Читать книгу EXPAT UNPLUGGED - Horst Giesler - Страница 4

Die Familie Zimmermann-Piero – Gelebte Völkerverständigung

Оглавление

Eigentlich hätte ich es ahnen können, dass wieder etwas in der Luft lag. Das gelbe Ronaldinho-Trikot der brasilianischen Nationalmannschaft, das mir Papa damals mitten im Januar schenkte, passte so gar nicht in unseren familiären Geschenkerhythmus (Geburtstage, Weihnachten, Besuche bei Omas und Opas). Gewohnt war ich, dass ich im Juni zum Geburtstag immer die neueste Ausgabe des Trikots der Italiener bekam, was besonders in Jahren einer Fußballweltmeisterschaft oder Europameisterschaft immer gut kam. Naja, jedenfalls solange bis die deutsch-italienische Freundschaft in den meisten Turnieren am Ende oft einem harten Test unterzogen wurde.

Aber Januar, Brasilien … Obacht!

Knapp zwei Wochen später war klar, woher der Wind wehte. Nach dem Abendessen und Papas tiramisu alla paesana zum Nachtisch füllte der Chefkoch der Familie zwei Riedel-Weingläser mit seinem Lieblings-Roten Tignanello, bat mich und meine Schwester Chiara an den Küchentisch und verkündete geheimnisvoll, dass Mamma uns etwas mitteilen müsse.

Die Situation erinnerte mich stark an einen Abend ein paar Jahre früher, als uns unsere Mutter ebenfalls mit ein paar Neuigkeiten überraschte. Damals hatte sie und angeblich auch Papa entschieden, dass wir ab sofort ohne eigenes Auto auskommen würden und versuchte anschließend mit einer ihrer sehnsüchtigen Ökopredigten Chiara und mich von den Vorteilen dieser Wahnsinnsidee zu überzeugen.

Es musste also wieder etwas Großes im Anflug sein.

Im Gegensatz zu Papa redet unsere Erzeugerin nicht lange um den heißen Brei herum sondern lässt die Katze immer gleich aus dem Sack. Auch diesmal war dies nicht unbedingt ein Vorteil.

"Die Würfel sind gefallen. Im Juli werde ich eine neue Aufgabe in Rio de Janeiro antreten.” Und nach einer kleinen Pause: "Ihr wisst, was dies bedeutet.”

Chiara musste nur kurz überlegen, dann hatte sie die passende Antwort parat. Wie von einer Tarantel gestochen sprang sie von ihrem Stuhl auf, stemmte beide Hände auf die Tischplatte und schmetterte ihrer erschrockenen Mutter zornroten Gesichts ein resolutes und schnörkelloses "OHNE MICH!” entgegen. Sie machte eine rosa Kaugummiblase, ließ sie lautstark zerplatzen, schnitt ihre berühmte Ihr-könnt-mich-mal-Grimasse und verließ fluchtartig den Raum.

Was für ein Abgang.

Die Szene war filmreif.

Papa schaute seine bessere Hälfte an, als wolle er sagen: Prost Mahlzeit! Das hast du ja toll hingekriegt, Frau Doktor.

Während unser kleiner Quälgeist mit dem pubertätsgebeutelten Hormonhaushalt anscheinend genau wusste, was Mamas Worte bedeuteten, schnackelte ich mit meinen knapp dreizehneinhalb Jahren damals zunächst gar nichts.

Mama verdrehte die Augen, holte tief Luft, als habe sie einen längeren Tauchgang vor sich, nahm ihr Glas, flüsterte ihrem Gatten ein vertrautes "Ich wusste es” zu und folgte unserer Drama-Queen auf ihr Zimmer. Eigentlich völlig überflüssig, denn Chiaras Aussage ließ wieder einmal keinen Spielraum für Diskussionen. Diese Gabe hatte sie von ihrer Mutter.

Papa fixierte kurz die Weinflasche, goss sich nach und nutzte die unverhoffte Zweisamkeit für ein Männergespräch. Dabei erfuhr ich unter anderem, dass die Millionenmetropole Rio de Janeiro an der brasilianischen Atlantikküste liegt und dass der Umzug dorthin genau zum richtigen Zeitpunkt meiner Fußballerkarriere käme. Schließlich wollte ich ja Profifußballer werden, oder etwa nicht? Und ob ich wollte. Dieser Gedanke beruhigte ihn ungemein. Aus dieser Ecke drohte vorerst keine Gefahr.

Der stolze Unterton in Papas Stimme war nicht zu überhören, als er die Liebhaberin italienischen Rotweins nach ihrer Rückkehr mit einem "Hier ist allet va bene” etwas aufzuheitern versuchte.

Sie setzte den Zeigefinger an die Lippen, schüttelte leicht den Kopf und ließ sich auf das weiße Rolf-Benz-Sofa fallen.

Das Frauengespräch war offensichtlich nicht so erfolgreich verlaufen. Mamas Dackelblick war jedenfalls keinerlei Erleichterung anzusehen.

Die Stimmung war im Keller. Kein gutes Brasilien-Omen.

Unser italienischer Romantiker tat, was er bei derartigen familieninternen Herausforderungen immer tut: Deckenstrahler runterdimmen, mit einer Spaghetti zwei Kerzen anzünden, due amaretti e Eros Ramazotti. Sein Griff in die musikalische Hausapotheke wirkte sofort. Unsere Seelsorgerin für jede Lebenslage schloss die Augen, fuhr die Stresshormone im Körper runter und die miese Laune verschwand aus ihrem Gesicht. Die Musik und Papas Candlelight-Nummer machten sie sofort ruhiger. Salute!

In den nächsten Tagen und Wochen erfuhr ich so einiges über unseren häuslichen Plagegeist und auch über ihre mangelnde Begeisterung für Mamas "Traumstandort Rio”.

Chiara, und das war anscheinend das Grundübel für den ganzen Zinnober und ihre frühreife Antihaltung, hatte seit zwei Monaten einen neuen Freund. Ein Umzug würde, und da machte sie sich keinerlei Illusionen, für erheblichen Herzschmerz sorgen und das Ende der Teenie-Romanze mit Paul bedeuten. Die Tatsache, dass bereits jetzt diese "zwei Tussen” aus der Parallelklasse ein Auge auf ihren Loverboy geworfen hatten, machte die Geschichte nicht einfacher. Chiaras Herzensangelegenheiten sind heute noch verzwickt.

Es gab noch eine Reihe anderer Gründe, warum sich bei der bockigen Kratzbürste, der jegliche weibliche Zaghaftigkeit fremd ist, keine richtige Begeisterung einstellen wollte. Diesmal brachte es Papa auf den Punkt:

"Pubertät beginnt im Kopf! Deine Schwester ist in einem sehr schwierigen Alter und wir müssen jetzt alle etwas Rücksicht auf sie nehmen”.

Ach, nee! Die Arme. Vielen Dank auch für den Hinweis.

Papas aufmüpfiger Liebling mit der zerwühlten Wuschelmähne und dem frühreifen Teenagerhirn war ein Jahr älter als ich und wir kamen eigentlich ganz gut miteinander aus. Aber auch ich hatte bemerkt, dass in letzter Zeit andere Sachen wichtiger für sie waren. Früher hatte sie mir immer bereitwillig bei den Hausaufgaben geholfen und auch am Piano hatte sie sich immer sehr viel Mühe mit mir gegeben. Jetzt traute ich mich kaum noch zu fragen, zu unberechenbar und pampig waren ihre Antworten. Sie schien in letzter Zeit viel nachzudenken, vor allem über sich.

Wie sich später herausstellte, war ihr hollywoodreifer Auftritt Anfang Februar lediglich der Auftakt für ein weiteres Jahr im Zeichen der Terrorzicke. Da konnte Konfuzius einpacken, wenn uns meine Schwester mit ihren Pubertätsweisheiten beglückte.

Die Stimmung blieb angespannt bis zu unserer Abreise Ende Juni. Chiara, wegen ihrer flotten Sprüche und feinen Einzeiler nicht nur in den heimischen vier Wänden gefürchtet, drückte noch einige Male voll auf die Tränendrüsen und erreichte dabei ohne Probleme in gefühlter Überschallgeschwindigkeit ihre volle Schmollstärke. In Erinnerung ist mir der Boykott des Trotzköpfchens beim Packen des Containers geblieben. Unser patziges Madamchen weigerte sich auch nur einen Finger zu rühren – "Den Teufel werd ich tun!" – weshalb unser Erzeugerduo in einer Nacht und Nebelaktion, Chiara war ausgebüxt und verarbeitete zu nächtlicher Stunde ihren Trennungsschmerz bei Paul, ihr ganzes Zimmer in Umzugskartons verpackten.

Leider war ich bei Chiaras Rückkehr nicht zu Hause. Aber von allem, was ich mitbekam, war unser frühreifes Zornröschen, dessen Zunge wie ein Samuraischwert zuschlagen kann, mit ihren poetischen Stilblüten wohl zur Höchstform aufgelaufen und hatte sich gegenüber unseren Eltern nicht nur im Ton sondern auch in der Wortwahl mächtig vergriffen. Es muss ordentlich gerummst haben.

Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass unsere Little Miss Bossy mit ihrer ungebrochenen Provokationslust über ein ganz erstaunliches Repertoire an deutschen, italienischen und englischen Fachbegriffen verfügt, die eher aus der unteren Schublade stammen. Diesmal war ihre verbale Meuterei auch unserem Niedrigpulsvater mit der mediterranen Toleranzkultur zu viel gewesen und die todunglückliche Anarcho-Göre wurde mit einen seiner "Belohnungen” (außer Papa fand das niemand lustig) ausgezeichnet. In der Sprache Goethes und Schillers heißt das: Eine Woche Hausarrest, Taschengeldentzug einschließlich völligen Verzichts auf die multimedialen Begleiter iPod, iPhone und iLiner.

Die Wochen und Monate vor und nach unserem Umzug nach Rio waren irgendwie typisch für unsere Familie. Eine gewisse Unruhe und latente Aufgeregtheit lagen ständig wie ein langer Schatten über der Familienidylle, wo immer wir uns auch gerade aufhielten.

Als Kinder hatten wir das lange nicht wahrgenommen. Aber mit zunehmendem Alter, und Chiaras dicke Lippe und Psychoterror vor unserem Umzug nach Brasilien stehen dafür stellvertretend, stellten wir uns immer häufiger die Frage: Wie lange sind wir noch hier? Wann heißt es wieder Zelte abbrechen und was kommt als Nächstes? Wann drückt wieder jemand auf die Game-over-Taste?

Fragen, die kein Mensch braucht, erst recht kein Teenager.

Schuld an diesem Reizklima und ständigen Countdown-Stimmung war unsere Mutter, oder besser gesagt ihr Beruf im Auswärtigen Dienst der Bundesrepublik Deutschland. "Frau Dr. Dagmar Zimmermann-Piero – Leiterin Kulturabteilung” so oder so ähnlich stand es für ein paar Jahre auf ihrer schmucken Visitenkarte.

Dabei, so erzählte sie es jedenfalls, war sie eher zufällig beim "Amt” gelandet. Nach ihrem Abitur, für das sie trotz NATO-Doppelbeschluss, Wackersdorf, Startbahn West und Waldsterben noch Zeit gefunden hatte und welches ihren alten Herrn kurz an seiner Vaterschaft hatte zweifeln lassen, hatte sie in Gießen Tiermedizin studiert und auch eine kurze Zeit als Tierärztin gearbeitet.

Opa, er plaudert heute noch gerne und oft aus dem Nähkästchen, erzählte später immer wieder, dass Black Beauty, das Pony vom Nachbarn, entscheidend für Mamas Studienwahl gewesen sei. Angeblich verbrachte sie als Schülerin jede freie Minute mit Blacky und erzählte bereits als Zwölfjährige jedem, dass sie Tierärztin werden wollte.

Opa Herbert hatte bis zum Schluss gehofft, dass sie in seine Fußstapfen treten würde und sich für ein Lehramtsstudium entscheiden würde. Nicht nur, weil damit die große Lehrertradition der Familie Zimmermann hätte fortgeschrieben werden können. Für Opa war es vermutlich noch wichtiger, dass sein Spross damit auch Beamtin werden konnte. Das Berufsbeamtentum ist für ihn so etwas wie die höchste irdische Weihe, die die Republik zu vergeben hat und für seine Tochter konnte er sich das richtig gut vorstellen.

Aber Mama war hart geblieben und hatte ihr Ding gemacht. Daher war die Aufgabe des Berufs als Tierärztin auch so etwas wie eine kleine Schlappe Opa gegenüber und der Schritt ist ihr wohl auch deshalb nicht leicht gefallen.

Irgendwann hatte sie dann keinen Bock mehr auf armlange Latexhandschuhe und unzählige Bereitschaften und Wochenenddienste. Von einer ehemaligen Freundin aus gemeinsamen Tagen im Studentenwohnheim hatte sie vom Auswärtigen Dienst erfahren und sich wohl auch aus einem Stück Verzweiflung heraus dort beworben.

Ihr großer Pluspunkt waren eindeutig ihre Fremdsprachenkenntnisse. Neben Englisch und Französisch war sie auch in Schwedisch und Portugiesisch nahezu perfekt. Ja, und natürlich Italienisch.

Laut Oma Gisela sind ihr die Sprachen früher "nur so zugeflogen” und noch heute erzählt sie auf Familienfesten stolz davon, wie die Tochter in jedem Urlaub nach wenigen Tagen zur perfekten Dolmetscherin mutierte.

Für den Vater mit den Spezialinstinkten war der Berufswechsel seiner Tochter die verspätete Krönung seiner Erziehungsarbeit. Der Spross aus der oberhessischen Beamtendynastie war jetzt nicht nur Staatsdienerin sondern konnte auch Besoldungsstufen erreichen, von denen er nur hatte träumen können. Stolz wie Oskar erzählte er damals jedem, der es wissen wollte und natürlich auch allen, die es nicht wissen wollten, wie hart das Auswahlverfahren gewesen sei und dass nur die top fünf Prozent und, und … Er sorgte auch dafür, dass bei jedem noch so untauglichen Anlass die gesamte Sippschaft und sein riesiger Bekanntenkreis über die berufliche Laufbahn der Kronprinzessin "upgedatet" wurden.

Mutter und Tochter hatten mehrfach versucht, den Tyrannosaurus Rex davon zu überzeugen, "nicht so auf die Pauke zu hauen”, zumal einige Sachen auch einfach nicht zutrafen. Ihr Wunsch war so verständlich wie aussichtslos. Sehr wahrscheinlich hatten sie jedoch selbst nicht daran geglaubt, dass der Mann mit dem Sieger-Gen sich davon beeindrucken lassen würde. Ein Mangel an Wissen hält ihn auch heute noch nicht davon ab, Meinungen als Fakten auszugeben. Zu seinen Stärken gehörte zweifelslos auch anderen zu erklären, was sie alles falsch machen.

Laut Oma fehlt es dem Sprüchemacher, der sich immer sehr stark für die eigene Meinungsfreiheit einsetzt, in solchen Momenten ein bisschen an intellektueller Beweglichkeit und Elastizität.

"Nicht alle Latten am Zaun!"

Wie dem auch sei, in den Augen des VB-Buddhas war die Tochter jetzt eine richtig große Nummer und es zählte zu den Aufgaben des meinungsstarken Seniors, dies in unregelmäßigen Abständen bei passender und unpassender Gelegenheit immer wieder einmal an die große Glocke zu hängen.

Noch während Mamas Zeit im Studentenwohnheim hatte es für sie einen anderen "live changing moment" gegeben (O-Ton Opa Herbert). Natürlich ist auch der Spiritus Rector der Zimmermann-Horde mehrsprachig. Nicht ganz so flüssig wie seine Tochter aber nach ein paar Kümmel und Korn meistert er Sprachbarrieren, die Minuten vorher noch als unüberwindbar galten.

Im Nachbarflur hatte sich ein Italiener für ein Semester einquartiert. Ihre Freundin hatte sie gebeten doch einmal rüber zu kommen und etwas zu dolmetschen. Es würde sich lohnen. Ja, und das hat es sich dann auch an jenem schicksalshaften Tag.

Der Architekturstudent aus Pisa, Giuliano Piero, der so überraschend in ihr Leben getreten war, hängte noch spontan zwei "Forschungssemester” dran, wurde von Opa Herbert auf der Stelle zu seinem neuen Lieblingsitaliener befördert und hätte sich dem, was danach noch alles kommen sollte, wahrscheinlich nur noch durch Selbstmord entziehen können.

Das junge Glück mit den Schmetterlingen und sprühenden Funken wurde jedoch für ein gutes Jahr noch einmal auf eine harte Probe gestellt. Papa flüsterte "Arrivederci" und bretterte mit seiner Sardinenbüchse zurück in den Stiefelstaat, um sein Studium zu beenden. Bei dieser Entscheidung hatten nonna Emilia und nonno Dino etwas nachgeholfen. Die Tatsache, dass das Dorfkind damals schon schwanger mit Chiara war, machte die Sache nicht einfacher. Im Schatten des Pisaer Wahrzeichens überraschte der Italiener die Frau mit dem legendenumwobenen VB-Autokennzeichen mit der Frage aller Fragen und Holter-die-Polter wurden noch die Ringe getauscht.

Herbert "Hannibal” Zimmermann führte den Konvoi aus einem Reisebus und etlichen Pkws sicher über die Alpen und muss auch in seiner Rede während der Hochzeit wieder intuitiv die richtigen Worte gefunden haben. Obwohl ich unsere Großfamilie als überdurchschnittlich kommunikativ bezeichnen würde, ist es mir bis heute nicht gelungen, etwas Näheres über Opas Auftritt zu erfahren. Auch er selbst reagierte auf meine Nachfragen ungewöhnlich zurückhaltend und nuschelte sich kleinlaut etwas von ”Alles Kokolores … sollen sich nicht so anstellen … und konnte auch nicht wissen, dass der Traubensaft so rein haut …” in die Spaghetti.

