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KAPITEL II Wenn Abschiednehmen schmerzt

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Heiko Strewe war nur neununddreißig Jahre alt geworden, hatte mitten im Leben gestanden, hätte noch seine ganze Zukunft vor sich gehabt. Der Tod war so plötzlich und unerwartet für alle gekommen. Herzversagen, schrieb man auf den Totenschein. Carmen Strewe, Heikos Frau, hatte es einfach nicht fassen können. Sein Tod war für sie wie ein brutaler Faustschlag gewesen, wie alles zerfetzende Dornen in ihrem Gesicht.

Vier Tage lag das furchtbare Geschehen nun schon zurück, das eine Zeit der schrecklichsten Alpträume nach sich zog. Carmen verbrachte schlaflose Nächte, in denen sie sich, von Gedanken und Erinnerungen gequält, die Seele aus dem Leib heulte. Keiner konnte ihr in diesen furchtbaren und entsetzlichen Stunden Trost spenden. Was hätte es auch genutzt? Was brachten die Zurückgezogenheit und der Kummer schon ein? Nichts und niemand konnte ihr den geliebten Mann zurückbringen. Aber die Trauer befreite von dem allergrößten Schmerz, machte ihn erträglicher, wenngleich sie auch keine Erlösung brachte.

Heute hieß es Abschied nehmen für immer. Heikos letzter Gang, der die endgültige Trennung von dem bedeutete, was sie noch miteinander verband, stand bevor. In ein paar Stunden war es soweit. Mit Grauen dachte Carmen an die Beerdigung, diesem schlimmsten und übelsten Moment ihres Lebens. Die letzten Tage hatte sie sich so sehr davor gefürchtet. Aber diesen Weg musste sie nun mal hinter sich bringen. Noch ein paar Minuten blieben ihr, dann würde sie zum Friedhof aufbrechen.

Als Carmen in ihrer Wohnung vor dem Fenster stand und fast apathisch in den Regen hinausschaute, liefen ihr die Tränen unaufhaltsam an den Wangen herunter. Sie ließ es geschehen und wehrte sich nicht dagegen. Ihr Atem bebte bei dem Gedanken an die schrecklichen Begebenheiten vor vier Tagen. Sie konnte den Tod von Heiko, ihrem geliebten Mann, noch immer nicht in seiner vollen Tragweite erfassen, geschweige denn begreifen.

An diesem ekelhaften verregneten Tag sollte er zu Grabe getragen werden. Schrecklich! Anfang der Woche, als er so plötzlich starb, herrschte so wundervolles sonniges Wetter mit angenehm milden Temperaturen, dachte Carmen. Da hatte niemand mit seinem Tod gerechnet, sie am allerwenigsten. Warum musste das geschehen? Weshalb so früh, quälte sie immer wieder ihre ohnehin schon stark strapazierten Gedanken. Heiko durfte einfach nicht tot sein, er war noch viel zu jung, hatte doch niemandem etwas getan. Er war ein herzensguter Mann gewesen, immer für die anderen da. Vor allem für Carmen ... sie durfte nicht weiter nachdenken. Der Schmerz war zu groß und ließ die Tränen wie einen unaufhörlichen Strom fließen.

Carmen blickte nervös auf die Uhr, es war langsam an der Zeit, aufzubrechen. Wenn doch nur endlich Sabine Ullmann käme. Sie wollte sie abholen. Angespannt schaute Carmen zum Fenster hinaus. Der Regen hatte ein wenig nachgelassen. Von Sabine jedoch war weit und breit nichts zu sehen.

Plötzlich läutete es an der Tür, und Carmen fuhr erschrocken zusammen. Ihre Hände zitterten, im Magen kam ein mulmiger Druck auf. Sie verspürte ein unsicheres Gefühl, obwohl sie genau wusste, dass nur Sabine vor der Tür stehen konnte. Dennoch fürchtete sie sich vor diesem Augenblick, denn er bedeutete ein unaufhaltsames Aufwallen der Emotionen. Carmen öffnete, und Sabine trat ein, wortlos folgte die Umarmung. Die Trauer um Heikos Verlust ließ den Schmerz bei beiden Frauen mit aller Macht emporquellen, schlimmer noch bei Carmen. Hemmungslos fing sie an zu heulen. Und trotz des großen Leides tat es ihr unermesslich gut.

Sie sprachen einige Minuten keinen Ton, traten vors Fenster und starrten wortlos hinaus auf die regennasse Straße. Sabine legte ihre rechte Hand auf die Schulter der Freundin.

Dann sagte sie nur: „Es wird Zeit, wir müssen gehen.“

Sabine atmete tief durch. Carmen nickte stumm und wischte sich die Tränen von den Wangen, versuchte tapfer zu sein. Niemand sollte ihr verweintes Gesicht sehen, nicht die unsagbare Leere in ihren Augen, nicht die erlittenen Qualen.

Die beiden Frauen brachen voller Schwermut auf, überschritten die Straße, bestiegen den Wagen von Sabine und fuhren in Richtung Friedhof davon. Je näher sie ihrem Ziel kamen, desto unruhiger und bedrückter wurde Carmen. Sie spürte das heftige Pochen ihres Herzens und die Angst vor dem bevorstehenden Geschehen, der Situation, in die sie sich in den vergangenen Tagen immer wieder gedanklich hineinversetzt hatte. Ununterbrochen hatte sie gehofft, es würde alles nur ein Traum sein. Ein böser Alptraum, aus dem sie unbedingt jeden Moment erwachen müsste. Sie fürchtete sich jetzt vor der letzten Begegnung und der Erinnerung an Heiko.

Ihr schlotterten die Beine, sie verspürte ein Kribbeln in beiden Armen, heiß und unangenehm. Carmen musste schlucken, als die eiserne und rostbehangene Pforte des Friedhofs vor ihren Augen auftauchte. Und in diesem Moment spürte sie diesen dicken Kloß in ihrem Hals, der ihr die Luft abdrehen wollte. Das Dröhnen in ihrem Kopf und der furchtbare Schmerz ihres Herzens lähmten sie. Die Angst, gleich aussteigen zu müssen, hemmte sie und raubte ihr jeden klaren Gedanken. Dass es so schlimm sein würde, hatte sie nicht geahnt. Aber Carmen riss sich zusammen.

