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I. Der religiöse Wandel

Überblick

Vorliegende Einführung in die Religionsgeschichte Deutschlands in der Moderne soll den dynamischen Entwicklungscharakter des religiösen Wandels deutlich machen. Der historische Blick auf die Religion lässt erkennen, dass ihre vermeintlich absolute Wahrheit relativer Natur ist. Religionen entwickeln sich in der Auseinandersetzung mit einer Vielzahl nichtreligiöser Faktoren, die von außen auf sie einwirken. Die Dominanz der christlichen Kirchen zu Beginn des Kaiserreichs ist hundertfünfzig Jahre später einer weltanschaulichen Pluralität gewichen, die vom religiösen Alleinvertretungsanspruch des Christentums kaum etwas übrig gelassen hat. Um die deutsche Religionsentwicklung verstehen und die mit ihr einhergehenden Veränderungen beurteilen zu können, ist die fundierte Kenntnis der christlichen Tradition unabdingbar. In Wirklichkeit handelt es sich dabei aber um christliche Traditionen im Plural, deren Homogenität nicht nur durch den konfessionellen Streit zwischen Katholiken und Protestanten, sondern auch durch eine wachsende Zahl nichtchristlicher Religionen in Frage gestellt wird.

Relativierung der Religion

Eine Religionsgeschichte Deutschlands in der Moderne zu schreiben ist einerseits reizvoll, hat andererseits aber auch etwas Anachronistisches, weil immer weniger Menschen Religion und Christentum als ein das eigene Leben bestimmendes Phänomen ernst nehmen. Sofern man heute überhaupt noch religiös ist, pflegt man seinen Glauben wie ein Hobby, dem man aus einem konkreten Anlass zu bestimmten Zeiten nachgeht. Ansonsten, das heißt im Alltagsleben und im Rest der Woche, spielt die Religion selbst für viele Kirchenmitglieder nur noch eine untergeordnete Rolle.

Nicht nur die individuelle, sondern auch die gesellschaftspolitische Prägekraft der christlichen Religion hat im Vergleich zu früher stark nachgelassen. Unter Verlust ihrer bis vor wenigen Jahren noch dominierenden Stellung ist sie zu einem gesellschaftlichen Einflussfaktor neben vielen anderen geworden. Überbleibsel des ehemals engen, ja symbiotischen Verhältnisses von Staat und Kirche werden heute zunehmend in Frage gestellt. Tritt das Religiöse in den Gesichtskreis der öffentlichen Aufmerksamkeit, dann eigentlich nur, wenn es irgendwo einen Skandal zu vermelden gibt, oder wenn religiöse Fundamentalisten versuchen, der Mehrheit ihre Meinung aufzuzwingen. Man kann sagen, dass die Religion in Deutschland aufgehört hat, eine Selbstverständlichkeit zu sein.

Pluralisierung der Religion

Erschienen Religion und Christentum bis in die Neuzeit hinein als nahezu identische Größen, ist seit den 1970er Jahren eine deutliche Zunahme des Interesses an nichtchristlichen und außereuropäischen Religionen zu beobachten. Im Zuge der Globalisierung des Weltgeschehens entstanden vielfältige Möglichkeiten, sich aus einem stetig wachsenden Arsenal an religiösen Traditionsbeständen das herauszusuchen, was einem als besonders attraktiv erscheint. Solche Religionsbausteine werden nach individuellen Interessen ausgewählt und in einem Akt der religiösen Selbstermächtigung nach eigenem Belieben neu zusammengesetzt. Man braucht sich nur die einschlägigen Abteilungen in den Buchhandlungen anzusehen, um zu erkennen, in welchem Umfang die zahlreichen Spielarten der Esoterik und einer kirchlich nicht mehr gebundenen religiösen Lebenshilfe zugenommen haben.

Zur Pluralisierung der Religionsverhältnisse gehört aber auch das starke Anwachsen des nichtreligiösen Teils der Bevölkerung, der sich in seiner großen Mehrheit durch die unspektakuläre Gleichgültigkeit der Religion gegenüber charakterisiert. Einer zahlenmäßig kleinen Minderheit überzeugter Atheisten gelingt es jedoch immer wieder, mit öffentlichkeitswirksamen Aktionen in Erscheinung zu treten.

