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2.3. Schuld und Sühne
ОглавлениеDer Erzähler-Kommentator in Thomas Manns Doktor Faustus (1947) wirft im April 1945 einen Blick auf die letzten Tage des NS-Reiches, die „sich rapide ausbreitende Katastrophe“, den Untergang der Städte und die Befreiung der letzten Überlebenden des Konzentrationslagers Buchenwald. Er stellt fest: ein amerikanischer General lässt die Einwohner Weimars an den Krematorien „vorbeidefilieren“ und zwingt sie, das anzusehen, was aufgebrochen ist: „offen liegt unsere Schmach vor den Augen der Welt, der fremden Kommissionen, denen diese unglaubwürdigen nun allerorts vorgeführt werden, und die zu Hause berichten: was sie gesehen, übertreffe an Scheußlichkeit alles, was menschliche Vorstellungskraft sich ausmalen könne. Ich sage: unsere Schmach.“46 Von dieser Feststellung einer kollektiven Schuld, zu der sich der liberale frühpensionierte Gymnasiallehrer Serenus Zeitblom bekennt, führt eine kaum überschaubare Linie über Historikerkontroversen, Auschwitz-Diskussionen, Bekenntnisse, Hinweise auf die Tatsache, dass manche Zeitgenossen absolut ahnungslos waren, und literarische Ortungen bis zu Bernhard Schlinks Bemühungen, das Verhältnis von Schuld, Sühne und Vergebung zu klären.
Der Begriff der Kollektivschuld setzt voraus, dass das gesamte deutsche Volk in den Jahren der NS-Regierung schuldig geworden ist, da der Massenmord ein ganzes Volk für seine Verwaltungsmaschine brauchte.47 Die Schuldfrage und Schande der Nation wurde 1998 von den Medien aufgegriffen und in Zeitschriften, im Fernsehen und Rundfunk leidenschaftlich diskutiert. Der Anlass war die Rede, die Martin Walser bei der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels am 11. Oktober 1998 in der Frankfurter Paulskirche hielt. Walser lässt die Gefühle und die Bewusstseinslage der Nicht-Betroffenen, der Nachkriegsgeneration und der Jugend zu Wort kommen, die nicht ständig an die deutsche Vergangenheit, an Krieg und Auschwitz erinnert werden wollen. Er betont, die „Dauerpräsentation unserer Schande“ sei zur „Keule“ geworden, die bei jeder Gelegenheit gegen die Deutschen geschwungen wird. Auschwitz ist „instrumentalisiert“. Und der Ansturm der Schande sei ein Ritual, der Zwang zum Erinnern sei Routine geworden. Ignatz Bubis vom Zentralrat der Juden in Deutschland entgegnete entrüstet, dass Vergehen gegen die Menschlichkeit nie verjähren. „Forderungen mögen verjähren, Moral jedoch nicht.“48
In den Diskussionen kam kaum etwas zu Wort, das nicht eingehender in der Literatur erörtert wurde. Beispielsweise schildert Ortheils Roman Schwerenöter (1987) die Entwicklung zweier Brüder vor dem Hintergrund vierzigjähriger deutscher Nachkriegsgeschichte. Die Materialfülle (Lebensläufe der Zwillinge Josef und Johannes, frühe Nachkriegszeit in Köln, Schule, Kloster, Hören von Adorno-Vorlesungen, deutsche Innen- und Außenpolitik, Reise in die USA, Rombesuch und Ausblick: Josef wird Abgeordneter, Johannes Schriftsteller) wird gestrafft durch eine Darstellung, die in beständiger Befragung Zusammenhänge zwischen Gegenwart und Vergangenheit aufzeigt. Die Gespräche und ernsten Überlegungen des Erzählers Johannes werden aufgelockert durch Berichte pikaresker Abenteuer der Jungen in der Schule und während ihres Aufenthalts in Amerika. Besonders aufschlussreich sind die grundverschiedenen Ansichten von Schuld, Sühne, Verantwortlichkeit und historischen Entwicklungen, die in Gesprächen, Generationskonflikten und Debatten der Schüler anklingen. Das Thema kollektiver Schuld und die Aussicht auf Vergebung gibt dem Aufenthalt der Jungen in New York im Haus der jüdischen Familie Rothbuch sein besonderes Gepräge.
Daniel Rothbuch, der 1938 mit seinem Vater Deutschland verlassen musste, lädt Johannes und Josef ein, damit seine eigenen Kinder Tom und Susan ein „unvoreingenommenes Verhältnis“ zu Deutschland und den Deutschen herstellen können. Auch sie sollen Deutschland besuchen. „Es ist wichtig, ja, es ist sehr wichtig.“ Kurze Vignetten beschreiben das Leben im Haus der Familie, in New York, Besuche der Stadt und Museen. Am letzten Tag des Aufenthalts findet eine Aussprache zwischen Daniel und Johannes statt. Das Gespräch ist aufschlussreich: „Am Anfang aber dachte ich, es könnte schwierig werden.“ – „Warum schwierig?“ – „Wegen des Großvaters. Du wirst es kaum verstehen, du bist noch sehr jung; Großvater mußte Deutschland 1938 verlassen, er emigrierte mit mir in die Staaten. Bis heute habe ich das Land nicht mehr wiedergesehen. Er haßt es, und er haßt seine Menschen. Er hält sie für Faschisten und Mörder, die sich eine neue Tarnung zugelegt haben. Glaub ihnen nicht! sagte er, als Kennedy sich auf die Reise machte. Er dachte die Deutschen würden ihn umbringen. Er traut ihnen alles zu, sie haben seine Eltern und meine Mutter ermordet, für ihn sind es die Teufel der Geschichte, die alles Böse in sich vereinen. Sie haben den Krieg begonnen, sie haben Millionen von Menschen getötet, sie haben Konzentrationslager gebaut, wie es sie in der Geschichte noch nie gegeben hat. Großvater hat das alles nie vergessen können.“ – „Und Ihr habt uns trotzdem eingeladen?“ – „Ich habe lange mit Mary darüber gesprochen. Aber es war der einzige Weg, wieder Kontakt mit Deutschland aufzunehmen, verstehst Du? Wir wollen junge Menschen wie Dich und Deinen Bruder kennenlernen. … und nun bin ich sehr froh, daß Ihr hier gewesen seid.“49