Das Einzige, was durchsickerte war, dass der mündige Senior wohl wieder versucht hatte, seinen uralten Sätzen ein Zeitgeist-Mäntelein überzustülpen, und bei dem Vorhaben, dabei soll es um Architekten und Pisa gegangen sein, die Pointe sensationell vergeigte. Einzig sein Bruder Leo hätte für einen kleinen Moment laut gelacht und mit der flachen Hand auf den Tisch gehämmert. Aber auch nur bis er den Ellbogen von Tante Beate in seinem Brustkorb spürte. Ansonsten Totenstille.

Ich kann mir die Situation lebhaft vorstellen, denn die mit reichlich viel schlüpfrigem Altherrenhumor ausgestatteten Witze und Schüttelreime der selbst ernannten Spaßgranate sind heute noch Glückssache. Da gibt es gute und, naja, nicht so gute.

Hatte unser Familiensprachrohr während der Hochzeit ordentlich auf die Pauke gehauen, war es unsere tief im protestantischen Glauben verwurzelte Muster-Oma Gisela gewesen, die den Hochzeitsvorbereitungen ihren Stempel aufgedrückt hatte.

Als ein wahres Problem hatten sich die unterschiedlichen Konfessionen der Brautleute erwiesen. In dem Glaubenskrieg wurde mit harten Bandagen gekämpft und es ging so weit, dass die oberhessische Familienhirtin, die Seele des Zimmermann-Clans und eigentlich ein engelsguter und besinnlicher Mensch, damit drohte, der Verehelichung fernzubleiben. Der Haussegen war gewaltig in Schieflage geraten. Es war offensichtlich, dass i sposi diese Geschichte gnadenlos unterschätzt hatten.

Das durch und durch irdische Problem konnte erst auf einem Gipfeltreffen ausgeräumt werden. Dazu hatten Schwiegertochter und Schwiegersohn ihre Eltern zu einer interreligiösen Familiensynode nach München eingeladen. Mit langen Spaziergängen und reichlich Likörchen sowie vino rosso e campari gelang es tatsächlich, den katholischen Flügel mit dem protestantischen auszusöhnen.

Was damals als der große Wurf gefeiert wurde, sollte die Familie Zimmermann-Piero in den kommenden Jahren wie einen Fluch verfolgen. Die Tatsache, dass Chiara katholisch getauft wurde und ich später als Ministrant bei den Protestanten eine bescheidene Kirchenkarriere durchlief, brachte uns an allen Wohnorten immer wieder in Situationen, die die gelebte Ökumene in der Familie auf harte Proben stellte. Das hatten sich die geistigen Familien-Oberhäupter damals sicher anders vorgestellt und Gottes Wille war es ganz bestimmt auch nicht.

Unmittelbar vor der Eheschließung hatte es noch große Aufregung wegen Papas Junggesellenabschied gegeben. Von Opa Herbert erfuhr ich nur so viel, dass es Papa mit seinen amici architetti noch einmal "richtig hat krachen lassen” und dass die Veranstaltung einen "eher suboptimalen Ausgang” genommen hatte. Schließlich sei er es gewesen, der mit dem Verweis auf seine bewegte Jugend die Wogen wieder hatte glätten können.

Während er von allen Seiten hohe Anerkennung für seine erfolgreiche Vermittlung erfuhr, musste sich Oma Gisela, die ihr Herz auf der Zunge trägt, "schwer bremsen und höllisch aufpassen”, ihre Fassung nicht noch am Hochzeitstag zu verlieren. Dafür nahm sie den Stockfelder aus Leidenschaft auf der Rückfahrt im Bus ordentlich ins Gebet und machte ihm die Hölle heiß. Den einen oder andern Schwank aus seiner Jugend durfte er ihr dann noch etwas detaillierter schildern. Noch heute erzählt ihr Langzeit-Partner, dass die Rückfahrt im Gegensatz zur Hinfahrt ewig gedauert habe.

Nach Hochzeit und Flitterwochen ging es wieder zurück in die Metropole Mittelhessens. Mit Mamas Wechsel zum Amt endete dann kurze Zeit später die Phase Jung-verliebt-knapp-bei-Kasse. Das interkulturelle Familienensemble zog nach Bonn. Am Brandenburger Tor hingen noch Hammer und Sichel.

Nach dem Tapetenwechsel, der bereits mit Chiara stattfand, spielte Papa den Hausmann und es lief viel besser als alle Experten prophezeit hatten. Seinen Beruf schien er nicht wirklich zu vermissen. Dies hatte sicherlich auch mit seinen Hobbys zu tun, die ihn neben der Hausarbeit und der Kinderbetreuung voll auslasteten.

Zu seinen großen Leidenschaften zählten das Pianospielen, Kochen und natürlich Fußball. Ich erinnere mich an zahllose klassische Konzerte, zu denen sich die gesamte Familie rausputzte und Papa uns schon Tage vorher mit ständiger Beschallung in Stimmung brachte. Es war natürlich auch kein Zufall, dass Chiara und ich bereits im Vorschulalter mit dem Piano in Tuchfühlung kamen.

Seine Begeisterung fürs Kochen prädestinierte ihn für die Rolle des Hauswirtschaftlers und die Karrierefrau vergaß nie, ihn und seine Zaubereien zu loben, auch wenn es nur ein paar Spaghetti al vole waren. Wie er die Spaghetti nahm und sie wie Mikadostäbchen in das kochende Wasser fallen ließ, war eine Zeremonie. Es schmeckte nie langweilig.

Nicht ganz so einfach war es, seine Liebe zum Fußball mit unserem komplizierten Familienleben zu verbinden. Aber irgendwie schaffte er es immer, sich seine Freiräume zu schaffen. In welche Stadt wir auch immer gerade umgezogen waren, man konnte sich darauf verlassen, dass Papa ruck-zuck wusste, wo es die besten Pizzen in der Stadt gab, wo er seinen Corriere della Sera sowie die La Gazzetto dello Sport herbekam und dass er eine Squadra zum Kicken gefunden hatte.

Aber Fußball war für ihn mehr als Kicken. Es konnte schon einmal passieren, dass er den Hochzeitstag vergaß. Den 11 luglio zu vergessen, war dagegen ausgeschlossen. Egal auf welchen Wochentag der 11. Juli fiel und an welchem Ort wir gerade lebten, gegen 18.00 Uhr saß Papa mit einer Schar Tifosi vorm Fernseher und alle konnten sich darauf verlassen, dass eine riesen Schüssel seiner berühmten Cannelloni Ricotta e Spinaci mitten auf dem kleinen Wohnzimmertisch steht, zwei Flaschen Limoncello sowie zwei Kästen Bier im Kühlschrank zwischengelagert sind und die VHS-Kassette (später die DVD) mit der Aufschrift Madrid mondiale di calcio finale 1982 zum Anpfiff bereit liegt.

Angefeuert von der Stimme des Spielkommentators wurde in den nächsten Stunden gegessen, getrunken, palavert und unaufhörlich gestikuliert, so wie das nur Italiener können.

Ich mochte diese Abende.

Zoff, Baresi, Conti … es gab eine Zeit, da konnte (musste) ich alle Namen im Schlaf aufsagen. Ja, und dann war da noch der Spieler mit der Nummer 20. Hätte ich noch einen kleinen Bruder bekommen, hätte er sehr wahrscheinlich Paolo gehießen wie der italienische Fußballgott Paolo Rossi. Nicht nur dass Papa im Arbeitszimmer ein eingerahmtes Trikot mit Bild und Unterschrift des Turiners an der Wand hängen hatte, nein, auch zu jedem Training trug er ein frisch gebügeltes, azurblaues Trikot mit den Koordinaten des WM-Torschützenkönigs von 1982.

Einmal, ich glaube es war in Singapur, waren Opa Herbert und Oma Gisela zu Besuch und Papas Feiertag stand an. Der Schwiegervater, der kurz vorher beim Bundesliga-Gewinnspiel des Kicker unter die ersten Zwanzig gekommen war, fing schon frühmorgens damit an, den Italiener mit seinen fachmännischen Kommentaren aufzuziehen.

"Ist der Rummenigge hundert Prozent fit, läuft das Spiel anders, ganz anders” oder "… Schiedsrichter aus Brasilien, konnte ja nicht gut gehen …"

Obwohl die Familie Zimmermann-Piero immer wieder im Zentrum leidenschaftlicher fußballkultureller Debatten steht und die Emotionen oft allzu hoch gehen, ließ sich Papa nicht aus der Ruhe bringen. Das merkte sogar irgendwann das Unikat aus dem VB, das dann am Abend auch kein Problem damit hatte, während des Spiels die logistischen Aufgaben (Kühlschrank hin und zurück) für den asiatischen Ableger der Squadra azzurra zu übernehmen.

In der 2. Halbzeit als die Stimmung besser und besser wurde, baute der Familienmensch mehr und mehr ab. Es reichte aber noch zu einzelnen Forza Italia! und Salute! Zwischenrufen.

Nach dem 3 : 0 gab er sich ganz zahm und war bereit für die ultimative Tapferkeitsauszeichnung: Mit Filzstift und viel Liebe durfte ich ihm die Trikolore mit den drei senkrechten Streifen in Grün, Weiß und Rot auf Wangen und Stirn malen. Er hatte sein Pulver verschossen und war am Ende mit seinem Italienisch. Dies kam selten genug vor. Ich musste dem müden Krieger versprechen, niemandem in Stockfeld von diesem Bella Italia-Abend zu erzählen.