Auf unsicheren Beinen torkelte sie wie in Trance den schmalen Weg zur Friedhofskapelle entlang, fest geklammert an den stützenden Arm von Sabine, der es ebenfalls unbehaglich zumute wurde, je näher sie der Kapelle kamen. Drohend ragte sie kalt und starr vor ihnen auf. Wie ein Mahnmal erhob sie sich im strömenden Regen, eine mystische, dämonenhafte Warnung ausstrahlend. Für einen Moment zögerte Carmen und wäre am liebsten davongerannt, weg von hier, weg vom Ort der Trauer und des Schmerzes, fort von den schrecklichen Erinnerungen, um die lähmende Angst loszuwerden.

Dann traten die beiden Frauen zögernd durch die Pforte ins Innere der kleinen Kapelle mit ihren nackten Backsteinwänden. Viele Menschen hockten bereits in tiefer Anteilnahme versunken auf den hölzernen Sitzbänken. Sie starrten Carmen betroffen, pietätvoll verhalten, an. Gesenkten Hauptes schritt sie an ihren durchdringenden Blicken vorbei, nahm gleich vorne in der ersten Reihe Platz.

Da stand der Sarg auf einer Bahre, bedeckt mit einer Unzahl von Kränzen und Blumen, als ein letzter Gruß für den toten Heiko. All der Glanz konnte aber nicht das ausdrücken, was Carmen je für den geliebten Gatten empfunden hatte.

Der vor ihr ruhende Totenschrein der sie anzustarren schien, wirkte fast bedrohlich und löste ein beklemmendes Unbehagen in ihr aus. Nervös spielte Carmen mit ihren Fingern. In dieser Holzkiste lag Heiko, ihr geliebter Mann. Manchmal glaubte sie, der Deckel müsse sich jeden Moment heben und er wieder heraussteigen, so als sei nichts geschehen.

Dann kam der Pfarrer, er fand trostreiche Worte in seiner Predigt. Carmen nahm gar nicht so richtig auf, was er eigentlich sagte. Ihre Gedanken galten einzig und allein ihrem toten Mann, der hier vor ihr ruhte und von allem nichts mehr mitbekam.

Die kleine Kapelle war gefüllt bis auf den letzten Platz. Alle waren gekommen, um Heiko auf seinem letzten Weg zu begleiten. Alle, die ihn gekannt hatten und mochten: die Arbeitskollegen, Freunde, Verwandte, Nachbarn. Eben alle, die ihn in Erinnerung behalten wollten. Sie wollten ihm so die letzte Ehre erweisen.

Es regnete in Strömen, als ein langer Trauerzug aufbrach und schweigend durch die gepflegten Gräberreihen des Friedhofs von Dassow schritt. Unter dem schwerfälligen Gang der Trauergäste knirschte fast störend der ausgewaschene Kies des leicht abfallenden Weges. Vor einer ausgehobenen Grube machte die Gruppe Halt. Bedrückendes Schweigen lastete auf der versammelten Trauergemeinde. Das monotone Prasseln des Regens auf den aufgespannten Schirmen wirkte in dieser angespannten Situation wie lautes Hämmern.

Mit stummen Mienen senkten die vier Totengräber den eichenen Sarg vorsichtig hinunter. Von ihrer gleichmäßigen täglichen Arbeit hatten sie Schwielen an den Handflächen. Ihr Job war Routine. Was aber mochten sie in ihrem Innersten empfinden? Litten sie den gleichen Schmerz wie die Trauernden? Waren ihre Gedanken bei den Toten und den Leidenden? Das Schicksal eines Einzelnen berührte sie wenig, Gefühle konnten sie sich in ihrem Beruf nicht erlauben.

Der furchtbare Dauerregen wollte überhaupt nicht mehr aufhören, er wurde immer schlimmer, peitschte hart gegen den hölzernen Sarg, so als wäre er gegen diese Zeremonie. In kleinen Rinnsalen tropfte das Wasser an den durchnässten Seiten des Sarges herunter.

Mit zitternden Händen umklammerte die ganz in Schwarz gekleidete Carmen Strewe den Regenschirm, damit ihn der Wind nicht davonblies. Noch immer bekam sie gar nicht so richtig mit, was hier eigentlich geschah. Fast mechanisch und geschockt starrte sie dem hinabgleitenden Sarg nach, der allmählich in dem abweisenden und bedrohlich wirkenden Loch verschwand. Hin und wieder stieß er gegen das Erdreich und polterte dumpf. Carmen registrierte den hohlen Klang unbewusst wie aus weiter Ferne, so als sei das alles nicht wirklich wahr. Die Situation erschien ihr wie ein böser Traum, ein Traum, aus dem sie gleich erwachen musste. Aber es war die nackte Realität, eine erschreckende Wirklichkeit, die sie nicht verdrängen konnte.

Ihr langes blondes Haar hatte Carmen zu einem Knoten zusammengebunden und hinter einem dunklen Schleier aus Seide verborgen. Er verbarg dezent ihr Gesicht. Niemand sollte ihre Tränen in ihren geröteten Augen sehen, nicht ihre unsagbare Trauer und die grenzenlose Verzweiflung. Sie wollte den stechenden Schmerz in ihrem Herzen verbergen.

Einen letzten kleinen Blumengruß warf sie auf den braunen Eichensarg hinab. Carmen beugte sich weit vor und konnte ihre Tränen nicht mehr unterdrücken, sie weinte unaufhaltsam. Zwei Männer an ihrer Seite mussten sie stützen.

„Heiko, mein Liebling. Mein guter lieber Mann. Warum so früh? Warum hast du mich alleine gelassen? Ich brauche dich doch so sehr!“, schluchzte Carmen mit gebrochener Stimme. Es klang flehend und anklagend. Ihr ganzer Körper bebte.

Doch Heiko konnte sie nicht hören. Oder stand sein Geist, seine Seele, neben ihr und beobachtete das qualvolle Treiben? Schaute er zu, wie sie alle um ihn trauerten, und musterte er jeden Einzelnen kritisch mit prüfenden Blicken, hauchte ihnen womöglich seinen Atem ins Genick? Oder war es nur ein Windstoß, den mancher von ihnen verspürte?

Mitunter glaubte Carmen ganz fest, er würde ihr wie ein guter Geist erscheinen und unsichtbar neben ihr stehen: zu Hause in der Wohnung, bei der Arbeit im Büro oder hier am Grabe, und bei all ihren Tätigkeiten schützend seine Hände über sie halten. Rief er gar nach ihr? Hörte Carmen nicht seine Worte, sein Flehen?