Der Besuch stürzt die Zwillinge in Gewissenszweifel und veranlasst eine kritische Auseinandersetzung mit der Vergangenheit. Besonders aufschlussreich für Fragen von Schuld, Sühne, Verantwortlichkeit, Haltung zur Vergangenheit sind die Diskussionen in der Schule nachdem Josef und Johannes von ihrem Aufenthalt in den USA heimkommen. Josef beschafft sich Bücher über das Dritte Reich, liest und kommt zu der Überzeugung, dass das Reich bis in die Gegenwart reicht. Er sieht seine Lehrer in neuem Licht, ist beunruhigt, wenn sie „scheinbar harmlos von ihren Kriegserlebnissen berichteten“ (314), und kommt schließlich zu der Überzeugung, dass die Vergangenheit eine unabgeschlossene Akte ist. Die Zeit des Nationalsozialismus ist „unvorstellbar“, nicht verjährt, „alle Phantasie reiche nicht aus, sie zu verstehen.“ (323) Aber gerade weil der Rückblick ein „Gefühl völliger Ohnmacht“ hinterlassen kann, besteht Josef auf der kritisch-geistigen Ermittlung. „Daher müsse man, wenn man denn schon aus der Geschichte lernen wolle, fragen, was damals mit diesen Menschen geschehen, wie es dazu gekommen sei, und wie gerade diese Menschen die Gegenwart erlebten, voll mit jenen Bildern des Verrats und des Mordens, die man doch nicht wie Albumaufnahmen mit sich herumtragen könne?“ (323–324) In diesem Appell an die persönliche Verantwortlichkeit, zu der sich der Erzähler in der Niederschrift bekennt und die Josef als Politiker verwirklichen will, kommt der Geist der historischen Bewusstseinslage klar zur Geltung. Die Vergangenheit verneinen, heißt die Zukunft verneinen. Die Vergangenheit anerkennen, heißt die eigene Situation verstehen und die Zukunft anerkennen.
Die Mannigfaltigkeit unterschiedlicher Einstellungen bietet die Grundlage für eine Gesamtschau der Unsicherheit und Ratlosigkeit der Bevölkerung während der Kriegsjahre.
Die Erzählung verleiht einerseits den Verstummten Sprache,50 andererseits zeigt sie das wachsende Verständnis der Vergangenheit und Gegenwart. Die Geschichte ist ein unabgeschlossener Vorgang, in dem zeitbedingte Umstände zuweilen die Initiative der Menschen begrenzen, aber nie deren persönliche Verantwortlichkeit aufheben. Der Mentalitätswandel ist möglich. Josef fühlt seine eigene Verantwortlichkeit. Johannes erfährt sie im Aufschreiben der Ereignisse.
Die geschichtliche Naivität der Jugendlichen in Schwerenöter findet ihre Entsprechung in der Ahnungslosigkeit mancher Deutschen während des Zweiten Weltkriegs. Ein wichtiger Gesichtspunkt in der Erinnerungsliteratur ist die von de Bruyn, Grass, Maron und Ortheil angedeutete Situation, dass zahlreiche Menschen in den Jahren der NS-Zeit keine zuverlässige Information hatten. Manche wussten nichts, manche hatten Angst und viele verschlossen die Augen. Der Rückblick verwandelt das Vergangene in ein andersgeartetes Geschehen: „Die 45 Jahre, die das Tagebuchschreiben vom Wiederlesen trennen, haben die Erinnerung an manche Ereignisse, die damals erwähnenswert schienen, getilgt; andere, die verschüttet waren, wurden durch das Lesen wieder freigelegt; und wieder andere, die nie vergessen waren, lassen deutlich werden, was der Chronist verschweigt oder entstellt. Ob das aus Vorsicht, aus Unfähigkeit oder in selbstbetrügerischer Absicht geschah, ist im Einzelfall nicht auszumachen, insgesamt herrscht aber der trübe Eindruck vor, daß dieser Knabe von 14 Jahren hier konformes Verhalten übt.“51 Er konstatiert weiterhin die Ahnungslosigkeit der Kinder, die nicht ahnten, welchen Hass sie in Kattowitz erregten, wenn sie „als uniformierte Masse auftraten“ (112), und seine Unkenntnis brutaler Verbrechen: „nie aber hatte ich von der Ermordung jüdischer Menschen (vielleicht weil ich nie nach ihnen gefragt hatte) auch nur andeutungsweise gehört. An keinen Gedanken an sie, an kein Gespräch über sie, ob mit Gleichaltrigen oder Erwachsenen, kann ich mich aus der Zeit nach ihrer Deportation erinnern.“ (244) Darauf folgen Hinweise auf die beständige Angst. Die Zeit nach dem Kriegsende mit den Anfängen im sozialistischen Osten steht unter der Kurzformel: „Kollektivismus oder Individualismus“. Erst die kritische Ortung im Rückblick verleiht diesen Jahren ihre besondere Eigenheit.52 Was in diesen Beobachtungen deutlich hervortritt, ist ein bisher kaum beachteter Faden, der durch den Erinnerungsdiskurs verläuft: Die Ahnungslosigkeit wird zur Diskussion gestellt. Sie kann sich, besonders in dem Verfahren der Reihung von Einzelheiten unter bewusstem Verzicht auf Sinndeutung im Schaffen Kempowskis, auf das Lesepublikum übertragen, das dann diese Ahnungslosigkeit verspürt und sich mit ihr auseinandersetzen muss.