Papas Spitzname "Il Biondo” kommt von seiner für einen Italiener eher unüblichen Haarpracht. Ich erinnere mich noch, wie er schon früher einen kleinen Zopf trug und viel Arbeit und Zeit in seine Haarpflege steckte. Mama dagegen ist pechschwarz und wirkt heute noch auf den ersten Blick viel italienischer als ihr Gatte.

Ähnlich wie Papa in Stockfeld war Mamma in Pisa mit offenen Armen in die Familie aufgenommen worden. Nonna Emilia und ihre beiden Töchter hatten schnell festgestellt, dass la dottoressa, trotz falscher Konfession, die Richtige für il suo piccolo principe Giuliano war, dessen Abnabelungsprozess sich etwas in die Länge gezogen hatte.

Denn obwohl schon Ende 20 wohnte das italienische Nesthäkchen mit der Schwäche für südländische Haut Couture immer noch ganz offensiv zu Hause und so stand Mama während ihrer ersten Besuche unter ständiger Beobachtung. Nonna Emilia richtete ihr auch immer ein eigenes Zimmer für die Übernachtungen.

Ihre Mutter hatte bei dem ersten Besuch des Italieners in Stockfeld eine ähnliche Taktik eingeschlagen, allerdings ohne den gewünschten Erfolg. Mit der Feststellung "Wir sind hier nicht in Italien”, hatte ihre empörte Tochter, so erzählt es Oma, den Diskussionsprozess deutlich abgekürzt und gleichzeitig dafür gesorgt, dass sie sich auch auf diesem Gebiet keinerlei Illusionen mehr hingeben musste.

Auch meiner Schwester und mir war schon früh aufgefallen, dass in Pisa die Uhren etwas anders tickten als in Stockfeld.

Nonno Dino hatte eine kleine Schreinerwerkstatt und war eigentlich den ganzen Tag nicht zu sehen. In der Wohnung, die direkt neben der Werkstatt lag, duftete es von früh bis spät nach Holzleim und Sägespänen.

Chiara und ich verbrachten unsere Ferien oft entweder im Vorderen Vogelsberg oder in Pisa. Nicht selten waren wir in den Ferien auch an beiden Orten. Ein Leben zwischen Kartoffelsalat und Spaghetti. Egal wo wir uns aufhielten, wir konnten uns darauf verlassen, dass Großeltern, Tanten, Onkels, Cousins und Cousinen wieder ein riesen Programm für uns auf die Beine gestellt hatten und immer etwas los war.

Später als wir selber entscheiden konnten, zog es Chiara dann mehr in das Land, "wo die Zitronen blühn" (genau, der Frankfurter Bub Johann Wolfgang von G. wusste das schon) während ich eher zum hessischen Jodwede tendierte.

Trotz aller Unterschiede in den beiden Familien, eines ist gleich. Sowohl bei Oma Gisela als auch bei nonna Emilia laufen alle Fäden zusammen. Mit ihrer genügsamen Philosophie von Bescheidenheit, Großzügigkeit und gesundem Menschenverstand geben die beiden Galionsfiguren heute noch den Rhythmus vor und drücken den Sippen ihren großmütterlichen Stempel auf.

Meine Präferenz für Stockfeld hatte weniger mit meiner Konfession zu tun. Eher schon etwas mit meinem Cousin. Roland war ähnlich fußballverrückt wie ich und zusammen mit seinen Freunden, die nach und nach auch meine wurden, waren wir während meiner Ferienaufenthalte von morgens bis abends auf Achse und eiferten unseren großen Vorbildern nach.

Auch später, als das Kicken nicht mehr ganz so wichtig war, wurde es uns beim Ausleben unserer pubertären Fantasien nie wirklich langweilig. Unvergessen bleiben die ersten Foxtrottschritte und die guten Nacktgeschichten im Freibad, zu denen wir uns immer die Nachwuchs-Nixen vom Campingplatz einluden. Auch der Besuch zahlreicher Discoabende bei Feuerwehr-, Sport- oder Heimatfesten, auf denen es heckehoch herging, lehrte mich so manches, das ich nicht missen möchte.

Stockfeld, das globale Megadorf im Herzen Europas, das hieß damals und heißt zum Teil heute noch: Opas gut gemeinte und pädagogisch besonders wertvolle Einführungen in das geheimnisvolle Eigenleben seines uralten Rechenschiebers; die hanebüchenden und markdurchdringenden Räuberpistolen und Ammenmärchen des Universalgelehrten von einer Epoche, in der noch Briefe geschrieben wurden, in jedem Kinderzimmer Sparschweine gefüttert wurden, Telefone eine Schnur hatten und es im Fernsehen nur drei Programme gab; Videoabende mit Indiana Jones auf der Suche nach dem heiligen Gral oder Weltraumschlachten in Star Wars Krieg der Sterne; Zwiebelkuchen und der Kampf mit Hefeteig und Tränen; Ahle Wurscht; All-you-can-eat Kartoffelsalat – Bratkartoffeln – Pellkartoffeln – Salzkartoffeln – Kartoffelklöse – Kartoffelpuffer – Kartoffelsuppe; Omas ethisch korrekte Frikadellen im Biobrötchen und ihre verzweifelten HEERBÄÄÄRT!-Rufe; schweißtreibender Dreireihentanz; Opas endlose Reden zur Lage der Nation; Heizen wie die gesenkte Sau und mit vollem Karacho über die Feldwege mit Opas "Rot-Renner" Lanz Bulldog, Baujahr 1939 und unglaublichen 45 Pferdestärken unter der Blechhaube; mein erster Geschwindigkeitsrausch mit Omas E-Bike; Fassonschnitt für fünf Euro beim Dorf-Figaro; Wanderzwang, Pilze sammeln und Vogelexkursionen ins Feldlerchengebiet mit Anorak, Thermoskanne, Kolder und Yorkshire-Fiffi Schröder, einer Kreuzung aus Haustier und Tamagotchi; Trimm-dich-Pfad-Joggen und epische Schneeballschlachten im Jahrhundertschnee; erste tollkühne Fahrversuche im mit schwarz-rot-goldenen Außenspiegelpräservativen ausgestattendem Opa-Mobil; Rumgeballere mit dem Luftgewehr; Omas schwingender Zeigefinger, Maibowlerausch im Juli; Bierchen zischen im holzvertäfelten Hobbykeller …

Mama ahnte, dass bei dieser Form des generationenübergreifenden Know-how-Transfers wohl öfters nicht alles ganz koscher war. Aber Opa, mit seinem gesunden Seniorenverstand und seinen "Da muss man eben durch" und "Du musst nur wollen" Sprüchen schon immer am Puls der Zeit, gelang es jedes Mal sie wieder zu beruhigen. Am Telefon überhörte ich den Spiritus Rector des Zimmermann-Rudels öfters wie er von "oberhessischer Leitkultur" und "ganz anständigen Kerlen” sprach und er schließlich auch ein Auge auf mich habe.

"Alles in Erdnussbutter!"

Das war natürlich eine glatte Lüge. Wahrscheinlich waren es gerade seine Beschwichtigungen, die ihr am meisten Sorgen machten.

Die praktizierte Lebensweisheit des stolzen Oberhessen "Menschen ohne Dialekt sind arme Menschen" machte auch vor seinem Enkel nicht halt. Englisch, Französisch, Italienisch, später dann noch Portugiesisch und Spanisch, im beschaulichen Provinznest im hessischen Nirgendwo beeindruckte das kein Schwein. Dazu gehörte man erst, wenn man die Sprache der Eingeborenen sprach. Und so ist das heute noch.

Opa Herbert ist, und da kann ich mich der Diagnose meines Freundes Klaus nur anschließen, eine Granate. Und was für eine. So sieht der Koloss das auch selbst: "Ein Kind des Vulkans, gemeißelt aus Basalt”.

Er redet viel, wenn der Tag lang ist und in Stockfeld sind die Tage sehr lang.

Vor ein paar Jahren hatte ich mich mit dem harten Kern des FC Glasvoll Rangers und einem gemieteten Minibus zur Frankfurter Commerzbank Arena aufgemacht. Der Anlass war kein geringerer als il classico Germania – Italia. Natürlich hatte ich auch eine Karte für den Herbertinator, schließlich war es ja ein Heimspiel für ihn. Kurz vorher musste er jedoch noch absagen.

"Kurzschluss im Magen”.

Wahrscheinlich kämpfte das Vogelsberger Naturphänomen mit Cola und Salzbrezeln wieder einmal gegen seinen Durchfall.

Aber ich hatte ihm versprechen müssen mit der Truppe vor unserer Rückreise nach Berlin noch einmal in der mitteleuropäischen Erlebnisregion vorbeizuschauen.

"Kein Ding, oder?"

Kein Ding.

Bei den Jungs hielt sich die Begeisterung über den Abstecher in den idyllischen hessischen Sehnsuchtsort in sehr engen Grenzen. Statt Sachsenhausen und Kaiserstraße stand nun ricevimento dalla famiglia Zimmermann/Stockfeld auf dem Programmzettel.

"Hessisch Sibirien! Na herzlichen Glückwunsch auch Francesco!”

