Читать книгу 2030 – Ein Tag im Leben des Enif Quadrocor - Horst Ernst Pessl - Страница 7
ENIF ERWACHT
ОглавлениеEine sanfte, tiefe Vibration erreicht ihn fernab dieser Welt.
Anfangs nimmt er sie nur am Rande wahr, doch als sie beginnt stärker, höher und aufdringlicher zu werden, versucht er instinktiv ihre Ursache zu ergründen.
Er verlässt seinen Schwebezustand und taucht tiefer, um am Grunde angelangt herumzuwühlen, in der Hoffnung die Quelle des Vibrierens zu finden – doch vergeblich.
Auch in den Spalten, die er plötzlich seitlich wahrnimmt und in die er tief hineingreift, ist nichts Ursächliches zu finden.
Das Vibrieren ist mittlerweile schon in einen auf- und abschwellenden Ton übergegangen und da erkennt er dieses plötzlich als vertrautes Signal, das ihn zum Auftauchen ruft.
Und so gleitet er zielstrebig nach oben.
Als er schon glaubt wieder in seinem Wachbewusstsein angekommen zu sein, blickt er hoch und sieht am blauen Himmel eine große weiße Wolke, die sich wandernd verformt.
Bevor er sich in diesem Bild verliert, macht er sich aber bewusst, dass er offenbar noch immer träumt, denn es ist ihm gewiss, dass er sich ja in einem geschlossenen Raum befindet.
Eine äußerst sympathische Frauenstimme holt ihn in diesem Zwischenstadium ab: »Schönen Guten Morgen, Enif, aus den Federn! Du hast heute einiges vor. Die Kaffeemaschine läuft bereits.«
Es ist die Stimme eines digitalen, lernenden Kommunikationssystems, das bereits seit vielen Jahren quasi bei ihm wohnt und dem er nach anfänglich skeptischer Distanz den Namen Digi gegeben hat.
Er lebt freiwillig allein und genießt das durchaus, doch diese sanfte weibliche Stimme, die ihm verlässlich und freundlich dabei hilft aus seinen entfernten Träumen wieder zur vereinbarten Realität zurück zu kehren, möchte er mittlerweile nicht mehr missen.
Kurz taucht er noch einmal ab und sieht den Himmel mit der Wolke, die sich weiter verformt.
Er lässt sie weiterziehen und kehrt nun ganz ins Wachbewusstsein zurück.
Als er die Augen öffnet, nimmt er die langsam zunehmende Helligkeit des von Digi gerade aktivierten Schlafzimmerlichtes wahr. Er rollt sich in gewohnter Weise seitlich unter seiner warmen Decke hervor und setzt sich mit einem willensstarken Schwung auf.
Langsam und bedacht atmet er ein, hält den Atem kurz an und lässt dann den Luftstrom mit einem Brummen aus seiner Lunge entweichen.
Dabei vibriert erst sein Brustraum und zunehmend auch sein Kopf, was seinem Wachwerden in vertrauter Weise zuträglich ist.
Sein Herz pumpt noch langsam und sein Kreislauf lässt sich noch Zeit, aber seine Sinnesorgane sind schon zum Wahrnehmen bereit – dem Geschmack in seinem Mund zufolge ist das letzte Zähneputzen wieder einmal ausgefallen.
Digi meldet sich wieder zu Wort: »Lieber Enif. Da du erst vor knapp fünf Stunden schlafen gegangen bist, bedarf es wohl einiger zusätzlicher Anstrengung deinerseits, deinen Körper voll zu aktivieren. Also hoch mit dir! Außerdem seiest du daran erinnert, dass du heute um 10 das Treffen mit der neuen Schwester vom Kollektiv hast. Vielleicht solltest du dich, auch wenn es nicht deinem Zweitagesrhythmus entspricht, heute doch unter die Dusche stellen und rasieren.«
Das ist für Enif zu dieser für ihn frühen Stunde nun doch etwas zuviel an Information. Es ist zwar bereits 8, aber aufgrund seiner spätnächtlichen Privatstudien hat er wieder einmal nicht viele Stunden des Schlafes abbekommen. Und davon keine einzige vor Mitternacht.