In der Literatur zeichnet sich eine ausgeprägte Konzentration auf individuelle Figuren, einzelne Situationen oder erkennbare Familien in der Thematisierung von Schuld, Sühne und Verantwortung ab. Das „Volk“ muss konkrete Form annehmen, um literarisch wirksam zu sein. Das ist deutlich in Handlungsführung und Figurenkonzeptionen in den Romanen von Bienek, Kempowski und Ortheil. Es ist beispielsweise klar ersichtlich in der Erzählung Winterspelt (1974) von Alfred Andersch. Er erfasst im Handeln Einzelner – Major Dincklage, Käte und Hainstock – die allgemeine Situation. Schuld und möglicher Widerstand kommen zu Wort. Hauptsächlich geht Andersch im Rahmen seiner Darstellung der Kämpfe um das in der Nähe der belgischen Grenze gelegenen Eifeldorfes der Frage nach, inwiefern einzelne überhaupt die kriegerischen Entwicklungen beeinflussen können und kommt zu dem Schluss, dass einzelne im Ausnahmezustand sicherlich verantwortungslos oder verantwortlich handeln, aber das ablaufende Geschehen nicht ändern können. Der Erzählverlauf beleuchtet individuelle Überlegungen und Entscheidungen, spontane Handlungen, ethische Fragen, Zögern und Unterlassungssünden. Das Erzählverfahren weist in der Verwertung historischer Fakten, biographischer Einzelheiten und von Dokumenten bereits auf die chronistische Erzählweise Kempowskis hin. Im Gegensatz zu Kempowskis distanzierter Bestandsaufnahme betont Andersch immer wieder die Notwendigkeit des verantwortlichen Handelns, dem sich Einzelne nicht mit der Annahme, der historisch ablaufende Prozess sei unkontrollierbar, entziehen können.
Darüber hinaus lässt sich in vielen Werken in der Annäherung an die Vergangenheit ein Prozess des historischen Bewusstwerdens nachweisen. Nicht nur der Krieg, sondern die gesamten Jahre der Naziherrschaft erscheinen als Ausnahmesituation. Das Leben in dieser Zeit wird zum Grenzerlebnis, das alle tradierten Vorstellungen sprengt. Menschen sind physisch und geistig gefährdet. Die existenzielle Bedrohung ist allumfassend. Und wie Dieter Wellershoff 1995 in Der Ernstfall feststellt, konnte sich der Einzelne unter diesen Bedingungen nie wirklich bewähren. Menschen, die kritisch dachten, konnten eigentlich nur ihre weltanschauliche Obdachlosigkeit erkennen. Unsentimental und ohne Beschönigung berichtet Wellershoff von seinem Einsatz als jugendlicher Freiwilliger an der Ostfront, seiner Verletzung, seinem Aufenthalt im Lazarett Bad Reichenhall, seiner Gefangennahme und dem Neuanfang nach dem Kriegsende. Die Rückblenden und Aufarbeitung seiner Jugend bieten die Voraussetzung für seine Einsicht in „zwei“ wesentliche Erfahrungen. „Die eine ist der Zusammenbruch einer kollektiven Identität, die als mörderisches Wahngebilde kenntlich wurde, und das Glück, das darin lag, die weltanschauliche Obdachlosigkeit als geschenkte Freiheit zu erleben. Die zweite ist die Einsicht in die Zufälligkeit meiner Existenz.“53 Die Stellungnahme vieler Autoren steht unter dem Leitgedanken des moralischen Versagens einer Generation, der zwischen 1890 und 1920 Geborenen, und des Orientierungsverlusts der im Weimarer Staat und im Dritten Reich Aufgewachsenen. Häufig charakterisieren Beschuldigungen der für die Terrorherrschaft der Nazis und für den Krieg Verantwortlichen, massive Schulderlebnisse, Schuldverdrängung und exzessive Selbstanklagen die Erzählhaltung. In Auseinandersetzungen mit Hitlers willigen und halbwilligen Helfern treten Fragen der individuellen Verantwortung und des Gewissens in den Vordergrund. Das schlechte Gewissen breitet sich aus, nachdem der volle Umfang der Verbrechen öffentlich bekannt wird. Es schärft den Blick und bestimmt die Fixierung auf die Vergangenheit. Diese erscheint unverständlich. Die während der Naziherrschaft begangenen Verbrechen stehen im Licht des vorausgegangenen Anspruchs des deutschen Geisteslebens einzigartig da. Die Erbschaft deutscher Schande und Schuld verdrängt das Erbe deutscher Denker. Der Holocaust und Auschwitz werden zum negativen Gegenbild des idealistischen Denkens.
Verbindlich für die Literatur ist eine Denkform, der die Überzeugung zu Grunde liegt, dass die existenzielle Gefährdung der Menschen im NS-Staat das zeitlose und damit heute gegenwärtige Problem menschlicher Verantwortlichkeit besonders scharf hervortreten lässt. Historisches Bewusstwerden wird zum Ausgangspunkt der Kritik der Gegenwart. Die folgenden Ausführungen heben markante Aspekte hervor. Sie können keine zusammenhängenden Entwicklungen nachweisen, da der Gesamtkomplex von Verschuldung und Vergeben immer neu aufgegriffen wird. Deutlich nachweisbar sind scharfe, zuweilen einseitig anmutende Abrechnungen mit der Schuld und Einstellung von Figuren, deren Verblendung oder Ethos der Pflichterfüllung zu einer menschenfeindlichen Geisteshaltung führt. Sie konzentrieren sich auf das Versagen einzelner Personen, nicht auf die Schuld der gesamten Generation. Heiner Müllers Kurzgeschichte „Das Eiserne Kreuz“ (1956) schildert beispielsweise den Entschluss eines Papierhändlers, eines ehemaligen Reserveoffiziers im Ersten Weltkrieg, seinem Führer die „Treue zu halten“ und mit seiner Frau und Tochter zu sterben. Er holt seinen Revolver hervor, steckt das Eiserne Kreuz an den Rock und marschiert mit Frau und Tochter ins Freie. Er erschießt beide, überdenkt seine Lage, schöpft Hoffnung, entschließt sich, irgendwo unterzutauchen, wirft das Eiserne Kreuz weg und läuft davon. Die Geschichte akzentuiert im Einzelfall das Handeln aller, die Verbrechen gegen die Menschheit begangen haben.54
In dem Agitprop-Stück Germania Tod in Berlin liegt die Betonung weiterhin auf dem Handeln Einzelner, aber Müller erweitert die Perspektive auf historische Prozesse in absteigender Linie. Die Szenen rollen in aphoristisch zugespitzter Diktion vorbei: Die Straße 1 Berlin 1918; Die Straße 2 Berlin 1949; Brandenburgisches Konzert 1 (mit Manege und 2 Clowns); Brandenburgisches Konzert 2 (Schloß mit Genossen); Hommage a Stalin 1 (Schnee, Schlachtlärm); Hommage a Stalin 2 (Kneipe, Kleinbürger, Huren, Aktivist, Schädelverkäufer); Die heilige Familie (Führerbunker); Das Arbeiterdenkmal (Polierer, Maurer); Die Brüder 1 (historischer Rückblick Arminius und Flavus); Die Brüder 2 (Gefängnis); Nachtstück; Tod in Berlin 1 (Strophe von Georg Heym); Tod in Berlin 2. Die deutsche Geschichte als Teil der Weltgeschichte führt in die Entmenschlichung, bis sie in die Mechanik eines monströsen Maschinenwesens mündet, das in sich die Vergangenheit (Gernot, Hagen, Volker und Gunther) und die namenlosen Soldaten (Nr. 1, 2, 3) des Zweiten Weltkriegs aufnimmt. Alle schlagen sich in Stücke. Der Schlachtlärm hört auf. „Dann kriechen die Leichenteile aufeinander zu und formieren sich mit Lärm aus Metall, Schreien, Gesangsfetzen zu einem Monster aus Schrott und Menschenmaterial.“ (51) Mitläufer, pflichtbewusste Untertanen, Verblendete, die an einen gerechten Staat glauben, staatshörige Nischenbewohner, die klagen aber überleben wollen und auf das Recht freier Meinungsäußerung verzichten, fliehen in die innere Immigration. Übrigbleibende Individuen werden zu Seife verarbeitet.