So richtig zu widersprechen traute sich dennoch niemand, da ich den Trip organisiert hatte und der Motor bei den Planungen gewesen war.

Trotz aller Terminengpässe reichte es am Tag nach dem Spiel doch noch zu einer kleinen Spritztour in die Frankfurter Altstadt. Meine ständigen Warnungen, dass die Stockfelder Trinkkultur auch noch einiges zu bieten hat und dort noch niemand verdurstet sei, stießen auf taube Ohren. Als wir uns am späten Nachmittag Richtung Norden aufmachten, war die Stimmung eigentlich schon am Siedepunkt und kaum noch zu toppen. Der Apfelwein hatte ganze Arbeit geleistet.

Mir war von Anfang an klar, dass der passionierte HR4-Hörer mit dem X-Faktor sich nicht lumpen lassen würde und mich und meine Kumpels nicht nur mit seinem selbst gemachten Apfelsaft beglücken würde.

Da ich den Minibus steuerte, eine Bedingung für den Boxenstopp in der ländlichen Enklave, kann ich mich auch heute noch sehr gut an die Stunden nach unserer Ankunft erinnern. Bereits während der Fahrt rief mich der Alleswisser, der seinen Spitznamen "Google" mit stolz trägt, ständig auf meinem Handy an und wollte genau über unseren aktuellen Standort informiert werden. Da ahnte ich noch nichts.

Doch das änderte sich schlagartig, als er mich bei einem seiner letzten Anrufe, wir hatten gerade die Autobahn verlassen und das Panorama der Mittelgebirgslandschaft lag vor uns, eher beiläufig fragte, ob er mir schon erzählt habe, dass auch Alessandro und Luigi bereits in Stockfeld seien und sie sich riesig freuen würden, mich, den piccolo italiano, nach so vielen Jahren wieder einmal zu sehen. Sie wären gestern auch beim Spiel gewesen und hätten sich spontan entschieden, noch einen kleinen Abstecher in das dolle Dorf im Vogelsberg zu machen.

Die Kombination Alessandro, Luigi, Opa und das Wörtchen "spontan” ließ mich für einen kleinen Moment zusammenzucken und mit den Handballen auf das Lenkrad schlagen. Hierzu muss man wissen, dass wann immer unser Großvater das Wort "spontan” in den Mund nimmt im Familien- und Bekanntenkreis alle Alarmanlagen schrillen.

Spontan ist eigentlich kaum etwas bei ihm. Mit spontan beschreibt er gewisse Zusammenhänge von Ereignissen, von denen er weiß, dass sie in seinem Umfeld sehr wahrscheinlich nicht mit der gleichen Begeisterung aufgenommen werden, wie er sich das wünschen würde. Spontan soll eine gewisse Schicksalshaftigkeit suggerieren, auf die er natürlich auch keinen Einfluss nehmen kann.

Unterschwellig ist damit die Aufforderung verbunden, Verständnis zu zeigen und ihn für die Konsequenzen seiner wunderlichen Einfälle nicht verantwortlich zu machen. Im Zweifel ist er, das große Kind, Opfer der anderen. Er, die ehrliche Haut, der Meister des Unberechenbaren, kann nichts dafür, wenn etwas schief geht.

Die inoffizielle Familienchronik der Zimmermanns ist voll mit haarsträubenden Schnellschüssen, überhaupt nicht lustigen Scherzeinlagen und originellen Gedankenexperimenten des sprühenden und quicklebendigen Seniors, die meistens irgendwie spontan und nicht selten in einem Moment der Übernachtung beginnen und dann sehr schnell nach hinten losgehen und einen eher suboptimalen Ausgang nehmen.

Ein Blick in meinen Rückspiegel reichte aus, um mir schlagartig bewusst zu machen, welches Potenzial sich den spontanen Schnapsideen und Hirngespinsten des rüstigen Basalt-Brockens an diesem Abend bot. Ich sollte nicht enttäuscht werden.

"Jibb Jummi Francesco!”

Herbert F. Zimmermann, den Franz lässt er vor allem bei Europa- und Weltmeisterschaften raushängen, war natürlich nicht nur mein Opa. Er war mehr, viel mehr. Was er sonst noch war, verstand ich erst an seinem 60. Geburtstag so richtig. Eine Feier wie beim Baumarkt-Jubiläum.

Das ganze Dorf war auf den Beinen. Die Sport-und Mehrzweckhalle und der dazugehörige Parkplatz dienten als riesige Partyzone, zu der auch zahlreiche Honoratioren von außerhalb ihren Weg gefunden hatten. Die Heerschar der Gratulanten wollte kein Ende nehmen.

Der inbrünstige Mettbrötchen-Esser war unter anderem seit fast 20 Jahren Vorsitzender des Turn- und Sportvereins. Nach seiner aktiven Karriere als Fußballer, Leichtathlet (100 Meter Bestzeit 11.2 Sekunden, handgestoppt und noch heute Vereinsrekord!) und Turner (mehrmaliger Gau- und einmaliger Hessenmeister) scheuchte er als Trainer die TSV-Kicker über die Waldwege des Vogelsberges, bis man ihn davon überzeugt hatte, nicht mehr die Hütchen aufzustellen sondern den Vereinsvorsitz beim oberhessischen Traditionsclub zu übernehmen. Natürlich zählte er auch im Musik- und Trachtenverein zu den unverzichtbaren Stützen. Im Kirchenchor trällerte und schmetterte er mit und warf sich mit seinem mächtigen Gesangsorgan ins hohe C wie kein anderer.

Auch der Heimat- und Kulturpflegeverein sowie der Kleintierzuchtverein hatten eine Delegation entsandt. Der kleine Hase, Herbert Castor-Rex vom Eselsberg, den der Jubilar als Geschenk überreicht bekam, zog später in Chiaras Kinderzimmer sämtliche Register und legte seinen adligen Charme überraschend schnell ab. Noch heute ist nicht ganz geklärt wie er über die Brüstung unseres Balkons klettern und anschließend verschwinden konnte. Chiara zeigte sich emotional nicht so stark betroffen, wie man das vielleicht hätte erwarten können. Ihre Trauerphase war jedenfalls auffällig kurz.

Die längste Laudatio an dem Jubeltag hielt ein Vertreter der Freien Wählergemeinschaft. Unser sprach- und wirkmächtiger Promi-Opa war lange Zeit als Fraktionsvorsitzender das Zugpferd der FWG im Gemeindeparlament gewesen und hatte sich mit hochgekrempelten Ärmeln in nahezu jede Debatte gestürzt. Als lokale Politgröße hatte er während dieser Zeit mit seiner erlebbaren Bürgernähe angeblich nicht nur einige bahnbrechende Akzente gesetzt sondern mit seinen bewundernswerten Eigenarten: Leidenschaft, Verantwortung und Augenmaß auch immer wieder und unermüdlich Mehrheiten organisiert.

"Herbert! Du hast dich um das Blühen deiner Heimatgemeinde verdient gemacht!"

Leider ging der Redner nicht näher auf Details ein.

Mindestens genauso viel Hingabe wie für seine Vereine und die Arbeit als Volkstribun im Gemeindeparlament zeigte der verdiente Alleskönner für seinen Beruf. Er war Lehrer, oder wie er immer sagte: Schulmeister. Die letzten fast 25 Jahre davon Schulleiter der Grund- und Hauptschule in … richtig geraten: Stockfeld.

In der Welt des Vogelsberger Eigengewächs gibt es auch heute noch nur zwei Arten von Menschen. Schwätzer und Macher! Und jeder weiß, zu welchem Stamm er gehört. Kein verklemmter Stubenhocker oder orientierungsloser Mitläufer. Auch die Reservebank ist sein Platz nicht. Er greift lieber aktiv ins Geschehen ein und mischt mitten auf dem Spielfeld mit. Wenn nötig im Alleingang, und immer weit vorn.

Der VB-Dynamo, in und um Stockfeld auch unter seinem Decknamen, Hans Dampf, bekannt, war und ist auch heute noch eine Institution in der hessischen Einöde. Es gibt niemanden im Dorf, der nicht irgendeine Geschichte über den Allrounder erzählen kann.

Sobald ich bei meinen früheren Besuchen als vom "Zimmermänne senne Kleene de Klei” identifiziert worden war, musste ich mir von meinem Gegenüber, ob ich wollte oder nicht, Opa-glaubst-du-nicht-Geschichten anhören. Nicht immer Heldengeschichten.

Da es meist die gleichen Schwänke waren, vergaß ich auch schon einmal, dabei ein freundliches und interessiertes Gesicht zu machen.

Dennoch war ich mir bereits früh meiner besonderen Verantwortung als Mitglied der dörflichen Royal Family bewusst und es gab auch durchaus gute Momente. Geholfen hat sicherlich auch, dass ich mit den meisten Ureinwohnern über drei bis fünf Ecken verwandt bin.

Stockfeld ohne Herbert Zimmermann ist wie England ohne die Queen, die deutsche Politik ohne Wolfgang Schäuble und die Bundesliga ohne Konferenzschaltung.

Um mit Voltaire zu sprechen: Wenn es Opa nicht gäbe, müsste man ihn erfinden.