Gerade jetzt war ihr Schmerz am größten. Jetzt, da diese Männer ihn einfach so vor ein paar Minuten in einem braunen Holzsarg nach unten gelassen hatten. In ein Loch, in dem er für immer verschwinden sollte, vergraben und zugeschüttet mit Erde. Es wirkte so herzlos, so stechend auf sie. Carmen fühlte sich Heiko gegenüber schuldig und unendlich beschämt. Er hätte weiß Gott was Besseres verdient. Und überhaupt, all die verlorene Zeit, die vor ihr liegende Leere ihres Herzens, sie hatten beide noch so viel vorgehabt. Nun war alles mit einem Schlag vorbei, die schönen Stunden wie ausgelöscht. Allein der Gedanke daran überzog ihren Körper mit einer eisigen Gänsehaut.

Stumm und in Gedanken versunken stand Carmen schluchzend vorm Grab und starrte hinab auf den braunen Sarg. Er wirkte so kalt, fast bedrohlich, als wolle er ihr eine Botschaft offenbaren.

Fassungslos schüttelte Carmen den Kopf. Unaufhaltsam quollen die Tränen aus ihr hervor. Der Regen peitschte ihr ins Gesicht. Trotz des Schirmes war sie völlig durchnässt. Carmen kümmerte es wenig, sie starrte nur wie gelähmt auf das, was von Heiko geblieben war, in einer feuchten und kalten Lehmgrube. Gleich würde man sie mit Erde zuschütten, um das letzte greifbare und reale Andenken an Heiko Strewe für immer zu begraben.

Carmens Körper bäumte sich verkrampft auf. Sie heulte laut und unaufhaltsam los, schrie ihr unsagbar trauriges Leid von der Seele. Ihre Freunde, ebenfalls tief ergriffen, mussten die verzweifelte Carmen stützen. Uli, Heikos Bruder, zog sie ein paar Schritte zurück. Carmen versuchte, sich dagegen zu wehren. Sie wollte keinen Millimeter von Heikos Seite weichen. Jetzt, beim Abschied für immer, wollte sie ihm ganz nah sein.

Lange Zeit blieb Carmen in Gedanken versunken am Grabe stehen. Die anderen waren bereits gegangen. Carmen wollte alleine sein und noch einmal mit Heiko reden, ihm all ihre Liebe offenbaren. Er sollte wissen, dass sie nur ihn geliebt hatte, ihm stets treu gewesen war und er unvergesslich seinen Platz in ihrem Herzen haben würde. Nichts würde ihre liebevollen Gedanken an ihn verdrängen.

Nach einer Weile wandte sich Carmen gesenkten Hauptes und mit tränenunterlaufenen Augen ab und schritt dem Ausgang zu. Sabine saß im Wagen und wartete bereits auf sie. Wortlos hockte sich Carmen auf den Beifahrersitz. Sie fuhren los, zum „Dorfkrug“, wo die Trauergäste sich zum gemeinsamen Essen versammelt hatten. Trostreiche Worte des Beileids wurden ausgesprochen. Man redete pietätvoll über den toten Heiko Strewe, erinnerte sich an viele gemeinsame Ereignisse, an glückliche Momente und Situationen, die dazu beitragen sollten, eine Erklärung auf den plötzlichen Tod des Freundes zu geben. Aber es fand keiner Antworten auf die Frage nach dem Warum.

Carmen saß fast wortlos am Tisch. Ihr war nicht nach großen und mitleidsvollen Gesprächen zumute. Zu viel ging ihr durch den Kopf, das sie alleine verarbeiten musste.

Nachdem sich schon alle Trauergäste verabschiedet hatten, brachen auch Carmen und Sabine auf. Es herrschte Dunkelheit, als sie zum Wagen gingen und schweigend durch die Nacht zu Carmens Wohnung fuhren. Der Regen hatte inzwischen aufgehört, aber die Straßen waren noch immer nass.

Vor dem Haus angelangt, sprach Sabine: „Soll ich noch mit hochkommen? Vielleicht kann ich etwas für dich tun. Wollen wir noch einen Kaffee trinken?“

Müde und total abgespannt antwortete Carmen fast lethargisch: „Sei mir bitte nicht böse, Sabine. Du warst mir heute eine sehr große Stütze. – Und ich bin dir sehr dankbar dafür. Aber ich möchte jetzt erst mal alleine sein, brauche unbedingt Ruhe ... viel Ruhe, damit ich über den heutigen Tag nachdenken kann ... Ich hab den ganzen Trubel noch nicht verarbeitet.“

„Du darfst nicht anfangen zu grübeln, Carmen. Es ist besser, wenn du versuchst, abzuschalten und auf andere Gedanken zu kommen ... Es kann nicht schaden, wenn wir jetzt noch ein paar Minuten reden, bevor du schlafen gehst. Wir sollten reden ... über irgendetwas. Danach fühlst du dich bedeutend wohler.“

Carmen schaute die Freundin an, die so besorgt wirkte, und zwang sich zu einem gequälten und krampfhaften Lächeln.

Nach einer kleinen Pause entgegnete sie: „Also gut, für ein paar Minuten. Vielleicht hast du ja Recht. Reden, einfach nur reden. Es wird mir gut tun.“

Sie stiegen aus und gingen ins Haus. Als Carmen die Wohnungstür öffnete und in den dunklen Flur trat, überfiel sie plötzliche furchtbare Angst. Die Furcht vor der Wirklichkeit rief eine tiefe Beklemmung hervor und würgte ihr in der Kehle. Die unleugbare Realität der Einsamkeit versetzte sie in Panik. Jetzt war sie froh, dass Sabine mitgekommen war. So fiel es ihr wesentlich leichter, die hohe Schwelle zur harten Wirklichkeit zu überwinden. Die Anwesenheit von Sabine gab Carmen Kraft und Mut.

In Gedanken stellte sie sich vor, dass Heiko jetzt im Wohnzimmer hocken könnte, lächelnd und auf sie wartend. Die Angst vor diesem Trugbild schnürte ihr die Kehle zu, und zwar aus dem Grund, weil sie sich diese Gegebenheit so sehr herbeiwünschte. Ihre Vorstellung war so stark mit Energie gefüllt, dass sie an diese Möglichkeit wirklich glaubte und sich nicht mit der brutalen Wirklichkeit abfinden konnte. Unbewusst schielte sie bereits von der Diele ins Wohnzimmer hinein, zu dem Sessel, in dem Heiko früher oft gesessen hatte. Carmen war dennoch erleichtert, als sie ihn leer fand, sie atmete beruhigt auf. Wie in Trance hängte sie ihre Jacke an die Garderobe und ging mit Sabine in die Küche hinüber.

