stallung, weil er in den Nächten vom Sonnabend zum Sonntag immer erst spät nach Hause käme. Und sonntags würde er, anders als in der Woche, auch nicht mit der Familie essen. Was man denn von ihm wolle?
»Im Thiergarten hat sich einer aufgehängt, und der Dr. Danewitz meint, dass er ihn schon mal bei Ihnen gesehen hat.«
Hoppe brauchte ein paar Sekunden, das Gehörte richtig einzuordnen. »Der Dr. Danewitz, der lässt bei uns arbeiten, das stimmt. Und zuletzt hat ihm mein Ludwig einen neuen Rock angemessen. Aber der, der Ludwig, das ist einer von den Fröhlichen, der tut sich bestimmt nich uffhängen. Schon nicht, weil er eine Braut hat, die Anna, um die ihn alle beneiden.«
»Det is aba ’n janz schönet Luda, die Anna!« Oben war das Fenster aufgegangen, und die Frau Schneidermeister hatte sich dieses Kommentars nicht enthalten können.
»Ruhe!«, rief Werpel nach oben. »Hier spricht nur der, der von mir vorher gefragt worden ist. Lassen Sie uns einmal Ihren Gesellen in Augenschein nehmen.«
Hoppe lotste sie durch den schmalen Hausflur in den Hof und führte sie zum Stallgebäude. Von der Seite führte eine wacklige Leiter zu einer Luke hinauf, mit der die Schlafstube des Gesellen verschlossen werden konnte.
»Die Leiter klettern Sie mal rauf, Krause«, sagte Werpel.
»Ich bin doch kein …« So schnell fiel ihm kein Tier ein, das für einen Vergleich geeignet war. »… kein Huhn, kein Affe, kein Papagei - oder was weiß ich.«
Der Constabler stieg vorsichtig nach oben, immer gegenwärtig, dass eine der Sprossen unter seinen schweren Stiefeln zersplittern könnte. Doch er kam heil oben an und zog die Luke auf, und zwar so heftig, dass es ihn fast in die Tiefe riss. »Hier is keena!«, schrie er, nachdem er den Kopf in die Kammer gesteckt hatte. »Aba hier liegt wat.« Mit einem Zettel in der Hand kraxelte er wieder nach unten.
»Geben Sie mal her, Krause!« Werpel erkannte sofort, dass es sich um einen Abschiedsbrief handelte.
Meine liebe Braut, ich bitte Dihr um Vergebung, aber ich konte nicht anders. Meine Schult wiecht zu schwer.
Dein Ludwig
»Also hat er sich wirklich erhängt«, stellte Werpel fest und fixierte den Schneidermeister. »Von Schuld ist die Rede. Wissen Sie, welchen Verbrechens er sich schuldig gemacht haben könnte?«
Hoppe brauchte nicht lange nachzudenken. »Nein, der war immer treu und redlich.«
»Det wird doch allet ’n Irrtum sin!« Pauline Hoppe hatte nun auch die sonntägliche Tafel verlassen und war auf den Hof geeilt. »Keena weeß doch nischt Jenauet nich.« Sie stieß ihrem Mann den Ellenbogen in die Seite. »Jeh doch mal mit dem Herrn Commissarius mit, Heinrich, und kiek dir den Kerl an, der sich da uffjehängt hat. Unsa Ludwig isset bestimmt nich jewesen.«
Werpel nickte. »Eine gute Idee. Hoppe, Sie begleiten mich mal zur Charité!«
»Kann ich nicht erst aufessen, das wird doch alles kalt.«
»Die Leiche ist wichtiger als Ihr totes Karnickel - also hopp, hopp!«
Zu dritt marschierten sie los, vorne Werpel und der Schneidermeister, dahinter der Constabler. Pauline Hoppe zeterte, dass es so aussehe, als hätte ihr Mann einen Mord begangen und würde nun arretiert werden. Werpel überhörte es gnädig und legte es nicht als Widerstand gegen die Staatsgewalt aus, schließlich war Sonntag heute. Weit war es nicht. Es ging die Friedrichstraße hinauf, über die Spree hinweg und dann bei der Tierärztlichen Hochschule links in die Karlstraße hinein. Der Tote aus dem Thiergarten war von den Gehilfen in einen kühlen Raum gebracht worden. Der Stadtphysicus hatte ihn noch nicht in Augenschein nehmen können, wurde Werpel mitgeteilt, denn zum einen sei heute Sonntag, und zum anderen befinde sich Herr Professor Wagner auf einer Reise nach Hamburg, um dort Brandopfer zu identifizieren.
Der Schneidermeister war ein sehr sensibler Mensch, und so musste ihn Werpel mal schieben, mal hinter sich herziehen, bis sie endlich vor der Wanne aus Zinkblech standen, in die man den Selbstmörder gelegt hatte.
»Das ist er«, hauchte Hoppe. »Gott, der Ludwig …« Werpel musste Hoppe stützen und dafür sorgen, dass er sich im Vorraum einen Augenblick auf einer Bank niederlassen konnte. »Und einen Schluck Wasser für ihn!«
Sie brauchten gut zehn Minuten, bis der Schneidermeister wieder einigermaßen bei Kräften war. Er hatte aber noch weiche Knie, als sie das Gelände der Charité wieder verließen und zur Georgenstraße liefen, denn Hoppe hatte sich erinnern können, dass die Braut seines Gesellen Anna hieß und Dienstmädchen in der Georgenstraße war. Bei wem allerdings, hatte er vergessen.