Die eindeutige Verurteilung des Ewig-Gestrigen erstreckt sich besonders auf Figuren, die überzeugt sind oder waren, dass sie nur ihre Pflicht erfüllten, Einzelne, deren Leben scheinbar nahtlos aus der Vergangenheit in die Gegenwart übergeht und die nichts aus der Katastrophe gelernt haben und Figuren, die nicht an die Vergangenheit erinnert werden wollen und sie abschotten. Siegfried Lenz schildert diese Haltung in der Deutschstunde (1968) im Lebensabriss des Landpolizisten Jens Ole Jepsen. Personen, die diese Geisteshaltung repräsentieren, erfüllen Funktionen des Appells an die Vernunft und der Kontrastierung mit anderen, die sich kritisch mit der Vergangenheit auseinandersetzen. Gezielte Charakterstudien dieser Art sind beispielsweise der ehemalige Lageraufseher Arnold Heppner (Becker, Bronsteins Kinder), der Bürgermeister und die Leiterin des Jugendamts von Steyr (Erich Hackl, Abschied von Sidonie), Skodlerrak, Sozialist, SS-Mitglied, Schwarzhändler, Anpassungskünstler (Peter Härtling, Eine Frau, 1974), Eduard Nemec (Peter Härtling, Nachgetragene Liebe, 1980), die Mutter Anitas und der Fotograf (Botho Strauß, Schlußchor, 1991) und die schweizer Polizisten, die Karel Neruda und Heinrich Zinn zusammenschlagen, Neruda an die Deutschen ausliefern und nach Kriegsende Zinn festnehmen und in ein Heim bringen. Zinn wird überwältigt, denn sein Haus muss enteignet werden und einem Staudamm Platz machen, der schließlich die ganze Gegend unter Wasser setzt (Silvio Blatter, Das blaue Haus, 1990). Eng verknüpft mit Kontrastierungen dieser Art ist der Kunstgriff im Erzählverfahren, zwei Welten zu konfrontieren, die in knapper Chiffrierung Fotos zeitlos schöner Landschaften mit eingestreuten Dörfern und Schlössern dem Leben im Dorf gegenüberstellen, das alle Merkmale des Daseins in einer Diktatur hat.
In anderen Romanen und Erzählungen wird eine Einstellung deutlich, welche die kollektive Schuld und die Verfehlung Einzelner nicht einseitig anprangert, sondern aus distanzierter Sicht die Schuldfrage erwägt. Dieses Anliegen bedingt ein Erzählverfahren, in dem das Unfassbare zu Wort kommt. Darüber hinaus verlangt die literarische Gestaltung dieser Problemstellung eine Auseinandersetzung sowohl mit den Gefühlen der Generation Jugendlicher, die das Dritte Reich noch miterlebt haben, aber überzeugt sind, persönlich unschuldig zu sein, als auch mit der Einstellung der nach dem Krieg geborenen Menschen, die sich gegen den Generalverdacht wenden, dass sie als Deutsche mitverantwortlich für die Vergangenheit sind und den Vorwurf der Schuld und Schande ablehnen. Von wesentlicher Bedeutung ist die charakteristische Nuancierung in den Erzählungen, die bei allen Gemeinsamkeiten unterschiedliche Deutungen zulässt. Vergleicht man beispielsweise die Aufarbeitung der Vergangenheit in Peter Schneiders Roman Eduards Heimkehr (1999) mit Jurek Beckers Bronsteins Kinder (1986), so ergeben sich bei vergleichbarer Fragestellung erhebliche Unterschiede.
Schneider wählt Berlin als Handlungsraum. Der Ort, Hauptstadt des Dritten Reiches und der DDR, zehnjährige Wiederkehr des Mauerfalls, neue Hauptstadt Deutschlands, bietet die Voraussetzung für eine Fixierung auf die deutsche Vergangenheit. Der Handlungskern ist jedoch eine alltägliche, fast banale Geschichte. Eduard erhält eine Stellung in Berlin, kehrt aus den USA heim, muss seine Frau und Kinder nachholen und eine Wohnung für die Familie finden. Die Erzählung schildert häufig erörterte alltägliche Probleme moderner Ehen, die im konkreten Fall durch die Umsiedlung profiliert werden. Von zentraler Bedeutung ist Eduards Verhältnis zu seiner deutsch-jüdischen Frau. Dieses wird maßgebend bestimmt von seinem Beziehungswahn, der ihn zwingt, die alltäglichsten Ereignisse aus der Sicht seines Deutschtums und dadurch im Licht seiner deutschen Vergangenheit zu sehen.
Eduards Erinnerungen führen zu ständigen Beziehungskrisen und vermitteln den Eindruck, dass die Vergangenheit nicht bewältigt ist. Auch die Menschen, denen Eduard begegnet, neue Kollegen und alte Bekannte, leben in einer „ewigen Nach-der-Wende-Zeit und Nachkriegszeit“. Dieser Sachverhalt tritt deutlich hervor in ständigen Debatten und Reibungen zwischen Ossis und Wessis, Ossis, die dageblieben sind und Ossis, die nach dem Westen abwanderten, und zwischen all den Gruppen, die sich in der DDR gebildet hatten. Der versöhnliche Schluss des Romans kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Vergangenheit immer gegenwärtig ist und die Grundlage quälender Erinnerungen bleibt.