„Ich koche uns ganz rasch einen starken Kaffee“, sagte Carmen und goss eine Kanne Wasser in den Automaten.

Sabine trat vors Fenster und schaute gedankenverloren in die Dunkelheit hinaus. Es begann wieder zu regnen. Im Schein der Straßenlaterne spiegelten sich die Regentropfen in einer Pfütze.

„Ein Sauwetter ist das“, meinte Sabine, nur um etwas zu sagen. „Aber morgen soll es ja wieder besser werden.“

„Was soll’s. Ist doch vollkommen egal“, brummte Carmen fast teilnahmslos.

Der Kaffee war schon durchgelaufen. Sie füllte zwei Tassen voll und reichte eine davon Sabine.

„Zucker, Milch?“, fragte sie mit zitternder Stimme.

Sabine schüttelte den Kopf. „Danke. – Komm lass uns ins Wohnzimmer gehen. Da sitzt es sich bequemer.“

Die beiden gingen nach nebenan. Als Carmen das Licht anknipste, überkam sie wieder dieses komische würgende Gefühl. Ein Kloß, der ihr im Halse saß, rief ein beklemmendes Unbehagen hervor. Carmen schaute sich forschend im Zimmer um, aus Angst, irgendwo könne Heiko stehen und sie, mit verschränkten Armen gegen die Wand gelehnt, hämisch angrinsen. Alleine der Gedanke daran jagte ihr Furcht ein. Doch es war alles ruhig. Und die Worte von Sabine lenkten sie von ihren Grübeleien ab. Die zwei Frauen saßen eine Weile zusammen und redeten, was ihnen gerade so einfiel. Einige Zeit später aber wollte Carmen für sich sein, und Sabine verabschiedete sich von ihr.

Nachdem Carmen kurz darauf alleine war, goss sie sich noch einen Kaffee ein und setzte sich ins Wohnzimmer. Sie rauchte eine Zigarette und dachte an all die schönen Augenblicke der vergangenen Jahre, die in Sekundenbruchteilen an ihr vorbeizogen. Carmen spürte, wie ihr nun die Tränen an den Wangen herunterliefen. Wie sollte sie mit dieser trostlosen Einsamkeit, der Leere ihres Lebens, bloß fertig werden? Wenn doch Heiko einfach zur Tür hereinkommen würde, so als sei dieser schreckliche Tod gar nicht wahr. Weshalb konnte es kein Traum sein, aus dem sie jeden Moment erwachen würde? Warum traf ausgerechnet sie ein solch schwerer Schicksalsschlag?

Sie drückte die Zigarettenkippe im Aschenbecher aus und schlürfte den restlichen Kaffee. Noch einmal ging sie durch alle Räume, überzeugte sich, dass die Wohnungstür verriegelt war, und legte außerdem die Sicherheitskette vor. Carmen schaute in jedes Zimmer, in die Schränke, hinter die Gardinen, unter die Betten. Nach den emotionalen Strapazen des vergangenen Tages konnte sie ihre Gefühle nicht von jetzt auf gleich abschalten. Die Furcht vor umherspukenden Geistern irrte durch ihren Kopf. Deshalb blieb auch die ganze Nacht im Schlafzimmer das Licht eingeschaltet. Carmen wäre sonst vor Angst gestorben, sie fürchtete sich im Dunkeln, gerade jetzt unmittelbar nach der Beisetzung von Heiko, vor ungewissen Alpträumen und Schattengestalten aus der Unterwelt.

Verzweifelt versuchte Carmen, wach zu bleiben, um nachdenken zu können. Immer wieder gingen ihr die gleichen Gedanken durch den Kopf. Sehr spät in der Nacht schlief sie dann aber doch völlig übermüdet und erschöpft ein, sie schlief tief und fest. In ihren Träumen tauchten wirre Bilder von schemenhaften, schrecklichen Gestalten auf. Dazwischen ständig das Gesicht von Heiko und viele gemeinsame vergangene Erlebnisse, glückliche Augenblicke.

Als Carmen am nächsten Morgen nach einer qualvollen Nacht erwachte, war sie noch vollkommen gerädert. Ihr Kopf dröhnte wie nach tausend Hammerschlägen. Wie sollte sie nur diesen Tag überstehen? Erst nach einer Tasse Kaffee fühlte sie sich wohler. Die Kopfschmerzen verschwanden allmählich, nicht aber die Einsamkeit und die trostlose nun folgende Zeit. Ein harter Weg stand Carmen bevor.

*

Für Carmen begann nun eine Zeit der Neuorientierung, ein Umstellen und Umdenken auf andere Gewohnheiten. Nichts war mehr so wie früher. Ihr Dasein nahm einen neuen Lebensabschnitt ein, wenngleich Carmen nach der Beisetzung von Heiko versuchte, wieder zum gewöhnlichen Alltag überzugehen. Seine Anwesenheit fehlte ihr sehr: der allmorgendliche Kuss, die herzliche Umarmung, das Streicheln seiner Hände über ihren Rücken, seine freundlichen Worte. All diese Liebkosungen vermisste sie.

Sein plötzlicher Tod hatte eine tiefe Kluft in ihr Leben gerissen, nahm einen wichtigen Bestandteil ihrer Existenz. Wie sollte sie nur damit fertig werden? Sie musste die Veränderung bewältigen, ob sie wollte oder nicht. Ihr Job würde ihr sicher dabei helfen.

Nach zwei Urlaubstagen, an denen es privat viel zu erledigen gab, machte sich Carmen wieder an die Arbeit. In der Firma bat sie die Kollegen, nicht über Heikos Tod zu sprechen. Sie wollte nicht daran erinnert werden, um Abstand zu gewinnen und zur Ruhe zu kommen. Man respektierte ihren Wunsch.

Ihre berufliche Aufgabe nahm Carmen total in Anspruch. Sie hatte deshalb wenig Zeit, über den Verlust von Heiko und ihren tiefen Schmerz nachzudenken; in ihrem Job ging sie voll auf. Sehr schnell gelang es Carmen, wieder die notwendige Konzentration zu finden. Nur an den langen einsamen Abenden zu Hause spürte sie, wie ihr die Gefühle hochkamen, wie sehr ihr doch Heiko fehlte, wie sie sich nach seinen Umarmungen sehnte. Und manchmal saß sie einfach so da, still, fast teilnahmslos, und weinte hemmungslos vor sich hin. Dann kamen all die Erinnerungen mit aller Heftigkeit hoch.