Daran, dass es wirklich niemanden gibt, der in Stockfeld und Umgebung nicht die Familie Zimmermann kennt, hat auch Oma Gisela ihren Anteil. Die gebürtige Stockfelderin hat in über 30 Jahre als Hebamme den halben Vogelsberg abgenabelt und sich fast genauso lang als gewähltes Mitglied in die Arbeit des örtlichen Kirchenvorstandes eingebracht.

Doch zurück zu Alessandro und Luigi, zwei von Opas besten amici und was das Feiern anbelangte in ihren besten Zeiten eine Kreuzung aus ihrem italienischen Landsmann Silvio Berlusconi und Prinz Harry.

Zusammen mit noch zwei weiteren Landsmännern hatten sie Anfang der sechziger Jahre zu den ersten Gastarbeitern gezählt, die ganz in der Nähe von Stockfeld für ein größeres Bauunternehmen arbeiteten.

Opa hatte die beiden entdeckt als sie nach Feierabend auf dem Bolzplatz kickten.

Ohne ein Wort Italienisch zu können, hatte er es mit seiner unkonventionellen Herangehensweise und seiner beispiellosen kommunikativen Begabung geschafft, die beiden zu überreden, beim TSV mitzutrainieren und später auch in der A-Klasse um Punkte zu kämpfen. Schon damals war es erstaunlich, was so ein paar Fläschchen oberhessischer Getränkespezialitäten für die Völkerverständigung leisten können.

Am Ende der zweiten Saison feierte das ganze Dorf die Meisterschaft und campione Alessandro und eroe Luigi stiegen fortan zur regionalen Fußballprominenz auf.

Obwohl sie bessere Angebote von finanzstärkeren Vereinen vorliegen hatten, blieben sie ihrem Kumpel und dem TSV bis zu ihrer Rückkehr nach Italien treu.

Das lag vielleicht auch daran, dass unser Turbo-Opa alle 14 Tage mit seinem alten Opel Rekord nach Frankfurt zu Hertie gurkte, wo sie nicht nur italienische Waren einkaufen konnten, sondern sich auch mit Bekannten aus der alten Heimat trafen. Das war zumindest die offizielle Version. Unsere bibelfeste und weitsichtige VB-Oma vermutete da auch noch andere Aktivitäten, weshalb sie vor jeder Fahrt noch einmal mit funkelnden Augen intensiven und direkten Blickkontakt mit ihrem Gemahlen aufnahm.

Der passionierte Opel-Fahrer hatte auch dafür gesorgt, dass sie die alte Barracke (14 m², vier Mann, Etagenbetten, ein Tisch, vier Stühle) verlassen konnten und bei befreundeten Familien unterkamen. Als dann das neue Vereinshaus am Sportplatz fertig war, organisierte er auch schon einmal einen italienischen Pasta- und Filmabend. Don Camillo e l‘onorevole Peppone und die Gemüselasagne unserer eigentlich zur Kartoffelfraktion gehörenden Großmutter zählten zu den großen Favoriten.

Aber Alessandro und Luigi konnten nicht nur mit dem runden Leder gut umgehen. Ihr Spektrum reichte weit über die 100 Meter eines Fußballfeldes hinaus.

Oma Gisela erzählte immer wieder, wie die Italiener nicht nur der dörflichen Fußballmannschaft gut getan hatten. Auch außerhalb des Platzes müssen sie wohl öfters zur Höchstform aufgelaufen sein und den einen oder anderen Treffer gelandet haben.

Anfangs waren die dörflichen signorine noch sehr zurückhaltend, was ihren Umgang mit den Italienern anging. Doch das sollte sich schon bald ändern.

Die alljährlichen kulturellen Höhepunkte des Dorflebens wie Kirmes, Fasching und Vereinsfeste boten der amicizia italiana-tedesca eine willkommene Plattform. Laut Oma waren die hüftsteifen und große Töne spuckenden Dorfhelden spätestens gegen 23.00 Uhr so breit und fußlahm, dass sie sich kaum noch auf den Beinen halten, geschweige denn tanzen konnten. Dann schlug die große Stunde der Südeuropäer. Zunächst auf dem Parkett, später dann wohl auch anderswo.

Diese Form der Verschwisterung wurde jedoch nicht von allen begrüßt und es gab öfters böses Blut. Zum Glück verstanden die beiden kaum einen, der zum Teil unterirdischen und wenig zimperlichen Kommentare. Aber die hitzigen Wortgefechte zwischen "Itakern” und "Spaghettifressern” auf der einen Seite und crauti e wurstel auf der anderen Seite konnten schon etwas auf die Stimmung drücken. Es ging zur Sache und es wurde ganz bestimmt nicht mit Wattebäuschchen geschmissen.

Dabei gab es auch Situationen, die fast schon wieder lustig waren. Wenn Opa von seinen amici italiani spricht, vergisst er selten die sogenannte Panzergeschichte zu erwähnen. Dabei achtet die VB-Ikone jedoch immer darauf, dass Oma nicht in der Nähe ist. Sie findet die Geschichte offensichtlich nicht ganz so witzig.

Einige örtliche Weltkriegsveteranen hatten irgendwann zu fortgeschrittener Stunde den Versuch unternommen, Alessandro und Luigi Kalauer über italienische Panzer (anscheinend hatten diese einen Gang mehr: den Rückwärtsgang) zu erzählen.

Der starke oberhessische Dialekt und die vorherige Aufnahme von deutlich zu viel Hochprozentigem verhinderten allerdings, dass die Pointe zündete. Auch alle Versuche den Witz mit Gesten rückwärtslaufend und mit Panzergeräuschen untermalt, darzustellen, schlugen fehl.

Als dann einer der Komiker auch noch das Panzerrohr mit etwas zu einfachen Gesten darzustellen versuchte und beim Rückwärtslaufen zunächst die halbe Tanzfläche abräumte und anschließend die gesamte Bläserreihe der Tanzkapelle mit seiner Einlage außer Gefecht setzte, hatten die Italiener die Panzerschlacht, zumindest an diesem Abend gewonnen, ohne auch nur einen Schuss abgefeuert zu haben.

Natürlich konnten sich Alessandro und Luigi bei diesen Anekdoten ebenfalls feste auf die Oberschenkel klopfen. Derlei Geschichten gab es einige und das Vogelsberger Original macht es sich heute noch zu seiner Aufgabe, dafür zu sorgen, dass sie in unregelmäßigen Abständen immer mal wieder aufs Tablett kommen.

Auch wenn es manchmal knirschte und trotz aller germanischer und italo Machospielchen, am Sonntag auf dem Sportplatz war (fast) alles vergessen. Ein Doppelpack von Alessandro, ein Abstauber von Strafraumschreck Luigi und das ganze Dorf lag ihnen wieder eine Woche zu Füßen. Forza TSV!

Opa und Oma waren es auch, die das zarte Pflänzchen der amicizia italiana-tedesca schon früh auf eine neue Ebene gehoben hatten. Zusammen mit einigen Freunden hatten sie einen Verein gegründet, es gab ja auch so wenige in Stockfeld, dessen Ziel nicht nur "die Aufnahme und Pflege aufrichtiger deutsch-italienischer Freundschaftsbeziehungen” war. Auch die Sprache sollte laut Satzung erlernt und gepflegt werden sowie Kunst und Kultur bei den monatlichen Treffen vermittelt und ausgetauscht werden. So steht es heute noch auf der Hompepage.

So richtig Fahrt nahm die Geschichte aber erst auf, als der Bürgermeister von der Idee hatte begeistert werden können. Danach dauerte es nicht mehr lange und Stockfeld konnte sich die Verschwisterung mit Poggibonsi, dem Heimatort der beiden italienischen Spaßvögel in der Nähe von Siena, auf das Ortsschild drucken.

Es folgten Kochkurse, Weinseminare, Vorträge und Sprachkurse, Omas und Opas noch heute berühmter Lichtbildvortrag von ihrer Reise Milano – Roma – Napoli (angeblich hatte Opa ein paar Dias eingebaut, die vorher nicht mit seiner Gattin abgesprochen waren) und, und, und. Die lokale und überregionale Presse schwärmte von den Italienbummlern aus der Oase in der Kulturwüste Oberhessens und vom Dolce Vita al volcano.

Bis heute hat sich die Tradition gehalten, dass man sich abwechselnd jedes Jahr entweder in Italien oder im Vorderen Vogelsberg für ein langes Wochenende trifft und die Freundschaft hochleben lässt.

Mein Cousin Roland ist seit fast 2 Jahren der Präsident des Vereins und kann sich immer darauf verlassen, dass ihm Opa noch ein paar gut gemeinte Ratschläge mit auf den Weg gibt. Dabei wird auch öfters das eine oder andere Hühnchen gerupft. Nicht-los-lassen-können, auch so eine Alte-Männer Krankheit.

Allerdings hat Roland bereits den ultimativen Loyalitätsbeweis für sein Amt geliefert. Seit seinem 21. Lebensjahr ist er mit Isabella, einer entfernten Verwandten von Luigi, verheiratet und zusammen mit ihren beiden Töchtern gelten sie als das Musterbeispiel der gelebten Völkerverständigung.