Ganz ähnlich präzisiert Wolfgang Hilbig das Schuldbewusstsein in Gedichten wie etwa „deutscher morgen“, „alibi“ und „grober rückfall“, in denen die Vergangenheit als unerledigte, unvollkommene Dokumentation erscheint. Die Abrechnung im Gedicht „nach dem zweiten / krieg“ erfasst das Fortbestehen des Alten in der zeitlichen Veränderung:
nach dem zweiten
krieg vergaß man beim aufräumen
einige vokabeln
aus der welt zu schaffen.
noch immer nicht
sind aus der deutschen sprache verbannt
wörter wie
unverbrüderlich
unzertrennlich
uneinnehmbar
unbesiegbar.55
Jurek Becker verfolgt in der souverän gestalteten Erzählung Bronsteins Kinder (1986) die Spuren, die aus der Vergangenheit in die Gegenwart führen und in der Lösung der Konflikte die Möglichkeit des Vergebens andeuten. Die vorsichtige Sondierung des Gegenwärtigen und Gestrigen erfolgt aus der Sicht des jüdischen Schülers Hans. Becker schildert einen grundlegenden Ausschnitt aus dem Lebensweg von Hans, indem er multiperspektivisch gebrochene, gegenwärtige Erfahrungen und Erinnerungsmuster entwirft, die deutsch-jüdische Beziehungen, den Konflikt zwischen Rechtsstaat und Willkür und Vergeltung und Vergeben objektivieren. Das Zusammenwirken von Individuellem und Gesellschaftlichem wird deutlich in dem scharf profilierten Handlungsverlauf. Der Vater und zwei seiner Freunde nehmen den ehemaligen Lageraufseher Arnold Heppner gefangen, binden ihn in einem Sommerhaus fest, verhören ihn und verlangen ein Geständnis seiner Schuld. Hans überrascht die Gruppe und versucht, seinen Vater von dem widerrechtlichen Handeln zu überzeugen. Er selbst denkt über vergangene Willkür, das Unrecht, die Opfer des Faschismus und die gegenwärtige Situation nach. Er besucht den Gefangenen und ringt sich schließlich zu dem Entschluss durch, den Lageraufseher zu befreien. Er kauft Feilen, um die Fesseln zu beseitigen, kommt nach Hause, wo er den am Herzschlag verstorbenen Vater findet, führt aber seinen Plan durch und befreit Heppner. Hans wird von Freunden des Vaters, Rahel und Hugo Lepschitz, aufgenommen und lebt mit ihnen 1973 bis 1974. Er besteht das Abitur, wird zum Studium zugelassen und hofft auf eine Zukunft, in der die Vergangenheit endlich bewältigt ist.
Die Darstellung ist konzentriert auf den geistig-seelischen Prozess der Selbstfindung, der in der Auseinandersetzung mit der Familie, der Gesellschaft und der Vergangenheit zu einer höheren Stufe der Selbsterkenntnis führt. Zwischenmenschliche Beziehungen werden erschwert durch die Reaktion der Umwelt auf die „jüdische Frage“ und durch die konkrete Situation des Sohnes, der mit seinem Vater lebt – die Mutter ist verstorben, die Schwester lebt in einem Krankenheim – und die Welt aus eigener und dessen Sicht erlebt. Der Vater ist verschlossen. Kleine Missverständnisse erschweren das tägliche Leben. Hans stellt fest: „Ich hörte ihn seufzen und wollte etwas Tröstliches sagen, doch als ich mich umdrehte, saß er nicht mehr da. So war es immer: immerzu war einer gekränkt, immerzu mußte der andere sich plagen, das Elend wieder aus der Welt zu schaffen.“56 Hans steht den oft gehörten Erzählungen des Vaters „kühl und skeptisch“ gegenüber und findet, er sei unwillig den Umschwung im Denken der jungen Generation zu verstehen. Hans ist beliebt in der Schule, aber wird anders, vorsichtiger behandelt, sobald man weiß, dass er Jude ist. Ein Vorfall im Duschraum, wo Hans seine Badehose nicht auszieht, belegt, dass auch er sich zuweilen als Außenseiter sieht. Positive und negative Vorurteile bestehen fort. Die Freundin Martha findet Arbeit als Komparsin und spielt eine Jüdin mit gelbem Stern. Sofort findet man, sie sehe „echt“ jüdisch aus. Die Komparsen sitzen in Pausen als Gruppen: die SS-Soldaten zusammen und gegenüber die Juden nebeneinander. (196ff.) Die Gefangennahme des Lageraufsehers und die Diskussionen der Beteiligten veranschaulichen die nahezu unüberbrückbaren Vorstellungen vom gegenwärtigen Staat. Hans ist sicher, dass jedes Gericht den Mann ohne Sympathie und aus Überzeugung verurteilen werde. Der Vater dagegen glaubt, der Aufseher wird nur verurteilt, weil „ihnen nichts anderes übrigbliebe.“ (129) Hans kämpft gegen die Unvernunft, findet die Opfer haben kein Recht, sich über die Gesetze zu stellen, und fürchtet sich, in einem Land zu leben, in dem sich jeder selbst zum Richter ernennt. (136–140) Aber er erkennt die ständige Gereiztheit der überlebenden Juden. Ihre Vorstellung vom Deutschtum war literarisch und philosophisch gefärbt. Die Wirklichkeit entsprach nie und entspricht auch jetzt nicht dem Ideal.