»Macht nichts«, war Werpels Kommentar. »Ich bin dafür bekannt, dass ich jede Nadel im Heuhaufen finde.«
Diese Arbeit überließ er allerdings dem Constabler Krause, der in der Georgenstraße an den Klingelzügen reißen und sich nach einer Dienstmagd namens Anna erkundigen musste. Beim Auskultator Krüger hatte er Glück.
»Ja, wir haben eine Anna.«
Ein Ruf ins Innere des Hauses lockte sie an die Tür.
»Bist du die Braut des Ludwig …« Erst jetzt bemerkte Werpel, dass er den Nachnamen des Erhängten noch gar nicht eruiert hatte.
»Dölau«, half ihm Hoppe aus.
»… des Schneidergesellen Ludwig Dölau?«, vollendete Werpel seinen Satz. Nur wenn er es aussprach, konnte es als amtlich gelten.
»Ja, det bin ick, und balde heiraten wa ooch.«
»Daraus wird nun nichts mehr werden«, sagte Werpel. Anna erschrak. »Wieso? Ham Se ihm einjespunnen?«
Werpel wurde hellhörig. »Nein. Wieso sollten wir ihn eingesperrt haben?«
»Ick meine ja nur so …« Anna war helle und hatte sofort begriffen, dass sie da einen Fauxpas begangen hatte.
»Nun denn …« Selbst Werpel, dem man nicht nachsagen konnte, besonders einfühlsam zu sein, zögerte, dem Dienstmädchen die Wahrheit zu sagen. Er holte tief Luft.
»Einmal musst du es ja erfahren …«
»Wat denn?« Anna ahnte die Katastrophe und begann schon zu schluchzen, ehe der Commissarius ihr eröffnet hatte, was geschehen war.
»Er hat sich heute Nacht im Thiergarten erhängt.« Anna war einer Ohnmacht nahe und musste von Werpel und dem Constabler gestützt werden. »Det er mir det antun musste!«, schluchzte sie.
»Gott, Kind, es gibt noch tausend andere Männer auf der Welt, die du heiraten kannst«, sagte Werpel. Es war eigentlich gut gemeint, löste aber einen Weinkrampf bei Anna aus.
Ein Dienstmädchen aus der Nachbarschaft war neben der kleinen Gruppe stehen geblieben und hatte mitbekommen, worum es hier ging. Sie wartete, bis Werpel und der Constabler Anna auf einen schnell herbeigeschafften Stuhl gesetzt hatten, um dem Commissarius ins Ohr zu flüstern:
»Ich weeß ooch, warum der sich uffjehangen hat. Die Anna hat nämlich ooch andre Kerle jehabt und is ’n janz liederliches Frauenzimma. Det hatta nich ertrag’n könn’n.«
Werpel nahm es interessiert zur Kenntnis. Dann wartete er, bis Anna sich so weit erholt hatte, dass man wieder mit ihr reden konnte. Er zeigte ihr den Abschiedsbrief, den sie in Dölaus Kammer gefunden hatten.
»Ist das seine Handschrift?«
»Ja, det isse«, bestätigte das Dienstmädchen.
»Meiner Meinung nach auch«, sagte Hoppe. »Aber dass er so viele Fehler drin hat …«
»Das wird die Aufwallung gewesen sein«, vermutete Werpel. »Niemand hängt sich ja zweimal auf, so dass einem beim ersten Mal die Übung dabei fehlt.«
»Ich bitte Sie!«, rief der Auskultator Krüger. »Das schickt sich nicht. Anna, du gehst am besten wieder ins Haus.«
Werpel wurde nun sehr direkt. »Mischen Sie sich da nicht ein! Dies ist ein Verhör, denn dieser Dölau war ein Verbrecher, und die hier könnte seine Komplizin gewesen sein.« Er zeigte auf das Dienstmädchen.
»Wieso soll ihr Bräutigam ein Verbrecher gewesen sein?«, fragte der Auskultator.
Werpel zeigte auf den Abschiedsbrief. »Hier! Warum sollte er sonst von einer schweren Schuld sprechen? Es handelt sich also um ein schweres Verbrechen.«
»Ick weeß von nüscht!«, rief Anna.
»Du lügst!«, herrschte Werpel sie an, denn mochte er auch als grober Klotz gelten, so viel Berufserfahrung hatte er, um genau zu spüren, ob jemand die Wahrheit sagte oder nicht. »Gut, wenn du nicht mit der Sprache raus willst, kommst du eben mit. Wir haben immer eine Zelle frei für Geschöpfe wie dich.«
Da brach es aus Anna heraus: »Ick weeß würklich von nüscht, ick weeß nur, detta manchmal mehr Jeld jehabt hat, alßa von sei’m Meesta jekriegt hat.«
»Und du hast nie nachgefragt, woher er das Geld gehabt hat?«
»Nee, hab ick nich, ick hab ihn ja jeliebt, Herr Commissarius.«