Darüber freuten sich besonders unsere Eltern, denn damit hatten sie ihren Titel als deutsch-italienisches Glamourpaar endlich abgeben können. Zumindest in Stockfeld.

Ich hatte mich noch gewundert, dass am Sportplatz, der noch deutlich vor dem Ort liegt, sämtliche Parkplätze belegt waren, ohne auch nur einen Zuschauer erkennen zu können. Aber der Groschen fiel erst als ich am Ortseingang das über die Straße gespannte Banner mit der Aufschrift: "Poggibonsi – Stockfeld: 4 5 anni d‘amicizia italiana – tedesca" las und rechts und links am Straßenrand die Fußgänger Richtung Dorfmitte strömten.

"Hej, hier ist ja richtig wat los? Und det allet wejen uns. Det nenn ick ene Bejrüßung!”

Auch ohne das Banner gelesen zu haben, war meinen gut gelaunten Passagieren gleich aufgefallen, dass sich hier etwas abspielte, was aus dem dörflichen Alltagsrahmen fiel.

Es ging nur im Schritttempo voran und während meine Sportsfreunde das Fußvolk winkend aus dem Minibus grüßten, Sir Hape und Königin Beatrix wären stolz auf sie gewesen, versuchte ich Opa Herbert zu erreichen. Es dauerte etwas bis ich ihn am Handy hatte und er mir in bester Laune kurz mitteilte in welcher Garageneinfahrt ich den Minibus parken sollte. Seine Stimme konnte sein Grinsen nicht verbergen. Tatsächlich war an ein Weiterfahren wegen der Menschenmassen nicht mehr zu denken.

Noch während ich die Vollzähligkeit meiner Truppe überprüfte, fast alle hatten den Minibus fluchtartig verlassen und waren im Garten hinter dem Haus verschwunden, stand plötzlich meine kleine Nichte Maria mit einem strahlenden Lächeln vor mir. Bevor ich mich versah, hatte ich ein Schild mit der Aufschrift "Berlin gratuliert zum Jubiläum!" in der Hand und meine Jungs wedelten wie Schulkinder mit kleinen italienischen und deutschen Fähnchen. Maria führte uns Richtung Dorfmitte und ehe ich es realisiert hatte, waren wir ein fester Bestandteil des gerade beginnenden Festzugs.

Direkt hinter uns spielte der Spielmannszug aus Poggibonsi einen italienischen Marsch und mit lautem "links, zwo, drei, vier” marschierten die angeschlagenen Großstadtbengel in alter preußischer Tradition und sichtbarem Spaß ("det jlobt uns keener!”) einer unbekannten Zukunft entgegen.

Wir waren vielleicht fünf Minuten unterwegs, statt Marschmusik dröhnte mir der Schädel nun von einem italienischen Schlager, da hatte meine kleine Armada von gestandenen icke!-Schreiern bereits intensiven Kontakt mit der vor uns laufenden Brigade der Landfrauen aufgenommen und gemeinsam versuchte man die musikalischen Vorgaben in mehr oder weniger rhythmischen Bewegungen auf der Straße umzusetzen. Auch die nicht mehr ganz taufrischen Damen in ihrer aufgedonnerten Haarpracht hatten anscheinend ordentlich vorgeglüht und standen den Großstadtjungs in nichts nach. Um nicht ganz den Anschluss zu verlieren, gab ich schon bald meinen Widerstand auf und ließ mich ebenfalls von den vielleicht etwas zu auffällig geschminkten Dorfschönheiten im gesetzten Alter mit Getränken aus der Region verwöhnen.

Das Trinken gestaltete sich jedoch schwieriger als gedacht, denn fast ständig schlug mir jemand auf die Schulter und bedankte sich für die "riesen Überraschung”, die bereits zu diesem frühen Zeitpunkt zum absoluten Sahnehäubchen unserer Bildungsreise gekürt wurde. Meine Beteuerungen, von diesem Spektakel absolut nichts gewusst zu haben, sorgten lediglich für ein noch breiteres Grinsen auf den Gesichtern und mehr Schulterklopfen.

Weiter ging es durch die Gassen vorbei an feierlich geschmückten Fachwerkhäusern und ausgelassenen Menschenmassen. In der Dorfmitte, direkt gegenüber der Kirche, in der ich vor ungefähr zweieinhalb Jahrzehnten getauft worden war, hatte man eine kleine Tribüne aufgebaut, die den lokalen und regionalen Würdenträgern den besten Ausblick auf die vorbeiziehenden Legionen der Festzugsteilnehmer bot. Schon von Weitem sah ich den rätselhaften Patienten mit seiner Heino-Brille im Gesicht und der ferrariroten DEKRA-Mütze auf dem schütteren Haupthaar. Das blühende Leben und fit wie ein Fußballschuh. Magenprobleme, Flotter Otto und so? Keine Spur.

Eingerahmt von der regionalen Show- und Politprominenz brachte er in seinem gewohnt stilsicheren Rustikalschick aus brauner Cordhose und gestreiftem Tchibo-Polo-Shirt die Tribüne mit seinen waghalsigen Tanzeinlagen fast alleine zum Beben. Der Grobmotoriker machte seinem Zweitberuf als bekennender Euphoriker wieder einmal alle Ehre.

Auch er musste mich schon erkannt haben. In seinen Händen hielt der Pädagogen-Tornado plötzlich ein Sitzkissen großes Pappschild mit der Aufschrift: Stockfeld – Berlin: 1 – 0. Einige Schritte weiter konnte ich dann auch lesen, was unser Pfundsopa in etwas kleinerer Schrift darunter geschrieben hatte: "1:0 – H. Zimmermann, 1. Spielminute”. Sein amüsiertes 300 Watt-Grinsen mit seinen schneeweißen Beißerchen wurde mit jedem Schritt breiter. Das verhieß nichts Gutes.

Jetzt hatte mich auch Oma Gisela erkannt und eilte die Tribüne hinunter um mich zur Begrüßung fast zu erdrücken.

"Heiliger Bimbam! Menschenskinder! Das gibt es doch nicht!”, schrie sie, drückte mühsam ihre Tränen weg und griff sich an den Busen. Sie war völlig von den Socken.

Oma, die Haare zum Dutt gebunden, schien tatsächlich nichts von unserem Besuch zu wissen. Der Familiengroßfürst mit dem herben Charme hatte wieder einmal alle ausgedribbelt. In bester Boris Becker-Manier ballte der Kukident-Wonneproppen mit jungmännlichem Furor die Fäuste und krächzte mir ein "Ciao Bello!” entgegen.

Sein Triumph war perfekt.

Oma schien immer noch nicht zu verstehen. Dafür verstand ich umso besser. Ich stellte der Großmutter der Herzen noch kurz die im Stechschritt herumstolpernde Reisetruppe vor und nach zwei Kirschlikör von ihren Freundinnen den Landfrauen machte sie sich wieder auf die Tribüne zu ihrem Rumpelstilzchen, dessen fulminante Solo-Einlage auf ihren Höhepunkt zusteuerte.

So langsam dämmerte mir, dass es mit dem ursprünglichen Plan, der einen zwei bis dreistündigen Aufenthalt im Hause meiner Großeltern vorgesehen hatte, nichts mehr werden würde und schleunigst wieder einmal ein Plan B aus dem Hut gezaubert werden musste. Und dies hatte möglichst zügig zu erfolgen, da ich meine Schäflein im Festzelt sehr wahrscheinlich nicht mehr würde einfangen können. Da konnte ich mich auf empirische Werte bei ähnlichen Veranstaltungen verlassen.

Aber Opa wäre nicht Opa-Controletti, wenn er nicht auch hier schon einige spontane Planungen in die Wege geleitet hätte. Um es kurz zu machen: Der Multitasker war wieder einmal auf Zack und hatte seinen gefliesten fast hundert Quadratmeter großen Fünf-Sterne-Garagenpalast mit integriertem Werkstattzentrum seit langer Zeit wieder einmal ausgemistet und mithilfe der örtlichen Reservistengruppe zu einem Biwak ausgebaut. Feldbetten, Matratzen, Kopfkissen, Decken, zwei Flaschen grappa di prossecco, einen Kasten Export, eine Kiste Sprudelwasser … der Delegator hatte wieder einmal an alles gedacht. VB-Präzisionsarbeit.

Es gab noch einige hastige Anrufe meiner Schützlinge nach Berlin, um unsere Verspätung bereits präventiv anzukündigen. Auch hier hatten einige bereits harte empirische Fakten gesammelt, die einen solchen Schritt als äußerst ratsam erscheinen ließen. Dank Feiertag und Brückentag musste auch niemand sein Veto für den verlängerten Boxenstopp in der oberhessischen Kulturmetropole einlegen. Spätestens da wusste ich, es war die richtige Entscheidung, diesem Ort früherer Prägung wieder einmal einen Besuch abgestattet zu haben.

"Ausjerechnet Schnellinger."

Klaus kurze, noch mit zusammen gekniffenen Augen geflüsterte Begrüßung am Morgen danach gab mir einen ersten zarten Hinweis darauf, wie sich der vorhergehende Abend entfaltet hatte. Offensichtlich kein Honigschlecken. Da ich relativ frühzeitig von meinem nicht gerade kleinen Verwandten- und Bekanntenkreis in Beschlag genommen worden war, hatte ich das Treiben der "Ehrendelegation aus Berlin” (O-Ton beim Einmarsch ins Festzelt) etwas aus den Augen verloren.