Hin und wieder spendete ihr Sabine bei stundenlangen Gesprächen Trost. Danach fühlte sich Carmen stets wohler, erfrischter und etwas freier von der zentnerschweren Last. Doch Sabine war nicht immer da, sie konnte Carmen nicht jeden Tag ermutigen. Gerade zu diesen Zeiten fühlte sie eben, wie leer ihr Leben doch wirklich geworden war. Aber Carmen wollte versuchen, damit fertig zu werden, stark zu bleiben, keine Depressionen aufkommen zu lassen. Das Leben ging weiter, das wusste sie, es machte auch nicht Halt wegen ihr. Und änderte schon gar nicht seinen gleichmäßigen Lauf. Carmen musste sich anpassen, fügen, nehmen was kam. Dazu gehörten nun auch die tragischen Augenblicke, selbst wenn sie ihr ganzes Leben umkrempeln würden. Heikos Tod war einer jener schicksalhaften Momente, die sie nicht beeinflussen konnte. Aber warum musste das gerade jetzt passieren? Hätte das nicht noch Zeit gehabt bis in ferne Jahre, wenn sie beide alt und grau gewesen wären? Doch es sollte wohl so sein, jetzt und heute. Carmen tröstete sich mit dem Gedanken, dass Heikos früher Tod eine besondere Bewandtnis hatte. Ob er glücklich ist, dort, wo er jetzt war? Im Jenseits, in einer anderen Welt, einem neuen Leben vermutlich?

Sabine sprach eines Abends mit Carmen darüber: „Seine wirkliche Aufgabe hatte Heiko nicht hier auf der Erde unter den Lebenden zu erfüllen. Sein Leben stellte lediglich eine Art Bewährungsprobe dar, eine Zwischenetappe auf dem Weg in ein anderes Bewusstsein. Seine Seele suchte sich dafür einen organischen Körper aus. Mit dem konnte er sich hier unter den Geschöpfen dieser Welt verständlich machen und Erfahrungen sammeln. Doch seine Seele, tief im Innern, ist zu Höherem berufen, in anderen Dimensionen, die uns vollkommen unbegreiflich sind. Dort liegt seine wahre Erfüllung und Aufgabe.

Uns allen ergeht es einmal so, ob wir es wahrhaben wollen oder uns dagegen wehren. Du kannst daran glauben oder nicht – es ist unerheblich. Doch das absolute Wissen über den künftigen Tod bereitet uns Angst, weil wir nicht wissen, was danach kommt. Wir haben Furcht vor dem Unbekannten, haben keine Ahnung von der wundervollen Seite unserer geistigen Existenz. Und diese Gewissheit löst ein eigenartiges Unbehagen in uns aus. Wir glauben, dass wir glücklich und zufrieden mit unserem Leben sind, klammern uns daran und lassen uns nicht überzeugen von einer noch wunderschöneren Zeit danach. Diese universelle Wahrheit, vor der wir uns nicht drücken können, sollten wir akzeptieren.

Wir sind geboren worden, um zu einem bestimmten Zeitpunkt wieder zu sterben. Aber in Wirklichkeit gibt es keinen Tod, nur der organische Körper zerfällt zu Staub und Asche. Unser wahres feinstoffliches Ich, die Seele, besteht weiter, weil sie unsterblich ist und sich im Strudel der Ewigkeit fortpflanzt. Sie ist unvergänglich, entwickelt sich mit jedem neuen Leben, in das sie hineingeboren wird, weiter.

Sie ist zudem ein wichtiger Bestandteil des Universums. Denn alles, was existiert, ist aus dem Stoff der Welten gemacht, wie ein kleines Staubkorn mitten im Wüstensand. Und viele Staubkörner ergeben ein ganzes Gebilde. Nicht anders verhält es sich mit den lebenden Seelen. Sie halten unser gesamtes Sein, den Geist und den Körper zusammen, stellen einen kleinen Teil davon dar und haben doch ihre ganz besondere Bedeutung in der Masse.“

Sabine machte eine Pause und drückte sanft Carmens Hände, fuhr dann beruhigend fort: „Sei nicht traurig, freue dich, dass Heiko heimgefunden hat, dorthin, wo auch wir alle eines Tages gehen werden, dort, wo er zufrieden und erfüllt ist. Seine Seele kann in dieser Welt aufleben, sie ist frei und rein, kann neue Kraft und Energie sammeln, um eines Tages wieder auf die Erde zu kommen und in einem anderen Menschen geboren zu werden. Freue dich darüber, Carmen, denn irgendwann werdet ihr beiden abermals zusammenfinden. Dann seid ihr untrennbar vereint. All die Probleme, mit denen Heiko hier zu kämpfen hatte, sind nun und in Zukunft für ihn gelöst ...“

Carmen holte tief Luft und antwortete: „Aber was ist mit mir? Ich bin so unsagbar unglücklich, so furchtbar traurig. Wer fragt nach meinen Gefühlen und Empfindungen? Wer tröstet mich? Wer sagt mir, wie es weitergehen soll? Ich sterbe noch an dieser schlimmen Einsamkeit!“

Sabine lächelte und entgegnete: „Du stirbst nur, wenn du darfst, und nicht, wenn du willst. So einfach und leicht kommt der Tod nicht. Für dein Leben, vielmehr für deine Seele, ist eine genau festgelegte Zeit vorgegeben, die dir keiner nehmen oder gar ändern kann. Sie ist fest umrissen und vorher schon genau bestimmt worden. All die Tiefschläge im wirklichen Leben sind nicht mehr als Prüfungen. Und dieses seelische Leid, das du dadurch erfährst, bedeutet eine Reinigung. Auch wenn dir manches noch so grausam und ungerecht vorkommen sollte.

Organisches und seelisches Leben sind zweierlei und werden mit unterschiedlichem Maßstab gemessen, genau, wie diese beiden Existenzebenen grundverschieden sind. Vieles, was um uns herum geschieht, stellt sich oft in seiner Bedeutung für uns total unbegreiflich dar. Aber diese Erfahrungen müssen wir unbedingt sammeln und daraus lernen, um in unserer wirklichen geistigen Daseinsform bestehen zu können ...“

Sabine brach ab und griff nach ihrer Kaffeetasse. Diese kurze Unterbrechung diente dazu, Carmen Gelegenheit zu geben, ihre Worte aufzunehmen. Still und in sich versunken hockte Carmen im Schneidersitz auf der Couch gegenüber. Sie dachte über Sabines Worte nach und spürte, wie sie kritisch von ihr beobachtet wurde. Sie atmete tief durch und schaute Sabine verlegen an. Ihr fielen nicht die richtigen Worte ein, sie wusste nicht, was sie erwidern sollte. Aber sie fühlte sich nun bedeutend wohler und nicht mehr so verkrampft wie noch vor ein paar Minuten.