1. Rückgang der Kirchenbindung

Nachlassende Kirchenbindung

Selbst in den Kirchen hat die Neigung zur religiösen Indifferenz und ein säkulareres Weltverständnis Platz gegriffen. Der religiöse Inhalt grundlegender Dogmen und Bekenntnisgrundsätze wird von vielen Christen nur noch ansatzweise gekannt und im praktischen Leben kaum mehr beachtet. Welche Sakramente es gibt und worin ihre religiöse Funktion besteht, ist nur noch für eine Minderheit bekennender Christen von Bedeutung. Auf Fragen nach dem christlichen Heilsgeschehen, nach der Erbsünde oder der Wesensverwandlung von Brot und Wein im evangelischen Abendmahl oder der katholischen Eucharistie kann der normale Gläubige im Allgemeinen keine theologisch zureichende Antwort mehr geben. Alles, was mit Wundern im engeren Sinn zu tun hat, wird nicht mehr als empirische Wirklichkeit aufgefasst, sondern allegorisch gedeutet. Die Hölle, der Teufel oder der Heilige Geist sind wie viele andere elementare Glaubenswahrheiten aus dem Weltbild eines Durchschnittschristen fast vollständig verschwunden.

Noch vor wenigen Jahren als selbstverständlich geltende Moralgrundsätze auf dem Gebiet der Sexualität und des ehelichen Zusammenlebens haben sich weitgehend verflüchtigt. Die veränderte Einstellung zu alleinerziehenden Müttern und Vätern, zu bireligiösen Ehen, zu „Ehen ohne Trauschein“, zu Homosexualität und anderen Formen sexueller Identität und Neigung ist ein evidentes Beispiel dafür, wie schnell sich religiös geprägte Verhaltensweisen ändern und aus dem Einflussbereich der Kirchen heraustreten können. De facto hat das für die Kirche zentrale Sakrament der Ehe aufgehört, die Lebenswirklichkeit der Deutschen zu bestimmen.

Nach dem Zweiten Weltkrieg gehörten noch 96 Prozent aller Deutschen einer christlichen Konfession an. Heute ist die Kirchenmitgliedschaft dagegen auf 66 Prozent zurückgegangen. In absehbarer Zukunft wird weniger als die Hälfte der Bevölkerung Mitglied in der evangelischen oder katholischen Kirche sein. Weite Teile Deutschlands sind bereits jetzt als areligiös zu bezeichnen. Es hat lange gedauert, bis man sich der Dimension dieser Veränderung bewusst wurde und über ihre politischen und gesellschaftlichen Auswirkungen nachzudenken begann. Die Frage ist dabei nicht, ob der Trend zur Entkirchlichung aufgehalten werden kann, sondern auf welchem Niveau die Kirchen ihren Status als religiöse Interessensvertretung einer mehr oder weniger großen Gruppe von Menschen halten können. Während die einen den Rückgang der Kirchenbindung bedauern und einen Niedergang der Moral und öffentlichen Ordnung voraussagen, sehen die anderen in ihm einen normalen, vielleicht sogar wünschenswerten Vorgang. Eine Zunahme der Kriminalität sei bisher nicht erfolgt und auch in Zukunft nicht zu erwarten. Solche Äußerungen über den Nutzen oder die Schädlichkeit der Religion geraten allerdings regelmäßig in weltanschauliches Fahrwasser, in dem sachliche Argumente und einfache religionssoziologische Feststellungen unterzugehen drohen.

2. Unsicherheit der Religion gegenüber

Mangelndes Wissen über die Religion

Unabhängig davon, welche weltanschaulichen Grundsatzpositionen jemand vertritt, sollte er oder sie den eigenen Standpunkt fundiert begründen können. Was die Religion betrifft, scheint das aber nicht mehr so ohne weiteres gegeben zu sein. Vielmehr hat sich ein neues Un- oder Halbwissen breitgemacht. Ins Auge springende Äußerlichkeiten werden unangemessen pauschalisiert, strukturelle Gegebenheiten hingegen notorisch ausgeblendet. Um dem entgegenzuwirken und um zu verhindern, dass sich der religiöse Streit gefährlich zuspitzt, ist es einerseits notwendig, Religionen in ihrer Binnenlogik zu verstehen, andererseits aber auch, sie in größere religionshistorische Zusammenhänge einordnen zu können.