Pascal Bruckner kommt in seiner ausführlichen und überzeugenden Untersuchung des weitverbreiteten Schuldgefühls in der westlichen Welt zu einem vergleichbaren Ergebnis. Er findet, Schuldkomplexe entspringen der Überzeugung, dass der Verlauf historischer Entwicklungen nicht der Idealkonzeption gesellschaftlicher Reifung entspricht. Die Vorstellung eines Ablaufs der Geschichte in die Richtung höherer Sittlichkeit verurteilt alle, die an den Fehlentscheidungen des 20. Jahrhunderts beteiligt waren. Darüber hinaus verurteilt dieser Wertmaßstab die gegenwärtige Generation zum Schweigen.57 Bernhard Schlink hat sich in Essays und Vorträgen mehrmals eingehend mit der Vergangenheit, mit Schuld und Sühne auseinandergesetzt. Er hat die angeschnittenen Fragen außerdem überzeugend in einigen Erzählungen entwickelt. Da Schlink Jurist ist, kommt seinen Feststellungen der gesetzlichen Verantwortung für Straftaten besondere Bedeutung zu. Wie viele in der vorliegenden Darstellung aufgenommenen Kritiker und Autor(inn)en ist er überzeugt davon, dass Auschwitz und der Holocaust unter dem Zeichen der Unvergänglichkeit stehen. Die Katastrophe, in der die Grenze zwischen Gut und Böse eindeutig war, hat Wunden gerissen, die schwer zu heilen sind und „wieder aufbrechen können“. Schlink geht davon aus, dass sich alle mit dieser Vergangenheit auseinandersetzen müssen, um einen Weg zum Geschichtsverständnis zu finden. „Der Vergangenheit in die Augen sehen – das heißt sehen, daß die Vergangenheit uns anschaut, uns stellt und daß wir ihr furchtbares Angesicht letztlich nur ertragen können, wenn wir entweder gleichgültig und zynisch werden oder aber etwas entgegenzusetzen haben. Letztlich heißt, der Vergangenheit in die Augen sehen, eine Entscheidung treffen. Zunächst heißt es, die Herausforderung ihres furchtbaren Angesichts annehmen.“58 Dieses Gegenübertreten verlangt die Auseinandersetzung mit Schuld und Sühne.
Die Erwägungen in Vergangenheitsschuld (2007) kommen zu Ergebnissen, die in jeder Aufarbeitung der Vergangenheit zu berücksichtigen sind. Schuld kann nicht nur im Handeln Einzelner, sondern in geschichtlichen Abschnitten wurzeln. Deshalb können Generationen schuldig werden oder sich schuldig fühlen. Diese Schuldgefühle entstehen in Personen aus der Empfindung, zwar nicht strafbar gehandelt zu haben, aber Zeuge der Ereignisse gewesen zu sein. Somit konnten Menschen schuldig werden, wenn sie keinen Widerstand leisteten oder Widerspruch erhoben. Diese Beobachtung setzt ein Ideal des persönlichen Verantwortungsbewusstseins, der Moral, Sitte, Religion voraus, das unter einer Diktatur, in der Menschen schon vor einem Parteiabzeichen erbleichten, kaum denkbar war. Schlink lehnt jedoch die Vorstellung kollektiver Tatschuld ab. „… es gibt Schuldübertragungen weder in der Horizontalen, unter Angehörigen einer Generation, noch in der Vertikalen, von einer Generation auf die nächste. Kollektivschuld, bei der alle Glieder des Kollektivs schuldig sind, weil einige schuldig sind, ist mit dem juristischen Begriff der Schuld unvereinbar.“59 Er erkennt jedoch, dass die gemeinsame Zugehörigkeit zu einem Volk „Solidarität“ stiftet, die Befangenheit, Scham und Schuldgefühle hervorruft, die den rechtlichen Schuldbegriff sprengen. Die einzige für die Nachkriegsgenerationen, aber wahrscheinlich für viele nicht denkbare Entscheidung wäre, sich von der Vergangenheit der Eltern loszusagen. (32–33) „Gerade weil die Vergangenheit die gegenwärtige Identität mitkonstituiert, gehört zum Umgang mit ihr, sich von Vergangenem loszusagen, mit Vergangenem zu brechen und, so es um kollektive Vergangenheit geht, diejenigen abzulehnen und auszugrenzen, deren individuelle Vergangenheit der kollektiven nicht zugerechnet werden soll.“ (78)
Zuweilen verhüllte, manchmal klar ersichtliche Stellungnahmen zu diesen Fragen bestimmen den Erfahrungshorizont der Figuren in Schlinks Erzählungen Der Vorleser (1995), „Das Mädchen mit der Eidechse“ (2000) und Das Wochenende (2008). Die Handlung des Bestsellers Der Vorleser verknüpft in klar umrissener Folge von Ereignissen die alltägliche Geschichte eines Jungen, der sich in eine ältere Frau verliebt und mit ihr ein Verhältnis hat, mit dem Problem der Vergangenheitsbewältigung, das unter dem Vorzeichen „Auschwitz“ steht. Der fünfzehnjährige Michael Berg verliebt sich in die Straßenbahnschaffnerin Hanna Schmitz. Das Verhältnis gibt dem „Jungchen“, wie sie ihn nennt, Sicherheit und das Gefühl erwachsen zu sein. Es hinterlässt deutliche Spuren in seiner erotischen Gefühlswelt und seiner Haltung zur Umwelt. Das Ungewöhnliche, eigentümlich Geheimnisvolle in der Beziehung ist die Tatsache, dass Michael der Frau vor dem intimen Zusammensein immer vorlesen muss. Das Vorlesen beginnt, nachdem er ihr von den in der Schule besprochenen Texten erzählt. Sie ist hochinteressiert, will mehr wissen und erwidert auf seine Bemerkung, sie könne die Sachen doch selbst lesen, er habe eine besonders schöne Stimme und solle ihr zur Freude vorlesen. „Vorlesen, duschen, lieben und noch ein bißchen beieinanderliegen – das wurde das Ritual unserer Treffen.“60
Der Sommer kommt; Ferienzeit; Michael ist mit Gleichaltrigen im Schwimmbad, sieht plötzlich Hanna, die ihm zuschaut, und am nächsten Tag hat sie die Stadt verlassen. Ob es die Erkenntnis war, dass er letztlich nicht zu ihr, sondern zu seiner Generation gehörte, oder ob sie fühlte, wie es ihn wegzog, bleibt unbeantwortet. Er beendet die Schule, studiert Jura und nimmt an einem Seminar teil, in dessen Rahmen die Studenten die Verhandlung in einem KZ-Prozess verfolgen und zu Diskussionen über Schuld und rückwirkende Bestrafung auswerten. Michael sieht Hanna als Angeklagte im Gerichtssaal wieder, sie wird für den Tod einer Gruppe von KZ-Häftlingen in einer brennenden Kirche verantwortlich gemacht. Er beobachtet das Verfahren von Verlesung der Anklage über Bestandsaufnahme, Untersuchung, Eingaben der Verteidiger und Gutachten bis zur Urteilsverkündung. Michael ist jedoch nicht nur objektiver Beobachter, sondern Mitbeteiligter, der sein eigenes Verantwortungsbewusstsein überprüft, und Mitwisser, denn er ist der Einzige, der Hannas streng gehütetes Geheimnis kennt, dass sie Analphabetin ist. Die Bedeutung seines früheren Vorlesens wird deutlich, zugleich auch Hannas Verlangen, unter keinen Umständen ihre Unkenntnis zu gestehen.