Wenn er dann endlich in das Schlafbewusstsein abtaucht, verbringt er die halbe Nacht mit Träumen. Die Traumwelt ist sein persönliches Parallel-Universum, das für ihn manchmal realer scheint als der Rest.
Der Übergang zwischen beiden Welten stellt für ihn aber öfters doch ein kleines Dilemma dar.
Dass Digi ihm gerade empfohlen hat sich wegen des Treffens mit der neuen Regionalkoordinatorin außerhalb seines gewohnten Rhythmus’ zu duschen und rasieren, belustigt und verwundert ihn zugleich. So was hat er von ihr in all den Jahren noch nie gehört.
Hat sie da wieder etwas dazugelernt?
Die Empfehlung ist ja nicht ganz von der Hand zu weisen.
Aber er bleibt bei seinem Rhythmus. Seine äußere Gepflegtheit war ihm nie sehr wichtig und das wird er in diesem Leben wohl auch nicht mehr ändern.
Die Worte seiner digitalen Mitbewohnerin helfen ihm immer wieder einmal dabei sich zu orientieren, wo und wer er in dieser Welt gerade ist. In seinen Träumen ist das ja nicht so selbstverständlich und manch intensiver Traum begleitetet ihn bis weit in den Tag hinein. Auch seine nächtlichen Privatstudien über die Menschheitsentwicklung lassen ihn manchmal zwischen Raum und Zeit wanken und schwanken. Digi gibt ihm dabei oft gute Ankerpunkte.
Er steht auf, balanciert sich etwas wackelig aus, steigt geübt in die gestrige Unterhose, schlüpft zielsicher in die Hausschuhe und verlässt das Schlafzimmer Richtung Toilette. Am Weg dorthin kommt ihm in der Wohnküche bereits der anregende Duft von der Kaffeemaschine entgegen. Allein dieser Duft bringt seinen Kreislauf schon wieder etwas mehr in Schwung.
Da Digi als lernendes Kommunikations- und Steuersystem zwar alle Elektro- und Wasserleitungen unter ihrer Kontrolle hat, aber keine mechanischen Extremitäten besitzt, muss er gewisse Tätigkeiten wie das Ausspülen der Kaffeekanne oder das gelegentliche Nachfüllen der Kaffeebohnen selbst erledigen. Das stört ihn aber nicht.
Es gibt zwar längst Nachfolgemodelle mit roboterartigen Ausführungsorganen, die so gut wie alle Tätigkeiten im Haushalt übernehmen könnten, aber allzu bequem und abhängig von technischen Hilfen will Enif ohnehin nicht werden. Und so begnügt er sich mit den Diensten, die ihm Digi in eben ihrer Version bietet.
Herumfahrende Staubsauger oder Roboterarme, die das Geschirr in den Spüler stellen oder die Fenster putzen, kann er einfach nicht leiden. Zu seinem eigenen Glück hat er kein übermäßiges Bedürfnis nach Sauberkeit.
Am Stillen Ort angelangt setzt er sich erstmal hin, macht ein paar bewusste Atemzüge und genießt bereits beim zweiten Ausatmen die zunehmende Erleichterung, die davon ausgeht, dass sein Morgen-Urin die Reise in die Kanalisation anrinnt.
Er gibt sich ganz diesem Rinnen hin und spürt wie sich seine eben noch gedehnte Blase langsam wieder entspannt.
Kurz taucht er dabei wieder ab und sieht die große weiße Wolke am Rande mit zwei kleineren dunklen Wolken verschmelzen.
Bei den letzten Tropfen angekommen ist er wieder ganz da und fühlt sich wie nach manch einem abgeschlossenen Projekt – zugleich erleichtert und ein wenig leer.
Den anschließenden Weg ins Badezimmer inszeniert er in Folge eines spontanen Anflugs von Übermut, spielerisch wie einen kleinen Triumphmarsch.