„Ich denke, es wird für mich jetzt Zeit. Du willst sicher auch schlafen gehen. Wir müssen beide morgen wieder früh raus“, meinte Sabine und trank ihren Kaffee aus. Ein Blick zur Uhr zeigte ihr, dass Mitternacht längst vorbei war.

„Bleib noch auf eine Zigarettenlänge“, bat Carmen und reichte Sabine die Schachtel hin, „nach Schlaf ist mir noch nicht zumute.“

Aus einer Zigarette wurden zwei. Kurz nach eins verabschiedete sich Sabine von Carmen, denn sie konnte kaum noch ihre Augen aufhalten. Nachdem Sabine gegangen war, legte sich Carmen zu Bett und schlief sehr schnell ein. Zu ihrer Überraschung hatte sie diesmal eine erstaunlich ruhige Nacht ohne Alpträume und ohne schweißgebadetes Erwachen am Morgen.

Es versprach in vielfacher Hinsicht ein wundervoller Tag zu werden. Carmen hatte sich einiges vorgenommen. Nach der Arbeit wollte sie mit Sabine einen Stadtbummel machen. Anschließend war noch ein ausgiebiges Essen in einem Restaurant vorgesehen. Sie erhoffte sich von dieser Art der Ablenkung ein wenig Erholung ihrer aufgewühlten Gefühle. Nach Tagen der Trauer brauchte Carmen endlich den lang ersehnten Ausstieg aus ihrem depressiven Stimmungstief.

Sabine holte Carmen pünktlich in der Firma ab, gemeinsam zogen sie los. Im Kaufhaus gegenüber dem Bahnhof stöberten sie die Kleiderständer und Regale durch. Danach machten sie sich auf die Suche nach einem Kaffeeautomaten. Sabine brauchte einen neuen, denn der alte hielt nicht mehr lange durch. Sie schlenderte zwischen den Regalen entlang. Carmen stöberte indessen in den Büchergestellen herum.

Plötzlich tauchte in der Spiegelverkleidung eines Stützpfeilers eine schattenhafte Gestalt auf, vor der sich Carmen ganz furchtbar erschreckte. Abrupt wandte sie sich um, konnte aber niemanden sehen. Als sie kurz darauf wieder in den Spiegel blickte, sah sie aus den Augenwinkeln heraus schemenhaft diesen Fremden. Jetzt drehte sich Carmen ganz langsam um. Im nächsten Moment war die geheimnisvolle Erscheinung verschwunden.

Wo steckte bloß Sabine? Eben war sie doch noch da. Hinter einem Stapel leerer Kartons sah sie ihren blonden Lockenkopf hervorstechen. Carmen winkte ihr zu. Sie kam auch sogleich und fragte: „Na, hast du was gefunden?“

Verwirrt schüttelte Carmen den Kopf und schaute unruhig in alle Richtungen. Sollte sie mit Sabine über den Vorfall sprechen oder einfach schweigen? Würde Sabine sie überhaupt verstehen oder für verrückt halten?

„Was ist mit dir? Du wirkst so fahrig? Ist dir nicht gut?“, wollte Sabine wissen und schaute Carmen besorgt an.

„Nein, nein. Doch! Mir war so, als hätte ich da eben eine fremde Gestalt im Spiegel gesehen. Aber als ich mich umdrehte, war sie verschwunden“, entgegnete Carmen mit monotoner Stimme.

Forschend suchte sie mit ihren Augen die Umgebung ab, und bemerkte, wie Sabines Blicke ihr dabei aufmerksam folgten.

„Da ist aber niemand, der nicht hierher gehört!“, bemerkte Sabine. „Keiner, der ungewöhnlich oder erschreckend wirkt. Du musst dich getäuscht haben. Überhaupt bist du in letzter Zeit ziemlich abwesend. Der Tod von Heiko hat dich doch sehr mitgenommen. Ich denke, wir sollten mal einen kurzen Urlaub machen. In die Berge fahren, oder einfach nur zu deinem Ferienhaus im Schwarzwald. – Was hältst du davon?“

Carmen zuckte mit den Schultern, denn sie brauchte Zeit, um sich in Ruhe mit dieser Idee vertraut zu machen. Vielleicht hatte Sabine ja Recht mit ihrer Idee, und sie sollte sich ein paar Tage Urlaub gönnen, einfach nur durchatmen, entspannen und sich erholen. Danach sah die Welt bestimmt viel besser aus. Dennoch hatte sie Zweifel, zu viel Arbeit hatte sich in der Firma angesammelt.

„Ich weiß nicht so recht, ich kann mir jetzt keine Freizeit erlauben, habe jede Menge im Büro zu tun“, meinte Carmen.

Sabine sagte nichts, nickte nur knapp und machte sich wieder auf die Suche nach einem geeigneten Kaffeeautomaten. Carmen schaute sich indessen weiter bei den Bücherregalen um. Den mit Spiegelglas verkleideten Pfeiler musterte sie dabei mit kritischen Blicken. So ganz geheuer kam ihr das alles nicht vor. Immer wieder wandte sie ihren Kopf beim Stöbern in den Bücherreihen dem Spiegel zu. Einmal glaubte sie, einen Schatten bemerkt zu haben, und drehte sich ruckartig um. Im gleichen Moment materialisierte sich vor ihren Augen aus dem Spiegel heraus eine männliche Gestalt, ganz glasig zwar, aber dennoch deutlich erkennbar. Für den Bruchteil von Sekunden verschwand die Erscheinung wieder, um dann wie aus dem Nichts erneut aufzutauchen.

Verlegen blickte sich Carmen nach Sabine um. Weit und breit war nichts von ihr zu sehen. Wo steckte sie bloß? Wenn sie jetzt hier wäre, könnte sie dieses Phantom auch sehen. Wieder hasteten Carmens Augen über die Regale. Jetzt erst fiel ihr die menschenleere Kaufshausetage auf. Kein einziger Kunde war zu sehen, Carmen befand sich vollkommen alleine zwischen Regalen, Vitrinen und Kleiderständern. Verängstigt starrte sie die schemenhafte Erscheinung vor dem Spiegel an.