Michael gerät in tiefste Gewissenskonflikte. Hanna ist der volle Umfang der Anklage überhaupt nicht bewusst; sie hat Dokumente unterschrieben, deren Inhalt ihr unbekannt geblieben ist; mildernde Umstände wären anzuführen; sie wird von den Mitangeklagten zum Sündenbock gestempelt, ohne dass sie es merkt. Ihr Schweigen verlangt eine Entscheidung. Er fragt sich, ob er das Geheimnis auch gegen den Willen Hannas lüften soll, versucht die ethische Voraussetzung seines Handelns oder Schweigens zu ergründen, und erfährt die Notlage des Mitwissers, die ihn dazu zwingt, sich mit der Situation der Mitwisser in der Vergangenheit auseinanderzusetzen. Michael durchläuft Stufen der Entwicklung in seinem Verhältnis zur Vergangenheit, die in Umrissen eigentlich in allen Aufarbeitungen der deutschen Geschichte geschildert werden. Die Studenten des KZ-Seminars verlangen Rechtfertigung und Sühne. „Je furchtbarer die Ereignisse waren, über die wir lasen und hörten, desto gewisser wurden wir unseres aufklärerischen und anklägerischen Auftrags. Auch wenn die Ereignisse uns den Atem stocken ließen – wir hielten sie triumphierend hoch.“ (88) Michael erfährt Gruppensolidarität: „das gute Gefühl, dazuzugehören“. (89)
Michael erkennt die Schuld Hannas, versucht aber auch ihr Verbrechen zu verstehen. Es gelingt nicht. „Wenn ich versuchte, es zu verstehen, hatte ich das Gefühl, es nicht mehr so zu verurteilen, wie es eigentlich verurteilt gehörte. Wenn ich es so verurteilte, wie es verurteilt gehörte, blieb kein Raum fürs Verstehen.“ (151) Sie nicht zu verstehen, kommt ihm wie ein Verrat an ihr vor. Er grübelt nach über das Grässliche und zugleich Verständliche im Handeln Hannas. Sie hatte als Lageraufseherin die Aufgabe, die Arbeiter und Arbeiterinnen, die nicht mehr tauglich waren, zum Transport zur Vergasung bereitzustellen. Sie hielt immer Vorleserinnen zurück, gab ihnen damit eine längere Lebensfrist, setzte sie aber letztlich doch auf die Liste, um ihre Pflicht zu tun. Michaels Vorstellungskraft versagt: „Wenn ich heute an die Jahre damals denke, fällt mir auf, wie wenig Anschauung es eigentlich gab, wie wenig Bilder, die das Leben und Morden in den Lagern vergegenwärtigten.“ (142) Später beschließt Michael das KZ Struthof-Natzweiler anzusehen. Er trampt. Ein Autofahrer nimmt ihn mit. Ein Gespräch beginnt, als der Fahrer nach seinem Bestimmungsort fragt. Der Fremde, ein Kriegsteilnehmer, der kein Schuldgefühl hat, vertritt die Ansicht, dass die Lageraufseher, Offiziere und Soldaten nur ihre Arbeit taten. Keine Befehle, kein Gehorsam, kein Hass, keine Rache, keine Gefühle, sondern eine allumfassende Gleichgültigkeit. Michael erkennt die Sollerfüllung der Tagesarbeit. (144–146) Er findet, das Böse als Alltäglichkeit trifft auch auf Hanna zu. Als er im KZ herumläuft, kann er die Baracken nicht mit Bildern Leidender füllen: „Aber es war alles vergeblich, und ich hatte das Gefühl kläglichen, beschämenden Versagens.“ (149) Der Erzähler bemerkt, dass für einige die permanente Auseinandersetzung mit der Vergangenheit „Ausdruck des Generationskonflikts“ war, für andere, die ihren Eltern nichts vorwerfen konnten, wurde die Vergangenheit zum eigentlichen Problem. „Was immer es mit Kollektivschuld moralisch und juristisch auf sich haben oder nicht auf sich haben mag – für meine Studentengeneration war sie erlebte Realität.“ (161) Einige überwanden ihre Scham, indem sie sich von der vorausgegangenen Generation absetzten, andere blieben auf immer einfach durch die Liebe zu den Eltern verstrickt.
Michael verfolgt den Prozess im Gericht. Alle wirken ermüdet. Richter, Schöffen und Anwälte sind nach langen Verhandlungswochen nicht mehr bei der Sache. Alle haben genug, wollen wieder in die Gegenwart (131). Michael erkennt das Ausmaß der Schuld, aber auch die Lebenslüge Hannas und stellt fest: „Mit der Energie, mit der sie ihre Lebenslüge aufrechterhielt, hätte sie längst lesen und schreiben lernen können.“ (132) Hanna wird zu lebenslänglicher Haft verurteilt. Er liest wieder, schickt ihr Kassetten, bekommt dann Antwort, der er entnimmt, dass sie lesen und schreiben gelernt hat. Sie wird begnadigt; er erhält einen Brief der Leiterin des Gefängnisses, besucht Hanna, verspricht, sie abzuholen. Als er kommt, hat sie als Sühne Selbstmord begangen. In der Zelle findet er umfassende und vielseitige Holocaust-Literatur und ihr Testament: Michael soll ihre Ersparnisse und etwas Geld, das in einer lila Teedose ist, der Tochter der Frau übergeben, die mit ihrem Kind den Brand in der Kirche überlebte. „Sie soll entscheiden, was damit geschieht.“ (196) Michael findet die Frau in New York; sie behält die Teedose, das Geld wird im Namen Hannas an die „Jewish League Against Illiteracy“ überwiesen. Mit der kurzen „computergeschriebenen“ Antwort in der Tasche besucht Michael Hannas Grab, zum ersten und einzigen Mal.