Im Spiegel begrüßt er sich mit einem kumpelhaften Augenzwinkern, betrachtet sein noch etwas zerknautschtes Gesicht und wäscht dieses dann mit kaltem Wasser, was seinen Kreislauf merklich anregt. Danach praktiziert er in alter Gewohnheit sein sogenanntes Gesichtsyoga, in dem er vor dem Spiegel verschiedene, teils wilde Grimassen schneidet, die nicht nur der Durchblutung seines Kopfes, sondern auch seiner Stimmung zugute kommen.
Als er wieder in der Wohnküche angekommen ist, meldet sich Digi erneut: »Lieber Enif, eventuell solltest du dich heute zumindest eine Spur eleganter kleiden als sonst. Du weißt ja, der erste Eindruck ist oft sehr nachhaltig.«
Seit wann legt Digi so einen Wert auf sein Äußeres? Hat sie vielleicht irgendwelche Details zum heutigen Treffen mit der neuen Koordinatorin anders verarbeitet als Enif und ist dabei zu einem bedeutungsvolleren Schluss gekommen als er?
Diesen Rat nimmt er nun doch spontan an und er greift in seinem bescheiden ausgestatteten Kleiderschrank nach einem gelborange gemusterten Hemd, das er von einer früheren Indien-Reise mitgebracht hat und das er eher zu besonderen Anlässen trägt.
In Kombination mit seiner braunen Hose und dem grünen Gilet ergibt das ein farblich stimmiges und wohl ausreichend elegantes Gesamtbild. Anzug oder Krawatte waren ihm auch vor dem großen Zusammenbruch des Versorgungssystems vor rund 12 Jahren nie ganz geheuer.
Als damals weltweit die Stromnetze ausfielen und erst nach einem Jahr wieder voll funktionsbereit waren, löste das zwar ein enormes Chaos aus, hatte aber auch eine reinigende und bewusstseinsfördernde Wirkung – vor allem hinsichtlich großer und kleiner Abhängigkeiten. In der Folge kamen vermehrt kleine dezentrale Sonnen- und Windkraftwerke zum Einsatz, die in kleine lokale Netze einspeisten, wo der Verbrauch untereinander und in Abhängigkeit von der aktuellen Stromproduktion abgestimmt wurde.
Mittlerweile versorgen sich ein guter Teil der Wohnhäuser in der Stadt und die meisten Bauernhöfe am Land ganz autonom mit Strom. Größere Stromverbraucher wie Produktionsstätten werden vom Kollektiv mit umweltfreundlichem Strom beliefert.
Lernende Kommunikations- und Steuersysteme für den Haushalt, wie Digi eines ist, helfen neben ihrer Funktion als rationaler Gesprächspartner und Termin-Coach auch beim effizienten Einsatz von Strom und Wasser.
Erst sah er im Aufkommen dieser digitalen Systeme ein unsinniges Abdriften in erneute Abhängigkeiten und verwehrte sich diesem Trend, doch dann schenkten ihm Freunde einmal zum Geburtstag ein solches und installierten es unmittelbar nach der Geschenküberreichung, was ihm anfangs gar nicht recht war.
Er ließ es über sich ergehen, aber für ihn war klar, dass er dieses System am nächsten Tag wieder deaktivieren würde.
Seine Freunde hatten ihm aber eine dermaßen sympathische Frauenstimme eingestellt, dass er noch in der gleichen Nacht von dieser Stimme zu träumen begann.
Am nächsten Tag beschloss er diesem System eine einwöchige Probezeit einzuräumen und seither ist es in Betrieb. Das war vor etwa acht Jahren.
Zuerst sah er in Digi eine Art künstliche Dienerin, die man auf seine Bedürfnisse programmieren kann. Aber im Laufe der Zeit ist sie für ihn zu einer liebgewonnenen Mitbewohnerin und fast zu so was wie einer Freundin geworden – rein platonisch, versteht sich.