„Was soll das?“, stieß sie beklommen und mit zitternder Stimme hervor. „Verschwinde endlich! Weg da! Dich gibt es nicht wirklich, du bist nur eine blöde Einbildung meiner verwirrten Fantasie.“

Das Phantom schien von Carmens Worten unbeeindruckt zu sein und kam näher. Plötzlich ertönte eine Stimme, bei deren Klang Carmen erschrocken zusammenzuckte.

Die Gestalt sprach: „Ich bin real und du weißt das genau, denn ich bin dir erschienen. Mit deinen Augen und mit deinem Geist nimmst du mich wahr. Doch wir sind in zwei verschiedenen Welten: du in der deinen, der materiellen, und ich im Reich der Toten und der Seelen, den feinstofflichen Dimensionen.“

Carmen wirkte verunsichert und wusste nicht, wie sie reagieren sollte, glaubte sie doch, die Erscheinung sei nur ein Trugbild ihrer Gedanken.

Zögernd brummte sie: „Und was willst du von mir? Du gehörst nicht in mein Leben ...“

„Was ist mit deinem Leben? Mit wem sprichst du denn da?“

Carmen zuckte fast zu Tode erschrocken zusammen. Sabine war unerwartet von hinten aufgetaucht und hatte sie angesprochen.

Beschämt antwortete sie: „Ach nichts, ich habe nur mit mir gesprochen. Bin verärgert, weil ich hier rumsuche und nicht weiß, was ich eigentlich will. – Komm lass uns von hier verschwinden.“

Sie zerrte Sabine weiter zur Rolltreppe. Nur raus hier!, ging es Carmen durch den Kopf, sonst fange ich noch an zu spinnen. Weg von diesem Ort, um abzuschalten und auf andere Gedanken zu kommen.

„He du, warte auf mich, nicht so schnell“, rief Sabine der davonlaufenden Carmen hinterher, „wir versäumen doch nichts. Was ist denn auf einmal los mit dir?“

Carmen blieb plötzlich stehen und drehte sich abrupt um. Tränen liefen ihr die Wangen herunter. Sie sah Sabines erstaunten Blick, doch bevor sie etwas sagen konnte, wehrte sie mit einer Handbewegung ab.

Mit bebender Stimme stammelte Carmen: „Ich habe einen Geist gesehen, gerade eben im Kaufhaus. Er starrte mich mit seinen großen Augen an. Ich weiß nicht, was er wollte. Ich kann auch nicht sagen, ob ich mir das nur eingebildet habe.

Heiko sah früher auch immer Spukgestalten, die mit ihm redeten, die ihn um den Verstand gebracht hatten. Vielleicht waren es bei ihm auch nur Halluzinationen gewesen. Aber er ist daran zu Grunde gegangen. Es kostete ihn das Leben! Ich möchte nicht, dass mir das gleiche Schicksal widerfährt. Womöglich verfolgen mich jetzt diese komischen Monster ... lachen sich kaputt über meine Angst ...“

Sabine hatte schweigend zugehört und entgegnete nun, wobei ihre Worte erleichternd auf Carmen wirkten: „Ich glaube dir. Manchmal sieht man aus den Augenwinkeln heraus schemenhafte Gestalten aus fremden Dimensionen oder einer selbst geschaffenen Realität vorbeihuschen. Sobald sie sich beobachtet fühlen, verschwinden sie sofort wieder, wendest du deinen Blick zur Seite, tauchen sie sofort wieder auf, ohne dass du es gewahr wirst. – Du bist abgespannt und mit den Nerven total fertig, aber nicht verrückt. Die Anstrengungen in letzter Zeit haben dich sehr mitgenommen. In dieser Stresssituation kannst du diese Schemengestalt durchaus real wahrgenommen und auch mit ihr gesprochen haben.“

Sie versuchte, Carmen zu beruhigen, und legte ihren rechten Arm um deren Schulter.

Doch sie wich geschickt aus und fuhr mürrisch fort: „Stress nennst du das? Einfach nur Stress. Heiko ist tot! Mir wurde ein Teil meines Lebens genommen. Du hast ja keine Ahnung, was ich durchgemacht habe. Es war die Hölle ... Und da sprichst du von Stress! Etwas Besseres ist dir nicht eingefallen? – Ich bin auch nicht abgespannt oder mit den Nerven runter. Ich habe meinen Mann verloren! Aber du siehst das anscheinend gelassen, denkst, es geht schon irgendwie weiter. Nein, meine Liebe, ich stehe vor einer dicken und hohen Mauer und weiß nicht, wie ich rüberkomme.“

Mit funkelnden Augen starrte sie Sabine an. Dann wandte sie sich ab und ging langsam weiter. Schweigend folgte ihr Sabine. Keiner von beiden sprach ein Wort, jeder war mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt. Carmen wusste, wie sehr Heiko damals von einer unbekannten Macht gefangen gewesen war, einer Macht, die ihn nicht mehr losgelassen und immer tiefer in einen Sog gerissen hatte. Viele hatten gedacht, er sei verrückt gewesen, wurden dann aber durch seinen tragischen Tod eines Besseren belehrt.

Als die beiden vor einer roten Fußgängerampel standen und warteten, wandte sich Sabine an Carmen und fragte: „Was war das für ein Kerl? Ich meine, vorhin in dem Kaufhaus ...“

Carmen antwortete nicht, starrte stattdessen unverwandt auf die Ampel. Nachdem das Männchen auf Grün sprang, lief sie mit Sabine los.

Im Gehen meinte sie: „Es war nicht irgendein Kerl. Ich meine, kein menschliches Wesen. Er wirkte so durchsichtig. Wie ..., nun wie milchiges Glas. Und er strahlte eine unangenehme Kälte aus, dass mir fröstelte. Und dann verschwand er plötzlich im Nichts.“

Ihre Stimme klang jetzt bedeutend ruhiger, nicht mehr so aufgeregt und wütend wie noch vor ein paar Minuten. Carmen wirkte gelassener und ohne Emotionen. Sabine redete jetzt auch bedeutend feinfühliger mit ihr. Sie schien ihr offenbar ihren Bericht über die sonderbare Erscheinung zu glauben. Sabine war im Moment der einzige Mensch, den Carmen hatte, und mit dem sie über alle Probleme und Begebenheiten reden konnte.