Die Novelle „Das Mädchen mit der Eidechse“ greift in konzentrierter Form das dem Vorleser zugrunde liegende Thema der Vergangenheitsbewältigung auf.61 Der Erzähler schildert ein sein Leben von der Kindheit bis in die ersten Jahre des Jurastudiums bestimmendes Urerlebnis: die Wirkung eines Gemäldes. Das Bild ist der Angelpunkt der Erzählung. Es ist geheimnisumwittert. Die Eltern schweigen über seine Herkunft und die Identität des Künstlers. Es führt zu Spannungen zwischen den Eltern, wird vom Vater wie ein Schatz gehütet, von dem niemand wissen darf. Das Bild fasziniert, verzaubert den Jungen, wirkt geheimnisvoll und zugleich bedrohlich, weckt sein leidenschaftliches Interesse und lässt ihm keine Ruhe. Der Junge bemerkt, dass die Eltern etwas verschweigen und erkennt ihre Vorsicht im Umgang mit anderen. Er macht sich scheinbar keine besonderen Gedanken darüber, als der Vater als Richter abtritt, eine gering bezahlte Stellung bei einer Versicherung annimmt und schließlich jede Arbeit verliert, weil er zu viel trinkt. Der Versuch das Rätsel nach dem Tod des Vaters zu lösen, enthüllt zwar dessen Verstrickung in moralischer und juristischer Schuld im Krieg, lässt aber dennoch keine eindeutige Antwort zu. Der Vater hat als Kriegsgerichtsrat in Straßburg Menschen zum Tod verurteilt, hat möglicherweise das Gemälde von einem halbjüdischen Künstler als Geschenk erhalten, weil er der Familie zur Flucht verhalf, möglicherweise aber auch nur zur Aufbewahrung. Da sich aus den Nachforschungen des Sohns ergibt, dass sich in Straßburg jede Spur von dem Maler René Dalmann verliert, entsteht zusätzlich der Verdacht, der Vater habe sich vielleicht am Eigentum des Malers vergriffen, sei selbst für dessen Tod verantwortlich. Die Fragen bleiben unbeantwortet. Vom Vater liegt nur eine juristische Richtigstellung seines Falls vor. Der Sohn nimmt das Bild zu sich, kann sich jedoch nicht dazu durchringen, es einem Museum auszuliefern. Er verbrennt es am Strand und sieht noch für den Bruchteil einer Sekunde unter dem Bild das berühmteste in Ausstellungskatalogen und Kunstgeschichten erwähnte Gemälde des Malers, das er „hatte schützen und auf die Flucht mitnehmen wollen.“ (54) Der Schluss der Novelle stellt die Frage der Selbstverantwortung in grelles Licht: „Eine Weile schaute er den blauroten Flämmchen zu. Dann ging er nach Hause.“ (54)
Die Handlung in Das Wochenende ist auf Gespräche, Diskussionen, Behauptungen und scharfe Entgegnungen begrenzt. Der Anlass für das Treffen ist die Begnadigung des Terroristen Jörg. Seine Schwester hat auf dem Land in Brandenburg ein Haus gekauft, hat seine und ihre alten Freunde eingeladen, die hier Freitag, Samstag und Sonntag bleiben sollen, holt Jörg vom Gefängnis ab und bereitet mit ihrer Freundin den Empfang vor. Aus den Unterhaltungen aller wird deutlich, dass sich keiner richtig an die Tage der Studentenunruhen, Vietnam-Proteste und Anschläge gegen den Staat (die Machthaber und ihre Bürokraten) erinnern kann. Sie leben in einer anderen Zeit, haben Karriere gemacht und sich abgefunden. Sie haben sich von der Vergangenheit losgesagt, haben sich ihre „Sünden“ vergeben und dadurch von der Last der Gemeinschaftsschuld befreit. Sie erinnern sich an die Atmosphäre, die nächtelangen Diskussionen, Planungen, Vorbereitungen auf Taten. Sie wollten „selbstlos denkend“ die Welt verändern. Der Staat war ein Unrechtsstaat und Widerstand ohne Gewalt war undenkbar.62 Die nächste Generation kommt in der Auseinandersetzung zwischen Jörg und seinem Sohn Ferdinand zu Wort. Ferdinand verlangt eine Erklärung für die Aktionen, die schuldlosen Menschen das Leben kostete. Er besteht eigentlich auf einem Geständnis der Schuld. Er sieht sich in der Rolle des Sohnes, der den Vater anklagt, und als Stellvertreter der mit ihm befreundeten Kinder eines ermordeten Bankchefs. Er donnert: „Du bist zur Wahrheit und zur Trauer so unfähig, wie die Nazis es waren. Du bist keinen Deut besser – nicht als du Leute ermordet hast, die dir nichts getan haben, und nicht als du danach nicht begriffen hast, was du getan hast. … Dir tun nicht die anderen leid, du tust dir nur selbst leid.“ (159) Der Vater sitzt vor ihm mit aufgerissenen Augen und halboffenem Mund. Er kann sich an nichts erinnern. Am Ende resigniert Ferdinand. Er erkennt, dass sich sein Vater von seiner Vergangenheit losgesagt hat, nichts mehr weiß oder wissen will und auch das Leben in der Gegenwart nicht begreift.
Der Blick trifft auf Studentenunruhen, die Jahre der DDR, den Krieg und die Nazi-Herrschaft, Perioden der deutschen Geschichte, die einem unbereinigten Minenfeld ähneln, in dem man leicht zu Schaden kommt. Berlin und Auschwitz sind politische und literarische Chiffren für Abschluss und Neuanfang, für individuelle Schuld, kollektives Schuldgefühl und Unterlassungssünden. Köln, Dresden und Gulag sind Chiffren für Leiden, Klage und Opfer. Die Besinnung auf die Vergangenheit enthüllt sich als potentieller Gewinn für das Verständnis der Gegenwart. Die Haltung aller Autor(inn)en, die sich bemühen, das historische Geschehen zu begreifen, steht unter dem Leitspruch: Beschäftigung mit der Vergangenheit ist Tagespflicht.