Zunächst war noch alles in geordneten Bahnen verlaufen. Im Festzelt hatten es die Delegierten tatsächlich wider Erwarten geschafft, sich um einen Festzelttisch zu versammeln. Dass die reifen Semester aus den Reihen der geselligen Landfrauen dafür etwas enger zusammengerückt waren, wurde in den nächsten Stunden mit spontanen Tanz- und Schunkeleinlagen, nicht ganz jugendfreien Trinksprüchen sowie unzähligen Verbrüderungsszenen mit gekreuzten Bier- und Weingläsern angemessen honoriert.

Die Stimmung war so gut, dass man zunächst gar nichts davon mitbekam, als es im Zelt leiser und leiser wurde. Es bedurfte mehrerer Ansagen und Aufforderungen an die "Signore e Signori am tavolo dort hinten”, endlich vom Tisch zu steigen und sich auf ihre Plätze zu begeben ehe Cousin und Freund Roland die versammelte Festgemeinde souverän zweisprachig begrüßen konnte.

Für einige aus unserer Truppe kam die Begrüßung schon etwas leicht zu spät und vorgezogene Abschiedsworte hätten wahrscheinlich besser gepasst.

Wie bei jedem anständigen Jubiläum üblich, gab es auch an diesem Abend zahlreiche Auszeichnungen für verdiente Vereinsmitglieder. Oma Gisela, der Torschütze des 1 : 0 sowie einige andere "Frauen und Männer der ersten Stunde” bekamen aus den Händen des Landrats den Ehrenbrief des Landes Hessen verliehen, während Alessandro, Luigi und ihre Gattinnen von einer Vertreterin des italienischen Generalkonsulats in Frankfurt mit dem Ordine al Merito della Repubblica Italiana bedacht wurden.

Während die Trachtengilde Stockfeld anschließend fulminant über das aufgebaute Holzparkett fegte, marschierten die geehrten Wegbereiter der deutsch-italienischen Freundschaft von der Tanzfläche durch das Zelt. Das gemeine Volk huldigte ihnen mit Händeklatschen, Händeschütteln und Schulterklopfen.

Dafür dass man glauben konnte bei einer Probe für das Musikantenstadl zu sein, sorgte auch der Spielmannszug aus der Partnergemeinde, der erneut mit einem Wummtata-Marsch glänzte.

Auch die Berliner Tanzbären waren sich schnell der besonderen Bedeutung der Situation bewusst, nahmen sofort wieder die Produktion von Glückshormonen auf und zelebrierten ihre rhythmischen Ovationen schwuppdiwupp abermals stehend in luftiger Höhe.

Zwei Nanosekunden nach dem 100 Dezibel-Triumphzug müssen dann die oberhessische Integrationsfigur, Alessandro, Luigi und einige andere Vertreter des harten deutsch-italienischen Kerns in der Sektbar gelandet sein. Oma schwört heute noch, sie seien schnurstracks von der Tanzfläche mit den Urkunden in der Hand Richtung champagne bar verschwunden. Und hier nahm das Drama dann seinen Lauf. Unser frisch gekürter Großvater legte seine eh schon nicht besonders stark ausgeprägte protestantische Askese wieder einmal extrem schnell ab und ließ die Puppen tanzen. Von wegen ein Gläschen in Ehren. Für ihn ist das auch eine Form von Größe.

Auch einige der Berliner Trinksportfreunde hatten mittlerweile einen Stellungswechsel vorgenommen und die schummrige Barbeleuchtung dem hell erleuchteten Festzelt vorgezogen. Und wie im normalen Leben auch, hatten sich dann dort auch gleich holterdiepolter die Richtigen gefunden.

Im Laufe der Nacht und der frühen Morgenstunden gaben die drei Hasardeure den jungen Hüpfern unter anderem eine umfangreiche und mit zahllosen Räubergeschichten gespickte Einführung in die komplexe deutsch-italienische Fußballgeschichte, deren Ursprünge streng genommen irgendwie auch in Stockfeld liegen ("Wida wat jelernt!"), und der Vogelsbergfürst hatte sehr wahrscheinlich abermals etwas zu ausführlich vom Jahrhundertspiel in Mexico-City während der Fußballweltmeisterschaft 1970 geschwärmt.

Das Halbfinale gegen die Azzurri war ein Hochamt des Fußballs gewesen und die Dramen dieser Begegnung wurden Legenden.

Der damals für den A. C. Milan spielende Schnellinger genoss so etwas wie einen Kultstatus unter den Italienfreunden in Stockfeld und hatte mit seinem zwischenzeitlichen Ausgleich die deutsche Niederlage noch etwas aufschieben können. Bei den emotionalen und mit viel Herzblut angerührten Schilderungen des wandelnden Fußballlexikons konnte man den Eindruck gewinnen, das Spiel sei erst letzte Woche gewesen und habe ein Trauma bei ihm ausgelöst. Fakt ist jedenfalls, wann immer der Vogelsbergbaron den Joker Schnellinger aus der Erzählkiste zieht, wird es intensiv, sehr intensiv.

Ja, und so war es auch in dieser Nacht. Der gelernte Vorstopper, für den Fußball Arbeit, Maloche, Grass fressen, Birne hinhalten, Kampf Mann gegen Mann ist, landete noch einige Treffer in der Sektbar, aber auch meine Jungs hielten mit einer Mischung aus Härte und Herzlichkeit ordentlich dagegen. Zu später Stunde kramte der Nestor der deutsch-italienischen Freundschaft noch einmal das Pappschild hervor und es durften sich noch einige Liebhaber der berauschenden Substanz in die Torschützenliste eintragen. Man einigte sich auf ein Unentschieden und stimmte darüber überein, dass die überragenden Leistungen beider Teams ein Rückspiel in Berlin verdient hätten. Danach kroch man auf dem Zahnfleisch nach Hause beziehungsweise in die Garage.

Das Pappschild hat übrigens einen Ehrenplatz in unserer Berliner Stammkneipe und noch heute wird in der Mannschaft unterschieden in diejenigen, die dabei waren und diejenigen, die sich die Geschichte bereits zum xten Male anhören mussten. Überflüssig zu erwähnen, dass der Handlungsablauf natürlich jedes Mal atemberaubender wird und die drallen Landfrauen knackiger und wilder.

Apropos Kultstatus.

Noch vor unserer Weiterfahrt nach Berlin hatte es Klaus, trotz erhöhtem Cholesterinbierspiegel, kleinem Filmriss und riesigem Kater noch geschafft, dem Fußball-Junkie die Ehrenmitgliedschaft beim FC Glasvoll anzubieten. Für Opa mit seinem traditionellen Verständnis von Teambuilding sind derartige Nächte überaus wichtig für sein System von Vertrauens- und Netzwerkbildung. Danach kann er ungehemmt menschliche Wärme zulassen. Eine symphatische Einstellung.

Natürlich zögerte er keinen Moment und nahm dankend an.

Bei unserem letzten Pfingstturnier wurde der bunte Hund als Ehren-Ranger begrüßt und durfte anschließend bei bestem Fritz-Walter-Wetter mit sichtbarer Rührung die Pokale während der Siegerehrung überreichen. Der "Schnellinger aus dem Vojelsberg” mit seinem Senioren-Street-Style hat in Berlin einen richtigen kleinen Fanclub und es vergeht kaum ein Training oder Spiel, ohne dass ich auf den Jux-und-Ulk-Senior angesprochen werde.

Auch bei ehemaligen Schulfreunden, die mit mir früher einen Teil ihrer Ferien oder ein Wochenende bei Opa und Oma verbrachten und die oberhessische Gastfreundschaft erleben durften, steht der Tausendsassa mit seiner großväterlichen Robustheit auch nach etlichen Jahren immer noch unter Denkmalschutz. Und das wird hoffentlich auch noch eine Weile so bleiben.

Es ist müßig darüber zu spekulieren, aber für mich steht fest, dass Mamas und damit auch unsere etwas aus der Rolle fallenden Lebensentwürfe, die uns über den gesamten Globus führten, ihren Ursprung im Vogelsberg haben. Die gelebte Völkerverständigung meiner Großeltern, wenn auch etwas Italien lastig, ist fester Bestandteil der Zimmermann-Piero DNA.

Dafür, dass dies auch so blieb, sorgte vor allem einer. Die passgenauen genetischen Wurzelbehandlungen des Leitwolfs des Zimmermann-Rudels stellen heute noch sicher, dass die Erdung unserer Familie nie verloren geht und keiner auch nur auf die Idee kommt, die Bodenhaftung zu verlieren.

"Ball flach halten”, heißt das in den Worten des VB-Fußballgotts, der die Füße und Knöchel seiner Gegenspieler gelegentlich heute noch malträtiert und auch zwischen den Ohren noch ausgesprochen beweglich ist. Mit diesem oberhessischen Merksatz im Container konnte eigentlich auch in Brasilien nichts mehr schief gehen.

Theoretisch jedenfalls.

EXPAT UNPLUGGED

Подняться наверх