In dem Maße, wie in funktional ausdifferenzierten Gesellschaften die Religion ihre Fähigkeit verliert, ein übergreifendes, alle Bereiche gleichermaßen durchdringendes Erklärungsmuster zur Verfügung zu stellen, sie vielmehr selbst zu einem Teilbereich neben vielen anderen wird, scheint der religiösen Auseinandersetzung die existentielle Dimension genommen zu sein. Gleichzeitig wird dabei die Frage virulent, ob sich dadurch eine von wem und wie auch immer zu füllende Leere auftut. Bedarf es in ethisch-moralischer Hinsicht und vor allem bei Fragen von Leben und Tod nicht doch der Religion? Und wenn ja, welcher? Gibt es so etwas wie eine religiöse Essenz, die sich aus allen Religionen gleichermaßen herausdestillieren lassen würde?

Verflüchtigung religiöser Gewissheiten

Die Eindeutigkeit, mit der diese drei Fragen früher mit ja, das Christentum, und nein, es gibt nur eine religiöse Wahrheit, beantwortet wurden, ist gänzlich verschwunden. Stattdessen sind wir in eine Situation der religiösen Unübersichtlichkeit eingetreten. Die Religionsverhältnisse sind in Fluss geraten, und Glaubensgewissheiten, die bis vor kurzem noch als unumstößlich galten, haben ihre Bedeutung eingebüßt.

Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass weniger die Individuen als staatliche Instanzen Probleme damit haben, sich auf die neuen Gegebenheiten einzustellen. Ihre religionspolitischen Maßnahmen offenbaren eine spürbare Unsicherheit bei der Frage, wie man mit religiösen Problemen umgehen und bei einer gestiegenen Zahl religiöser Ansprüche die unangemessenen von den angemessenen unterscheiden soll. Anstatt eine aktive und selbstbewusste Religionspolitik zu betreiben, suchen die Repräsentanten des Staates deshalb am Althergebrachten festzuhalten und die etablierten Aushandlungsprozesse zwischen staatlichen und kirchlichen Interessen in gewohnter Weise fortzuführen. Das kann unter den Bedingungen des Religionspluralismus und bei Religionsgemeinschaften, die anders organisiert sind als die Kirchen, nur bedingt funktionieren.

Geschichtliche Bedeutung des Christentums

Ungeachtet aller tagespolitischen Auseinandersetzungen um den Rückgang der Kirchenbindung sollte nicht vergessen werden, dass es sich bei der christlichen Religion um eine geschichtliche Erscheinung von großer Bedeutung handelt. Die Entwicklung Europas wurde durch das Christentum maßgeblich bestimmt, und auch die deutsche Geschichte lässt sich nicht verstehen, wenn man seinen Anteil an ihr nicht kennt. Eine methodisch geschulte Vertrautheit mit der eigenen religiösen Tradition gehört deshalb zu den unabdingbaren Voraussetzungen, um sich ein fundiertes Urteil über die Vergangenheit bilden und richtige Schlussfolgerungen für die Gegenwart ziehen zu können.

Auf einen Blick

Wie alle Religionen unterliegt auch das Christentum dem Zwang, sich an veränderte äußere Gegebenheiten anzupassen. Entgegen der Annahme von den ewigen Werten der Religion sind diese kontextabhängig und in der gleichen Weise wie nichtreligiöse Phänomene in den Fluss der geschichtlichen Entwicklung eingebunden. So wie die Religion in ihren unterschiedlichen Ausprägungen Teil der allgemeinen Geschichte ist, bildet auch die Religionsforschung eine Teildisziplin der Geschichtswissenschaft. Dass alle Religionen überhistorische und empirisch nicht nachprüfbare Wahrheitsansprüche erheben, macht den Reiz, aber auch die besondere Schwierigkeit aus, sich wissenschaftlich auf sie einzulassen. Die religionswissenschaftliche Beschäftigung mit der Welt der Religionen fördert zutage, wie vielschichtig sich das Beziehungsgefüge zwischen der Religion auf der einen und dem Staat, der Politik und der Gesellschaft auf der anderen Seite gestaltete und durch welche Dynamik die Religionsentwicklung Deutschlands in den letzten hundertfünfzig Jahren geprägt war.

Religionsgeschichte Deutschlands in der Moderne

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