Sie machten sich beide auf den Weg zu Carmens Wohnung. Zu Hause angelangt, erzählte Carmen noch mal, was sich im Kaufhaus genau zugetragen hatte. Diesmal hörte Sabine aufmerksam zu, unterbrach die Freundin nicht bei ihrer spannenden Schilderung. Carmen sah es an deren Reaktion, denn sie nickte zustimmend und mitfühlend. Irgendwann am späten Abend verabschiedete sich Sabine von Carmen, nachdem sie ihr hoch und heilig versicherte, alleine klarzukommen.

Als Sabine dann gegangen war, legte sich Carmen zu Bett und versuchte, Schlaf zu finden. Ein anstrengender und wirklich sehr unangenehmer Tag lag hinter ihr. Diese Erscheinung am Nachmittag nahm sie jetzt noch sehr mit und strapazierte ihre Nerven.

Carmen überlegte im Bett, wie dieses Phänomen überhaupt möglich gewesen war und woher es gekommen sein konnte. Warum hatte nur sie diese Gestalt gesehen? Bei der Vorstellung, ihr könnte Gleiches noch einmal geschehen, wurde Carmen angst und bange. Oder wurde sie doch nur verrückt, so wie es Heiko ergangen war? Eine schreckliche Vorstellung, an die sie nicht weiter denken wollte, die ihr Furcht einjagte. Heiko starb schließlich daran!

Vielleicht hatte Sabine ja Recht, ging es Carmen durch den Kopf. Womöglich bin ich nur überarbeitet und mit den Gedanken ganz woanders. Die erlittenen Qualen der vergangenen vier Wochen waren ja auch wirklich furchtbar. Mit diesen Überlegungen schlief Carmen ein.

*

Verwirrte Träume quälten Carmen die halbe Nacht. Es waren undefinierbare Bilder, die an ihr vorbeihuschten, dämonenhafte Fratzen, die sie hämisch angrinsten und erschreckten. Carmen wälzte sich unruhig und schweißgebadet von einer Seite zur anderen. Irgendwann mitten in der Nacht erwachte sie aus ihren Alpträumen und richtete sich zitternd auf. Die Dunkelheit beängstigte sie noch mehr. Schemenhafte Schatten an der Wand erschienen ihr wie Gestalten aus einer anderen Welt. Schweigend starrten sie Carmen an, schienen drohend und mit unsichtbaren Händen nach ihr greifen zu wollen. Voller Furcht schaltete sie die Nachttischlampe an. Der Spuk war mit einem Schlag vorbei. Dennoch machte ihr die unheimliche Stille Angst, bedrückte sie irgendwie. Von dieser Anspannung wollte sie sich unbedingt befreien.

Carmen schaute zur Uhr, es war schon kurz nach drei. Ein paar Stunden blieben ihr noch, ehe sie raus musste. Aber jetzt brauchte sie unbedingt einen Schluck Wasser. Carmen erhob sich und ging Richtung Küche, schaltete überall in der Wohnung die Lichter ein. Sie brauchte die Helligkeit um sich, was ihr ein Gefühl der Sicherheit gab und die größte Furcht nahm.

In der Küche goss Carmen ein halbvolles Glas Mineralwasser ein und trank es in einem Zug aus. Erfrischend lief es die Kehle runter. Nun fühlte sich Carmen bedeutend wohler. Dennoch blieb eine beklemmende Anspannung, ein Gefühl, beobachtet zu werden, das so stark auf Carmen einwirkte, dass sie glaubte, aus allen Ecken mit unsichtbaren Blicken angestarrt zu werden. Sie spürte tausend Augen von überallher nach ihr schielen und konnte sich nicht davon losreißen, wohin sie sich in der Wohnung auch wandte.

Diese bedrohlichen unsichtbaren Blicke jagten ihr noch mehr Angst ein. Sie hatte das Gefühl, jeden Moment von schlüpfrigen dürren Händen begrapscht zu werden, von schmierigen feuchtkalten Fingern. Manchmal glaubte sie sogar, die klebrigen Hände auf ihrer Haut zu spüren. Eine Gänsehaut zog ihren Rücken herunter. Carmen schüttelte sich angewidert. Aber es war nichts und niemand da, der ihr etwas hätte antun können.

Vielleicht jagte ihr ja diese Einsamkeit solche Furcht ein oder einfach nur der Verlust von Heiko, der eine Leere in ihrem Herzen auslöste. Womöglich aber war sie jetzt in diesem Moment von vielen unsichtbaren und ekelhaften Geistern umgeben, die sie mit ihren großen Augen anstarrten, irgendwo in der Wohnung umherschwebend.

Carmen war ins Wohnzimmer gegangen und hatte sich auf die Couch gesetzt, eine Zigarette rauchend und sich forschend umschauend. Diese unheimliche Stille wirkte erdrückend. Aber Carmen fand auch nicht den Mut, sich jetzt wieder ins Bett zu legen, es wäre nur noch schlimmer geworden.

Noch knapp vier Stunden hatte sie bis zum regulären Aufstehen. Carmen saß noch immer vor sich hinstarrend auf der Couch im Wohnzimmer. Die Ruhe der Nacht dröhnte in ihrem Kopf, raubte ihr den Schlaf. Sie spürte keinerlei Müdigkeit, war hellwach. Ob das nur an den Anstrengungen der letzten Wochen lag? Hatte sie der Tod von Heiko zu sehr mitgenommen? Jetzt sollte doch das Schlimmste überstanden sein, überlegte Carmen. Sie hatte in den letzten Tagen immer versucht, stark zu sein, hatte sich so gut wie nichts anmerken lassen, ihre Gedanken nach Möglichkeit auf andere Dinge konzentriert. Und sie hatte stets gedacht, so auch jetzt noch, die Situation gut in den Griff bekommen zu haben.

Aber Heikos Tod und die vielen Strapazen, der ganze Stress der letzten Wochen waren ihr wohl auf den Magen und aufs Gemüt geschlagen. Sie spürte schon seit einigen Tagen diese Schmerzen in ihrem Unterleib ... und jetzt spielte auch noch ihr Geist verrückt. Bei nächster Gelegenheit würde sie unbedingt zum Arzt gehen, irgendwann in den nächsten Tagen. Die Gesundheit erschien ihr wichtiger als die alltäglichen Belastungen in der Firma. Sie spürte, dass mit ihr etwas nicht stimmte.

Das Böse wartet schon

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