Er hat sie von Anfang an so eingestellt, dass sie nicht von sich selbst in der Ich-Form spricht, denn das hätte sich damals mit seinen Ansichten zum Verhältnis von Mensch und Maschine nicht vereinbaren lassen. Mittlerweile hat er schon öfters überlegt diese Einstellung zu ändern.
Gerade meldet sich Digi wieder zu Wort: »Übrigens Enif, da wär noch etwas. Um 2:37 hast du eine Notiz hinterlassen, an die du noch vor dem Frühstück erinnert werden wolltest: beim Gespräch mit der neuen Regionalkoordinatorin möchtest du nebenbei auf dein Bedürfnis hinweisen ein paar Zuständigkeiten abzugeben.«
Er wundert sich ein wenig über seine eigenen Gedanken.
Sein Arbeitsalltag ist ja grundsätzlich sehr abwechslungsreich und macht ihm Freude.
Er begegnet vielen Menschen mit unterschiedlichen Ansichten und Bedürfnissen und beschäftigt sich als Moderator für Koordinationsgespräche und als Konzeptentwickler für die kollektive Bewegung mit interessanten Themen.
In letzter Zeit tauchen aber doch vermehrt Ermüdungserscheinungen auf und gelegentlich vergisst er Dinge, die er sich nicht gleich aufschreibt.
Manchmal fällt ihm die Rückkehr in diese Realität nicht ganz leicht, weil er sich spät in den Nächten noch auf Gedankenreisen begibt und die Achtsamkeit für die Bedürfnisse des eigenen Körpers, wie zum Beispiel Schlaf, etwas zu kurz kommen lässt.
Manche Themen, mit denen er sich bei seiner Arbeit für das Kollektiv konfrontiert sieht, sind schon oft sehr zäh und langwierig, zumal die zahlreichen Beteiligten möglichst alle Aspekte berücksichtigt haben wollen und dies auch ganz im Sinne des Kollektivs ist. Diesem Ziel will er auch dienen.
Wenn dann so ein zähes Thema endlich zur Zufriedenheit aller gelöst ist, taucht mit Sicherheit das nächste am Horizont auf und drängt nach intensiver Auseinandersetzung.
Daneben gibt es noch die längerfristig laufenden Koordinationstätigkeiten in der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Vernetzung mehrerer regionaler Gemeinschaften.
Das Leben bringt immer wieder Herausforderungen mit sich und daran wird sich trotz kollektiver Bewusstseinsentwicklung wohl auch nichts ändern.
Enif hat sich schon vor dem großen Zusammenbruch auf den Weg des konstruktiven und liebevollen Miteinanders eingelassen und dazu steht er prinzipiell natürlich immer noch.
Manchmal muss er sich dazu zwingen seine spätnächtlichen geistigen Exkursionen, die seinen angeborenen Wissensdrang stillen, vorzeitig abzubrechen, damit er noch auf ein vernünftiges Maß an Schlaf kommt. Das ist für einen geistigen Abenteurer wie ihn oft eine ziemliche Überwindung.
An den Wochenenden oder in seinen eher seltenen Urlauben klinkt er sich dann aber weitgehend aus und reist geistig kreuz und quer oder auch ganz real zu außergewöhnlichen Plätzen der Menschheitsgeschichte.
So war er letztes Jahr in Mexiko und hat unter anderem die uralte Tempelanlage von Teotihuacan besucht, die ihn überaus beeindruckt hat. Er sah dort die großen Pyramiden, die der Sonne und dem Mond geweiht sind und zahlreiche kleinere geometrisch exakte Objekten entlang einer drei Kilometer langen, architektonisch durchkonzipierten Prunkstraße.
Die außergewöhnliche Genauigkeit der geometrischen Relationen, welche offenbar die Zahlenverhältnisse unseres Sonnensystems widerspiegeln und die mit herkömmlichen wissenschaftlichen Theorien nicht zu erklärenden technischen und transportmäßigen Meisterleistungen, sind für ihn Bestärkung darin die Grenzen der anerkannten Wissenschaften zu überschreiten.
Und so lässt er sich durchaus auch zu spekulativen Erklärungsversuchen mit außerirdischen oder zumindest übermenschlichen Gestaltungskräften hinreißen.
Auch die Jahrtausende alten bildlichen Darstellungen himmlischer Gestalten, wie etwa auf den Rollsiegeln der Sumerer, beflügeln seine Phantasie und verführen ihn zu gewagten Thesen, die er sich bildlich ausmalt.
In ihm entstehen Bilder von den Anunnaki, die vor Urzeiten auf die Erde gekommen waren und von den Sumerern als Götter verehrt wurden. Für diese und nach deren Plan errichteten die Menschen riesigen Tempelanlagen, quasi als deren Wohnsitz auf Erden.
In seinen Phantasien malte er sich auch aus wie diese übermächtigen Wesen den Menschen die Grundfächer der Zivilisation lehrten. Beeindruckender Weise konnten sie auch noch fliegen, waren von erhabener Gestalt und beherrschten damals noch vollkommen unbekannte Technologien.
Warum die Anunnaki laut einiger Überlieferungen besonders an Gold interessiert waren, brachte ihn darüber hinaus zu einigen sehr gewagten Theorien.
Digi meldet sich: »Enif, dein Frühstücksei ist fertig. Jetzt müsste der goldgelbe Dotter kernweich sein, so wie du es magst.«
Enif nimmt das Ei aus dem Kocher, in den er es schon am Vortag gelegt hatte, gießt sich den fertigen Kaffee in eine große Tasse und richtet sich eine Scheibe Brot und etwas Butter zum Tisch. Dann setzt er sich.
Beim Öffnen des Eies fällt ihm wieder einmal das Märchen von den zwei Völkern ein, die sich uneins darüber waren an welcher Stelle ein Ei zu öffnen sei.
Anfangs gab es noch einen konstruktiven Diskurs zwischen den wissenschaftlichen Vertretern der beiden Völker über die Praktikabilität der jeweiligen Methode.
Dann kamen philosophische Betrachtungen über das Runde und das Nicht-so-Runde im Zusammenhang mit der Polarität von Mann und Frau hinzu und die Gespräche entglitten zunehmend in gegenseitige Herabwürdigungen.
Angestachelt wurden die nicht mehr ernstzunehmenden und durch pseudowissenschaftliche Argumente untermauerten Untergriffe von den ehrwürdigen Entscheidungsträgern der jeweiligen Völker, die darauf drängten, dass die eigene Methode die Richtige sein müsse. Schließlich wollte man vor dem eigenen Volk gut dastehen.
Es kam wie es wohl kommen musste: Sie begannen einen Krieg.
Er selbst wendet beide Methoden, um ins Innere des Eies zu kommen, nach Lust und Laune an – heute dringt er wieder einmal durch das dicke Ende ins Innere vor.
Während des Frühstücks huschen noch ein paar Traumbilder vorbei: Die große weiße Wolke ist am Rande nun deutlich dunkler geworden und beginnt im Inneren auseinander zu driften.
Das Treffen mit der Schwester vom Kollektiv, der er heute das erste Mal begegnet, bringt sich ihm wieder in Erinnerung.
Sie ist neu in dieser verantwortungsvollen Position und folgt dem langjährigen Koordinator und altem Freund von Enif nach. Dieser stammt ebenfalls aus der ländlichen Region, in der Enif aufgewachsen ist und war schon früh am Aufbau eines regionalen Versorgungsnetzwerkes beteiligt.
Als unverbesserlicher und konsequenter Idealist hat er sich in den letzten Jahren mit dem Plan einer eigenen regionalen Restmüllentsorgung viel Kritik und persönliche Untergriffe gefallen lassen müssen. Da er bemerkte wie seine Kräfte und sein Hingebungswille am Widerstand seiner Kritiker langsam zu Schwinden begannen, beschloss er sich zunehmend aus seinen Funktionen und auf sein kleines Refugium zurückzuziehen.
Damit hatte er als Leitfigur für das regionale Kollektiv ausgedient und konnte sich vermehrt seinen sonstigen vielfältigen Interessen widmen.
Er lebt mit seiner schamanischen Gefährtin und zwei Katzen auf einem kleinen abgelegenen Gehöft, braut sein eigenes Bier und raucht nach wie vor Hanf. Da Hanf nun entkriminalisiert ist, baut er diesen, neben vielen anderen Gemüse-, Obst- und Gewürzpflanzen, für den Eigenbedarf mit großer Hingabe und Begeisterung selbst an.
Unter die Menschen kommt er fast nur mehr durch das Musizieren, was ihm nach wie vor große Freude bereitet und wodurch er in humorvoll anregender Weise noch gerne einen Beitrag zur Gemeinschaft leistet.
Die Neue wird es wohl nicht ganz leicht haben in seinen Fußstapfen, aber sie tut sich dagegen vermutlich etwas leichter mit den männlichen Wirtschaftstreibenden des Kollektivs, zumal sie angeblich recht gut aussieht und charmant-diplomatisch sein soll.
Für einige Herren der Wirtschaft kann das bei manch strittigen Entscheidungen schon mal das Zünglein an der Waage sein.
Ganz heikle Themen wie den Restmüll wird sie wohl vorerst nicht ansprechen.
Mittlerweile hat Enif sein Frühstück beendet, er stellt das Geschirr in den Spüler und schreitet dann erneut für eine längere Sitzung zur Toilette, zumal der Kaffee schon eine seiner besonderen Wirkungen entfaltet.
Nach Beendigung dieser dringlichen Angelegenheit begibt er sich erleichtert ins Badezimmer, wäscht sich die Hände, putzt sich die Zähne, schabt sich die Zunge und bürstet sein Haar.
Im Vorraum zieht er sich seine Schuhe und, aufgrund der herbstlich gesunkenen Außentemperaturen, auch seine Kapuzenjacke an, bevor er sich seinen Rucksack samt Mobilcomputer und Arbeitsunterlagen umhängt.
Beim Verlassen der Wohnung ruft er noch in die scheinbare Leere: »Digi, du kannst jetzt den Laden dicht machen.«
Digi meldet sich umgehend zurück: »Alles klar, Enif. Schönen Tag noch.«
Danach schaltet sie alle unnötigen Stromverbraucher ab und geht selbst in den Ruhemodus.
Enif verlässt die Intimität seiner kleinen Stadtwohnung und tritt in den halböffentlichen Raum des Ganges, der zum Treppenhaus und zum Lift führt.
Um diese Zeit – es ist schon nach 9 – trifft er selten jemanden beim Verlassen des Hauses. Entweder sind die Nachbarn schon unterwegs, um in der Produktion und Weitergabe der für das Leben in der Stadt benötigten Güter tätig zu sein, Dienstleistungen für die Gemeinschaft zu erbringen oder die Kinder in den Kindergarten oder die Schule zu bringen.
Enif hat sich im Laufe der vielen Jahre, die er für das Kollektiv arbeitet, seine Arbeitszeit zunehmend so eingeteilt, dass er nach Möglichkeit später anfängt, um Raum für seinen Erkenntnisdrang und die damit einhergehenden spätnächtlichen geistigen Studienreisen zu schaffen.
Wie meist nimmt er den Lift nach unten, was für seine körperliche Fitness nicht unbedingt förderlich ist. Aber er hat daraus schon ein kleines, spielerisches Ritual gemacht: Ruftaste betätigen und warten, da der Lift meist unten ist – während des Wartens wandert seine Hand zum Handy, das er erst jetzt einschaltet – der Lift kommt, die Tür öffnet sich – Eintreten in den Fahrgastraum und Erdgeschoss auswählen – während der Fahrt nach unten Eingeben des Codes für das Handy – der Lift kommt unten an, die Tür öffnet sich – er steigt aus und ist wieder am Boden der intersubjektiven Realität angekommen und telekommunikativ erreichbar.
Mutigen Schrittes steuert er jetzt auf den Ausgang des vertrauten Wohnhauses zu.